Im Blutrausch - Hans Girod - E-Book

Im Blutrausch E-Book

Hans Girod

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Beschreibung

Eine Auswahl der besten Fälle Packend schildert Girod die Ermittlungsarbeit der Polizei, richtet sein Augenmerk auf gerichtsmedizinische und kriminaltechnische Erkenntnisse und stellt akribisch Täterspsychogramme, Tatmotive, Tatanlässe dar. In der vorliegenden Sammlung finden sich spannende Geschichten, die interessantesten und aufschlussreichsten Fälle aus seinen Erfolgsbüchern. "Mit seinen Schilderungen macht Kriminalist Girod erschreckend deutlich, wie brüchig die Fassade einer vermeintlichen Normalität sein kann." Saarländischer Rundfunk

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Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder in Datenbanken aufzunehmen.

Die Bilder und Dokumente entstammen dem Archiv des Autors.

ISBN E-Book 978-3-360-50146-2

ISBN E-Buch 978-3-360-01328-6

© 2017 Verlag Das Neue Berlin, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin,

unter Verwendung eines Motivs von stockdevil/Fotolia

Die Bücher des Verlags Das Neue Berlinerscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel.com

Über das Buch

Die authentischen Kriminalfälle dieses Buches haben einen gemeinsamen Hintergrund: Sie ereigneten sich in der DDR. Packend schildert Girod die Ermittlungsarbeit der Polizei, richtet sein Augen­merk auf gerichtsmedizinische und kriminaltechnische Erkenntnisse und stellt Tathergang und Täterspsychogramme dar. In der vorliegenden Sammlung finden sich die interessantesten und aufschlussreichsten Fälle aus seinen Erfolgsbüchern »Der Kannibale«, »Blutspuren«, »Das Skelett im Wald« und »Der Polizistenmord von Gera«.

Über den Autor

Hans Girod, Jahrgang 1937, promovierte 1975 zum Dr. jur. und wurde 1983 habilitiert. Bis 1994 war er als Hochschuldozent für Spezielle Kriminalistik an der Humboldt-Universität Berlin tätig. Seine Arbeitsgebiete: Sexual- und Gewaltdelikte, insbesondere Tötungsfälle, Identifizierung unbekannter Toter und interdisziplinäre Probleme der somatischen Rechtsmedizin und forensischen Psychiatrie. Neben Fachbüchern veröffentlichte er mehrere Sammlungen mit authentischen Kriminalfällen. Hans Girod lebt heute im niederbayrischen Landshut.

Inhalt

Vorbemerkung

Der Würger von Plauen

Schlüsselkind

Die Suche

Der Polizistenmord von Gera

Bruderliebe – Bruderhass

Im Namen des Volkes

Eiskalte Aphrodite

Blutrausch

Lauf weg, so schnell du kannst!

Heiße Spur

Der Kannibale

Knast in der DDR

Vorbemerkung

Die Kriminalstatistik der DDR registrierte über Jahrzehnte gleichbleibend ein Tötungsverbrechen auf 100000 Einwohner pro Jahr. In der gleichen Zeitspanne stieg die Häufigkeit dieser Deliktgruppe in der Bundesrepublik auf das Fünf­fache. Nach dem Untergang der DDR ist in den neuen Bundesländern auch diese Größe inzwischen überschritten. Im internationalen Vergleich schnitt die DDR mit ihrem geringen Anteil an Tötungsdelikten sehr günstig ab. Man vermutet richtig, dass sich das Gesamtbild der Kriminalität in der DDR sowohl quantitativ als auch qualitativ von dem in der Bundesrepublik erheblich unterschied. So entfielen in den sechziger und siebziger Jahren in der DDR durchschnittlich 750 Straftaten auf 100000 Einwohner, während in der Bundesrepublik der Anteil bereits 6200 und in Westberlin sogar 12000 betrug.

Dafür gab es verschiedene Gründe: Der Ehrgeiz der SED und der DDR-Regierung lag darin, nachzuweisen, dass die Kriminalitätsbelastung ständig abnahm. Zentralistische Verwaltungsstrukturen, harte Strafen, nahezu perfekte Personenkontrollen, ein ausgefeiltes polizeiliches Meldesystem und geschlossene Grenzen führten über die Jahre in der Tat zu einem Rückgang der Kriminalität, selbst wenn statistische Angaben – wie allenthalben üblich – gelegentlich durch ausgeklügelte Zuordnungen verfälscht wurden.

Für das internationale Verbrechen blieb die DDR wenig attraktiv. Ganze Deliktgruppen der organisierten Kriminalität wie Drogenhandel oder Entführungen, deren beängstigendes Ausmaß heute bereits eine ernste Gefahr für die Gesellschaft bedeutet, fehlten deshalb im Kriminalitätsbild der DDR.

Bestimmte Formen häufig auftretender Delikte mit geringem Schaden wurden Verfehlungen genannt. Sie waren keine Straftaten und blieben daher außerhalb der Kriminalstatistik. Verfehlungen wurden, wie im Falle kleiner Ladendiebstähle, durch die, wie es in der entsprechenden Verordnung hieß, »leitenden Mitarbeiter der Verkaufseinrichtungen« selbst geahndet oder es entschieden über sie die sogenannten gesellschaftlichen Gerichte.

Die geringe Kriminalitätsbelastung erklärt sich aber auch aus dem humanistischen Anspruch der DDR, die Kriminalität schrittweise aus dem Leben der Gesellschaft zu verdrängen, der – wenn er auch letztlich eine Vision bleiben musste – immerhin vielfältige, ehrliche Bemühungen hervorbrachte.

Schließlich wurden mit der Ablösung des seit 1871 in Deutschland gültigen Strafgesetzbuches durch das 1968 in Kraft getretene sozialistische Strafgesetzbuch der DDR andere, gemeinhin traditionell eigenständige Tatbestände, wie z.B. die Prostitution oder die Kindestötung, die nicht in das Bild der sozialistischen Menschengemeinschaft passten, aus ideologischen Gründen kurzerhand dadurch kaschiert, dass man sie in anderen, unverfänglichen Tatbeständen wie asoziale Lebensweise oder Totschlag untergehen ließ. Systemtypische Delikte, die vorrangig den Schutz der Staatsordnung und der Wirtschaft betrafen, auf die die sozialistische Rechtsordnung besonders empfindlich reagierte, bereicherten hingegen das Strafgesetzbuch.

Der inoffizielle Grundsatz der SED-Führung »Erst politisch entscheiden, dann rechtlich würdigen«, führte in den Rechtswissenschaften, aber auch in der Rechtspraxis dazu, dass ihnen mitunter konstruierte Theorieinstrumentarien aufgezwungen wurden, um die jeweils aktuelle Rechts­politik der SED zu rechtfertigen und wissenschaftlich zu bestätigen.

Solange sich die Kriminalitätsanalyse auf die Beschreibung und Erklärung von Verbrechen im kapitalistischen Gesellschaftssystem beschränkte, wurden umfangreichen Veröffentlichungen keine Hindernisse in den Weg gelegt. Mehr oder weniger leidenschaftlich, meist aber selbstgefällig, wurde aus dem von Marx und Engels postulierten unauflöslichen Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Arbeit und privater Aneignung abgeleitet, dass die Kriminalität dem Kapitalismus eigen ist und schließlich zu seinem Untergang beiträgt. Dem Sozialismus hingegen ist sie wesensfremd, besitzt keine Basis mehr und wird bald aus dem Leben der Gesellschaft verbannt sein.

Wenn der erste Teil dieser These auch zutreffen mag, so blieb der zweite Teil ein irreales Wunschdenken und verbaute schon deshalb ernsthafte theoretische Auseinandersetzungen, weil die Frage nach den eigenen Widersprüchen im Sozialismus, z.B. wenn der Mensch als Miteigentümer des gesellschaftlichen Vermögens sich dennoch daran vergeht, letztlich unbeantwortet bleiben musste.

Obwohl das phänomenologische Bild und die strafrechtlichen Tatbestände der sogenannten allgemeinen Kriminalität in der DDR und die meisten kriminologischen Ergebnisse mit denen der alten Bundesrepublik in vieler Hinsicht vergleichbar waren, blieben die Deutungsversuche über die Ursachen der Kriminalität im Sozialismus wegen der fehlerhaften Prämisse, dass der Mensch bald frei von Egoismus und Habgier sei und sich ausschließlich in der Arbeit und zum Wohle des Gemeinwesens verwirklicht, nur Worthülsen einer hilflosen politischen und ideologischen Argumentation.

So gab es keinen öffentlichen Platz für die wissenschaft­liche Erörterung besonderer Wirkungsmechanismen krimi­neller Erscheinungsformen in der DDR, wenn man von den vollmundigen Schuldzuweisungen absieht, die alle Ursachen dem unerwünschten Kriminalitätsimport aus dem Kapitalismus anlasteten.

Die Kriminalistik indes, die sich mit der Untersuchungsmethodik konkreter Straftaten befasst und die um ihren eigenen wissenschaftlichen Gegenstand, insbesondere als Universitätsdisziplin bemüht war, behielt daher immer eine freundlich-kühle Distanz zur Kriminologie in der DDR. Und in der täglichen Wirklichkeit der Kriminalpolizei ließ sich aus den gespreizten kriminologischen Theorien ohnehin kaum ein praktischer Nutzen ziehen.

Der kriminalistische Untersuchungsalltag in der DDR unterschied sich in der Taktik, Methodik und Spurenkunde kaum von dem in der Bundesrepublik. Allerdings vollzog er sich unter anderen Rahmenbedingungen:

So war die Volkspolizei militärisch strukturiert. Zwar bestanden Kommissariate und Dezernate, doch in ­ihnen arbeiteten »Kommissare« mit militärischen Dienst­graden. Die Volkspolizei zählte als wichtiger Bestandteil der Lan­des­verteidigung zum System der sogenannten bewaffneten Organe.

