Im Herzen der Nacht - Rebecca West - E-Book

Im Herzen der Nacht E-Book

Rebecca West

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Beschreibung

Die Wiederentdeckung eines Klassikers - Band 2 der Aubrey-Familiensaga, die vollständig und neu übersetzt bei btb erscheint

London in den 1910er Jahren: Aus den drei Schwestern der Familie Aubrey sind junge Frauen geworden. Die Korsetts und Kleider sind enger, die Frisuren raffinierter und der Müßiggang der Sommertage ist nur noch eine sanfte, ferne Erinnerung. Nach dem Verschwinden ihres charismatischen, aber unzuverlässigen Vaters müssen sich Rose, ihre Schwestern und ihr kleiner Bruder Richard Quin nun der Welt der Erwachsenen, ihren Geheimnissen und Konventionen stellen. Doch ein Ereignis droht die hellen Tage der Unbeschwertheit bald endgültig vergessen zu machen: Ein Krieg, der alles, was ihm in den Weg kommt, mit sich zu nehmen droht, und sich ausbreitet wie eine endlose Nacht.

„Im Herzen der Nacht“ nach „Die Familie Aubrey“ zweiter Teil der Aubrey-Romantrilogie, aber als unabhängiger Roman geschrieben, ist ein perfekter Einstieg in das außergewöhnliche Universum der Rebecca West – ein Meisterwerk, das fast vierzig Jahre nach seinem Erscheinen endlich auf Deutsch entdeckt werden kann.

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Seitenzahl: 604

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch

London in den 1910er Jahren: Aus den drei Schwestern der Familie Aubrey sind junge Frauen geworden. Die Korsetts und Kleider sind enger, die Frisuren raffinierter, und der Müßiggang der Sommertage ist nur noch eine sanfte, ferne Erinnerung. Nach dem Verschwinden ihres charismatischen, aber unzuverlässigen Vaters müssen sich Rose, ihre Schwestern und ihr kleiner Bruder Richard Quin nun der Welt der Erwachsenen, ihren Geheimnissen und Konventionen stellen. Doch ein Ereignis droht die hellen Tage der Unbeschwertheit bald endgültig vergessen zu machen: ein Krieg, der alles, was ihm in den Weg kommt, mit sich zu nehmen droht und sich ausbreitet wie eine endlose Nacht.

»Im Herzen der Nacht«, nach »Die Familie Aubrey« der zweite Teil der Aubrey-Romantrilogie, aber als unabhängiger Roman geschrieben, ist ein perfekter Einstieg in das außergewöhnliche Universum der Rebecca West – ein Meisterwerk, das fast vierzig Jahre nach seinem Erscheinen endlich auf Deutsch entdeckt werden kann.

Zur Autorin

Dame Rebecca West (1892 – 1983) wurde als Cicily Isabel Fairfield geboren und wählte ihren Künstlernamen nach einer starken Frauenfigur in einem Ibsen-Drama. West war Journalistin und Reiseschriftstellerin. Sie schrieb unter anderem für The New York Herald Tribune und Harper’s Bazaar. Als Berichterstatterin für den Daily Telegraph nahm sie an den Nürnberger Prozessen teil. Sie pendelte zwischen London, New York, Rom und Florenz. Neben ihren journalistischen Texten verfasste sie mehrere erfolgreiche Romane und Erzählungen.

Rebecca West

Im Herzen der Nacht

Roman

Aus dem Englischen von Ute Brammertz und Carola S. Fischer

Die englische Originalausgabe erschien 1984 unter dem Titel »This Real Night« bei Macmillan & Co., London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Übersetzung des Gedichts »Sorrows of Werther« von William Makepeace Thackeray besorgte Sabine Roth.

