Leichensache Kollbeck - Hans Girod - E-Book

Leichensache Kollbeck E-Book

Hans Girod

4,8

Beschreibung

Weder in statistischen Jahrbüchern noch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen der DDR findet man Angaben zu den Selbstmorden im Land. Selbsttötungen wurden als alleiniges Produkt der Menschenfeindlichkeit des Kapitalismus und als Widerspruch zu den gesellschaftlichen Bedingungen und unpassend zum sozialistischen Menschenbild gesehen. Hans Girod hat sich fach- und sachkundig dieses Themas angenommen, gibt erstmals eine Übersicht und zeigt an mehreren Fallbeispielen, von der spektakulären Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz bis zum Verzweiflungssprung einer Studentin vom Berliner Müggelturm, daß der Suizid auch im Sozialismus als individuelle Konfliktlösung galt. Der Autor widmet sich besonders auch den Motiven, die es in der DDR gab.

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Impressum

ISBN eBook 978-3-360-50015-1ISBN Print 978- 3-360-00860-2

© 1998 Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbHNeue Grünstr. 18, 10179 Berlin

Umschlagentwurf: Jens Prockat

Die Bücher des Verlags Das Neue Berlinerscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.das-neue-berlin.de

Im Interesse des Schutzes der Persönlichkeitsrechte der Täter, Opfer und Zeugen wurden die Namen der Beteiligten sowie einiger Handlungsorte verändert.

Hans Girod

Leichensache Kollbeck

und andere Selbstmordfälleaus der DDR

Vorwort

Schlagzeilen springen ins Auge, Fernsehbilder gelangen in die Stuben: „Sie warf ihr Leben weg!“, „Sprung vor die U-Bahn“, „Abgewickelt – da wollte er nicht mehr!“ – Berichte über die Vernichtung des eigenen Lebens, über Tausende Selbstmorde, nachfühlbar oder unbegreiflich, immer aber erschütternd. Die Statistik spricht eine deutliche Sprache.

Wie aber war die Situation in der DDR? Warum suchte man dort vergeblich nach derartigen Überschriften, Fernsehbildern, Zahlen? Waren die Gewaltakte gegen das eigene Leben so gering, dass kein Interesse an öffentlicher Information und Aufklärung bestand?

Keineswegs! Politischer Starrsinn verhinderte eine öffentliche Diskussion über die eigene Suizidproblematik. Angaben über die tatsächliche Situation wurden dem DDR-Bürger erfolgreich vorenthalten. Er sollte glauben, dass Suizide wegen ihrer vermeintlichen Wesensfremdheit im Sozialismus keine Rolle spielen.

Mit dem Buch wird eine objektive Annäherung an das jahrzehntelang tabuisierte gesellschaftliche Phänomen des Selbstmordes in der DDR versucht. Es vermittelt wichtige statistische Daten des Suizidgeschehens ebenso wie Berggründe, Anlässe und Handlungsarten.

Es werden ausgewählte Fälle der kriminalistischen Untersuchungspraxis der Volkspolizei nacherzählt und kommentiert, die Psychogramme der Betroffenen nachgezeichnet und die Frage untersucht, inwieweit bestimmte gesellschaftspolitische Umstände Motivbildung und Entschlussfassung beeinflusst haben. Doch die beschriebenen Fälle erfassen nur einen kleinen Ausschnitt des Gesamtgeschehens. Wie in anderen Industrieländern, rekrutiert sich auch in der DDR eine Vielzahl der Suizide aus besonderen Risikogruppen mit schwerwiegender psychopathologischer Entwicklung, deren Beurteilung dem erfahrenen Psychiater überlassen bleiben muss. Die Tatsache aber, dass jährlich mehrere Tausend Suizide ohne eine auffällige psychotische Vorgeschichte verübt wurden, rechtfertigt, sie in den Mittelpunkt des Buches zu stellen.

Dieser Umstand bestimmte die Auswahl der Fälle. Ein weiteres Auswahlkriterium war, vor allem auf solche Ereignisse zurückzugreifen, die typischen DDR-Alltag widerspiegeln und zugleich bestimmte gesellschaftliche Realitäten berühren, deren kritische Analyse erst nach dem Untergang der DDR in Gang gesetzt werden konnte oder bis heute noch gänzlich aussteht.