Die Kriminalpolizei besaß als »Untersuchungsorgan« strafprozessrechtliche Kompetenzen, die sie von denen der übrigen Polizei schärfer abgrenzten als in den alten Bundesländern. Auch ihre relativ gute personelle Situation wirkte sich positiv auf die Ermittlungsqualität aus. War ein Untersuchungsführer in der DDR mit der gleichzeitigen Bearbeitung von maximal dreißig Verfahren ausgelastet, so hatte sein westdeutscher Kollege bereits mehr als einhundert zu bewältigen.

Schließlich wurden bestimmte höhere Leitungspositionen in der Volkspolizei inoffiziell durch MfS-Offiziere (sogenannte OiBE, Offiziere im besonderen Einsatz) besetzt.

Unter diesen Bedingungen, die sich, wie in anderen Bereichen auch, schließlich durch einen mächtigen politisch-ideologischen Indoktrinationsapparat in Form der Politabteilungen ergänzen ließen, wurde die eigentliche kriminalistische Arbeit geleistet.

Was die schnelle und umfassende Aufklärung von Tötungsstraftaten in der DDR betraf, mangelte es gewiss nicht an der erforderlichen Sachkunde und Ernsthaftigkeit. Gut ausgebildete Morduntersuchungskommissionen (MUK) in jedem Bezirk, deren Leiter in der Regel über ein kriminalistisches Universitätsdiplom verfügten, ein vorbildliches Netz gerichtsärztlicher Versorgung, günstige gesetzliche Voraussetzungen für die ärztliche Leichenschau, aber auch für die Leichenöffnung, insbesondere die sogenannte Verwaltungssektion, und die Nutzung der naturwissenschaftlichen und technischen Erkenntnismöglichkeiten der Kriminalistik für die Untersuchung von Gewaltdelikten sicherten der Justiz Aufklärungsquoten, die im internationalen Vergleich der DDR durchaus vorderste Plätze sicherten.

Der Mord zählte auch in der DDR zu den Delikten mit der höchsten Gesellschaftsgefährlichkeit und wurde in der Regel mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe, bis in die siebziger Jahre nicht selten sogar mit dem Tode bestraft.

Seit der Herausbildung der forensischen Wissenschaften haben sich die Fachleute, auch in der DDR, ernsthaft darum bemüht, das Phänomen der Gewalt gegen die körperliche und sexuelle Integrität des Menschen zu untersuchen und vom scheinbar entwicklungsbedingt Tierischen in uns abzugrenzen.

Immer mehr sind wir heute genötigt, uns mit der Gewalt auseinanderzusetzen. Infolge seiner ethischen, moralischen und sozialen Entwicklung hat der Mensch gelernt, sein Gewaltpotential zu zügeln. Doch gibt es vielfältige Umstände, es freizusetzen. Dann brechen sich spezielle Mechanismen ihre Bahn, die den ursprünglichen Gedanken an Gewalt in die Realität der Tötung überführen. Es sind komplizierte psychische, soziale, medizinisch erklärbare, gefühlsmäßig fassbare, gerechtfertigte und ungerechtfertigte, aber auch für immer verborgene Faktoren. Sie vereinen sich mit der seit der jüngeren Steinzeit vorhandenen, unveränderten Triebausstattung des Menschen, bei dem sich im Unterschied zur Tierwelt zum Erhaltungstrieb Mordlust, Habgier und andere, den Tieren fremde, niedere Beweggründe zu ­gesellen scheinen.

Zwischen Täter und Opfer baut sich vielfach eine bizarre Realität auf, die selbst ein Fachmann meist nur unvollkommen zu erkennen und zu beurteilen vermag. Zu welchen Mitteln im Einzelfall auch gegriffen wird, welche Beweggründe und Anlässe ihm zugrunde liegen, immer stehen die Schicksale von Täter und Opfer gleichermaßen für die ex­trems­ten Varianten zwischenmenschlicher Konfliktlösung.

Oft tut sich ein scheinbar unentwirrbares Ursachengeflecht auf, dessen Hintergründe zerstörerische Umwelteinflüsse, zerrüttete Sozialbindungen, unbefriedigtes und ungesteuertes Trieberleben, aber auch zunehmende Verzweiflung und Angst sind und die der unheilvollen Aggression oft schon bei geringsten Anlässen zum Durchbruch verhelfen.

So handelt der Durchschnittstäter aus oftmals banaler ­Situation heraus plötzlich, im Affekt und enthemmt durch Alkohol oder andere Sucht- und Betäubungsmittel. Gekränkte Eitelkeit, Hass, Wut, Habgier, Egoismus und ungezügelter Sexualtrieb sind dabei die mobilisierenden Elemente. Das Opfer stammt dann meist aus dem näheren sozialen Umfeld. Dreiviertel aller Tötungsdelikte in der DDR – wie auch weltweit – lassen sich in dieses Schubfach legen.

Nur ein knappes Drittel der Täter hat die Tat mehr oder weniger langfristig vorbedacht, nicht wenige unter ihnen mit teuflischer Abgebrühtheit. Ihr ganzes Denken verläuft in einer einzigen Richtung: Die Tötung wird als ausschließliche Lösung erwogen.

Andere Täter kalkulieren den Tod des Opfers als mögliche Folge ein, etwa, wenn der Räuber das niedergeschlagene, bewusstlose Opfer ins Wasser stößt und es kaltblütig seinem Schicksal überlässt.

Nach dem Verbrechen fühlt sich jeder Täter alsbald in einer fatalen Schlinge, aus der er sich nicht mehr befreien kann. Die Tat lässt sich nicht ungeschehen machen, woraus neue, vorher nicht kalkulierbare Reaktionen erwachsen. Oft unternimmt er Rettungs- und Wiederbelebungsversuche, die Ausdruck eines nicht selten unbeschreiblichen Entsetzens über sich selbst sind. Manch einer unternimmt den Versuch, seinem eigenen Leben ebenfalls ein Ende zu setzen, oder aber er ist wie gelähmt, verbleibt am Tatort, bis die Poli­zei ihn festnimmt. Schuldgefühle und Bestürzung, häufiger aber die Angst vor gesellschaftlicher Sühne, ver­anlassen manche Täter auch, sich der Polizei zu stellen.

Mitunter setzen sich jedoch die destruktiven Kräfte im Täter fort. Die Furcht vor Entdeckung paart sich mit eis­kalter Berechnung der Folgen. Daraus erwachsen neue Triebkräfte: Spuren werden beseitigt, falsche Fährten gelegt. Die Tat wird mehr oder minder geschickt verschleiert. Der Täter verschwindet im Hintergrund. Der Drang, die eigene Person zu schützen und nichts preiszugeben, kann die Untersuchungshaft überdauern. Eine Verurteilung erfolgt dann mitunter ohne Geständnis. Nicht selten wird bei der Bewertung der Beweismittel, die der Polizei zur Verfügung stehen, das erlahmte Verteidigungsverhalten erneuert und ein bereits abgelegtes Geständnis vor Gericht widerrufen.

Die drohende Todesstrafe, die in vielen Ländern immer noch als Höchststrafe ausgesprochen wird, zumindest die Erwartung einer langen Haftstrafe, erzeugen zuweilen erstaunliche Widerstandskräfte, die Polizei, Staatsanwalt oder Gericht mit den im Strafprozessrecht zugelassenen Mitteln oft nicht brechen können.

Im Grunde sind die meisten Täter lediglich bestrebt, nicht als Verdächtige in das Netz polizeilicher Ermittlungen zu geraten. Deshalb bemühen sie sich, die Tat gänzlich oder teilweise zu verschleiern. Je nach dem Grad ihrer Intelligenz, den zeitlichen und örtlichen Bedingungen, unter denen solche Verschleierungen stattfinden müssen, aber auch ihrer aktuellen psychischen Belastbarkeit erlangen solche Kaschierungen unterschiedliche Qualität. Sie reichen von einfachen ablenkenden Spurenveränderungen über die Vortäuschung eines tödlichen Unfalls, einer Selbsttötung oder gar eines natürlichen Todes bis zur restlosen Beseitigung des Opfers. Ihrem Ergebnis steht die moderne Kriminalistik mit dem entsprechenden taktischen und naturwissenschaftlich-technischen Potential gegenüber, die, wenn sie zum Einsatz kommt, mit bestechender Sicherheit in den spurenkundlichen Mikrokosmos der Tat vorzudringen vermag, der weit außerhalb dessen liegt, was ein Täter sich ­vorstellen kann.

Gerade die letztgenannte Kategorie von Fällen stellte auch in der DDR die eigentliche Herausforderung für Kriminalisten und Gerichtsmediziner dar. Zusammen mit Partnern anderer forensischer Disziplinen waren sie, sehr oft erfolgreich, zuweilen auch mit in die Irre führender politischer und ideologischer Orientierung bemüht, die Opfer zu identifizieren, die Täter zu ermitteln und zu überführen sowie die facettenreichen Tatabläufe, Verhaltensweisen und Beweggründe auszuleuchten.

Das vorliegende Buch widmet sich authentischen Mordfällen, die sich in der DDR zugetragen haben.

Die Notwendigkeit, persönliche Daten und die Intimsphäre der Täter, Opfer und Zeugen zu schützen, begründet, dass vor allem die Namen der Beteiligten und, wo es geraten erschien, die auch Handlungsorte verändert, bestimmte Handlungsabläufe gestrafft oder auf das kriminologisch ­Typische konzentriert wurden.

Die agierenden Kriminalisten, Gutachter und höheren Polizeioffiziere sind keine erfundenen Figuren, vereinen in sich mitunter jedoch mehrere Persönlichkeiten, die mit dem jeweiligen Fall zu tun hatten. Die für eine plastische Darstellung der Berichte notwendigen Dialoge sind zumeist rekonstruiert oder nachempfunden, bleiben aber stets sach- und persönlichkeitsbezogen und dienen der Charakterisierung der jeweilig beschriebenen Situation.

Der Würger von Plauen

Aktenzeichen 3 BS 14/87-131-132.87 Bezirksstaatsanwalt Karl-Marx-Stadt

Am 25. Juni 1982 meldet sich gegen 1.00 Uhr die neunzehnjährige Abiturientin Corinna Kiefer beim Kriminaldienst des VPKA Plauen zur Erstattung einer Anzeige.