Copyright © The Estate of Rebecca West 1984

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München nach einer Vorlage von Joël Renaudat unter Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock / Msnty studioX

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-28728-3V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Erster Teil

1

Der Tag war so herrlich, dass ich wünschte, man könnte langsam leben, so wie man langsam Musik spielen kann. An einem warmen Samstagnachmittag Ende Mai, vor beinahe fünfzig Jahren, saß ich mit meinen beiden Schwestern, Cordelia und meinem Zwilling Mary, und unserer Cousine Rosamund im Wohnzimmer unseres Hauses in Lovegrove, einem Vorort im Süden von London. Es war warm wie im Hochsommer, und Sonnenschein fiel in honigfarbenen Streifen auf den Boden, die Luft flimmerte von Staubkörnchen; und um einen lilafarbenen Zweig Schneeball in einer Vase auf dem Kaminsims summten Bienen. Wir vier Mädchen schwelgten in einem Gefühl des Müßiggangs, das wir noch nie genossen hatten und auch nie wieder genießen sollten, weil wir schon bald von der Schule abgehen würden und sämtliche Prüfungen für den Eintritt in die Erwachsenenwelt bestanden hatten. Wir waren so glücklich wie entflohene Sträflinge, denn das Kindsein war uns allen verhasst gewesen. Schon damals gab es den Irrglauben, und seitdem hat er sich von Jahr zu Jahr verfestigt, dass Kinder nicht zur gleichen Spezies wie Erwachsene gehören und eine andere Art der Wahrnehmung und der Intelligenz besitzen, die ihnen ein befriedigendes Leben in ihrer eigenen Welt ermöglichen. Dies schien mir damals, und scheint mir heute, gewaltiger Unsinn zu sein. Ein Kind ist ein Erwachsener, der zeitweilig Bedingungen erdulden muss, die jedes Glück ausschließen. In jungen Jahren leidet man an eben solchen körperlichen und geistigen Einschränkungen, wie sie irgendein schrecklicher Unfall oder eine Krankheit hervorrufen könnten; doch während die Versehrten und Gelähmten bemitleidet werden, weil sie nicht gehen können, sondern herumgetragen werden müssen, und ihre Bedürfnisse nicht artikulieren oder klar denken können, bedauert niemand Babys, obwohl sie ihren Verdruss und gekränkten Stolz immerzu laut herausschreien. Zwar bessert jedes Jahr die eigene Lage und beschert einem mehr Selbstbestimmung, doch führt dies nur in eine Falle. In der Erwachsenenwelt ist man im Nachteil, man ist Mitglied eines unterworfenen Volkes und muss zugeben, dass es durchaus Gründe für die eigene Unterjochung gibt. Denn Erwachsene wissen tatsächlich mehr als Kinder, das lässt sich nicht leugnen; allerdings liegt das nicht an einer echten Überlegenheit. Sie kennen sich nur aus dem einen Grund besser aus, weil sie schon länger auf der Welt sind. Es ist, als hätte man mehrere Menschen in der Wüste ausgesetzt und die einen würden über Kompasse verfügen und die anderen nicht; und die mit Kompass würden die ohne als Unterlegene behandeln und sie ohne Rücksicht auf die ungerechten Umstände schelten und verhöhnen und sie dabei gleichzeitig, häufig liebenswürdig, in Sicherheit führen. Ich bin immer noch der Ansicht, dass die Kindheit ein grässlicher Zustand der Ungleichheit ist, und halte uns vier Mädchen nicht für töricht, weil wir beim Erreichen des Wüstenrands tiefe Erleichterung empfanden.