Insofern soll – analog zu dem im Frühjahr 1997 erschienen Buch „Das Ekel von Rahnsdorf“ – ein weiterer, wenn auch sehr spezieller Beitrag zur Aufarbeitung eines Teilbereichs der DDR-Wirklichkeit geleistet werden.

Im Zentrum der Bestandsaufnahme stehen die phänomenologischen Umstände des Suizidgeschehens. Wie von einem kriminalistischen Autor wohl nicht anders zu erwarten, soll aber auch die Beschreibung der untersuchungsmethodischen, gutachterlichen und rechtlichen Probleme nicht zu kurz kommen. Im Allgemeinen sind Suizide das Ende spezieller, individueller Konfliktlösungsprozesse, die in der Öffentlichkeit unterschiedlich beurteilt werden. Hilfloses Entsetzen pendelt dabei zwischen verständnisvoller Akzeptanz und brüsker Ablehnung.

Deshalb sollen die Berichte Einsichten in die mitunter komplizierten psychischen Abläufe der Entwicklung zum Suizid vermitteln. Das soll den Blick schärfen, Suizidgefährdung besser zu erkennen, die immer therapiebedürftig ist, auch wenn sich keine Psychose dahinter verbirgt.

Der Leser wird überrascht sein, wie rasch rationale Strategien individueller Problembewältigung außer Kraft gesetzt werden können – insbesondere dann, wenn Krankheit, Vereinsamung, Ausgrenzung und soziale Ausweglosigkeit die fatalen inneren Verstrickungen begünstigen, die durch geringste Anlässe den gewollten Tod auslösen. Und er wird feststellen – das sei bereits vorweg genommen: Viele dieser Vorgänge könnten trotz allen Blicks auf die DDR-Eigenheiten auch unabhängig von den herrschenden politischen und ökonomischen Bedingungen des SED-Staates abgelaufen sein.

Eine Nennung der Aktenzeichen erfolgte nicht, weil nach Rechtsvorschriften der DDR die Archivierung der Polizeiakten für allgemeine unnatürliche Todesfälle auf 10 Jahre begrenzt war und auf diesem Wege somit weitere Recherchen nicht mehr möglich sind.

Begleitet werden die Berichte von Exkursen zur Erläuterung der jeweiligen gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen, aber auch der wissenschaftlichen Inhalte.

Da das Buch keine wissenschaftliche Abhandlung ist, wird auf ein detailliertes Literaturverzeichnis verzichtet und nur auf grundsätzliche Quellen verwiesen.

Der Schutz der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen, Hinterbliebenen und Zeugen machte es erforderlich, in den meisten Fällen die Namen der Beteiligten und einige Handlungsorte zu verändern. Verschiedentlich wurden die Sachverhalte, soweit es notwendig erschien, auf das phänomenologisch Typische zugeschnitten.

In bewährter Form finden sich im Anhang des Buches auch diesmal wieder kürzere Erläuterungen wichtiger Fachbegriffe und Abkürzungen.

Hans Girod

Suizid im Sozialismus

Vergeblich wird man in statistischen Jahrbüchern oder in den Medien der DDR, ja selbst in kriminologischen Fachpublikationen nach Angaben über die Selbstmordsituation im Land der Arbeiter und Bauern suchen. Allenfalls lassen sich in kriminalistisch, medizinisch oder psychotherapeutisch orientierten Fachzeitschriften kasuistische Beiträge finden. Doch beschränken sich deren, ohnehin meist relativierte, spärliche statistische Mitteilungen auf nur eng begrenzte Themenkreise.

Die Gründe dafür sind mehrschichtig: In den Anfangsjahren der DDR hielt sich rigide die offizielle Auffassung, daß Selbsttötungen vordergründig ein Kennzeichen für Ausweglosigkeit und Depression des Individuums in der Ausbeutergesellschaft seien. Sie wurden deshalb als besonderes Produkt der Menschenfeindlichkeit des Kapitalismus aufgefaßt und widersprachen den gesellschaftlichen Bedingungen und somit dem Verständnis über das Menschenbild im Sozialismus.

