Im Bann des Wikingers - Sandra Hill - E-Book

Im Bann des Wikingers E-Book

Sandra Hill

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Beschreibung

Stolz und Leidenschaft

Als der Wikinger Jorund Ericsson im Jahre 998 nach einer langen Seereise Kurs auf seine Heimat nimmt, wird er von einem Wal ergriffen, der ihn geradewegs ins 21. Jahrhundert befördert. Dort trifft er auf die äußerst reizvolle Psychologin Maggie McBride, die den verwirrten Gestrandeten schlicht für verrückt hält. Doch sein muskulöser Körper und sein verwegen langes Haar sorgen bei der sonst so vernünftigen Psychologin für jede Menge Verwirrung. Schon bald ist Maggie nur allzu bereit, seinen überzeugenden Argumenten Glauben zu schenken ...

Ein Wikinger-Liebesroman von Sandra Hill. Lesen Sie auch die Wikinger-Saga, Band 1: "In den Armen des Wikingers".

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Seitenzahl: 487

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitate

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Anmerkung der Autorin

Über dieses Buch

Stolz und Leidenschaft

Als der Wikinger Jorund Ericsson im Jahre 998 nach einer langen Seereise Kurs auf seine Heimat nimmt, wird er von einem Wal ergriffen, der ihn geradewegs ins 21. Jahrhundert befördert. Dort trifft er auf die äußerst reizvolle Psychologin Maggie McBride, die den verwirrten Gestrandeten schlicht für verrückt hält. Doch sein muskulöser Körper und sein verwegen langes Haar sorgen bei der sonst so vernünftigen Psychologin für jede Menge Verwirrung. Schon bald ist Maggie nur allzu bereit, seinen überzeugenden Argumenten Glauben zu schenken …

Über die Autorin

Sandra Hill hat schon in jungen Jahren mit dem Schreiben begonnen und ist selbst eine begeisterte Leserin historischer Liebesromane. Die ehemalige Journalistin sammelt außerdem Antiquitäten und besucht gern Auktionen. Sie ist verheiratet und hat vier Söhne.

Website der Autorin: https://www.sandrahill.net/.

Sandra Hill

Im Banndes Wikingers

Aus dem amerikanischen Englischvon Britta Evert

beHEARTBEAT

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2000 by Sandra Hill

Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Truly, Madly, Viking“

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven © thinkstock: misha-photography; © shutterstock: Kiselev Andrey Valerevich

eBook-Erstellung: Olders DTP.company, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-5285-6

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

»Die meisten Männer sind nur um Haaresbreitevom Wahnsinn entfernt.«

Diogenes, 412 – 323 v. Chr.

Ich habe willig gewaltigen Wogen getrotzt undüber viele Seemeilen hinweg mit den Winden gekämpft,um dich zu sehen.

Prolog

In den Nordländern, Sommer 998 n. Chr.

Jorund Ericsson starrte mit leerem Blick auf den gewaltigen Grabhügel, der genügend Platz für ein Wikingerboot und jene persönliche Habe bot, die man für ein angenehmes Leben im Jenseits brauchte.

Über ein Jahr war er im Osten gewesen, wo er an den Kriegen gegen den Herrscher von Konstantinopel teilgenommen hatte. Als Söldner auf Lebenszeit hatte er zur Elitetruppe der Waräger gehört, die sich aus auserwählten Wikingern mehrerer Nationen zusammensetzte. Auf der Heimreise hatte er eine Weile unter dem Banner des norwegischen Königs Olaf Tryggvasson gestanden, der wieder einmal einen Angriff auf Britannien unternahm und mit seinem Schwert eine blutige Spur durch das Land zog. Für Olaf, der zufällig ein Bruder von Jorunds Vater war, stellte dies nur eine kurze Atempause in den unablässigen Eroberungskämpfen mit dem dänischen König Sven Gabelbart dar.

Es hieß, das Leben eines Wikingers bestehe aus Kämpfen. Das traf zu.

Jorund gestand sich unumwunden ein, ein Schwertkämpfer zu sein … ein Söldner, aber nicht ohne Grundsätze; er diente nur jenen Herren, deren Ziele und Prinzipien er guthieß. Auf dem von ihm gewählten Lebensweg war der Tod sein ständiger Begleiter. Er hatte schon längst aufgehört, die Gegner, die durch sein Schwert gefallen waren, oder diejenigen seiner Kameraden, die jetzt in Walhalla weilten, zu zählen.

Dennoch hatte er niemals erwartet, bei der Rückkehr in seine Heimat dies vorzufinden.

Fassungslos jagte sein Blick über die Grabstätte hin und her und blieb bald an dem Grabstein hängen, auf dem in strichförmigen Runenzeichen geschrieben stand:

Hier ruht Inga Sigrundottir,Frau des Karl Jorund Ericsson von Vestfold,Tochter des Jarl Anlaf von Lade.Sie lebte nur dreiundzwanzig Winterund starb in der großen Hungersnotim Jahre neunhundertsiebenundneunzig.

Jorund würgte einen erstickten Laut herunter. Zwischen ihm und Inga hatte in den sechs Jahren ihrer erzwungenen Ehe keine große Liebe geherrscht. Dennoch überwältigten ihn Kummer und Scham angesichts ihres Todes, der nun acht Monate zurücklag. Ein Mann trug die Verantwortung für jene Menschen, die unter seinem Schutz standen, es sei denn, er wäre ein Nithing, ein Mann ohne Ehre. Er hätte hier sein müssen, um für ihr Wohlergehen zu sorgen, um sie vor von Menschen oder der Natur ausgehenden Gefahren zu beschützen.

Dann wanderte sein Blick nach links, zu den zwei kleinen Grabinschriften, die verkündeten:

Greta und Girta Ingadottir,Erstgeborene Zwillinge,Geliebte Töchter.Sie lebten nur fünf Jahre.Möge Freya sie für immer in ihren Armen halten.

Jorund sank auf die Knie und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er war kein gefühlsbetonter Mensch. Einmal hatte er mitten in der Schlacht einem Mann mit der Axt den Schädel bis zu den Zähnen gespalten und nicht einen Moment lang Reue empfunden. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal der weiblichen Schwäche des Weinens nachgegeben hatte – vielleicht als Kind, wenn einer seiner Brüder ihn bei einer Rauferei zu grob angefasst hatte –, aber jetzt stiegen ihm Tränen in die Augen.

Der Gedanke an Inga, die nun in der kalten Erde ruhte, erfüllte ihn mit Bedauern. Bedauern darüber, dass ein junger Mensch diese Erde so lange vor seiner Zeit verlassen musste. Bedauern … mehr nicht. Er war es, der am meisten unter Ingas berüchtigten Machenschaften, die ihn gegen seinen Willen in ihr gemeinsames Ehebett geführt hatten, gelitten hatte, aber er trug ihr nichts nach. Im Grunde ihres Herzens war sie kein schlechter Mensch gewesen.

Der Gedanke an seine Töchter hingegen erfüllte sein Inneres mit wildem Schmerz und schnürte ihm die Kehle zusammen. Er hatte diese Ehe nicht gewollt. Er hatte nicht einmal Kinder gewollt, aber als er sie zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte, nachdem sie aus dem Schoß ihrer Mutter gekommen waren, blutig und blau angelaufen, mit runzeliger Haut … oh, er hatte sie auf den ersten Blick geliebt. Sie waren nicht nur die Früchte seiner Lenden gewesen, sondern viel mehr als das.

Als er die Mädchen zum letzten Mal gesehen hatte, waren sie noch nicht einmal vier Jahre alt gewesen. Sein Schiff hatte in dem Fjord vor seinem weitläufigen Anwesen geankert. Inga hatte zusammen mit seinen Eltern, Jarl Eric und Lady Asgar, seinen Brüdern Rolf dem Schiffbauer und Magnus Großohr wie den Dienstboten der Familie am Ufer gestanden. Greta und Girta waren im letzten Augenblick den Hügel hinuntergehüpft, gekommen. Ihre blonden Zöpfe waren hin und her gehüpft, und ihre geschürzten Kittel, ihre Gunnas,waren zerknittert und vom Spielen beschmutzt gewesen. Und sie hatten gelacht. Seltsam, dass er sich jetzt daran erinnerte. Und doch, dachte er bei sich, welcher Laut in der Welt war ergreifender als das Lachen eines Kindes … selbst für einen abgebrühten Krieger wie ihn?

»Vergiss nicht, mir Bänder mitzubringen, Vater«, hatte Greta ihm zugerufen … als hätte sie ihn am Vorabend mit unzähligen klebrigen Küssen und stürmischen Umarmungen nicht oft genug daran erinnert. »In allen Farben des Regenbogens … bitte.« Das letzte Wort hatte sie hinzugefügt, als ihr auffiel, dass ihre Mutter angesichts der mangelnden Höflichkeit ihrer Tochter streng die Stirn runzelte. Inga legte als Tochter eines angesehenen Jarl aus dem nordöstlichen Norwegen großen Wert auf gute Manieren.

»Und seidene Haremspantoffeln«, hatte Girta fröhlich gerufen und sich geduckt, als ihre Mutter ihr wegen ihres frivolen Wunschs den Mund zuhalten wollte.