Ihr Zustand lässt Schreckliches vermuten: Struppiges blondes Haar, Gesicht, Hände und Rückenpartie des geblümten Kleides voller Schmutz, im vorderen Halsbereich rot verfärbte, deutliche Würgemale.

Tränenüberströmt und angstschlotternd stammelt sie, vor einer knappen Stunde im August-Bebel-Hain von einem Unbekannten überfallen, bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt und beraubt worden zu sein. Der Mann sei wie eine Schleichkatze plötzlich aus der Deckung eines Gebüsches hervorgesprungen, habe sie von hinten gepackt, blitzschnell zu Boden gerissen und ins Dickicht gezerrt. Er sei dann über sie gestiegen, hätte sich auf ihre Arme gekniet, sie auf diese Weise am Erdboden fixiert und sein Gesicht ganz an das ihre gedrückt, dass sie seinen gehetzten, heftigen Atem wahrnehmen konnte. Dann habe er sie mit beiden Händen kräftig gewürgt. Ihr war so, als hätte der Unbekannte Gummihandschuhe getragen, denn sie habe den Gummi ­gerochen. Überdies hätten starke Schmerzen, Atemnot und ­Lebensangst sie völlig wehrlos gemacht.

Durch den brutalen Würgeakt sei sie ohnmächtig ge­worden. Ihrer Einschätzung nach müsse sie einige Minuten bewusstlos gewesen sein. Wieder zu sich gekommen, habe sie rücklings auf dem Erdreich zwischen den Sträuchern ­gelegen. Der Unbekannte wäre unterdessen längst verschwunden.

Ihr erster Gedanke war, im Zustand der Willenlosigkeit womöglich vergewaltigt worden zu sein. Nach Überprüfung ihres Körpers glaube sie dies aber nicht. Hingegen sei ihr aufgefallen, dass die beiden Goldringe von ihrer Hand, die Brille, das Scheckheft und die Geldbörse mit etwas Kleingeld fehlen. Und was den Unbekannten betrifft? Leider, der ließe sich nur ziemlich unzureichend beschreiben, aber er sei groß und kräftig, könnte womöglich schulterlanges Haar tragen und völlig schwarz gekleidet gewesen sein. Er habe die ganze Zeit kein Wort gesprochen und sein Gesicht immer von ihr abgewendet.

Der Diensthabende, Kriminalmeister Lothar Griesbauer (28), ein stattlicher Jung-Siegfried-Typ mit freundlichen Augen, der normalerweise im Kommissariat 3 arbeitet, um Einbrecher, Diebe und Hehler zu verfolgen, leitet noch vor der förmlichen Anzeigenaufnahme die notwendigen polizeilichen Maßnahmen ein: Sofortmeldung absetzen, Fahndung nach dem unbekannten Täter auslösen, die Sperrung des entwendeten Scheckhefts veranlassen. Zudem wird die Schülerin ärztlich untersucht. Und tatsächlich: Die Spuren am Hals sind Relikte eines massiven Würgevorgangs, der glücklicherweise nicht zum Bruch des Zungenbeins oder Kehlkopf­skeletts führte. Auch die Vermutung, eine sexuelle Manipulation oder gar ein Geschlechtsverkehr könnte ausgeschlossen werden, wird durch die ärztlichen Befunde bestätigt.

Dann lässt sich Griesbauer von der Schülerin den Ort des Überfalls zeigen. Er liegt inmitten des August-Bebel-Hains zwischen einer dichten Gebüschgruppe linksseitig des vom Bezirkskrankenhaus stadteinwärts führenden, die Park­anlage durchquerenden Verbindungsweges. Doch die spurenkundliche Ausbeute einer bloßen Inaugenscheinnahme ist logischerweise mager. Zwar sind die Schleifspuren vom Weg bis in das Buschwerk ebenso deutlich zu erkennen wie die Stelle, an der Corinna Kiefer rücklings auf dem Erdreich gelegen haben muss, doch werden keine Schuhabdruckspuren des Täters gefunden, anhand derer Schuhgröße und -art sowie ein individuelles Sohlenprofil hätten bestimmt werden können. Eine weitere kriminaltechnische Untersuchung des Tatorts unterbleibt. Zumindest aber bestätigen sich die Angaben des Mädchens …

Wochenlange Ermittlungen in dieser Sache führen aber keinen Schritt weiter. Zu vage sind die Angaben zum Täter, der überdies auch keinerlei Bemühungen zeigt, die geraubten Sparkassenschecks in bare Münze einzulösen.

Wahrscheinlich wäre der Vorgang bald eingestellt worden, wenn nicht am 11. August 1982 – also knapp zwei Monate nach dem Überfall – die neunzehnjährige Schwesternschülerin Evelin Rabel einen ähnlichen Überfall angezeigt hätte. Sie kam gerade vom Spätdienst im Bezirkskrankenhaus, nahm ihren gewohnten Weg nach Hause stadteinwärts durch den August-Bebel-Hain, als sie plötzlich hinterrücks von einem Unbekannten angefallen, bis zur Ohnmacht gewürgt, hinter einem Gebüsch abgelegt und ihrer Armbanduhr sowie eines Täschchens mit Kosmetika beraubt wurde. Auch sie kann den Räuber nur unzureichend beschreiben. Ihr fiel jedoch auf, dass er mit einer rot-weiß gestreiften Strickjacke bekleidet war, Gummihandschuhe trug, kein Wort sprach und sich bemühte, sein Gesicht zu verbergen.

Aus den spärlichen Informationen »groß, sportlich, stark, schulterlange Haare, vermutlich Träger eines Oberlippenbärtchens« fertigt die Polizei ein Phantombild, das in der örtlichen Presse veröffentlicht wird. Doch der Fahndungsaufruf verfehlt seine angestrebte Wirkung. Stattdessen breiten sich Unruhe und Angst in der Bevölkerung aus.

Die allgemeine Verdrossenheit in der ansonsten von schwerer Kriminalität verschonten Vogtländischen Kreisstadt sorgt für eine gereizte Stimmung. Sachdienliche Hinweise gehen bei der Kripo indes nicht ein. Vier Tage später, in der Nacht vom 13. zum 14. August 1982, schlägt der Unbekannte in nur kurzem zeitlichen Abstand gleich zweimal zu: Die vierundzwanzigjährige Textilfacharbeiterin Sabine Huth wird in der Nähe der Streichhölzerbrücke auf gleiche Weise wie die anderen beiden Frauen überfallen und ihres Einkaufsbeutels beraubt. Fast eine Stunde lang ist sie bewusstlos. Noch in der gleichen Nacht gerät auch die zweiundzwanzigjährige Verkäuferin Martina Hermann auf ihrem Heimweg am Rinnelberg in die Fänge des Unholds, kann sich aber von ihm losreißen und flüchten.

Die Nachricht von der nächtlichen Aktivität des würgenden Räubers verbreitet sich am nächsten Tag in der Stadt wie ein Buschfeuer. Die SED-Bezirksleitung reagiert höchst verstimmt und schlussfolgert klassenkämpferisch, dass ein solcher Täter großen ideologischen Schaden anrichtet, indem er die durch vielfältige Versorgungsengpässe ohnehin erschwerte Lage im Lande zusätzlich vermiest. Deshalb sorgt sie dafür, notwendige Presseinformationen über den Würger tunlichst zurückzuhalten, um eine weitere Beunruhigung der Bürger zu vermeiden. Doch das Gegenteil tritt ein: Spekulationen und Verunsicherung schießen nun erst recht ins Kraut. So gesellt sich zur allgemeinen wirtschaftlichen Unzufriedenheit der Bevölkerung die Angst um Leib und Leben. Hinter vorgehaltener Hand ist aber auch die vermeintliche Unfähigkeit der Polizei allgemeines Stadtgespräch.

Tatsächlich aber ist der polizeiliche Aufklärungswille längst mobilisiert. Allerdings: in derlei Fällen besteht das kriminalistische Dilemma darin, dass Serientäter regelmäßig erst dann erkannt werden können, wenn mehrere vergleichbare Fälle vorliegen. Die Tatanalysen der bisherigen Delikte weisen nun sicher auf gleichartige Begehungsweisen und Tätermerkmale hin und lassen somit einen gefährlichen Serientäter vermuten. Für den Leiter des VP-Kreisamts liegen damit die administrativen Voraussetzungen vor, einen sogenannten Brennpunktbefehl zu erlassen. Ergebnis: Aus Mitarbeitern verschiedener Sachgebiete wird eine stabsmäßig geführte Sonderkommission »Würger« gebildet.

Da die vier Überfälle jeweils um Mitternacht verübt wurden, die Tatzeiten aber keinen Aufschluss über die Präferenz bestimmter Wochentage erlauben, werden die üblichen Ermittlungen der Einsatzgruppe von zeitlich unregelmäßigen, verdeckten, nächtlichen Observationen im weiträumigen Territorium des Plauener Südostens begleitet. Zivile Polizistinnen flanieren in den Nachtstunden durch das industriereiche Stadtgebiet mit seinen Kleingärten und Parkanlagen. Andernorts lauern in unauffälligen Baubuden, geparkten Fahrzeugen oder Häusernischen Dutzende von Gesetzeshütern, um den Würger auf frischer Tat zu schnappen. Doch eine Nacht nach der anderen vergeht ohne einen Fahndungserfolg. Lediglich einige harmlose männliche Nachtschwärmer, die sich »im Operationsgebiet aufhalten«, werden vorübergehend Opfer polizeilicher Neugierde.

Am späten Donnerstagabend des 2. Septembers 1982 – für diese Nacht ist zufällig keine Observation geplant – wird bei der Polizei ein weiterer Überfall gemeldet. Ein Unbekannter beraubt gegen 22.00 Uhr an der Verbindungstreppe der Trögerstraße zum Rinnelberg die einundvierzigjährige Sekretärin Steffi Lange, nachdem er sie durch rabiates Würgen außer Gefecht gesetzt hat.