Vor allem in den 50er Jahren bildete daher die Problematik der Selbsttötung einen Teilgegenstand der propagandistischen Auseinandersetzungen mit dem Kapitalismus. Emsig wurden dazu westdeutsche Suizidstatistiken und Berichte in der Tagespresse über Einzelschicksale genutzt. Die Ursachen für Selbsttötungen wurden schlichtweg darauf reduziert, daß sie Ausdruck des letzten individuellen Aufbegehrens gegen soziale Ungerechtigkeit und Verelendung im Ausbeuterstaat seien.

Ideologisch führte eine solche einseitige Betrachtungsweise zwangsläufig in eine Zwickmühle: zum einen war die kriminalpolizeiliche Statistik über die vollendeten Suizide ebenso wenig zu leugnen wie die Tatsache, daß die Suizidalität auch in der DDR Ausmaße erreichte, die eine Verstärkung psychotherapeutischer Maßnahmen der Suizidprophylaxe notwendig machte. Zum anderen förderten die in den Folgejahren herangereiften psychologischen, kriminologischen und medizinischen Erkenntnisse einen zaghaften Widerstand der Wissenschaften gegen die starre Simplifizierung und Tabuisierung des Suizidgeschehens im eigenen Land. Denn es war nicht mehr zu verheimlichen, daß auch in der DDR Selbstmordgefährdung und vollendeter Selbstmord, wie in anderen Ländern auch, das Bild einer Gesellschaft mit prägen.

Gleichwohl führte das überzogene, allgegenwärtige Sicherheitsdenken der in den Fachministerien Zuständigen dazu, öffentliche Diskussionen über die Suizidsituation in der DDR keineswegs zuzulassen. Denn es galt auch für dieses sensible Thema der Grundsatz, dem Klassengegner keinen zusätzlichen Zündstoff für die ideologische Auseinandersetzung zu liefern. Mithin waren nur territorial und thematisch eng begrenzte wissenschaftliche Untersuchungen möglich, denen sämtlich der Stempel des Geheimnisschutzes aufgedrückt wurde. Folgerichtig wurden die Ergebnisse der Öffentlichkeit vorenthalten.

Das Suizidgeschehen im Sozialismus blieb somit immer ein unaufgearbeitetes gesellschaftliches Phänomen. Selbst in den 70er und 80er Jahren, in denen sich die DDR-Wissenschaften freimütiger als in der Vergangenheit der Lösung der eigenen gesellschaftlichen Widersprüche zuwenden konnten, blieb hinsichtlich des Suizidproblems die aufgezwungene Zurückhaltung weitgehend bestehen. Auch die Tatsache, daß zum Ausschluß von Verbrechen jährlich mehrere tausend vollendete Suizidfälle kriminalistisch untersucht werden mußten, blieb der Öffentlichkeit verborgen.

Der eigentliche ideologische Grund für die starre Linie, die Erkenntnisse über das Suizidgeschehen nicht publik werden zu lassen, hat vermutlich zwei Seiten:

Einerseits berührte die Suizidproblematik unmittelbar wichtige philosophische und ethische Fragen des Lebens und des Todes, auf die die marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften ohnehin nur unbefriedigende Antworten parat hatten. Das Bewußtsein des sozialistischen Menschen über sich selbst und die Welt – so vereinfachten sie – vermittele ihm einen solchen inneren Halt, daß schwierige Konfliktsituationen des Lebens anders überstehbar seien als ohne gefestigte marxistischleninistische Weltanschauung. Die Suizidstatistik im Sozialismus aber machte diese These zu einer leeren Phrase.

Andererseits führten die im Vergleich zur Bundesrepublik nur geringfügig höheren Suizidbelastungsziffern in der DDR zu einer ideologischen Peinlichkeit, denn die Vorzüge des Sozialismus ließen sich am Beispiel der Suizidbelastung keineswegs demonstrieren.