»Harem … also wirklich!« Inga hatte geschnaubt, dann aber unwillkürlich über die Unverfrorenheit des Kindes grinsen müssen. Girta war bekannt für ihre vorlaute Art.

Jorund lächelte bei der Erinnerung in sich hinein, wobei ihm gleichzeitig ein ersticktes Schluchzen entschlüpfte.

»Mein Sohn.«

Jorund fuhr hoch, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Er stand auf und sah sich seinem Vater gegenüber.

»Ich brauche deine Hilfe, Jorund. Deine und die deines Bruders Magnus.«

»Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt«, brachte er heraus und deutete mit einer Hand auf den Grabhügel.

»Es gibt keinen besseren Zeitpunkt«, erwiderte sein Vater müde. »Es gibt nichts, was du jetzt noch für Inga oder die Mädchen tun könntest. Nein, schau mich nicht so finster an. Es ist wahr.«

Plötzlich fiel Jorund auf, wie sehr sein Vater in der Zeit seiner Abwesenheit gealtert war. Lag es an der Hungersnot und all den Menschen, die er verloren hatte? Oder steckte etwas Anderes dahinter? Er runzelte fragend die Stirn.

»Dein Bruder Geirolf wird vermisst. Wir befürchten, dass er tot sein könnte.«

»Ach, Vater! Er kommt sicher nur etwas später von einer seiner Reisen zurück.« Rolf war Schiffsbauer und machte mit seinen Booten häufig ausgedehnte Probefahrten, bevor er sie an Mitglieder des Hochadels aus aller Herren Länder verkaufte.

»Dieses Mal nicht«, entgegnete sein Vater. »Während du weg warst, habe ich ihn auf eine Reise geschickt, mit der ich der Hungersnot hier in Norwegen ein Ende zu machen hoffte, aber sein Drachenboot sank nach einer schweren Seeschlacht mit diesem Bastard Storr Grimmsson. Seine Leiche wurde nie gefunden.« Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Ich muss Gewissheit haben, so oder so.«

»Du glaubst, Rolf könnte noch am Leben sein?« Jorund horchte auf, obwohl er von dieser Neuigkeit noch immer wie vor den Kopf geschlagen war.

»Ein paar Seeleute von Storrs Mannschaft haben unter Folter ausgesagt, dass Geirolf einer der letzten war, die im Wasser gesichtet wurden … lebend.« Sein Vater zuckte unschlüssig die Achseln. »Du musst mit Magnus nach Island fahren, vielleicht sogar bis Grönland. Dort ist Geirolf zum letzten Mal lebend gesehen worden.«

»Island!«, rief er. Es war keine kleine Gefälligkeit, um die ihn sein Vater bat. »Nein!«

»Aber …«

»Nei pydir nei!« Er brüllte es beinahe. Dann wurde er ruhiger. »Nein heißt nein.«

Sein Vater starrte ihn einfach an und gab ihm das Gefühl, wieder ein Kind zu sein … ein selbstsüchtiges Kind.

Jorund war hin und her gerissen. Sollte er hier in Vestfold bleiben und dafür büßen, dass er Inga und seine Töchter schmählich im Stich gelassen hatte? Oder sollte er seine Heimat verlassen, um seinem Vater zu helfen und vielleicht auf diese Weise seine Schuld abtragen?

»Ich bitte dich darum, mein Sohn. Schieb deinen Kummer einstweilen beiseite und gewähre mir diese Gunst. Ich war es, der Geirolf auf diesen unseligen Weg geschickt hat. Die Schuld lastet so schwer auf mir, dass ich kaum noch denken oder sprechen kann.«

Jorund wusste genau, wie es in seinem Vater aussah. Er nickte.

Dieser Mission konnte er sich nicht entziehen.

Kapitel 1

Herbst 998Jenseits von Island

Sieh doch nur, Jorund! Da bläst sie … schon wieder. Hm. Vielleicht will dir die liebliche Thora auf diese Art Küsse zuwerfen. Glaubst du–«

»Magnus«, sagte Jorund Ericsson warnend zu seinem Bruder und schüttelte dabei angewidert den Kopf, »ich habe für heute mehr als genug von deinem Unsinn gehört. Ich schlage vor, du setzt dich an eine der Dollen und ruderst etwas von deinen überschüssigen Energien ab.«

Er stand an der Reling seines Schiffs, der Wilden Kriegerin, und wetzte die Klinge seines Lieblingsschwerts Blutletter, während Magnus, der neben ihm stand, seine Zunge wetzte. Wenn Magnus nicht gerade eine Pflugschar in den Händen oder ein Horn mit Met an seinem Mund oder ein Mädchen in seinem Bett hatte, neigte er zu der Überzeugung, es wäre seine Aufgabe, seinem Bruder das Leben schwer zu machen, und man konnte ohne Übertreibung behaupten, dass Magnus zu jedem erdenklichen Thema etwas zu sagen hatte.

»Aber, aber, nur nicht so bescheiden, kleiner Bruder«, empfahl Magnus und reckte die Brust, ein untrügliches Zeichen, dass er im Begriff war, sich lang und breit über irgendeine Belanglosigkeit auszulassen. Sein langes blondes Haar war im Nacken mit einer Lederschnur zusammengebunden, was die Aufmerksamkeit auf seine auffallend großen Ohren lenkte. Schon seit Jahren behauptete Magnus, dass seine großen Ohren ein Hinweis auf die Größe eines gewissen anderen Körperteils wären, aber das erschien Jorund eher unwahrscheinlich.

Und wie hat er mich genannt? Klein? Tatsächlich waren er und sein Bruder beide gleich groß und wahre Riesen von Gestalt, auch wenn Magnus als Landwirt stämmiger gebaut war als Jorund, der die schlankere, muskulöse Statur eines Kriegers hatte. Und der Altersunterschied zwischen ihnen betrug nur neun Monate. Klein traf also kaum zu. Bei Odin! Was zählt es schon, ob mein Bruder mich für groß oder klein hält? Die für die Jahreszeit ungewöhnlich heiße Sonne scheint mein Hirn schmelzen zu lassen. Und wenn ich es recht überlege … wer hätte gedacht, dass die Sonne in der Nähe von Island so heiß strahlen könnte? Vielleicht sind wir doch vom Weg abgekommen …

»Jeder Mensch kann sehen, dass die liebliche Thora eine Schwäche für dich entwickelt hat«, quasselte Magnus weiter. »Und damit meine ich nicht nur ihre gehauchten Küsse. Du musst zugeben, dass sie dir seit über vierzehn Tagen auf Schritt und Tritt folgt. Scharwenzelt um dich herum wie eine Hure aus Haithabu. Sie ist in dich vernarrt, das steht fest.«

Jorund warf seinem Bruder einen vernichtenden Blick zu. »Wie kommst du darauf, dass sie mir Küsse zuwirft?« Obwohl er wusste, dass es ein Fehler war, sich auf Magnus’ Geblödel einzulassen, fügte er hinzu: »Vielleicht ist das einfach ihre Art, Luft abzulassen.«

»Zu furzen, meinst du? Was für eine Vorstellung.« Magnus grinste. »Als wir noch klein waren, hat Mutter uns ständig erklärt, dass weibliche Wesen keine Winde fahren lassen würden, jedenfalls nicht in aller Öffentlichkeit … nur alte Männer und schlimme Buben hätten ein derart schlechtes Benehmen. Ha! Ich schätze, hinter unserem Rücken hat Mutter sich über dieses Ammenmärchen ins Fäustchen gelacht. Entweder das oder sie war nach einer üppigen Portion Gammelost nie auf Tuchfühlung mit der dicken Helga, der Ziegenhirtin.« Er klopfte mit einem Finger übertrieben nachdenklich an sein Kinn.

Jorund stöhnte. Wann lerne ich es endlich? Ich weiß genau, was er als Nächstes sagen wird.

»Denken Frauen wohl, unsere Aufmerksamkeit mit Furzen erregen zu können?«

Ich hatte Recht. »Was für ein Schwachsinn!«, knurrte Jorund, bevor er merkte, dass Magnus leise in sich hineinlachte. »Oh Mann!«, sagte er. Ein Gespräch mit Magnus zu führen, war, als wollte man sich mit einer seiner stumpfsinnigen Kühe unterhalten. Er war so unglaublich derb. Zweifellos hing seine Bodenständigkeit damit zusammen, dass er so viel mit … na ja, mit Grund und Boden zu tun hatte. Nicht dass Jorund Derbheit fremd war. Schließlich hatte er einen Großteil seines Lebens unter Kriegern verbracht, deren Wortschatz hauptsächlich aus Schimpfwörtern der schlimmsten Art bestand. Einige davon hatte er selbst schon gebraucht.

Aber im Ernst, sein Bruder hatte in letzter Zeit die mehr als lästige Gewohnheit entwickelt, ihn aufzuziehen. Heiliger Thor! Wer hatte schon je von erwachsenen Männern gehört, die sich so kindisch und albern benahmen. Das Leben war zu ernst – und zu flüchtig, wie er nun wusste – und ihre Mission zu wichtig für frivole Scherze. Vermutlich war es Langeweile oder einfach der Verdruss darüber, den Weg verloren zu haben. Nun ja, nicht unbedingt verloren, nur ein bisschen vom Kurs abgekommen.