Kein Zweifel, der Würger hat wieder zugeschlagen, denn alle bisher festgestellten Tatmerkmale treffen auf ihn zu. Diesmal aber besteht seine Beute nur aus einer simplen textilen Einkaufstasche mit wertlosen persönlichen Sachen, darunter ein Passbild des Opfers. Aber auch ein weiteres Merkmal lässt der Vorfall erkennen: Der Würger führt seine Überfälle auch vor Mitternacht durch. Fazit: Taktischen Regeln zufolge müssten die heimlichen Beobachtungen zeitlich erweitert werden und von nun an auch die Stunden vor Mitternacht erfassen. Doch Observationen dieses Ausmaßes sind personalintensiv und zeitaufwendig und stehen zumeist in einem ungesunden Aufwand-Nutzen-Verhältnis. Zehn Tage später finden deshalb die nächtlichen Lauer­aktionen nur noch gelegentlich, mit weniger Einsatzkräften und zeitlich reduziert statt.

Dann, am Abend des 19. Septembers 1982 – zufällig hat Kriminalmeister Griesbauer sonntäglichen Kriminaldienst – wird ein weiterer Fall des Würgers bekannt: Die siebzehnjährige Schülerin Karin Linkhorst wurde auf ­ihrem Heimweg in der Nähe des August-Bebel-Hains überfallen, ins Gebüsch gezerrt, bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt und ihrer Cordtasche beraubt, in der sich lediglich Kosmetika, Ausweise, Schlüssel und Kleingeld befanden. Nun ist sie mit ihrem Vater auf dem VPKA erschienen, um den Vorfall anzuzeigen. Griesbauer lässt sich den Tatort zeigen und sucht minutenlang ergebnislos nach Schuheindruckspuren und verdächtigen Gegenständen. Resigniert übergibt er beim morgendlichen Rapport Anzeige und ­Besichtigungsprotokoll dem Leiter der Einsatzgruppe »Würger«, den der Neuanfall verständlicherweise keineswegs entzückt.

Die Ermittler treten auf der Stelle. Zwar gehen ständig neue Hinweise ein, werden andere Straftaten aufgedeckt, Verdächtige überprüft und Zeugen vernommen, nur der ersehnte Erfolg, den Würger endlich dingfest zu machen, stellt sich nicht ein. Inzwischen wächst die Sorge der abkommandierten Kriminalisten, dass sich in ihren seit vielen Wochen verwaisten Büros massenhaft unerledigte Akten stapeln. Überdies ist es nicht üblich, Überstunden zu vergüten oder durch Freizeit abzugelten. Schnell sind die Belastungsgrenzen erreicht, und der Jagdeifer lässt nach. So vergeht die Zeit, und mit ihr schwindet die Hoffnung.

Mehr als sechs Monate gibt der Würger Ruhe. Das ist ungewöhnlich. Fragen werden aufgeworfen: Ist er krank, wegen einer anderen Sache in Haft, hat er sein Betätigungsfeld verlagert oder sein Unwesen gar endgültig aufgegeben, kann folglich die Einsatzgruppe aufgelöst werden? In der Führungsetage des VPKA sinniert man darüber und kommt zu dem Schluss, die Sonderkommission zwar nicht gänzlich aufzulösen, aber zu reduzieren.

Sonntag. Am 15. Mai 1983, ein neuer Überfall. Schock in der kleinen Einsatzgruppe: Ist der Würger nach so langer Zeit plötzlich wieder aktiv? Gegen 2.45 Uhr wird nämlich die zweiunddreißigjährige Kellnerin Gerlinde Franze an der Bahnunterführung Reichenbacher Straße von einem Mann, den sie kaum beschreiben kann, von hinten angefallen und nach der Aufforderung, die Augen zu schließen, zu Boden gerissen und so massiv gewürgt, dass sie fast anderthalb Stunden bewusstlos auf dem Rücken liegt. Die Ärzte des Bezirkskrankenhauses stellen erhebliche Würgeverletzungen fest. Tagelang wird die junge Frau unter Schluckbeschwerden und Übelkeit leiden. Nur glücklichen Umständen ist es zu verdanken, dass sie nicht zu Tode kam. Doch es gibt drei bemerkenswerte Unterschiede zu den bisherigen Fällen: Zum einen wurde Frau Franze nicht beraubt. Zum zweiten sprach der Unbekannte sie an. Und schließlich, so glaubt sie, muss der Täter ihre Ohnmacht ausgenutzt haben, ­ihren Rock hochzuschieben und die Strumpfhose herunterzu­ziehen, ohne jedoch direkte sexuelle Handlungen vorzunehmen, denn der Slip blieb unberührt.

Wenngleich dieser Überfall vor allem wegen der offensichtlich sexuellen Komponente nicht deckungsgleich mit den anderen Fällen ist und vermutlich von einem »Trittbrettfahrer« begangen wurde, wird er dennoch von der Einsatzgruppe erfasst. Aber auch dieses Ereignis bleibt trotz hartnäckiger Ermittlungen unaufgeklärt.

Weitere Monate vergehen ohne eine weitere Untat des Würgers. Die polizeiliche Lage wird indes von den wachsenden ökonomischen Problemen des Landes beeinflusst. Erste Symptome des wirtschaftlichen Niedergangs der DDR zeigen sich. Längst haben die Volksrepubliken Polen und Rumänien den ökonomischen Bankrott erklärt. Der politische Untergrund regt sich allerorten. Trotz offiziellem Zweckoptimismus der SED-Führung spürt jedermann, wie der DDR-Binnenmarkt unter dem Devisenmangel leidet und die Versorgungslücken nicht geschlossen werden können. Selbst ein Milliardenkredit, den der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß vermittelt, kann die Agonie nur verlängern. Vielerorts greift das Volk zur Selbsthilfe: Die geflügelten Worte »etwas organisieren« symbolisieren, wie aus den volkseigenen Produktionsfonds immer mehr in die private Konsumtion illegal abfließt. Westgeld eröffnet in zunehmendem Maße einen inoffiziellen, zweiten Markt, führt zu Spekulation und Preistreiberei. Auch im Kriminalitätsbild spiegelt sich dieses Dilemma wider. So boomen im großen wie im kleinen Finanz- und Wirtschaftsdelikte. Die Untersuchung von Straftaten gegen die Volkswirtschaft hat damit auch polizeiliche Priorität und erfordert eine entsprechende Kräftebindung. Deshalb, aber auch, weil die Polizei bereits monatelang auf der Stelle tritt und einige Funktionäre der Ansicht sind, der Würger sei gar kein DDR-Bürger und habe das Land längst verlassen, wird der Brennpunktbefehl alsbald aufgehoben. Ergebnis: Die Sonderkommission »Würger« wird aufgelöst. Doch glücklicherweise verrinnt die Zeit ohne einen Neuanfall.

Zwei scheinbar nebensächliche Episoden in den Nächten des 27. Septembers und 17. Oktobers 1985 erfordern zwar noch einmal die volle polizeiliche Aufmerksamkeit. Zum einen wird die neunundvierzigjährige Postangestellte Heidi Schiffmann von einem Unbekannten hinterrücks angefallen, der ihr den Einkaufskorb entreißt. Da sich zufällig ein Passant nähert, lässt er von ihr ab und macht sich unerkannt aus dem Staub. Zum anderen wird die dreißigjährige Verkäuferin Inge Schäfer auf dem Heimweg vom Kino hinterrücks überfallen, kann sich aber aus den Klauen des Unholds befreien und flüchten. Natürlich wird die Frage aufgeworfen, ob der Würger wieder aktiv geworden ist. Doch diese Überfälle scheinen nicht seine Handschrift zu tragen, also kein Grund für eine Notiz in der sozialistischen Tagespresse. Die Zweifler beruhigen sich bald, denn es geht in der Tat weitere Zeit ins Land ohne ein Vorkommnis ähnlicher Art.

So verblassen im Verlauf des Jahres 1986 die Erinnerungen an den geheimnisvollen würgenden und raubenden Missetäter. Hingegen wird die Öffentlichkeit durch andere, höchst offizielle Themen auf Trab gebracht.

Monatelang bestimmt nämlich der XI. SED-Parteitag das gesellschaftspolitische Leben in der DDR. Überschwäng­liche Huldigungen der SED-Führung und unzählige Erfolgsmeldungen über die vermeintliche »Festigung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft« und schließlich das pompöse Partei-Spektakel im Berliner Palast der Republik bilden die Schlagzeilen in den sozialistischen Medien. Auch als Gorbatschow im Januar 1987 in einer programmatischen Rede zu Perestroika und Glasnost aufruft, gehen die alten Männer im SED-Politbüro verärgert auf Distanz zum »großen Bruder«, weil sie meinen, das Mehrparteiensystem in der DDR verkörpere genügend Demokratie. Sie wollen nicht wahrnehmen, dass die allgemeine Unzufriedenheit der Menschen wächst.

Inzwischen ist es Februar 1987. An den Würger denkt wohl niemand mehr. Auch nicht bei der Polizei. Das Verfahren gegen den Unbekannten wurde längst eingestellt, da »die kriminalistischen Mittel und Möglichkeiten zur Aufklärung der Straftaten erschöpft sind und keine begründete Aussicht besteht, den Täter zu ermitteln«. Scheinbar hat sich die damalige Vermutung bestätigt, er sei Ausländer und längst in sein Heimatland abgetaucht – ein kapitalistisches, versteht sich. Also, undenkbar, dass er in Plauen wieder von sich reden macht.

Ein fataler Irrtum! Denn in der Nacht vom 13. zum 14. Februar wird die Erinnerung an den würgenden Unhold plötzlich wieder belebt. Gegen 3.00 Uhr erscheint die MTA Steffi Golze (22) im VPKA zur Erstattung einer Strafanzeige, weil sie, von einer privaten Feier kommend, auf dem Heimweg in der Nähe der Kleingärten an der Liebigstraße von einem Unbekannten überfallen, niedergerissen, bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt und beraubt wurde. Zum Glück ist sie noch am Leben.