Immerhin wurden in der DDR im Zeitraum von 1968 bis 1988 durchschnittlich 3 700 vollendete Suizide pro Jahr verübt. Das entspricht einer auf einhunderttausend Einwohner bezogenen Belastungsziffer von 23 Selbstmorden. In der Bundesrepublik lag sie dagegen bei 21. Lediglich Berlin wies höhere Zahlen auf. Das galt aber gleichermaßen für Westberlin (Belastungsziffer 33) wie für Ostberlin (Belastungsziffer 33).

Doch derlei Zahlenangaben bedürfen eines kurzen Kommentars: Die in der Bundesrepublik einheitlich geltende Rechtsnorm der staatsanwaltlichen Leichenschau (§ 87 STPO) unterstellt der Untersuchungsbehörde diagnostische Fähigkeiten zur objektiven Beurteilung äußerer Befunde an der Leiche, über die sie aber mangels spurenkundlichen Fachwissens tatsächlich nicht verfügt.

Die staatsanwaltliche Leichenschau hat allenfalls dann Bedeutung, wenn ihr zwingend eine Leichenöffnung folgt. Die Praxis zeigt jedoch, daß eine solche Anordnung im Ermessen des Staatsanwalts liegt und somit willkürlich getroffen wird. Fehlentscheidungen sind die logische Folge.

Die für jedes Bundesland spezifisch geltenden rechtlichen Regelungen und die Qualität der obligatorischen ärztlichen Leichenschau sind bundesweit so unzulänglich, daß auch hier ein erhebliches Dunkelfeld unterstellt werden muß. Westdeutsche Rechtsmediziner beklagen seit langem die extrem hohe Fehlerquote bei der Todesursachendiagnostik (bis 80 Prozent). Folge: Jährlich bleiben nicht nur nahezu 2 000 Tötungsverbrechen unentdeckt, sondern auch die tatsächliche Rate für vollendete Suizide in der Bundesrepublik liegt um ein Vielfaches höher als die offiziellen statistischen Angaben ausdrücken.

Demgegenüber gewährleisteten die Leichenschauanordnung, die gerichtsmedizinische Leichenöffnungspraxis (im Vergleich zur Bundesrepublik wurden wesentlich mehr Autopsien vorgenommen) und die polizeiliche Untersuchungsqualität in der DDR, das Dunkelfeld auf ein sehr geringes Niveau zu begrenzen.

Fazit: Die DDR-Zahlen sind zwangsläufig deshalb höher, weil mehr Suizide aufgedeckt wurden.

Auch die von den Gesundheitseinrichtungen erfaßten Selbstmordversuche müssen in die Gesamtbelastung aufgenommen werden. Da sie überlebt werden, erscheinen sie in keiner Todesursachenstatistik. Hinzu kommt noch eine unbekannte Größe völlig latent gebliebener Versuche. Alles in allem, so besagen kriminologische Schätzungen, erreichen sie das Fünfzehnfache der vollendeten Selbstmorde.

Die Gesamtquote der vollendeten und gescheiterten Suizide in der DDR dürfte somit die beachtliche Zahl von jährlich knapp 70000 Betroffenen, quer durch alle sozialen Schichten, erreicht haben.

Anzumerken in diesem Zusammenhang ist noch: In einzelnen gegenwärtigen Veröffentlichungen weichen die Suizidzahlen voneinander ziemlich ab. Das darf nicht verwundern, denn dafür gibt es verschiedene Gründe.

Stützen sich die Untersuchungen nämlich auf eine Analyse der Totenscheine, sind die Ergebnisse deshalb höchst unzuverlässig, weil – verursacht durch subjektive Fehler und objektive Erkenntnisgrenzen – bei mehr als einem Drittel aller Leichenschauen die Angaben zur Todesursache falsch sind. Etwas genauer hingegen sind statistische Auswertungen des Sektionsgutes der gerichtsmedizinischen Institute, denn die Leichenöffnungsergebnisse sind weitestgehend zuverlässig. Doch ist bei verschiedenen Todesursachen kein Nachweis suizidaler Vorgänge möglich. Ihn zu erbringen ist einzig und allein polizeiliche Aufgabe. Hinzu kommt, daß beileibe nicht alle Suizide obduziert werden.