Jorund ignorierte das Feixen seines Bruders und starrte in die Ferne, wo das gewaltige Walweibchen, das die Männer an Bord Thora nannten, tatsächlich einen rituellen Tanz vorführte. Ausgerechnet diesem Tier unterstellte Magnus, dass es Küsschen blies!

Genau in diesem Moment schoss seine geschmeidige schwarzweiße Gestalt mit einem aufsehenerregenden Aufbäumen in die Luft, ein Kunststück, das die Seefahrer als Wellenbrecher bezeichneten.

Der Wal erweckte auf dem Höhepunkt des beeindruckenden Sprungs den Eindruck, für einen Augenblick mit seiner Schwanzflosse auf der Wasseroberfläche zu balancieren. Dann wölbte er mit einer für seine Größe erstaunlichen Behändigkeit seinen geschmeidigen Körper zu einem perfekten Bogen und tauchte wieder in die salzigen Tiefen ein, um geschickt durch die Wogen zu schwimmen, die er selbst geschaffen hatte. Falls das Tier seinem während der vergangenen Tage gezeigten Verhalten treu blieb, würde es diese Vorführung zwei bis drei Mal wiederholen, gelegentlich mit einem Salto rückwärts und ständig von lautstarkem Quietschen und Zirpen und schnellen klickenden Lauten begleitet, bevor es ein kurzes Stück zurückfiel und in ihrem Kielwasser folgte.

Es gab keine Möglichkeit, dem Killerwal zu entkommen. Sie hatten versucht, ihren unerwünschten Begleiter abzuschütteln, indem sie bei starkem Rückenwind schneller ruderten, aber das Tier hielt trotzdem mit. Dieser Wal musste eines der schnellsten Tiere sämtlicher Ozeane sein.

Dass es sich um ein weibliches Tier handelte, erkannten sie an seiner im Vergleich mit den männlichen Tieren dieser Gattung kleineren Größe, obwohl auch dieses freundliche Wesen beinahe so groß wie ihr Langschiff war. Nein, das war vielleicht übertrieben. Auf jeden Fall war es von Kopf bis Schwanz mindestens vier Mal so lang wie er.

Für Jorund bestand kein Zweifel daran – auch wenn er es seinem Bruder gegenüber nie zugeben würde –, dass er es war, dem das Interesse dieses Tiers galt. Der Wal verfolgte sie jetzt seit über vierzehn Tagen und kam immer näher. Aber nicht deshalb wusste Jorund, dass das Tier ihm folgte. Er wusste es, weil der Wal zu ihm sprach. So unglaublich es ihm auch selbst erschien, hielt Jorund aber tatsächlich regelmäßig Zwiesprache mit dem Killerwal. Er redete im Geist mit dem Wal. Und der Wal antwortete.

Es war ihm schon immer leicht gefallen, sich fremde Sprachen anzueignen. Er beherrschte nicht nur Norwegisch und Englisch, die Sprachen der Angelsachsen, die einander sehr ähnlich waren, sondern außerdem die Landessprachen der Franken sowie jene von Byzanz, Bagdad, Rom und Cordoba. Aber noch nie hatte er mit Tieren sprechen können. Niemand konnte es, das wusste er, mit Ausnahme der Götter vielleicht. Und er war kein Gott.

Woher kam diese Stimme in seinem Kopf?

Spät in der Nacht, wenn seine Männer schliefen, stand er am Bug des Langschiffs und unterhielt sich, man sollte es nicht für möglich halten, mit einem Killerwal. Ein Glück, dass Magnus nichts von dieser Schrulle ahnte, sonst hätte er wirklich guten Grund, sich über seinen Bruder lustig zu machen.

War er im Begriff, wahnsinnig zu werden? Waren die Ereignisse des vergangenen Jahrs zu viel für ihn gewesen? Oder waren es die langen Jahre ständigen Blutvergießens, die jetzt ihren Tribut forderten? Schon stärkere Männer als er hatten darüber den Verstand verloren.

Wie kann das sein?, hatte er Thora in der vergangenen Nacht gefragt. Dass er ein Tier um Rat fragte, zeigte deutlich, wie traurig es um seine geistige Verfassung bestellt war.

Klick, klick. Quietsch, quietsch. Klick, quietsch, klick, quietsch, hatte der Wal in ständig wechselnden Tonlagen geantwortet. Mit anderen Worten: Die Menschen fragen zu viel. Hör auf dein Herz; sprich mit deinem Herzen, mein Freund.

Ich bitte um Hilfe und du gibst mir Rätsel auf, hatte er sich stumm beklagt. Ich verstehe dich nicht. Er brauchte nicht laut zu sprechen, um von dem Wal gehört zu werden – ein weiterer merkwürdiger Umstand.

Mit ihrem üblichen Klicken und Quietschen und Zirpen hatte Thora zu ihm gesagt: Das wirst du, das wirst du. Und dann, kurz bevor sie weitergeschwommen war, hatte sie hinzugefügt: Öffne dein Herz. Nur dann wird es keine Barrieren von Ländern oder Tieren … oder der Zeit geben.

Zeit? Was hatte die Zeit damit zu tun?

»Jorund, wo bist du bloß mit deinen Gedanken? Ist alles in Ordnung mit dir?«

Jorund blinzelte und kam wieder zu sich. Magnus hatte seine schwere Pranke von Hand besorgt auf seine Schulter gelegt.

Ist alles in Ordnung mit mir?

Nein, ganz und gar nicht.

»Alles bestens«, sagte er.

Aber es war nicht alles bestens, wie er bald feststellen sollte.

Bumm! Bumm! Bumm!

»Hölle und Teufel!«, stießen er und Magnus gleichzeitig aus und sagten gleich noch einmal:« Hölle und Teufel!« Einige der Seeleute, die sich sowohl an die alten nordischen Religionen wie an das Christentum hielten, bekreuzigten sich. Alle starrten mit aufgerissenen Mündern auf die See hinaus.

Bumm! Bumm! Bumm!

Thora schlug mit ihren gewaltigen Schwanzflossen an die gegenüberliegende Seite des Langschiffs.

Bumm! Bumm! Bumm!

Sie schien ihr Spiel mit ihnen zu treiben – ein seltsames Spiel von Walen –, denn es war deutlich zu sehen, dass sie nicht ihre volle Kraft einsetzte; andernfalls wäre das Boot gekentert. Auch so reichte die Wucht des mächtigen Schwanzstücks, das an die hölzerne Außenwand schlug, aus, das Boot von einer Seite zu anderen schwanken zu lassen. Ein etwas festerer Schlag würde das Holz zum Splittern bringen.

Jorund versuchte auf die Art zu lauschen, die ihn der Wal gelehrt hatte. Ein lautes Knarren war zu vernehmen, fast als würde eine rostige Tür ins Schloss fallen, und er glaubte das Tier sagen zu hören: Es ist Zeit, Wikinger.

»Zeit? Zeit wofür?«, fragte Jorund.

»Hä?« Magnus legte den Kopf schief und sah ihn fragend an.

Jorund wurde bewusst, dass er laut gesprochen hatte, und spürte, wie ihm vor Verlegenheit heiß wurde. Magnus würde sich schrecklich über ihn lustig machen, wenn er auch nur argwöhnte, dass sein Bruder sich mit einem Tier unterhielt.

Der Wal entfernte sich ein Stückchen, ließ sich auf dem Wasser treiben und beobachtete ihn aus seinen großen, dunklen Augen. Das Grunzen war immer noch zu hören.

»Jorund? Geht es dir gut?«, wiederholte Magnus besorgt.

Er nickte.

»Hier geht irgendetwas Seltsames vor«, beharrte Magnus. »Du bist nicht mehr du selbst, seit du vom Tod Ingas und der Mädchen erfahren hast.«

»Ich will nicht darüber sprechen«, sagte er eisig. »Am besten, wir holen den Anker ein und schütteln diesen lästigen Wal ab. Wenn wir nicht schnell genug sind, um das Vieh abzuhängen, müssen wir es töten.«

Er glaubte in der Ferne eine quietschende Stimme sagen zu hören: »Ha! Das möchte ich sehen!«

Magnus, der ihm nicht von der Seite wich, schien nicht gewillt, sein gerade angeschnittenes Thema fallen zu lassen. »Manche Menschen sind der Überzeugung, dass ein Mann über seinen Kummer sprechen muss, um nicht davon zerfressen zu werden … oder den Verstand vor Schmerz zu verlieren.«

»Willst du damit andeuten, ich wäre wahnsinnig geworden?«

Magnus schürzte die Lippen und zupfte gedankenvoll an einem seiner großen Ohren. »Vielleicht. Zumindest ein bisschen blöde.«

Jorund gab einen verärgerten Laut von sich.

»Ja, ich weiß, dass du keine große Liebe für Inga empfunden hast, aber deine Töchter … na ja, ist doch klar, dass sie einen besonderen Platz in deinem Herzen hatten.«

»Pass auf, Magnus. Du gehst zu weit«, warnte Jorund ihn.