Es ist kurios: Zufällig hat Lothar Griesbauer, nach erfolgreichem Fernstudium an der Fachschule des MDI inzwischen zum Unterleutnant der Kriminalpolizei avanciert, wieder Wochenenddienst. Folglich obliegt ihm die Anzeigenaufnahme und der Erste Angriff bei allen am Wochenende anfallenden kriminalistisch relevanten Sachverhalten. Er befragt Frau Golze. Aber auch ihre Informationen über den Täter sind so dürftig wie die in der Vergangenheit, und die übliche Inaugenscheinnahme des Tatorts verläuft ebenfalls im Sande. Diesmal aber gibt es keinen Zweifel. Der Würger ist wieder unterwegs.

Im internen Polizeibetrieb des VPKA schlägt der Neuanfall wie eine Bombe ein. Doch den Berufsrevolutionären der Polizeiführung und SED-Kreisleitung passt er nicht in das sicherheitspolitische und ideologische Konzept. Schnell haben sie eine einfache Erklärung parat: »Der Täter unterliegt offensichtlich dem dekadent-klassenfeindlichen Einfluss des Westfernsehens.« Woher sonst sollen die Anregungen für derartig heimtückische Überfälle kommen? Gewollt oder ungewollt wird damit der Würger zum Staatsfeind gestempelt, was praktisch bedeutet, ihn im politischen Untergrund zu ermitteln. Mit klassenkämpferischer Diktion mahnen die Funktionäre zur Wachsamkeit und vor allem zur Schweigsamkeit. Nichts darf nach außen dringen. Keine Information an die Presse, keine erneute Beunruhigung der Plauener Bürger!

Einer jedoch sieht das anders: Wolfgang Bollmann (44), Major der Kriminalpolizei – ein hellwacher Geist mit jahrelanger Erfahrung bei der Untersuchung unnatürlicher Todesfälle. Er ist seit Kurzem neuer Kripo-Chef von Plauen. Klar, einen Fahndungsaufruf in der Presse wird er nicht durchsetzen können, aber eine Wiederbelebung des Brennpunktbefehls und die Neuformierung einer Sonderkommission hält er für möglich. Voraussetzung ist eine sachkundige Analyse aller Vorgänge über den würgenden Räuber – die Grundlage für einen fundierten Untersuchungsplan. Nichts soll mehr dem Zufall überlassen bleiben! Kriminalistische Offensive ist gefragt. Bollmann konsultiert telefonisch Dr. Hartwig Glaser (48) von der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität im fernen Berlin, fragt ihn, ob er im Fall des Würgers eine sogenannte Täterhypothese erstellen würde. Glaser ist Kriminalwissenschaftler, vor allem ein renommierter Untersuchungsmethodiker in Sachen nicht natürliche Todesfälle und Sexualdelikte, der neben seiner akademischen Tätigkeit in Lehre und Forschung gelegentlich auch die Mordkommissionen in praktischen Untersuchungsfragen unterstützt. Er ist sofort bereit, nach Plauen zu kommen, jedoch erst am Abend des 9. März. Schließlich beeinträchtigt das Tingeln in der kriminalistischen Praxis den regulären Dienstbetrieb, weshalb mit Bedacht Vorlesungen und Seminare getauscht, Konsultationen und Beratungen verschoben und andere, ­weniger wichtige Termine abgesagt werden müssen.

Major Bollmann lässt ein Hotelzimmer reservieren und beauftragt Lothar Griesbauer aus dem Kommissariat 3, der mit dem Würgerfall bestens vertraut ist, dem Gast aus ­Berlin als Adlatus zur Seite zu stehen.

Am Morgen des 10. März, 7.30 Uhr. Dr. Glaser sitzt im Speiseraum des HO-Central-Hotels in der Plauener Bahnhofstraße und beißt gerade genüsslich in ein knuspriges Marmeladenbrötchen, als ein stattlicher junger Mann im sportlichen Anorak an seinen Tisch tritt und fast schüchtern fragt: »Verzeihung, sind Sie Dr. Glaser?«

Der Angesprochene nickt mit dem Kopf.

»Unterleutnant Griesbauer«, stellt sich der junge Mann vor. Weil der Bissen Glasers Mundhöhle verstopft und Sprechen mit vollem Mund gegen die guten Sitten verstößt, begrüßt er den Ankömmling nur mit einer Handbewegung, die bedeuten soll, Platz zu nehmen. Zaghaft folgt Griesbauer der Aufforderung. Dr. Glaser gibt dem Ober ein Zeichen, einen weiteren Kaffee zu bringen und wendet sich Griesbauer zu: »Ihr Chef hat Sie schon angekündigt. Sie trinken doch einen Kaffee mit?« Der Leutnant bekundet sein Einverständnis mit einem kurzen Lächeln, sagt: »Ich habe Befehl vom K-Leiter, Sie zu betreuen. 8.30 Uhr will er Sie begrüßen. Mein Dienstwagen steht draußen«, und nimmt Platz.

Beim Kaffee entwickelt sich zwischen den Männern ein Small Talk, bei dem Glaser nebenbei erfährt, dass Griesbauer stolzer Vater zweier Kinder ist. Allerdings habe sich seine Frau vor einem halben Jahr von ihm scheiden lassen. Sie wolle ein normales Familienleben, wie andere auch. Schade. Jetzt teile er das Los mit vielen seiner Genossen. Denn Polizistenehen zerbrechen häufig an den perma­nenten dienstlichen Belastungen. Glücklicherweise bleibt ihm wenigstens der »Trabi«, auf den er so lange warten musste. Aber auch Fachliches kommt zur Sprache: Das bereits Jahre andauernde Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem würgenden Räuber und der Polizei. Griesbauer klagt: Mehr als zwölf Fälle sind bereits angezeigt worden. Aber keine Spuren, keine brauchbare Beschreibung des Täters. Weiß der Teufel, wie viele Fälle noch latent sind, wie viele Frauen aus Scham keine Anzeige erstatteten und wie viele Versuche scheiterten. Eine vertrackte Geschichte! Zu allem Unglück habe der Unbekannte vor einigen Tagen wieder zugeschlagen. Die übliche Machart. Diesmal sei das Opfer aber eine fünfundvierzigjährige Frau. Außerdem betrage der Abstand zwischen den letzten beiden Überfällen nur elf Tage. Beinahe wehmütig beendet Griesbauer das Klagelied, in dem er anzweifelt, dass die Plauener Polizei den Fall jemals lösen wird. Dr. Glaser, der seinem Gegenüber aufmerksam zuhört, will neutral bleiben und schließt das Gespräch kurzerhand ab: »Erwarten Sie jetzt noch keine Meinung von mir. Ich muss mir erst ein genaues Bild machen!«

Kurz darauf kutschiert Griesbauer den Gast aus Berlin mit dem VP-eigenen Wartburg zum Kreisamt in der Freiheitsstraße. Die Begrüßung bei Major Bollmann ist kurz. Er hat es eilig, muss zum großen Chef. Besorgt berichtet er von dem Neuanfall in der Nacht zum 23. Februar und von seinem Vorhaben, den Alten von einer Reaktivierung des Brennpunktbefehls zu überzeugen. Die Frage, was Glaser für seine Arbeit benötige, beantwortet dieser kurz und präzise: »Ein Büro, Telefon, Stadtplan, die Akten aller ungeklärten Überfälle auf Frauen aus den letzten Jahren und die Möglichkeit, die Tatorte zu besichtigen!«

»Kein Problem«, verspricht Bollmann, »Unterleutnant Griesbauer hat Anweisung, sich um alles zu kümmern!«

Bis zum Abend verkriecht sich Dr. Glaser in das für ihn vorbereitete Büro. Stundenlang vertieft er sich in die inzwischen herangeschafften Akten. Gelegentlich betritt Unterleutnant Griesbauer auf leisen Sohlen den Raum, um wortlos eine Tasse frischgebrühten Kaffee auf den Schreibtisch zu stellen. Nur zur Tischzeit, die er mit Major Bollmann in der Kantine verbringt, unterbricht er für eine halbe Stunde seine Arbeit.

Am anderen Morgen bittet er Griesbauer um eine streng zweckorientierte Stadtrundfahrt: Er will sich einen Überblick über alle Tatorte verschaffen, ihre topografischen Eigenheiten ebenso kennenlernen wie ihre Einordnung in das Stadtbild von Plauen. Stundenlang sind die beiden unterwegs. Grünanlagen, Kleingärten, Wohngebiete, die Umgebung des Kreiskrankenhauses und der Fabriken im Nordosten der Stadt, Brücken und inoffizielle Abkürzungswege sind Objekte kriminalistischer Neugierde des Berliner Experten. Während sich Glaser von den Orten vergangener Untaten unentwegt Notizen und Skizzen macht, erläutert der Unterleutnant mit erstaunlicher Genauigkeit, wie sich das jeweilige Gelände mit den Jahren verändert hat und in welcher Art und an welchen Orten seinerzeit die polizeilichen Obser­vationen stattfanden. Nach dieser Exkursion verschwindet Dr. Glaser wieder im Büro. Jetzt hat er alle Ausgangsmaterialien für die Analyse der Fälle beisammen. Der Sortierarbeit folgt das Denken. In Glasers Hirn läuft ein für die Kriminalistik typischer, ziemlich komplizierter Erkenntnisprozess ab, bei dem die vorhandenen Fakten geordnet und bewertet werden, um ihre objektiven Zusammenhänge zu finden und zu erklären. Das betrifft Tatabläufe, Tatorte, Tatzeiten ebenso wie Persönlichkeiten von Täter und Opfer, deren Handlungsmotive und Rolle in der Dynamik des Verbrechens. Die Ergebnisse sind Hypothesen, die wegen ihrer Variabilität und Variantenhaftigkeit in der Kriminalistik Versionen genannt werden. Das Erkenntnisziel besteht darin, die Versionen zu verifizieren, zu verwerfen oder aus ihnen Schlussfolgerungen abzuleiten, die zum Auffinden neuer, bisher unbekannter Tatsachen verhelfen. Um die Übersicht über diesen Prozess zu behalten und sich von jeglicher Voreingenommenheit und Spekulation zu lösen, ist für jede Version eine exakte Untersuchungsplanung vonnöten.