Die polizeiliche Statistik wiederum erfaßt alle untersuchten Todesermittlungssachen, die als Suizid abgeschlossen werden. Unberücksichtigt bleibt dabei, daß nicht wenige Leichenschauärzte Suizide als natürliche Todesfälle verkennen. Somit gelangen diese niemals zur Anzeige. Auch hinter einem Teil der ungeklärten Vermißtenfälle verbergen sich Suizide, die wegen der fehlenden Leiche kriminalistisch nicht untersucht werden können.

So vermittelt also die Statistik nur Tendenzen, und die Dunkelziffer verweist auf Schwachstellen.

Die DDR nahm mit ihrer Suizidrate im internationalen Vergleich lediglich einen mittleren Platz zwischen den europäischen Ländern ein:

So waren beispielsweise Österreich mit 25, Finnland und Dänemark mit 26 und die Volksrepublik Ungarn sogar mit 45 vollendeten Suiziden auf einhunderttausend Einwohner jährlich deutlich höher belastet.

Allerdings registrierten einige europäische Länder (wie Großbritannien mit 8, Spanien mit 7 und Griechenland sogar nur mit 4 jährlichen Suiziden pro einhunderttausend Einwohner) auch erstaunlich niedrige Quoten.

Bereits diese wenigen Zahlenangaben zeigen zweierlei: Zum einen sind die offiziellen statistischen Angaben schon deshalb relativ, weil über das von Land zu Land unterschiedlich große Dunkelfeld keine Kenntnisse vorliegen. Zum anderen wird die Widersinnigkeit aller bisherigen Argumentation über die Selbstmordursachen in der DDR deutlich. Und das deshalb, weil das ideologische Konstrukt des sozialistischen Menschen, das letztlich ein utopisches Gebilde bleiben mußte, die Verschiedenartigkeit und Komplexität der Einflußbedingungen auf das Suizidgeschehen nicht ausreichend berücksichtigte.

Im allgemeinen bildet die vorsätzliche Selbsttötung das Ende eines prozeßhaften Geschehens, dem entweder durchaus deutbare Ankündigungssignale oder sogar gescheiterte Suizidversuche vorausgehen. Seltener sind sie das Ergebnis spontaner, kurzschlußhafter Entscheidungen ohne erkennbare Dispositionen. Nicht mehr verkraftbare Lebenssituationen, als unerträglich empfundener Leidensdruck oder unüberwindbare Widersprüche zwischen Anspruchsniveau und Lebensrealität sind die mobilisierenden Elemente für die Motivbildung.

Die Intentionen der Betroffenen können dabei aber ganz verschiedenartig sein: Zumeist richten sie sich auf die Erreichung endgültiger Ruhe, auf die Befreiung von Schmerzen, Gebrechlichkeit oder quälender Einsamkeit.

In anderen Fällen herrscht vor, objektiven oder vermeintlichen Bedrohungssituationen, sozialen Zusammenbrüchen, Beziehungskonflikten, disziplinarischen oder rechtlichen Konsequenzen zu entfliehen.

Ursachen- und Motivgruppen für die 2949 vollendeten Selbstmorde der Jahre 1975 bis 1981 in Ostberlin.

Sie können aber auch die Vergeltung einer empfundenen seelischen Verletzung ausdrücken. Mitunter beabsichtigt der Suizident, mit seinem Tod einen bestimmten Appell an die Umwelt zu richten.

Wie überall in den europäischen Ländern liegt der Anteil der Männer bei den 20- bis 50jährigen Suizidenten in der DDR etwa ein Drittel höher als bei den Frauen. Dagegen dominiert bei den über 65jährigen erwarungsgemäß das weibliche Geschlecht – ein Umstand, der sich aus der durchschnittlich geringeren Lebenserwartung des Mannes erklärt. Aber auch Kinder und Jugendliche verübten Selbstmord – geringe Zahlen zwar, aber mit steigender Tendenz.