Wie üblich ignorierte Magnus die Mahnung seines Bruders und redete weiter. »Ich weiß, dass ich mir vor Kummer bestimmt die Haare ausreißen würde, wenn ich meinen Sohn verloren hätte … oder meine Tochter.«

»Und welcher Sohn – oder welche Tochter – könnte das wohl sein?«, fragte Jorund mit einer Spur Belustigung. Es war schwer, seinem Bruder, der es eigentlich nur gut meinte, böse zu sein.

»Jeder meiner Söhne … und jede meiner Töchter«, antwortete Magnus und hob trotzig das Kinn. Er gehörte zu den Männern, die dem alten Brauch des More danico folgten,und hielt sich zurzeit neben seinen zwei Ehefrauen drei Mätressen … oder waren es vier? Alles in allem hatte er acht Söhne und fünf Töchter gezeugt … alle mit großen Ohren.

Jorund schnalzte missbilligend mit der Zunge, obwohl er seinen Bruder trotz dessen Einmischungen aufrichtig liebte.

»Um meine Probleme werde ich mich selbst kümmern, auf meine Art und zu gegebener Zeit«, sagte er zu Magnus. »Im Moment sollten wir uns lieber beeilen, diesem Killerwal zu entkommen.« Sie hatten am Vorabend in einer kleinen Bucht geankert, um frisches Wasser von einer nahe gelegenen Insel holen zu können. Soweit sie es überblicken konnten, war sie unbewohnt, aber vorsichtshalber hatten sie trotzdem an Bord übernachtet.

Er drehte sich um und erteilte seiner Mannschaft den Befehl, den Anker einzuholen und ihre Posten zu beziehen. Sein von Rolf gebautes Langschiff war kein übermäßig großes Gefährt. Auf jeder Seite befanden sich zweiunddreißig Ruderdollen, an denen ebenso viele Männer saßen, und zwar auf ihren persönlichen Seekisten statt auf Bänken. Neben ihnen hockten weitere zweiunddreißig Seemänner, um sie abzulösen, wenn ihre Kräfte erlahmten.

»Wir bekommen den Anker nicht hoch«, rief ihm einer der Männer zu. »Er muss sich irgendwie im Seetang verfangen haben, als der Wal uns rammte.«

Der Wal war mittlerweile wieder dazu übergegangen, Schnauze und Schwanzflossen an das Schiff zu drücken. Schluss mit dem Unsinn!

Jorund stieß einen derben Fluch aus und begann, seine Kleidung abzulegen – Umhang, Tunika, Lederstiefel, Beinkleider –, da er wusste, dass er unter das Boot tauchen und versuchen musste, den festsitzenden Anker zu lösen. Er hätte schwören können, ein hohes, trillerndes Lachen zu hören, aber als er sich umdrehte, sah er nur seine Leute, die ihn besorgt anstarrten.

»Nur die Ruhe, Männer«, sagte er zu ihnen. »Bald sind wir unterwegs. Ich bin ein ausgezeichneter Schwimmer und berühmt für die Fähigkeit, unter Wasser den Atem anzuhalten. Lederlungen, pflegte mein Vater immer zu sagen.« Er prahlte nicht mit seinem Können, sondern teilte lediglich eine Tatsache mit, um die anderen zu beruhigen.

Sowie er nichts mehr als sein Schwert, dessen Scheide an einem breiten Gürtel um seine Taille hing und zusätzlich mit einem Lederriemen an seinem Oberschenkel befestigt war, am Leib hatte, sprang er ins Wasser. In der Nähe der Oberfläche war es überraschend warm. Obwohl das Meer, je tiefer er tauchte, zwar eindeutig kälter wurde, hätte es hier in der Nähe von Island eigentlich eisig sein müssen. Über dieses Rätsel konnte er sich später den Kopf zerbrechen. Auch so ist es kalt genug, um mein gutes Stück zu einem Nichts zusammenzuschrumpfen lassen, dachte er mit einem Erschauern.

Und wie kommst du auf die Idee, dass dein Stück so gut ist?, hörte er den Wal mit einem Lachen bemerken.

Oh Gott, du schon wieder?, gab Jorund trocken zurück, während er sein Schwert durch den Seetang zog, der sich um Seil und Anker geschlungen hatte. Bald musste er feststellen, dass es unmöglich war, den metallenen Anker von den Fangarmen aus Gras zu befreien. Je mehr Gras er nämlich entfernte, desto mehr davon schien nachzuwachsen. Er würde das Seil durchschneiden müssen.

Das Walweibchen war lautlos unter Wasser getaucht und beobachtete jetzt interessiert seine Bemühungen.

Aus irgendeinem Grund empfand er keine Furcht … nur Ärger, weil ihm dieses Tier so viele Unannehmlichkeiten bereitete.

Er schob das Schwert in die Scheide, schwamm an die Oberfläche und holte mehrmals tief Luft.

Magnus und sämtliche Seemänner starrten von der Reling zu ihm hinunter. Oben am Himmel kreisten Seevögel in freudiger Erwartung eines Leckerbissens. Jorund hoffte, dass sie nicht ihn als diesen auserkoren hatten.

»Ist der Anker frei?«, fragte Magnus.

Jorund, der immer noch außer Atem war, schüttelte den Kopf. Als er wieder in der Lage war zu sprechen, sagte er zu seinem Bruder: »Es liegt an diesem Tau aus Robbenhaut, das Rolf unbedingt verwenden wollte. Es wird ein bisschen länger dauern.« Viele Schiffseigner kauften diese begehrten Taue auf den Märkten von Birka und Haithabu. Es wurde in einem Streifen spiralförmig aus der Haut von einer Robbe oder von einem Walross herausgeschnitten und war bekannt für seine Haltbarkeit. Leider war es schwer mit einem Schwert zu durchtrennen.

Mit einem letzten tiefen Atemzug tauchte Jorund wieder in das salzige Wasser. Wie nicht anders zu erwarten, wartete der Wal bereits auf ihn. Während Jorund hastig drauflossägte, begann das Tier ein neues Spielchen mit ihm zu treiben – es stupste Jorunds bloßen Hintern mit seiner großen Schnauze an. Das hatte ihm gerade noch gefehlt – ein geiles Walweibchen!

Endlich war das Seil gelöst. Jorund, der sein Schwert wieder in die Scheide gesteckt hatte, wollte gerade nach oben schwimmen, als der Wal mit einem Satz nach vorne schoss und ihn in seine Schnauze nahm, sodass sein Kopf zur einen Seite und seine zappelnden Beine zur anderen herausragten. Er fühlte die riesigen Zähne des Wals an Bauch und Hinterteil, aber Thora schien ihn äußerst behutsam zu halten, denn die Zähne ritzten nicht einmal seine Haut.

Lass mich los, du hirnloses Vieh!

Ein zirpendes Lachen war die einzige Antwort.

Er hätte Todesangst ausstehen müssen. Er tat es nicht.

Zuerst lachte er insgeheim über den großartigen Trick. Die Skalden, die Poeten der Wikinger, würden diese Geschichte bis ans Ende aller Tage erzählen. Zweifellos würde es sogar ein Loblied zu Ehren Jorunds geben, des Kriegers, der im Maul eines Wals geritten war, dieses Erlebnis überlebt hatte und davon erzählen konnte. Das Lachen verging ihm jedoch, als ihm bewusst wurde, dass er nicht mehr lange den Atem würde anhalten können und dass der Wal sich mit großer Geschwindigkeit bewegte … weg von seinem Schiff! Als das Tier einmal kurz auftauchte, stellte Jorund verstört fest, dass das Boot schon jetzt weit entfernt war … viel zu weit, als dass er es hätte erreichen können. Es sei denn, der Wal brachte ihn zurück.

Aber nein. Thora hatte andere Pläne.

Mit einem Quietschen und einem freudigen Zirpen tauchte der Wal wieder unter, und weder Jorunds stumme Schreie noch sein Rudern mit Armen und Beinen konnten ihn davon abhalten.

Im nächsten Moment strömte Wasser in seine Nasenlöcher und all seine Körperöffnungen. Er konnte die Luft nicht länger anhalten und schluckte große Mengen der salzigen Flüssigkeit. Als sich sein langes Haar löste, um sein Gesicht wirbelte und ihm die Sicht nahm, stieg ein Gefühl von Leichtigkeit in ihm auf, das nicht einmal unangenehm war. Und er dachte: So also werde ich zu Rabenfutter – in der See, nicht auf dem Schlachtfeld? So endet es also?

Nicht ganz, antwortete der Wal. Die Mächte des Schicksals haben andere Pläne für dich, Wikinger.

Kapitel 2

Galveston, Texas, 2000

»Blinke, blinke, kleiner Stern,bist uns nah und doch so fern.Zeig uns bitte deine Macht,mach unsren Wunsch wahr über Nacht.«

Maggie McBride wollte gerade das Zimmer ihrer Töchter Suzy und Beth betreten, als sie hörte, wie die beiden im Chor den Kinderreim aufsagten. Sie hatte die Zwillinge schon zu Bett gebracht und jeder einen Gutenachtkuss gegeben, begleitet von dem üblichen Gekitzel. Es überraschte sie kaum, dass die zwei in dem Moment, als sie ihnen den Rücken zugekehrt hatte, aus dem Bett gehopst waren, um einen harmlosen Unfug anzustellen … und es war ja wirklich keine große Affäre. Maggie hatte, wenn es ums Schimpfen ging, gelernt, ihre Kräfte für ernstere Anlässe zu schonen.