Dr. Glaser prüft die Fälle zunächst auf Gleichartigkeit einzelner Tat- und Tätermerkmale, dann darauf, ob sie tatsächlich einem einzigen Täter zuzuordnen wären. Auch die überfallenen Frauen vergleicht er hinsichtlich ihres tat­rele­vanten äußeren und inneren Erscheinungsbildes, ob sich möglicherweise ein präferenter Opfertyp bestimmen ließe, der wiederum Rückschlüsse auf die Täterpersönlichkeit gestattet. Das Ziel seiner Tätigkeit besteht also letztlich darin, neue Ermittlungsansätze zu finden und so den Untersuchern den erforderlichen Motivationsschub zu verleihen.

Drei Tage lang dröselt Glaser die in den Fällen steckenden Informationsmengen auf, vergleicht, entschlüsselt und leitet ab. Lediglich durch die Butlerdienste, die Unterleutnant Griesbauer leistet, um ihn bei Laune zu halten, lässt er sich kurzzeitig ablenken. Schließlich münden alle Überlegungen in einer vierzehnseitigen »Stellungnahme zum Fall ›Würger‹«, die Dr. Glaser am 4. Tag dem Kripo-Chef Major Bollmann und dem Sachbearbeiter Unterleutnant Griesbauer zur Diskussion stellt.

Danach weisen zehn der ausgewerteten Fälle bedeutsame Gleichförmigkeiten auf, die eine Zusammenfassung zu einem Brennpunkt rechtfertigen, verursacht durch einen gefährlichen sexuellen Serientäter, der seit Jahren sein Unwesen treibt, ein genau geplantes Sicherungsverhalten zeigt, von Tat zu Tat handlungsintensiver und risikobereiter wird. Glaser begründet, warum aus den Tatzeiten keine Schlussfolgerungen für einen prognostizierbaren Tatrhythmus zu ziehen sind, hingegen die Tatorte für eine ausgezeichnete Ortskenntnis des Täters sprechen. Auch wenn die herkömmlichen Spuren von Sexualhandlungen fehlen, spräche dies keineswegs gegen ein sexuelles Handlungsmotiv des Täters, der nämlich das Würgen bis zur Bewusstlosigkeit anstrebt und nicht den Raub. Die absolute Wehrlosigkeit der Opfer verschafft ihm das Gefühl innerer Größe und Befriedigung, kompensiert sein beschädigtes Selbst­bewusstsein, wenigstens für kurze Zeit. Auf diese Weise will er beherrschen, demütigen und sich sexuell befriedigen. Folglich ist er eine gestörte, selbstwertbeeinträchtigte ­Persönlichkeit. Ein einsamer Mann, der vermutlich allein oder in weit­gehend zweckbestimmter Partnerschaft lebt. Äußerlich sozial angepasst, bieder, unauffällig, aber innerlich schwach, egoistisch und eitel, wird er getrieben von seinen über­mächtigen, krankhaften Wünschen. Kurzum: Er ist das Produkt einer sexuologisch relevanten Vorgeschichte, und die dürfte dem sozialen Umfeld nicht verborgen geblieben sein. Von den geringen Bargeldmengen abgesehen, spielt das vermeintliche Raubgut für den Täter lediglich die Rolle von sexuellen Souvenirs, besser Fetischen. Er behütet sie insgeheim, um sich bei Gelegenheit an ihnen zu erregen und die Überfälle gedanklich nachzuerleben. Also: Die polizeilichen Ermittlungen in Richtung eines materiell motivierten Täters – wie sie bei Raubdelikten üblich sind und von denen die bisherigen Untersuchungen ausgingen – müssen wegen der andersgearteten Täterpersönlichkeit zwangsläufig in eine Sackgasse führen.

Dr. Glaser meint, wenn auch keines der Opfer bisher zu Tode kam, läge das mitnichten in der Absicht des Täters, sondern sei vielmehr ein außergewöhnlicher Glücksumstand. Denn dahinter verberge sich ein forensisches Problem mit direkten strafrechtlichen Konsequenzen: Wenn der Täter nämlich in der Lage wäre, einen Würgeakt bewusst so zu dosieren, dass er lediglich eine Bewusstlosigkeit herbeiführt und nicht den Tod, könne er strafrechtlich nur wegen eines Körperverletzungsdelikts belangt werden. Tatsächlich aber ist eine nur auf die Bewusstlosigkeit des Opfers abzielende Dosierung des Würgevorgangs unmöglich, weil verschiedene physische und psychische Dispositionen zu einem reflexartigen Tod führen können. Und solche Dispositionen sind nicht vorhersehbar. Folglich ist bei der strafrechtlichen Bewertung der bisherigen Überfälle immer von einem bedingten Tötungsvorsatz auszugehen. Mit anderen Worten: Der Plauener Würger findet sich bewusst damit ab, dass seine Attacken zum Tod der Opfer führen können. Und das kennzeichnet seine hohe Gesellschaftsgefährlichkeit. Er ist ein potentieller Mörder, dessen Konto mittlerweile zehn bekannte Mordversuche aufweist. Und das ist vielleicht nur die Spitze des Eisbergs.

Glaser schließt seine Erläuterungen mit der Empfehlung ab, den Würgerfall unverzüglich der zuständigen Mordkommission in Karl-Marx-Stadt zu übergeben.

Unterleutnant Griesbauer ist nicht so leicht von der Expertenmeinung zu überzeugen und bekundet leise Zweifel an den Thesen des Berliners. Für ihn ist der Würger ein klassischer Räuber, der bislang nur durch Zufall an solche Opfer geriet, die ihm nur unbedeutende Beute einbrachten. Aber das könne sich ja beim nächsten Fall ändern. Im Übrigen sei er sowieso skeptisch gegenüber solchen Fallanalysen und Täterhypothesen, von denen man meist nicht wisse, ob sie die Grenze zur Spekulation bereits überschritten haben.

Major Bollmann wiederum ist nach Glasers Ausführungen ziemlich still geworden. Nachdenklich überfliegt er Seite für Seite des Schriftstücks, das Glaser ihm überreicht hatte, und räumt schließlich ein, den Fall unter diesem ­Aspekt ­bisher nicht gesehen zu haben. Ja, das ist wahrscheinlich nichts für Plauen, er werde sich mit dem Amtsleiter beraten und umgehend mit Karl-Marx-Stadt telefonieren.

Am Abend des gleichen Tages will Dr. Glaser nach Berlin zurück. Griesbauer, der ihn zum Bahnhof chauffiert, ist ziemlich in sich gekehrt und wortkarg. Glaser erahnt die Gründe für die Verstimmung und beruhigt ihn: »Denken Sie nur nicht, ich wäre sauer, nur weil Sie mir in dem Gespräch bei Ihrem Chef widersprochen haben!«

Griesbauer grinst verlegen und bekennt: »Vielleicht haben Sie doch recht mit dem Würger!«

Anfang der siebziger Jahre war in den USA die Aufklärungsquote bei Tötungsverbrechen von vormals etwa 93% auf 69% gesunken. Auch die für diese Deliktkategorie sonst üblichen engen Täter-Opfer-Beziehungen hatten zugunsten von »Fremdtätern« rapide abgenommen. Dieser besorgniserregende Trend initiierte nicht nur intensivere kriminologische Untersuchungen, sondern veranlasste auch das FBI, die Untersuchungsmethodik von Tötungsverbrechen stärker wissenschaftlich zu durchdringen, um dem Phänomen der großen Zahl an unbekannten Tätern taktisch wirkungsvoller begegnen zu können. So ging man u.a. von der Überlegung aus, die übliche Dekodierung der Tatspuren nicht nur auf den formalen naturwissenschaftlich-technischen Gehalt zu beschränken, sondern auch mögliche Widerspiegelungen psychologischer Inhalte in die Spureninterpretation einzuschließen. Anders ausgedrückt: Die kriminalistische Spurenanalyse sollte auch ein subjektiver Transformationsprozess sein, der Spuren zu hypothetischen Aussagen über psychische und soziale Eigenarten des Spurenverursachens umwandelt. Dazu wurden Ende der achtziger Jahre computergestützte, methodische Verfahren entwickelt. Das war die Geburtsstunde des »Täterprofiling«, das die flinken Medien bald zur Wunderwaffe gegen Serienkiller erklärten. Falsche Interpretationen der statistischen Angaben hatten nämlich längst dazu verleitet, in der hohen Zahl an unbekannten Tätern einen »Serienmörder-Boom« zu erkennen. In Wahrheit – so seriöse kriminologische Untersuchungen – wichen die Zahlen der Fälle von Serientätern in den USA keineswegs signifikant von denen anderer Länder ab. Doch das »Hannibal-Lecter-Virus« hatte längst eine Epidemie der Phantasterei ausgelöst. Sogar in der Verbrechenswirklichkeit übertrieb mancher Täter angesichts des großen Medieninteresses seine Taten mit überschwänglicher Geständnisfreude. Der »Profiler« wurde zum neuen Helden der Krimiautoren, verhalf zu hohen Buchauflagen und belegte beste Sendeplätze. Doch echte »Profiler« sind keine Hellseher, die beim Rundgang über den Tatort aus den Spuren treffsicher »Name und Anschrift« des Täters herauslesen, so dass dessen Verhaftung für die erstaunte Polizei nur noch ein Kinderspiel ist.

Sie sind vielmehr penible Fallanalytiker, arbeiten am Schreibtisch und ermitteln nicht selbst. Auf der Basis verschiedener gültiger Modelle werden nach festgelegtem Verfahren (Datenerfassung durch Fragebögen, computergestützte Auswertung) Fälle nach unterschiedlichen Gesichtspunkten ausgewertet. Einer dieser Aspekte ist die Frage nach dem »Täterprofil«. Und die Antwort darauf darf keinesfalls apodiktisch sein. Vielmehr hat sie nur zu einer hypothetischen Aussage zu führen analog anderer Versionen. Dergestalt dient sie als Ermittlungshilfe mit mehr oder minder großem Wahrscheinlichkeitsgehalt.

In der DDR-Kriminalistik erfolgte die Erarbeitung von Täterhypothesen, besser Täterversionen, schon immer auf fallanalytischer Basis. Sie zählte bereits seit den frühen siebziger Jahren zum allgemeinen Methodenarsenal der Aufklärung von Kapitalverbrechen und wurde auf hohem Niveau betrieben.

Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen befand sich die Kriminalistik längst nicht mehr wie in der Vergangenheit in der Umklammerung einer internen kriminalpolizeilichen Dienstkunde. Vielmehr entwickelte sie sich unter Einschluss der forensischen Disziplinen zu einer komplexen Wissenschaft, die nach langer, wechselvoller Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität sich als autonome, im deutschen Sprachraum einmalige Fachrichtung (Studiengang mit Diplomabschluss) etablieren konnte, bis sie – nebenbei bemerkt – im Jahr 1994 auf Beschluss des Berliner Senats »mangels Bedarfs« (!) schließen musste.

Zum anderen beschäftigte sich das Kriminalistische Institut der VP, das dem Ministerium des Innern unterstand, nicht nur mit Routineaufgaben spurenkundlicher Gutachtenerstattung, sondern auch mit theoretischen Fragen der Kriminalistik. Die Erkenntnisse beider Institutionen z.B. im Teilbereich der kriminalistischen Untersuchungsplanung mit seinem Herzstück der Versionsbildung und -überprüfung wurden direkt in die Methodik der kriminalpolizeilichen Untersuchungspraxis überführt.

Eigens für das »Profiling« ausgebildete Experten – über die heutzutage jede moderne Polizei verfügt – gab es zu DDR-Zeiten zwar nicht, doch wurden »Ermittlungssachverständige« (Kriminalwissenschaftler sowie forensisch orientierte Psychologen und Psychiater) vor allem in die Untersuchung komplizierter Tötungs- und Sexualverbrechen mit unbekanntem Täter einbezogen. Sie erarbeiteten empirische Täterprofile. Erwähnenswert scheint, dass bei der Fahndung nach dem sogenannten Eberswalder Knabenmörder in den Jahren 1969 bis 1971 (Täter Erwin Hagedorn) der Ostberliner Psychiater Hans Szewzczyk fallanalytisch die weltweit erste Täterhypothese schuf, also etliche Jahre vor den ersten FBI-Veröffentlichungen von Robert K. Ressler und John Douglas, die gemeinhin als Väter des »Profilings« gelten. Allerdings war der Einsatz von »Ermittlungssachverständigen« dann problematisch, wenn diese nach Abschluss der polizeilichen Untersuchungen zusätzlich mit der Erstattung von Gerichtsgutachten beauftragt und damit am Strafprozess direkt beteiligt wurden. Da sie bereits in die Interna der Ermittlungen involviert waren, hätten sie de jure als gerichtliche Sachverständige ausgeschlossen werden müssen (§§39 und 157 des DDR-Strafprozessrechts), »um die Unvoreingenommenheit und Objektivität der Begutachtung zu gewährleisten«. Die Gerichtspraxis sah in vielen Fällen jedoch darüber hinweg. Ob unter diesen Umständen ein objektives, von jeglicher Befangenheit freies Gutachten möglich war, darf wohl bezweifelt werden.

Etwa zehn Tage später erhält Dr. Glaser einen dringenden Anruf aus Plauen. Major Bollmann ist am Apparat. »Glückwunsch!«, scherzt er, »Sie wollen wohl unbedingt Ehren­bürger von Plauen werden!«

Glaser ist verdutzt, versteht nicht. Bollmann bemerkt die Irritation seines Gesprächspartners und kommt auf den Punkt: »Ich hoffe, Sie sitzen. Wir haben nämlich Ihren Mann!«

»Wie ›Ihren Mann‹?«, fragt Glaser ziemlich ratlos.

»Na, genau den, den Sie in der Täterhypothese beschrieben haben«, erklärt Bollmann, »Haftbefehl ist bereits erlassen. Die MUK hat die Sache übernommen. Übrigens, Sie kennen ihn!«

»Wieso soll ich ihn kennen?«, wundert sich Glaser. Kichern am anderen Ende der Leitung. Der Kripo-Chef amüsiert sich über Glasers Ahnungslosigkeit: »Ich sagte doch ›hoffentlich sitzen Sie‹! Eine Woche lang haben Sie mit ihm zusammengearbeitet!«

Langsam scheint Glaser zu begreifen. Aber: Um sicher zu gehen, ob er Bollmann richtig verstanden hat, fragt er: »Meinen Sie etwa Griesbauer?«

»Genau«, brüllt Bollmann begeistert in die Sprechmuschel, »ist das nicht ein Hammer?«

Glaser ist so perplex, dass er nur sagen kann: »Das haut mich um!«

Bollmann meint es ernst. Der jahrelang gesuchte Würger befindet sich seit einigen Tagen tatsächlich hinter Schloss und Riegel.

Nicht nur Glaser, auch die Plauener Polizisten sind baff, als sich in Windeseile im VPKA herumspricht, Unterleutnant Griesbauer aus dem Kommissariat 3 sei der seit Jahren gesuchte Übeltäter. Im Speisesaal, auf den Fluren und in den Büros gibt es nur noch ein Thema: der nette und emsige Genosse Griesbauer – Würger von Plauen! Sofort wittert die politische Obrigkeit Ungemach. Nicht auszumalen, welcher ideologische Schaden entsteht, wenn die Öffentlichkeit erführe, der Plauener Unhold sei Offizier der Kripo und langjähriges SED-Mitglied, der sogar eifrig gegen sich selbst ermittelte. Deshalb ordnet sie das große Stillschweigen an. Über die Person des Würgers soll keine Einzelheit »nach draußen« dringen. Lediglich zu einer knappen Information in der Tagespresse entschließt man sich: »Dank unermüdlicher und intensiver Ermittlungstätigkeit der Volkspolizei konnte der Bürger G. verhaftet werden. G. hatte Frauen und Mädchen gesundheitlich geschädigt und sich fremdes Eigentum angeeignet.«

Wie kam es zu der plötzlichen Wende im Würgerfall? Um es gleich klarzustellen: Glasers Täterhypothese hat nicht die Festnahme des Täters bewirkt. Zwar stimmen die von ihm beschriebenen Tätermerkmale mit Griesbauers Persönlichkeit in so vielen Punkten überein, dass sie nicht nur die späteren personenbezogenen Ermittlungen, sondern auch das psychologisch-taktische Vorgehen in den Beschuldigten­vernehmungen erleichtern.

Tatsächlich jedoch führt die plötzliche Wende im Würgerfall der in der Kriminalistik zwar beliebte, aber sehr ­zurückhaltende »Kommissar Zufall« herbei. Denn: Einige Tage nach Glasers Gastrolle in Plauen sucht Griesbauers Exgattin Jutta den Chef des VPKA auf und bittet ihn in einer persönlichen Angelegenheit um ein Gespräch. Bollmann wird hinzugezogen. Nur mit Rücksicht auf die gemeinsamen Kinder, so Frau Griesbauer, habe sie sich bisher zurückgehalten und die Probleme nicht nach außen dringen lassen. Doch nun ist ihre Geduld erschöpft. Die prekäre Wohnungsnot in Plauen zwang dazu, die ehemals eheliche Behausung durch scharf gezogene Grenzen in Bereiche zu trennen, in denen der jeweils andere nichts mehr zu suchen hat. Auch der Hausrat wurde peinlich genau aufgeteilt. Doch das einstmals vereinbarte kameradschaftliche Nebeneinander gelingt nicht. Stattdessen wird das Klima zwischen den Eheleuten immer kälter. Streitigkeiten häufen sich, nehmen an Heftigkeit zu, eskalieren bereits zu Handgreiflichkeiten. Deshalb bittet sie den VPKA-Chef, kraft seines Amts bei der Beschaffung einer Wohnung für ihren Exgatten oder für sie und die Kinder behilflich zu sein. Und er verspricht, sich für sie einzusetzen und überlässt das weitere Gespräch dem Kripo-Chef, weil er zu einer dringenden Beratung müsse.

Bollmann will nun noch mehr über das bisherige Privatleben seines emsigen Mitarbeiters wissen. Und Frau Griesbauer legt die Geheimnisse ihrer verkorksten Ehe frei: Ja, überhaupt verhält sich Lothar von jeher ziemlich absonderlich. So zum Beispiel die Sache mit dem sogenannten Observationskoffer, den er sorgsam verschlossen im Keller aufbewahrt und dessen Inhalt sie aus Gründen der Geheimhaltung niemals sehen sollte. Wenn er Nachtdienst hat, nimmt er das geheimnisvolle Utensil stets mit. Manchmal steht er sogar mitten in der Nacht auf, nimmt den Koffer und geht für einige Stunden »auf Observation«. Sie vermutet, dass sich darin »Umziehsachen« befinden, die er für seine verdeckten Beobachtungen benötigt.

Bollmann argwöhnt bei diesen Schilderungen, dass Unterleutnant Griesbauer ein Doppelleben führen muss, denn das, was die junge Frau vorbringt, mutet wie ein billiger Krimi an und hat mit realer Polizeipraxis nichts zu tun. Geht er vielleicht fremd? Nun, das wäre möglich. Aber benötigt man dazu einen Koffer, vor allem, im Nachtdienst? War es Zufall, dass in den beiden Nächten, in denen Griesbauer Kriminaldienst hatte, Überfälle des Würgers stattfanden? Freilich, Bollmanns Gedanken sind kühn, doch Glasers Täterhypothese mit der vermutlichen Persönlichkeitsstruktur des Würgers lässt ihn nicht los. Sie regt zu konkreten Fragen an. Jetzt will der Major mehr über das Innenleben seines Mitarbeiters erfahren. Gottlob ist Frau Griesbauer auch bereit, die intimsten Dinge ihrer Ehe zu offenbaren. Mit naiver Offenherzigkeit schildert sie, dass Lothar sexuelle Probleme hat und unter Erektionsschwäche leidet, sich aber hartnäckig weigert, einen Facharzt aufzusuchen. Er zeigt von Beginn der Ehe an eine gewisse Aversion gegen körperliche Kontakte mit ihr und befriedigt sich deshalb meist selbst. Manchmal aber kommt es über ihn, dann fesselt er sie gewaltsam nackt aufs Bett, um mit dem Hals einer Weinflasche seine perversen Spielchen mit ihr zu treiben und dabei zu masturbieren. Ein normales, auf gegenseitiger Lust be­ruhendes Sexualleben ist ihr völlig fremd.