Wir saßen so ungezwungen in dem sonnenhellen Zimmer, als wären wir Blumen und keine Mädchen. Unsere Lehrerinnen gaben uns immer noch Hausaufgaben auf, aber unsere Bücher lagen ungeöffnet auf dem Tisch. Vielleicht warfen wir einmal am Montagmorgen beim Ankleiden einen Blick hinein, nur um Ärger zu vermeiden. Ich saß zurückgelehnt in einem Sessel, die Füße auf einem Stuhl, weil ich es nie leid wurde, die schmale Röhre meines neuen langen Rocks zu betrachten. An dem Nachmittag hatte Mary sich zum ersten Mal das Haar hochgesteckt; in den vergangenen Monaten hatte sie, wie ich, einen cadogan getragen, wie die Frisur damals genannt wurde, einen mit einer Schleife aus breitem Moiréband im Nacken zusammengebundenen Zopf, doch nun wagten wir uns an richtige Erwachsenenhaarknoten, die sich viel schwieriger feststecken ließen. Deshalb saß sie mit dem Schoß voller Haarnadeln da, einen Kamm in der einen Hand und einen Spiegel in der anderen, schüttelte hin und wieder den Kopf und beugte den langen weißen Hals über ihr Spiegelbild, um zu überprüfen, ob ihr schwarzes Haar noch ordentlich war. Schwäne sieht man auf diese Weise den Kopf schütteln und dann über ihren Abbildern auf dem glatten Wasser dahingleiten. Rosamund nähte einen Volantunterrock für das Geschäft in der Bond Street, das die feine Wäsche kaufte, die sie und ihre Mutter anfertigten; doch selbst sie, die alles langsam machte und sogar leicht stotterte, ließ sich noch einmal mehr Zeit als sonst. Gelegentlich legte sie die Nadel beiseite, streckte den Arm zum Teetisch, den wir in unserer Trägheit nicht abgeräumt hatten, und nahm sich ein Stück Zucker. Während sie es knirschend kaute, lehnte sie sich zurück, griff nach einer der schweren goldenen Locken, die über ihre Schultern fielen, und wickelte sie um ihren Zeigefinger, vielleicht um die üppige Spirale fester zu ziehen, vielleicht nur, um sie zu bewundern. Cordelia stopfte ihre Strümpfe und neigte ihren rotgoldenen Schopf mit dem andächtigen und selbstlosen Gebaren, das sie bei all ihrem Tun an den Tag legte: Ein Fremder hätte geglaubt, die Strümpfe gehörten jemand anderem. Doch so schlimm, wie sie wirkte, war sie im Grunde nicht. Auf Nachfrage hin hätte sie sehr wohl zugegeben, dass die Strümpfe ihr gehörten. Sie war eine Aufschneiderin, aber es war eher eine physische als eine geistige Eigenschaft. Bei allem, was sie tat, bekundete ihr Körper, es sei von immenser moralischer Bedeutung.

Heutzutage würden wir vier Mädchen so fade wirken, dass es schon abstoßend wäre. Rosamund und Mary waren schön, unbestreitbar schön, wie Frauen bei Tennyson, mit ungewöhnlich großen und glänzenden Augen, und einer äußerst intensiven Farbgebung. Rosamunds Haar hatte einen überaus satten Goldton, Marys Haut war sehr weiß; und Cordelia war mit ihren kurzen rotgoldenen Locken und ihrer wie vom rötlichen Widerschein einer Lampe rosigen Haut so reizend wie irgend möglich. Und ich selbst sah auch nicht übel aus. Den anderen konnte ich bei Weitem nicht das Wasser reichen, doch das Verhalten fremder Männer versicherte mir nun ständig, dass ich ganz hübsch aussah. Wenn ich für Mamma zur Bank ging, um einen Scheck einzulösen, schienen die Bankangestellten sich zu wünschen, die Auszahlung des Geldes wäre eine größere Anstrengung gewesen, als sich der Anschein erwecken ließ, ein größeres Zeugnis ihrer Gefälligkeit mir gegenüber. Das gefiel uns, und es gefiel uns auch wieder nicht. Am liebsten wären wir zu etwas anderem als Frauen herangewachsen. Aufgrund unserer Entwicklung erinnerten unsere Figuren zwar durchaus an die schönsten Statuen, aber das nützte uns nichts, denn wir konnten nirgends leben, wo wir uns unbekleidet oder in griechischen Gewändern zeigen durften, und wie die Dinge lagen, bedeutete es nur, dass der richtige Sitz unserer Blusen und Mieder mehr Mühe bereitete.