Mit einem Lächeln trat sie in den Flur zurück und spähte vorsichtig an der halb offenen Tür vorbei. Die beiden Kinder lehnten sich aus dem Fenster und starrten einen besonders hellen, funkelnden Stern an. Die kindlichen Stimmen der neunjährigen Mädchen klangen atemlos vor Sehnsucht und dem innigen Wunsch, an die Magie der Sterne zu glauben, als sie den alten Kindervers wiederholten.

War ich jemals so unschuldig? Habe ich jemals an Wunder geglaubt?

Jetzt rutschten die beiden mit ihren Bäuchen von der Fensterbank, richteten sich auf und zupften einander die Nachthemden zurecht – Suzys war quietschrosa und mit einem Bild von Ricky Martin bedruckt, das von Beth zierte eine Darstellung von Keiko, dem Killerwal, der für sie ebenso ein Idol war wie der Rockstar für ihre Schwester. Abgesehen von ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten und Interessen waren die eineiigen Zwillinge rein äußerlich nicht zu unterscheiden. Beide trugen funkelnagelneue, blitzende Zahnspangen, und beide hatten langes lockiges Haar, das zum Schlafen zu einem dicken Zopf geflochten war. Die schiefen Zähne und die honigblonden Locken hatten sie von einem Vater geerbt, den sie nie kennen gelernt hatten – Judd Haskell. Maggies Haar war rabenschwarz und glatt, seit einem missglückten Friseurbesuch trug sie streichholzkurz geschnitten. Aber die kornblumenblauen Augen hatten sie von ihrer Mutter.

»Mein Wunsch war, dass Mom endlich einen Mann findet«, vertraute Suzy ihrer Schwester an. Sie hatten immer noch nicht gemerkt, dass ihre Mutter vor der Tür stand.

Beth nickte gewichtig. »Meiner auch.«

Maggie zuckte innerlich zusammen. Nicht schon wieder!

»Ich verbringe kein einziges Weihnachtsfest mehr auf Opa Haskells Farm, das sage ich dir«, verkündete Suzy energisch. »Ständig erzählt er uns, wie schlecht es hier in der Stadt ist und dass wir lieber zu ihm und Oma ziehen sollten. Also wirklich! Ich will bestimmt nicht respektlos sein, aber ich hab die Geschichten satt, was unser Dad alles vor diesem Unfall beim Fallschirmspringen gemacht hat. Wozu muss ein Doktor überhaupt Fallschirm springen? So wie Opa daherredet, könnte man glauben, er wäre ein Heiliger gewesen. ›Wenn euer Vater noch am Leben wäre, dies …‹, ›Wenn euer Vater noch am Leben wäre, das …‹. Pah!«

»Wenn er so toll war«, wollte Beth wissen, »warum hat er dann unsere Mom nicht geheiratet?«

»Genau«, stimmte Suzy zu.

Maggie unterdrückte mit Mühe ein Japsen. Woher wussten die beiden, dass Judd sich geweigert hatte, sie zu heiraten, als er erfuhr, dass sie schwanger war? Frau und Kinder hätten einfach nicht zu seinem Lebensstil gepasst, der ein hohes Maß an Risiko und Freiraum beinhaltete. Sie betete zu Gott, die beiden würden nie erfahren, dass er Maggie zu einer Abtreibung hatte überreden wollen. Nein, ausgeschlossen, dass sie das jemals herausfinden könnten. Sie hatte es keinem Menschen gegenüber je erwähnt. Kurz nach diesem grauenhaften Treffen war Judd gestorben, als Folge eines seiner nicht enden wollenden Suche nach Nervenkitzeln.

»Und Oma ist genauso«, fuhr Suzy fort. »Ständig mäkelt sie an alleinerziehenden Müttern herum, als ob es Moms Schuld wäre, dass sie allein für uns sorgen muss.«

»Ich weiß«, sagte Beth mit einem Stöhnen. »Letztes Mal hat Oma irgendwelche Statistiken zitiert, die sie im Fernsehen aufgeschnappt hatte, dass Töchter, die ohne Vater aufwachsen, ganz oft die Highschool nicht abschließen und viele von ihnen schwanger werden, noch bevor sie sechzehn sind.«

Bei der letzten Information wechselten Beth und Suzy einen angewiderten Blick und riefen beide gleichzeitig: »Igitt!« Jungen interessierten sie noch nicht im Geringsten, von Sex oder was auch immer zu Babys führen mochte, ganz zu schweigen.

»Weißt du was?«, bemerkte Beth nachdenklich. »Ich wette, wir könnten Mom dazu bringen, sich mehr Mühe mit der Suche nach einem Dad zu geben, wenn sie dieses Zeug glauben würde. Sie sagt doch ständig zu uns, wie wichtig die Schule ist.«

»Und ich wette, wir könnten diese Weihnachten hier bleiben, wenn ein Dad im Haus wäre«, fügte Suzy hinzu.

»Ja, genau. Ein Dad würde nicht zulassen, dass sie Mom so zusetzen, bis sie nachgibt. Er würde sagen« – hier senkte Beth ihre Stimme zu einem tiefen männlichen Bass – »Tut mir leid, Leute, aber die Mädchen können dieses Jahr zu Weihnachten nicht kommen. Wir sind jetzt eine Familie, und wir brauchen unsere Mädchen zu Hause, um mit der Familie Weihnachten feiern zu können. Meine Mädchen müssen mit mir in den Wald fahren und mir dabei helfen, einen Baum zu fällen. Vielleicht schlagen wir außerdem noch einen ganzen Berg Feuerholz, den wir dann in unserem Pickup nach Hause bringen.«

»Das wäre einfach super«, fand Beth, »besonders, wenn es schneien würde. Ein Dad, ein echter Baum, ein Feuer im Kamin, unsere Strümpfe, die am Kaminsims hängen und Schnee!«

Die hörbaren Seufzer, die ihren Worten folgten, waren tief und voller Sehnsucht.

So bestürzt Maggie über dieses wehmütige Gespräch auch war, musste sie dennoch lächeln. Ihnen hatte in den letzten neun Jahren ein künstlicher Baum gute Dienste geleistet. Hier in der Gegend gab es keine Wälder. Sie hatten auch keinen Kamin für die Ladung Feuerholz oder um Strümpfe aufzuhängen. Außerdem war ihre Auffahrt nicht groß genug für ihren Volvo und einen Pickup. Was die Chancen auf Schnee in Galveston zur Weihnachtszeit anging … Vergesst es!

Trotz ihres schiefen Lächelns war ihr zum Heulen zumute.

»Mom sagt immer, dass sie alles gut findet, so wie es ist«, beschwerte Suzy sich.

Das tue ich. Oh ja! Sicher, manchmal ist es ein bisschen einsam, aber sehen wir den Tatsachen ins Auge: Ich bin zweiunddreißig Jahre alt und nicht gewillt, so spät in meinem Leben meine schwer erworbene Unabhängigkeit aufzugeben. Es hat zu lange gedauert, dorthinzukommen, wo ich heute stehe. Außerdem habe ich den Traum vom Märchenprinzen schon längst begraben. Wenn nur meine beiden Knirpse ihren Traum vom Bilderbuchvater aufgeben würden!

»Aber ich finde es nicht gut, weißt du. Kein bisschen!«

»Ich auch nicht«, erklärte Beth.

Maggie litt mit ihren beiden geliebten Töchtern. Ohne Vater gab es tatsächlich eine Lücke in ihrem Leben, das wusste sie. Aber manchmal war gar kein Vater besser als ein schlechter Vater. Und Judd wäre ein grauenhafter Vater gewesen, keine Frage. Außerdem hatte sie es verdammt gut hinbekommen, Mommy und Daddy für die beiden zu spielen und sich selbst aus ihrer Misere herauszukämpfen, sodass sie sich heute mit Fug und Recht Dr. Maggie McBride, Psychologin, nennen durfte.

»Mom ist so schön. Wie Demi Moore«, warf Beth ein. »Das sagt jeder. Sogar mit diesem Haarschnitt. Und ganz besonders, seit sie dieses irre Piercing am Bauchnabel hat. Ich fasse es immer noch nicht, dass sie sich das hat machen lassen. Sie könnte jeden Mann haben, den sie will.«

Ob sie jeden Mann haben konnte, den sie wollte, wusste Maggie nicht. Sie konnte sich kaum erinnern, wann sie ihre letzte richtige Verabredung gehabt hatte. Aber in einem Punkt war sie sich mit ihren Töchtern einig: Sie konnte selbst nicht fassen, dass sie sich einen Ring in den Bauchnabel hatte piercen lassen. Es passte so gar nicht zu ihr.

Als junges Mädchen hatte Maggie sich schneller entwickelt als ihre Freundinnen und war damit zur Zielscheibe alberner Witzeleien junger Burschen geworden, die samt und sonders auf der irrigen Annahme basierten, dass große Brüste gleichbedeutend mit einer scharfen Tussi waren. Natürlich hatte der Rest ihres Körpers ihre Brüste irgendwann eingeholt – obwohl Maggie fand, dass dieser trotz ständigen Diäthaltens viel zu viele Kurven aufwies –, aber dennoch hatte sie nie die Gewohnheit abgelegt, ihre weiblichen Reize mit weiten Kleidern und einem nahezu keuschen Lebenswandel zu kompensieren. Das hieß, bis vor kurzem.