Aber auch anderes weiß Jutta Griesbauer zu berichten: vor Jahren habe sie Lothar eine rot-weiß gestreifte Strickjacke geschenkt. Als sie später zufällig erfuhr, die Polizei fahnde nach einem Täter, der offenbar mit einer ähnlichen Jacke bekleidet war, fiel ihr ein, dass Lothar seine Jacke schon lange nicht mehr getragen hatte. Arglos fragte sie ihn danach. Er hatte prompt eine Erklärung parat: Schon kurze Zeit nach ihrem Erhalt habe er sie wegen einer Ölverschmutzung vernichten müssen. Angeblich habe er sie darüber unterrichtet, woran sie sich aber nicht im geringsten erinnern kann.

Und: Lothar müsste als Parteimitglied eigentlich die Gebote der sozialistischen Moral einhalten, doch offensichtlich nimmt der es mit dem Eigentum anderer nicht so genau. Er dringt nämlich nicht nur heimlich in ihren verschlossenen Wohnraum ein und bestiehlt sie, sondern ist schon seit Langem in Besitz einer aus einem Einbruch stammenden, ­polizeilich beschlagnahmten Industrie-Bohrmaschine, die er kurzerhand aus der Asservatenkammer mitgehen ließ und jetzt sein eigen nennt. Das ist doch Diebstahl, eines Volkspolizisten unwürdig! Oder?

Zufrieden verlässt die ehemüde Frau das VP-Kreisamt. In ihrer Begleitung zwei freundliche Kriminalisten der MUK mit einem Durchsuchungsbeschluss in der Tasche. Vielleicht finden sie nicht nur die Bohrmaschine in Griesbauers Keller. Allein ihre Unterschlagung erfüllt bereits einen strafrechtlichen Tatbestand, der nach allen prozessrechtlichen Regeln untersucht werden muss. Und zusätzlich könnte ganz nebenbei auch das Geheimnis des »Observations­koffers« gelüftet werden, hinter dem sich womöglich ein viel bedeutsamerer Tatbestand verbirgt.

Zwei Stunden später. Bollmann lässt den ahnungslosen Unterleutnant Griesbauer zu sich kommen. Schon beim Betreten des Büros erblickt dieser auf dem Schreibtisch seines Chefs die Bohrmaschine und den geöffneten ominösen »Observationskoffer«, in dem sich Utensilien für eine komplette Maskerade als »schwarze Gestalt« befinden. Aber noch viel brisanter sind die im Koffer deponierten Beutestücke des Würgers: Ausweise, Geldbörsen, Kosmetikutensilien, Armbanduhren und Schmuck – die Habseligkeiten der überfallenen Frauen. Griesbauer schrickt zusammen. Die beiden Kriminalisten, die die Durchsuchung führten, postieren sich bedrohlich neben ihn. Bollmann blickt böse, zeigt auf den Koffer und meint sarkastisch: »Sieh an, sieh an, unser Herr Würger!«

Griesbauer ist am Ende, errötet bis unter die Schädeldecke, seine Kinnlade vibriert. Er stammelt: »Ich wusste es, eines Tages bin ich dran!«

Major Bollmann streckt fordernd eine Hand aus: »Dienstausweis und Waffe her!«

Wortlos folgt Griesbauer dem Befehl, wohl wissend, dass zu beiden Seiten neben ihm wachsame Augen jede seiner Bewegungen verfolgen. Dann klicken die Handschellen. Als er abgeführt wird, zischt Bollmann: »Sie wollten doch immer schon zur MUK. Jetzt werden Sie sogar hingebracht!«

Lothar Griesbauer ist ein weiches, weinerliches Kind aus geordnetem Elternhaus. Von der ziemlich dominanten Mutter gehätschelt, von Gleichaltrigen isoliert, wächst er in provinziellen Verhältnissen auf. Er bleibt viel für sich allein, hat kaum Spielgefährten. Eine auffällige Introvertiertheit und häufiges Bettnässen, das erst kurz vor der Einschulung aufhört, zeigt schon frühzeitig eine neurotische Entwicklung an. Beizeiten weisen ihm die Schulkameraden, unter deren Hänseleien er jahrelang leidet, eine Außenseiterrolle zu. Kein Wunder, dass Lothars soziale Bindungsfähigkeit auch weiterhin unterentwickelt bleibt. Später, auf der Berufsschule erkennt er aber, dass überdurchschnittliche sportliche Leistungen ihm Anerkennung einbringen und seinen Selbstwert aufbessern. Jedoch führt der nun einseitig sportbezogene Ehrgeiz zu Arroganz, Egoismus und Elite­bewusstsein. Wiederum werden so soziale Distanzen aufgebaut, die ihm den Weg zu echten Freundschaften versperren. Auf diese Weise bleibt er Einzelgänger mit nur wenigen zweckbestimmten Sozialkontakten. Seine schulischen ­Leistungen liegen durchweg im Mittelmaß. Nach der kombinierten Berufsausbildung mit Abitur arbeitet er eine Zeit lang als Monteur, absolviert seinen freiwilligen Wehrdienst in einem Spezialaufklärungsbataillon der NVA, wo Nahkampf und Überlebenstraining seine körperliche Fitness herausfordern. Anschließend beginnt er ein Studium an der Päda­gogischen Hochschule Zwickau, das er jedoch alsbald abbricht. Eine Zeit lang verdingt er sich nun als Übungsleiter beim Deutschen Turn- und Sportbund. Dann sieht er seine endgültige berufliche Perspektive in der Volkspolizei.

Lothars sexuelle Entwicklung verläuft bis zum Abschluss der Pubertät unauffällig. Doch bei späteren Intimkontakten mit dem anderen Geschlecht beherrschen ihn Erektionsschwäche und Versagensängste derart, dass er schließlich, selbst in der späteren Ehe, mit allerlei Techniken autoerotischer Betätigung experimentiert.

Seine Frau Jutta kennt er bereits von Kindesbeinen an. Auch sie wächst in ziemlich spießiger Umgebung, über alle Maßen behütet auf. Die Eltern scheuen die sexuelle Aufklärung der Tochter und halten hartnäckig und mit Erfolg jeden Burschen von ihr fern. Nur den Umgang mit Lothar tolerieren sie. So gleitet sie unschuldig und unwissend in die, übrigens von beiden Eltern mit Eifer forcierte, Ehe mit Lothar. Er ist es, der sie in der Kunst des Liebesspiels unterweist, freilich nach seinen eigenwilligen Regeln, denen sie sich zwar artig fügt, die ihr aber stets zuwider sind.

Der freundliche, zurückhaltende, jede soziale Konfrontation vermeidende Lothar Griesbauer leistet im Kommissariat 3 von Anfang an eine ordentliche, gewissenhafte Arbeit, so dass man ihn schon frühzeitig mit selbstständiger Fallbearbeitung betraut. Aber niemand bemerkt, dass er hin und wieder Orte aufsucht, die ihm als Tatorte sexuellen Missbrauchs bekannt sind. Sorgsam darauf achtend, nicht beobachtet zu werden, versetzt er sich dort in die Rolle des Täters und masturbiert. Manchmal zieht er sich dabei zur sexuellen Stimulation eine inzwischen völlig überdehnte rote Kinder­strumpfhose über, deren Asservation im Rahmen eines von ihm bearbeiteten Falles unterblieb.

Im Frühjahr 1982 erfährt Griesbauer von einem Mit­arbeiter des Kommissariats Einzelheiten über einen auto­erotischen Unfall durch Strangulation. Dieser Fall interessiert ihn sehr. In der Fachliteratur informiert er sich genauer. Denn dieses Phänomen sexueller Lustgewinnung könnte das Arsenal seiner eigenen Sexualpraktiken bereichern. Wochenlang spukt die sexuelle Selbststrangulation in seinem Hirn. Er erfährt aber auch von den lebensbedrohlichen Risiken dieser Befriedigungsart und schreckt deshalb davor zurück. Übrig bleibt aber die erregende Vorstellung, eine Frau mit den Händen zu strangulieren. Der Gedanke, dies zu tun, setzt sich fest. Er durchdenkt sein Vorgehen, beschafft sich dunkle Bekleidung und Gummihandschuhe, sucht ein geeignetes »Operationsgebiet«, prüft Fluchtmöglichkeiten. Zunächst halten ihn noch Hemmungen zurück. Doch mit der Zeit gewinnt der Triebdruck Übermacht. Dann will er es wissen!

Am 25. Juni 1982 hat Lothar Griesbauer Nachtdienst. Der VP-eigene Trabant steht ihm zur Verfügung. In den späten Abendstunden muss er zu einem Einsatz: Einbruch in einen Kiosk. Zigaretten und Alkoholika wurden entwendet. Der erste Angriff liegt in seiner Kompetenz. Als die Spezialisten kommen, übergibt er den Tatort. Doch er fährt nicht zurück zur Dienststelle. Unweit des August-Bebel-Hains parkt er den Trabi. Einige Male läuft er durch den Park, sondiert die Lage. Dann lauert er im Gebüsch. Kurz nach 24.00 Uhr erspäht er ein junges Mädchen, die Abiturientin Corinna Kiefer, sein erstes Opfer. Blitzschnell fällt er über sie her, setzt zum Würgegriff an, schleift die Bewusstlose ins Gebüsch. Das Gefühl absoluter Macht über sein wehrloses Opfer löst in ihm einen übermächtigen Sinnesrausch aus, der ohne weitere sexuelle Manipulation einen Samenerguss produziert.

»Ich kniete seitlich neben ihr«, sagt er später, »habe ihren Puls gefühlt und dabei festgestellt, dass sie mehrere Fingerringe trug. Die habe ich von den Fingern abgezogen. Dann habe ich ihr die Brille vom Gesicht entfernt, weil ich noch nie eine Frau mit Brille besessen habe. Auch ein Scheckheft habe ich ihr abgenommen, aber niemals einen Scheck davon eingelöst. Die entwendeten Gegenstände habe ich in eine Tasche meiner Kutte gesteckt …«