Im allgemeinen bevorzugen Männer „härtere“ Suizidmethoden (z. B. Erhängen, Überfahrenlassen), während Frauen mehr zur Anwendung „weicher“ Mittel (insbesondere Schlafmittelvergiftung) neigen. Diese phänomenologische Tatsache trifft allerdings auf alle europäischen Länder zu und ist deshalb kein DDR-spezifisches Merkmal.

Übersicht der typischen Durchführungsarten bei 10000 vollendeten Selbstmorden in der DDR (Untersuchung der Jahre 1979 bis 1985).

Die großstädtischen Territorien sind stärker belastet als ländliche Bereiche. Auch bestimmte Durchführungsarten, wie etwa Vergiftung mit Haushaltsgas, Sprung aus der Höhe oder Überfahrungen, konzentrieren sich in den Städten. In ländlichen Gebieten dominiert vor allem das Erhängen. Die 14 DDR-Bezirke und Berlin sind über Jahrzehnte hinweg mit relativ gleichbleibenden Zahlen belastet, wobei sich etwa 30 Prozent der Selbstmorde im Frühjahr und Herbst ereignen und die verbleibenden 70 Prozent über das Jahr verteilen. Die meisten Selbstmorde werden am Wochenanfang und in der Wochenmitte, am Tage sowie in den eigenen vier Wänden verübt.

Strafrechtlich gesehen war der Suzid – analog zur Rechtslage in anderen Industrieländern – auch in der DDR ein irrelevantes Geschehen, was allerdings voraussetzt, daß kein anderes gesetzlich geschütztes Objekt verletzt wurde. Insofern war grundsätzlich weder der versuchte Suizid noch die Anstiftung oder Beihilfe zum Suizid strafbar.

Dennoch besteht kriminalistisches Interesse an dieser nicht natürlichen Todesart. Denn: vollendete Suizide können als Unfall, aber auch als Mord oder natürlicher Tod verschleiert worden sein und berühren so durchaus auch rechtliche Fragen (z. B. Versicherungsrecht). Noch viel wichtigere Gründe für die Notwendigkeit kriminalistischer Untersuchung ergeben sich allerdings aus dem Umstand, daß in der DDR mehr als 40 Prozent der Mord- und Totschlagsdelikte als Suizide (aber auch als Unfälle) kaschiert wurden – eine Aussage, die in etwa auch für andere Länder zutrifft.

Das Ziel der kriminalistischen Untersuchung von Suiziden (und tödlichen Unfällen) besteht, wie überall in der Welt, im Ausschluß oder Nachweis eines Verbrechens.

Dieses kriminologische Faktum hatte auch in der DDR wichtige rechtliche Vorschriften zur Folge: Zum einen regelte die in der Vergangenheit mehrfach novellierte Anordnung über die ärztliche Leichenschau (letzte Fassung GBl. der DDR Teil II Nr. 129 vom 2. Dezember 1978) die ärztlichen Handlungspflichten bei der Leichenschau und -öffnung in vorbildlicher Weise.

Zum anderen definierte der § 94 der DDR-Strafprozeßordnung den sog. Tod unter verdächtigen Umständen als „nichtnatürlichen Tod (Unfall, Selbsttötung, durch andere verursachter Tod), unklare Todesart oder Auffindung des Leichnams eines Unbekannten“ und legte fest, daß für deren Bearbeitung ausschließlich die Untersuchungsorgane zuständig waren. Derartige Todesfälle wurden daher grundsätzlich nur durch geschulte sog. Leichensachbearbeiter oder Morduntersuchungskommissionen der Kriminalpolizei untersucht. Spezielle Maßnahmen, wie staatsanwaltliche Leichenschau, gerichtsmedizinische Obduktion, Exhumierung von Leichen und Urnenöffnung sowie die formellen und inhaltlichen Anforderungen an die Vorgangsbearbeitung, wurden durch entsprechende interne Anweisungen des Generalstaatsanwalts und des Innenministeriums geregelt. Dies alles gewährleistete eine nahezu lückenlose Aufdeckung und Aufklärung der vollendeten Suizide.