Der Kurzhaarschnitt war ihre Idee gewesen … um ihre alte Frisur loszuwerden, die sie sich im vergangenen Frühjahr zu Ehren ihres Doktorats zugelegt hatte. Wer hätte auch gedacht, dass die Friseuse so in Fahrt kommen würde?

Der Ring in ihrem Bauchnabel hingegen war nicht ihre Idee gewesen. Das Piercing musste sie als Preis für eine verlorene Wette mit ihren Töchtern zahlen, die wie durch ein Wunder in der Schule während der letzten zwei Semester nur die besten Noten eingeheimst und noch dazu täglich eine Reihe von Pflichten im Haushalt absolviert hatten. Dr. Spock wäre entsetzt über ihren Mangel an mütterlichen Fähigkeiten gewesen, der sich darin zeigte, dass sie ihre Töchter mit einer Wette motivierte. Aber es hatte sich gelohnt. Nicht unbedingt wegen Beth, die gern zur Schule ging, sondern wegen Suzy, die sich normalerweise mit mittelmäßigen Noten durchschlug. Und dass ohne lange Debatten neun Monate lang der Abwasch gemacht und die Wäsche zusammengelegt wurde, war geradezu himmlisch gewesen.

Den Ring am Bauchnabel konnte man schließlich auch wieder entfernen.

»Genau«, stimmte Suzy zu.

Hä?

»Mom ist so schön, dass sie jeden haben könnte«, fuhr Suzy fort.

Ach, das.

»Sogar Ricky Martin.«

Die beiden Mädchen kicherten bei der Vorstellung: Maggie, die Psychologin, und der Schwarm aller Teenager. Obwohl das im Grunde nicht zutraf … dieser Kerl wirkte nicht nur auf kleine Mädchen.

»Es ist bloß so, denk mal dran, wie wir letztes Jahr versucht haben, sie mit dem Verkäufer von Shop’n’Save zu verkuppeln. Mann! Das war von Anfang an eine Katastrophe«, erinnerte Beth ihre Schwester. »Ich dachte, Mom steht auf jüngere Männer. Sie ist ziemlich cool … für eine Mom. Und weißt du, Spike war einfach total hübsch! Eine tolle Figur.«

»Aber er war erst achtzehn.« Suzy schnitt bei der Erinnerung eine Grimasse. »Mom wäre beinahe an die Decke gegangen. Mann, war die sauer!«

Maggie presste eine Hand auf ihren Mund, um nicht laut herauszuplatzen. Spike, der kleine Rotzlöffel, hatte einen Blick auf ihren Bauchnabelring geworfen und sie in ein Drive-in eingeladen. Ha! Nie im Leben!

»Und dieses Fiasko kam direkt nach unserem Versuch, sie mit Ritas Tierarzt zusammenzubringen«, erinnerte Suzy sich.

Rita war ihre zehn Jahre alte und zwanzig Pfund schwere Katze, und bei dem Mann handelte es sich um ebenjenen Tierarzt, der einmal die scharfsinnige Feststellung gemacht hatte: »Ihre Katze entfernt sich wohl nie sehr weit von ihrem Futternapf, was?«

»Wer hätte gedacht, dass Dr. Cheswick schwul ist?« Das vorletzte Wort wisperte Beth.

Ich – in dem Moment, als ich ihn zum ersten Mal sah.

»Und dann war da noch der Typ von der Nationalgarde, der zu Besuch in unserer Schule war.«

»Ja.« Beth seufzte. »Und er hatte so einen schicken Kurzhaarschnitt.«

Es war ein toller Haarschnitt. Und George war tatsächlich sehr attraktiv. Ein Jammer, dass sich schon beim ersten Treffen herausgestellt hatte, dass seine politischen Ansichten über Waffen und Minderheiten völlig konträr zu ihren eigenen waren.

Suzy kicherte, als ihr noch etwas einfiel. »Weißt du noch der Priester, den du mal zum Abendessen angeschleppt hast?«

»Woher sollte ich wissen, dass er ein Priester war? Mensch! Er hatte einen Jogginganzug an«, verteidigte Beth sich, »und total irre Nike Air Jordans.«

Tja, das war wirklich ziemlich peinlich gewesen.

»Na ja, bis Weihnachten ist es nur noch drei Monate. Sie lässt uns keine Wahl«, verkündete Suzy und straffte energisch die Schultern. »Wenn sie nicht selbst einen Dad für uns finden kann …« – sie deutete mit einer Kopfbewegung auf den Himmel vor ihrem Fenster – »… hilft uns vielleicht der liebe Gott.«

Beth strahlte. »Stimmt. Mom kann doch nicht sauer auf Gott sein, oder?«

»Genau. Sie kann uns unmöglich die Schuld geben.« Suzy zwinkerte ihrer Schwester unschuldig zu.

Maggie spielte mit dem Gedanken, ins Zimmer zu gehen und den Mädchen die Köpfe zurechtzurücken, aber sie brachte es einfach nicht fertig, ihre Seifenblase platzen zu lassen. Sie hatten noch Zeit genug, um zu lernen, dass Träume nur im Film wahr wurden.

Bevor die beiden wieder in ihre Betten hopsten, warfen sie einen letzten Blick auf den Wunschstern und schnappten dann nach Luft. Auch Maggie unterdrückte ein Keuchen.

Es sah fast so aus, als hätte der Stern ihnen zugezwinkert.

Dann erregte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit.

»Ohhh, Suz, guck mal! Guck dir die neue Sternenformation da drüben an. Sieht das nicht wie … wie ein Wal aus?«

Suzy lächelte Beth von ihrem Himmelbett aus zu. »Das muss einfach ein gutes Zeichen sein.«

Als Maggie kurz darauf in ihr eigenes Schlafzimmer ging, konnte sie einfach nicht widerstehen. Wie magisch angezogen, trat sie an das große Doppelfenster und starrte in den Himmel.

Die neuen Sterne waren verschwunden.

Der nächste Tag

»Mutter! Er hat eine Glatze!«, rief Suzy in dem Moment, als Dr. Harrison Seabold außer Hörweite war. Mit angewiderter Miene fügte sie hinzu: »Dein erstes Date seit ewigen Zeiten, und du musst dir einen Glatzkopf aussuchen?«

»Susan Marie McBride! Psst!«, ermahnte Maggie ihre Tochter und warf ihrem Chef rasch einen Blick nach, um sich zu vergewissern, dass er nichts gehört hatte. Sie hatten soeben Orca-Land betreten, jenen Teil des riesigen Vergnügungsparks an der Galveston Bay, der als Reich des Meeres bekannt war. Harry war losgezogen, um für sie alle Eiswaffeln zu kaufen. »Außerdem ist das kein Date«, fügte sie hinzu.

»Es gehört sich nicht mehr, Glatze zu sagen«, verbesserte Beth ihre Schwester mit überlegener Miene. »Er ist follikular benachteiligt.«

Suzy und Beth waren heute identisch gekleidet – etwas, das sie normalerweise vehement ablehnten – und trugen Jeansshorts und weiße T-Shirts mit dem Aufdruck Twin Rule. Und sie waren beide ziemlich überdreht – wegen irgendeinem Stern und der Suche nach einem Vater und wegen einer Mutter, die all ihre Pläne immer wieder durchkreuzte. Selbst wenn sie das Gespräch am Vorabend nicht belauscht hätte, wäre Maggie dahintergekommen, dass die Mädchen irgendetwas im Schilde führten. Sie waren so leicht zu durchschauen. Maggie musterte sie scharf. Wenn die beiden das Thema Ehemann/Vater noch einmal anschnitten, würde sie ihnen ihre hübschen kleinen Hälse umdrehen. Ganz im Ernst.

Außerdem hatte sie bereits beschlossen, ihren Töchtern in diesem Jahr das schönste und großartigste Weihnachtsfest aller Zeiten zu bescheren. Und zwar zu Hause, basta! Und einen Daddy brauchten sie dafür nicht. Schnee und ein offener Kamin ließen sich nicht so ohne weiteres beschaffen, aber wenn die beiden sich tatsächlich so sehr einen echten Tannenbaum wünschten, warum nicht? Wer sagte, dass sie den nicht selbst besorgen konnte? Ich bin eine Frau und kann auch mit einer Axt umgehen.

Suzy schnitt ihrer Schwester eine Grimasse. Beth rümpfte mit einem hochmütigen Schnauben ihre kecke kleine Nase und streckte die Zunge heraus.

»Du findest, dass alle Männer wie Ricky Martin aussehen sollten«, fuhr Beth fort. »Wie viele Poster von ihm hängen schon an deiner Zimmerwand? Na? Na?«

»Nicht so viele wie auf deiner Wand von Keiko dem Killerwal«, gab Suzy zurück. »Außerdem gefällt Ricky Martin dir doch auch.«

»Nicht so wie dir.«

»Ich finde es einfach blöde, dass wir schon wieder in den Meerespark gehen. Ich würde viel lieber mit der Achterbahn fahren. In Orca-Land haben wir schon alles gesehen, was es zu sehen gibt.« Die letzte Bemerkung galt ihrer Schwester und enthielt die unausgesprochene Botschaft: Im Vergnügungspark standen die Chancen, einen Vater zu finden, wesentlich besser als hier.