Was unser Geschlecht sonst noch an Veränderungen mit sich brachte, so war »albern« das Wort, dessen wir uns am häufigsten bedienten. Außer Rosamund, die jegliche körperliche Gegebenheit hinnehmen konnte, waren wir allesamt wütend. Dank unserer robusten Gesundheit handelte es sich bei diesen Umständen um eine bloße Unannehmlichkeit, doch es war albern, ja, albern, dass wir so stark und andauernd darunter zu leiden haben sollten, bloß weil wir eines Tages, Jahre später, vielleicht einmal Kinder bekommen würden, was in der Tat höchst unwahrscheinlich war. Düster gingen wir davon aus, dass wir wussten, was die Ehe war. Mein Vater hatte uns kürzlich verlassen; er war nicht gestorben, sondern hatte uns im Stich gelassen, nicht aus Grausamkeit, da waren wir uns sicher, sondern weil er uns durch sein Bleiben nichts nützen konnte. Er war eine Spielernatur, und meine Mutter hatte ständig kämpfen müssen wie ein Infanterist in den Schlachten der damaligen Zeit, damit wir ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen hatten. Rosamunds Vater war ein boshafter Exzentriker, ein erfolgreicher Geschäftsmann, der so ungern Geld ausgab, es sei denn für Séancen mit spiritistischen Medien, dass sie und ihre Mutter, Mammas Cousine Constance, bei uns Zuflucht hatten suchen müssen. Uns war klar, dass unsere Erfahrungen nicht der Regel entsprachen, denn manche Leute schienen durchaus verlässliche Väter zu haben. Bei unseren Mitschülerinnen zu Hause erstaunte und gefiel uns die dort herrschende Atmosphäre der Beständigkeit, die offenkundig nicht nur von ihren Müttern, sondern auch von den freundlichen und vernünftigen Männern herrührte, die, kurz nachdem wir mit dem Tee fertig waren, heimkehrten. Doch wir bezweifelten, ob diese guten Papas nicht aus Nachlässigkeit gut waren. Unser Vater hatte spekuliert, Rosamunds Vater verschwendete Zeit und Geld, indem er im Dunkeln saß und die Toten, die nicht da waren, behelligte, weil beide diese Welt nicht leiden konnten und sich in jene andere Welt hinauslehnten, deren mögliche Existenz uns durch die vom Schicksal und dem Übernatürlichen gemachten vagen Andeutungen nahegelegt wird; und sie wussten beide sehr viel über die Welt, denn mein Vater war ein Genie unter Schriftstellern und Cousin Jock war ein brillanter Musiker. Möglicherweise waren diese anderen Männer nur deshalb gute Väter, weil sie zu wenig über die Welt wussten, um gegen sie zu wüten. Und obwohl wir Rosamunds Papa verabscheuten, so liebten wir unseren eigenen doch zutiefst, und wir wussten, Mamma hatte sich mit ihrem Kummer ein unglückseliges Glück erkauft, das größer war als das gewöhnliche. Aber das bestärkte uns nur in unserer Entschlossenheit, nicht zu heiraten. Sie hatte sich auf diese Ehe eingelassen, ohne zu wissen, wie teuer diese sie zu stehen kommen würde. Wenn wir, die wir sie den Preis hatten entrichten sehen, uns zu solchem Kummer verdammten, selbst bei gleicher Belohnung, so hätte dies etwas Selbstmörderisches an sich, und das stünde in völligem Gegensatz zu Mammas Lebenswillen, der ihr Hauptwesenszug war.

In der Tat glich die Heirat in unseren Augen einem Abstieg in eine Gruft, wo man im zittrigen Schein rauchender Fackeln ein prachtvolles Opferritual feierte. Natürlich war es schön, das sahen wir. Doch wir hatten vor, im Sonnenschein zu bleiben, und uns fiel kein Zweck ein, dem wir dienlich sein konnten, indem wir uns als Opfer darboten. Deshalb wollten wir den geraden Linien folgen, die von unseren Körpern zum Horizont zu führen schienen, und dabei den ganzen Weg lang über der Erde bleiben. Bei Mary und mir war alles gut. Das hatten wir schon im Laufe unserer Kindheit immer gesagt, und so war es auch. Von Anfang an waren wir zu Konzertpianistinnen erzogen worden, wie unsere Mutter es früher war, und nun hatte Mary ein Stipendium am Prince Albert College in South Kensington bekommen und ich eines am Athenaeum in der Marylebone Road. Bei Rosamund war auch alles gut. Nach den Ferien würde sie als Lernschwester an ein Kinderkrankenhaus in einem Vorort im Osten Londons gehen; und sie wollte so sehr Krankenschwester werden wie wir Pianistinnen. Während sie Zuckerstücke zerkaute, saß sie da und dachte mit stillem, grüblerischem Drang an Krankenstationen, Abteilungen zur ambulanten Behandlung, Verbände und Uniformen.