Während also die Qualität der kriminalistischen Untersuchung von Selbstmorden in der DDR durchaus über dem üblichen internationalen Standard gelegen haben dürfte, fehlte im staatlichen Gesundheitswesen lange Jahre ein einheitliches Konzept der Suizidprophylaxe. Nur langsam setzten sich die Bemühungen einiger namhafter Psychiater, Philosophen und Gesundheitspolitiker um theoretische Grundpositionen und einheitliche Behandlungsstrategien durch. Noch im Jahre 1967 beklagten sie, daß die Suizidprophylaxe in der DDR viel zu sporadisch betrieben würde.

Aber erst Anfang der 80er Jahre nahmen führende Ärzte und Philosophen offiziell zur Psychohygiene in der sozialistischen Gesellschaft Stellung, die als Bestandteil des Gesundheitsschutzes mehr Aufmerksamkeit verdiene. In diesem Zusammenhang warfen sie die Frage auf, wie man dem Trend der Entwicklung suizidalen Verhaltens entgegenwirken könne und formulierten die vorsichtige Forderung nach einer Abkehr von bisherigen Denkweisen:

„Gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln, prinzipielle Übereinstimmung von persönlichen und gesellschaftlichen Interessen, politisch-moralische Einheit des Volkes, Gesundheitsschutz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe stellen das Suizid-Phänomen im Sozialismus auf eine neue gesellschaftliche Grundlage … Der Herausbildung von sozialistischer Kollektivität und Leitungstätigkeit liegen allgemeine und für sie spezifische Entwicklungsgesetzmäßigkeiten der sozialistischen Gesellschaft zugrunde. Ihre bewußte Verwirklichung unter der Führung der Partei der Arbeiterklasse löst das Suizidproblem nicht spontan, nicht im Selbstlauf und macht spezielle medizinisch-psychohygienische Maßnahmen nicht überflüssig …“

Doch es vergingen noch einige Jahre, ehe sich eine wirkliche Veränderung andeutete. Ein wichtiger Impuls für die langsame Abkehr von der bisherigen Tabuisierung ging von den 5. Erfurter Fortbildungstagen der klinischen Psychologen im November 1984 aus. Dort wurde vorgeschlagen, versuchsweise der Öffentlichkeit anonyme Telefonberatungen anzubieten. Mit Unterstützung einiger Journalisten, besonders der „Berliner Zeitung“, gelang es schließlich zwei Jahre später, in mehreren Großstädten die sogenannten Telefone des Vertrauens zu etablieren.

Das war ein erstes Zeichen des behutsamen Offenlegens eines jahrzehntelang der Öffentlichkeit verschwiegenen gesellschaftlichen Problems. Jedoch: statistische Angaben über die Suizidsituation im Lande blieben auch weiterhin unter strengem Verschluß.

Freier Fall

Berlin, Sonnabend, 19. Oktober 1985.

Erst gegen Mittag hört es auf zu nieseln. Allmählich weichen die bedrohlichen dunklen Wolkenfetzen am Himmel einem gleichmäßigen Hellgrau. Schon am Nachmittag ist von der Nässe nichts mehr übrig. Nun ist die Luft trocken. Doch es ist kühl geworden. Unaufhaltsam zieht sich der Sommer zurück. Die Herbstferien haben begonnen. Viele Unentwegte zieht es hinaus in das ausgedehnte Waldgebiet rund um den Müggelsee, begierig, das letzte Grün dieses Jahres zu erheischen. Schon bald findet der erschöpfte Wanderer keinen Platz mehr im Terrassencafé am Müggelturm. Das schlichte Holzschild am Eingang mit der Aufschrift „Sie werden plaziert!“ bremst sein kulinarisches Verlangen. Herzlos fordert die volkseigene Gastronomie die Geduld der Gäste heraus.

Einige Beharrliche haben bereits artig vor der hölzernen Autorität in Reih und Glied Aufstellung genommen. Andere wenden sich verärgert ab. Lieber erklimmen sie die Aussichtsplattform des nahen Müggelturms und genießen anstelle des dünnen Kaffees den weiten, beruhigenden Blick über den riesigen Berliner Stadtforst. Die höchste natürliche Erhebung Berlins bietet aus einer Höhe von 115 Meter über dem Meeresspiegel einen imposanten Rundblick über das seenreiche Köpenick.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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