Beth war sehr empfindlich, was ihre Gefühle für Keiko anging … das heißt, eigentlich für alle Killerwale, die in Gefangenschaft lebten. Sie unterhielt sogar eine eigene Website für Kinder, denen das Schicksal von Walen am Herzen lag. Normalerweise hätte sie nach einer derartigen Kritik ihrer Schwester unweigerlich ihre Standardpredigt über die Tragödie der Orcas vom Stapel gelassen. Heute jedoch holte sie nur tief Luft und erklärte: »Was Suzy mit ihrer Bemerkung über Dr. Seabold sagen will, Mom, ist, dass wir etwas überrascht sind, dass du dir einen kahlköpfigen Mann als Dad … ich meine, als Date aussuchst.«

»Fangt nicht schon wieder damit an …«

»Okay, okay, ich gebe zu, dass der Typ vom Shop’n’Save ein bisschen zu jung für dich war«, fuhr Beth fort, »aber findest du nicht, dass das jetzt zu sehr in die andere Richtung geht? Ich weiß, du sagst uns ständig, dass die inneren Werte zählen und Grips wichtiger ist als Muckis, aber trotzdem …«

»Er ist kein Date«, versuchte Maggie es noch einmal.

»Grips? Ach was!«, warf Suzy ein, ohne ihre Mutter zu beachten. »Wie viel Grips kann einer schon haben, der sein Haar über dem Ohr scheitelt? Er kann bloß hoffen, dass kein Wind aufkommt. Und er sollte lieber nicht Achterbahn fahren.« Den letzten Satz gab sie mit einem tiefen Seufzer von sich, als gäbe es keine größere Tragödie auf der Welt als einen Dad, der nicht Achterbahn fahren konnte. Der blanke Horror!

Die Zwillinge betrachteten Harrys zugegebenermaßen hoffnungslose Frisur mit den sorgfältig quer über den Schädel gekämmten Haaren und grinsten sich an. Statt seine Glatze zu tarnen, lenkte er die Aufmerksamkeit eher noch auf sie. Man sollte meinen, ein Mann von seinem Ansehen auf dem Gebiet der Psychiatrie müsste es besser wissen. Männer! Und dann hieß es, Frauen wären eitel!

Die Mädchen vertrugen sich im Allgemeinen bestens, aber heute stand es aufgrund der ungewöhnlichen Hitze für Anfang Oktober und der Frustration über ihre fehlgeschlagenen Versuche, ihre Mutter an den Mann zu bringen, um ihre Laune nicht zum Besten. Und sie hatten Recht, sie waren allein in diesem Jahr mindestens ein Dutzend Mal im Meerespark gewesen.

»Hast du die Shorts gesehen, die er trägt?« Suzy schien in Harry immer noch einen potentiellen Vater zu vermuten. »Sie sind kariert.« Sie sprach das Wort aus, als wäre es etwas so Abstoßendes wie Hausaufgaben. Beth mochte die Schule, Suzy betrachtete sie als notwendiges Übel.

»He, wer hat euch zu Experten in Modefragen ernannt? Ich bin auch nicht nach dem letzten Schrei gekleidet«, mischte Maggie sich ein und zeigte auf ihren knielangen Jeansrock und den kurzärmeligen Liz-Claiborne-Pulli in verwaschenem Blau.

Aber die Mädchen achteten nicht auf sie. Stattdessen setzte Suzy ihre Kritik an Harrys Shorts fort. »Und noch dazu im Madras-Karo, als wäre er in den Sechzigern stecken geblieben. Also, ich will keinen Vater, der Karos trägt, soviel steht fest. Ganz zu schweigen von weißen Socken und Sandalen. Ist ja grauenhaft!«

»Du findest doch alles fürchterlich, was nicht von Gap ist.«

»Und du findest alles fürchterlich, was nicht nach stinkendem Fisch riecht.«

»Wale sind keine Fische, sondern Säugetiere.«

»Fische, Säugetiere … was auch immer, sie stinken.«

»He!«, rief Beth.

»Selber he«, knurrte Suzy.

»Warum nimmst du nicht ein Beruhigungsmittel?«

»Versuch doch, mir eins zu verpassen!«

Jegliche innere Verbundenheit war vergessen. Nicht mehr lange und die beiden würden sich balgen wie zwei junge Hunde. Höchste Zeit zum Eingreifen.

»Das reicht, ihr zwei!«, mahnte Maggie. Sie setzte sich auf eine Bank und zog die Mädchen an sich. »Benehmt euch gefälligst. Harry ist ein sehr netter Mann. Ich habe ihn eingeladen, heute mit uns zu kommen, weil er sich ständig solche Sorgen macht, ob die neuen Eigentümer unsere Klinik vielleicht schließen. Er braucht Ablenkung, nicht zwei vorlaute Mädchen, die sich über sein Aussehen lustig machen.«

»Mom, wir müssen doch nicht umziehen, wenn die Klinik geschlossen wird, oder?«, fragte Beth beunruhigt. Es sah ihrer Tochter wieder ähnlich, den am wenigsten relevanten Punkt ihrer kleinen Rede aufzugreifen. Anscheinend hatte sie größere Angst davor, von Gonzo, dem Star des Meeresparks getrennt zu werden, als davor, dass ihre Mutter ihren Job verlieren könnte. Vielleicht ging diese Besessenheit für Killerwale allmählich zu weit. Aber das war eine Frage, mit der sie sich später auseinander setzen musste.

»Ich hätte nichts dagegen, nach Houston zu ziehen. Im Rodeoland gibt es eine tolle Achterbahn – wenn auch nicht so toll wie der Vomit.«

Der Vomit – Kotze?!, dachte Maggie, bis ihr einfiel, dass das der Spitzname für den Comet war, die Achterbahn in dem Unterhaltungspark, der zum Meeresparkgehörte. Suzy schwärmte für Achterbahnen; Beth fand sie ganz gut, aber nicht umwerfend; Maggie mied sie tunlichst. Aber das war jetzt nebensächlich. Sie lenkte ihre Gedanken auf die Gegenwart. »Wir werden nicht umziehen, egal, wie es mit der Klinik weitergeht«, versicherte sie den beiden. »Aber kommen wir wieder zur Sache. Ich habe euch doch erklärt, wie hässlich es ist, Bemerkungen über das Aussehen anderer Leute zu machen. Könnt ihr euch noch erinnern, wie euch zumute war, als Joe Pisano euch Metallmäuler und Glitzergrinsis genannt hat, als ihr zum ersten Mal mit Zahnspangen in die Schule gekommen seid?«

Die beiden Mädchen nickten betreten und wurden rot, weil sie vorhin genauso gemein gewesen waren wie ihr Mitschüler damals.

»Hört gut zu, ihr Süßen. Beurteilt niemals einen Mann – oder eine Frau – nach dem Aussehen. Ihr werdet jedes Mal falsch liegen, glaubt mir.«

»Aber Mom …«, sagten sie wie aus einem Mund.

»Und noch etwas. Ich habe zufällig gehört, worüber ihr gestern Abend geredet habt. Vergesst Wunder. Die einzigen Wunder in diesem Leben sind die, die wir selbst schaffen.«

Suzy und Beth ließen die Köpfe hängen – ob aus Reue oder Enttäuschung, konnte Maggie nicht beurteilen. Obwohl sie wusste, dass ihre erzieherische Maßnahme vernünftig und notwendig gewesen war, tat es ihr insgeheim leid, die beiden so hart angepackt zu haben.

»He, Schätzchen«, neckte sie Beth deshalb, während sie sanft an ihrem Zopf zog. »Haben wir nicht eine Verabredung mit ein paar Orcas?«

Das Lächeln, das Beth aufsetzte, wirkte mehr als gezwungen.

»Und wie steht es mit dir, meine kleine Salsa-Prinzessin? Vielleicht schaffen wir noch eine Fahrt auf der Achterbahn, bevor wir wieder nach Hause müssen.«

Auch Suzy zwang sich zu einem Lächeln.

Maggie stellte fest, dass dieses Kapitel noch nicht abgeschlossen war … noch lange nicht. Einen Vater zu bekommen, war ihnen offensichtlich viel wichtiger als Wale oder waghalsige Achterbahnfahrten.

Manchmal wünschte Maggie, dass Träume wahr werden könnten.

Sie saßen in der Innenkurve der Tribüne des Ozean-Beckens, das zum Meerespark gehörte. Dieses Becken war ein riesiger Meeresarm, der in die Bucht von Galveston führte. Ein Netz, das vom Meeresboden bis zu drei Meter über die Wasseroberfläche reichte, spannte sich über die Mündung und hinderte die Orcas daran, in die offene See hinauszuschwimmen. Da sich das Becken außerhalb des normalen Lebensraums der Killerwale befand, verliefen spezielle Kühlaggregate über dem Boden, und dem Wasser wurde zusätzlich Salz beigefügt.

Sie beobachteten Gonzo, der zusammen mit zwei jungen Killerwalen, Mork und Mindy, seine Kunststücke vorführte. Die beiden Jungtiere, die ungefähr die Größe eines Pickups hatten, beherrschten nur einfachere Fertigkeiten wie einen Salto rückwärts oder Luftsprünge, um sich etwas zu essen zu schnappen, aber Gonzo war ein echter Profi … und noch dazu ein wahrer Meister seines Fachs. Er segelte durch Reifen. Er schwänzelte vor der Zuschauermenge und spritzte mit seinen Fluken, besser bekannt als Schwanzflossen, ungeheure Wassermengen über sie. Er katapultierte sich auf eine Plattform. Er quiekte und zirpte und erweckte im Großen und Ganzen den Eindruck, nicht nur sein Publikum, sondern auch sich selbst glänzend zu unterhalten. Er mochte eines der gewaltigsten Raubtiere der Meere sein, aber hier im Orca-Land war er verspielt wie ein Kätzchen – ließ zu, dass die Trainer auf seinem Rücken ritten oder die Köpfe in seinen Mund steckten, in dem drei Dutzend messerscharfer Zähne blendend weiß im hellen Sonnenlicht blitzten. Maggie konnte verstehen, warum Beth eine so große Leidenschaft für Gonzo entwickelt hatte – oder genau genommen für alle Killerwale.

In diesem Moment hörte sie Beth nach Luft schnappen.

»Was ist denn?«, fragte sie, sofort ganz die besorgte Mutter.

Beth, die immer noch nach Atem rang, zeigte auf das offene Meer hinaus. Heiliger Strohsack! Da draußen, direkt hinter den Netzen, schwamm ein gewaltiger Killerwal … zog unablässig seine Kreise, stieß schäumende Gischt aus, tauchte unter und in einem Geysir von Wasser wieder auf.

Freilebende Wale waren in der Nähe des Ozeanbeckens kaum je zu sehen, da sie sich selten in die wärmeren, salzreichen Gewässern vor Texas’ Küsten verirrten, aber dieser hier schien von den anderen gefangenen Walen und der Aussicht auf Nahrung angezogen worden zu sein. Oder war dieses prächtige Tier in Not?

Als der fremde Wal begann, seine Umgebung zu erkunden, indem er fast senkrecht aus dem Wasser schoss, machte Gonzo es ihm nach. Die beiden Tiere bewegten sich, als wäre eines das Spiegelbild des anderen. Ihr lautes Zirpen, Pfeifen und Quieken hallte über den Meeresarm wie die unheimlichen Klänge von Nebelhörnern. Es schien, als wären sie verzweifelt bemüht, miteinander zu kommunizieren.

Aber das war noch nicht das Erstaunlichste an der Sache.

Rücklings auf dem Killerwal saß ein Mann. Und er schien sich wie ums liebe Leben an die Rückenflosse des Wals zu klammern.

Aber Moment mal! Lenkte er das Tier, als wäre die Rückenflosse das Steuerruder eines Boots? War das etwa eine neue Attraktion des Meeresparks, die jetzt als großer Knüller geboten wurde? Wow!

Oder – oh Gott! – handelte es sich um einen wilden Killerwal auf Raubzug?

Sämtliche feine Härchen auf Maggies Haut stellten sich auf, und ihre Intuition meldete sich. Sie wusste, wusste ganz einfach, dass der Mann wirklich in der Klemme steckte.

»Langsamer!«, brüllte Jorund Thora zu.

Festhalten, antwortete das Walweibchen, als sie genügend Gischt aus ihrem Atemloch stieß, um ein kleines Dorf untergehen zu lassen, und schoss durch den Ozean wie ein Felsbrocken aus einem Katapult.

Durch den Wind, den Thoras atemberaubende Geschwindigkeit erzeugte, ergoss sich die meiste Flüssigkeit über ihrem unfreiwilligen Fahrgast. Jorund strich sich das Haar aus dem Gesicht und spuckte mehrmals angewidert aus. Walgischt schmeckte genauso ekelhaft wie verfaulter Fisch.

Jorund war so wütend, dass er kaum noch denken oder atmen konnte.

Und ja, er musste es zugeben: Er hatte so verdammt viel Angst, dass er sich fast die Hosen nass gemacht hätte. Wenn er noch Hosen angehabt hätte. Und wenn er nicht schon nass gewesen wäre.

Anscheinend war er also doch nicht ertrunken. Aber manchmal wünschte er, er wäre es.

»Sobald wir Halt machen, zerschneide ich dich zu dem größten Haufen Walfischspeck der Welt«, brüllte er. »Ich mache genug Walsuppe aus dir, um die Bevölkerung eines ganzen Landes zu füttern. Ich mache Äxte aus deinen Zähnen. Ich mache eine Halskette, um deine hässlichen Schweinsaugen zu fassen. Ich mache–«

Jorund konnte den Satz nicht mehr beenden, da Thora erneut tief unter die Wasseroberfläche tauchte und ihren Passagier zwang, die Luft anzuhalten.

Als er wieder auftauchte, setzte Jorund seine Schimpftirade fort. »Und noch etwas, wenn du das nächste Mal beschließt, deinen Hunger mit einem Hai zu stillen, iss gefälligst mit geschlossenem Mund, ja? Dein Atem würde sogar Milch sauer werden lassen.«

Halt die Klappe, Wikinger. Wir sind beinahe da, teilte Thora ihm mit ihrem üblichen Zirpen und Quietschen mit.

Jorund konnte immer noch nicht fassen, dass er imstande war, die Laute eines Wals zu verstehen. Aber das tat jetzt nichts zur Sache. »Beinahe wo?«, fragte er. In diesem Moment entdeckte er das riesige Netz, das sich quer über die Wogen spannte.

Das tut sie nicht, dachte Jorund.

Thora erhöhte ihr Tempo, bis der Wind in Jorunds Ohren pfiff und sein Haar zurückpeitschte.

Sie tut es doch.

Bevor Jorund nur blinzeln oder ein stummes Gebet zu den Göttern sprechen konnte, durchschnitt Thora die Wasseroberfläche und tauchte mit einem wahrhaft eindrucksvollen Luftsprung wieder auf. Auf dem Gipfelpunkt dieses Sprungs, kurz bevor sie ihren gewaltigen Körper durchbog, um wieder ins Wasser einzutauchen, schüttelte Thora sich so kräftig, dass Jorund den Halt an ihrer Rückenflosse verlor. Mit einem Schrei des Entsetzens segelte er durch die Luft, über das Netz und in das Wasser dahinter.

Jetzt liegt es bei dir, Wikinger.

»Was?«, gurgelte Jorund, der immer noch unter Wasser war.

Dein Schicksal.

Oh nein! Schon wieder Rätsel … Walrätsel!

Als er endlich an die Wasseroberfläche schwamm, das Schwert an seinen Oberschenkel schlagend, drehte Jorund sich um. Thora war nirgends zu sehen.

Als er sich dann zu der Küste umwandte, die in der Ferne zu sehen war, bot sich ihm ein erstaunlicher Anblick. Dort waren Menschen, sehr viele Menschen, und mehrere Wale, und melodische Musik tönte durch die Luft, die wie Humtata, Humtata, Humtata klang … und seltsame Gegenstände in vielen grellen Farben flatterten in Kreisen und an riesigen Metallringen herum.

Jorund stieß einen tiefen Seufzer aus und schwamm auf die Küste zu. Es gab nur eine Erklärung: Er musste doch gestorben sein. Obwohl er Frieden empfand, stieg Traurigkeit in ihm auf, weil er die Mission seines Vaters nicht ausgeführt hatte. Na gut. Was sein muss, muss sein.

Das hier musste Asgard sein … das Himmelreich der Wikinger.

Mit einem reumütigen Grinsen sprach er insgeheim den Wunsch aus, seine persönliche Walküre möge üppige Rundungen haben. Nach der Ehe mit einer flachbrüstigen Frau und nach allem, was er in den letzten Monaten durchgemacht hatte, verdiente er eine gut ausgestattete Göttin. Vielleicht wartete sein Bruder Rolf schon an der Küste auf ihn. Ja, wenn sein Bruder vor ihm auf die andere Seite gegangen war, würde er sicher dafür sorgen, dass genug vollbusige Mädchen da waren, um sein Lager zu wärmen.

Jorund war stetig dem Land entgegengeschwommen, einen Arm über dem anderen, das Gesicht unter Wasser. Jetzt blickte er auf, fuhr zurück und starrte noch einmal hin.

»Heiliger Thor!«

Kapitel 3

Der Mann und die drei gefangenen Orcas schwammen jetzt, im tiefen Blau des Meeres kaum sichtbar, unter Wasser direkt auf die Tribüne zu. Als sie noch ungefähr zehn Meter entfernt waren, tauchten Mann und Tiere tief unter, um sich dann mit aufsehenerregenden Sprüngen zu viert in die Höhe zu schwingen.

Es war eine Sache, ein zwei Tonnen schweres Tier wie ein von Gott gesegnetes Geschöpf raketengleich aus dem Wasser schießen zu sehen, eine ganz andere aber, einen hünenhaften Mann mit sehnigen Muskeln an einem makellos proportionierten Körper dasselbe unglaubliche Kunststück vollführen zu sehen, wobei er sich noch dazu auf dem Gipfel seines Sprungs einen Schopf langer blonder Haar aus dem Gesicht strich.