Wie genau alles mit Cordelia gut ausgehen würde, waren wir uns nicht sicher, allerdings wussten wir, dass dem so sein würde. Von ganz klein auf hatte sie Geigerin werden wollen, aber sie hatte gespielt, wie es Leute in Teestuben tun; sie verstand wirklich rein gar nichts von Musik. Vor nicht allzu langer Zeit war ihr auf grausame Weise offenbart worden, dass sie kein Talent besaß; doch so gut, wie sie den Schock überwunden hatte, würde offenbar keine Unbill sie bezwingen können. Mary und ich waren verblüfft, unser ganzes Leben lang hatte uns ihr sirupsüßes Spiel angewidert, und jetzt verhielt sie sich auf eine Weise, wie sie hätte spielen sollen, und legte so viel Tatkraft wie wir anderen an den Tag; und Tatkraft schätzten wir. Die Welt war voller Möglichkeiten, und man benötigte Tatkraft, um sie zu ergreifen, und wenn man sie ergriff, dann würde es schon werden, dann würde es gut werden. Unsere Reaktionen auf das Leben waren so natürlich, dass wir, wenn ich auf uns zurückblicke, überhaupt nicht natürlich wirken. Wir hätten vier bunt angemalte Roboter sein können.

Dann geschah etwas sehr Angenehmes. Richard Quin, unser Bruder, der noch zur Schule ging, kam vom Garten hereingelaufen, um zu sagen, die Tulpen, die wir angepflanzt hatten, seien endlich aufgegangen, und er wolle Mamma holen und sie ihr zeigen. Cordelia, die nie glaubte, dass irgendetwas, das unsere Familie machte, glücken könnte, rief: »Was, sind sie wirklich aufgegangen?«, und Mary und ich antworteten leidenschaftlich, als ginge es um mehr als Tulpen, dass das ganz gewiss so sei, wir hätten die grünen Knospen schon seit Tagen beobachtet. Aufgrund ihrer Größe folgte uns Rosamund recht unbeholfen die Eisenstufen hinunter in den Garten. Dann kamen Mamma und Richard Quin nach draußen, und wir standen alle vor dem runden Blumenbeet auf dem Rasen und blickten tief bewegt auf die vierundzwanzig Tulpen, zwölf rote und zwölf gelbe, und die sechsunddreißig Goldlackpflanzen drum herum. Sie waren ein Zeichen, dass wir einen uralten Zauberbann gebrochen hatten. Zum ersten Mal waren wir uns ganz sicher, dass auch wir die Dinge tun konnten, die anderen Menschen ganz selbstverständlich gelangen. Unser Garten war schon immer schön gewesen, denn die vielen Fliederbüsche und -bäumchen und der Kastanienhain am Ende des Rasens waren von einem verstorbenen Besitzer angepflanzt worden, als hätte er die Kulisse für eine Theaterszene erschaffen. Doch in den Beeten hatte es außer ein paar alten Rosensträuchern und Schwertlilien, die nichts weiter als Blätterbüschel waren, nie Blumen gegeben. Es war nicht anders gegangen, während Papa noch im Haus war und sämtliches Geld verspekulierte. Damals waren Pflanzen und Blumenzwiebeln zwar sehr günstig, doch solange er bei uns war, konnten wir uns nicht dazu überwinden, etwas zu kaufen, das nicht unbedingt notwendig war. In den Zeiten unserer größten Not hatte Mamma keinen müden Shilling mehr übrig, und unsere besseren Zeiten hielten nie so lang an, dass wir unsere Angst vergaßen, vom Klippenrand zu stürzen. Jegliches Geld, das wir übrig hatten, gaben wir für Konzerte und Theater und solche Orte aus, die für uns den gleichen Rang hatten wie die Kew Gardens und Hampton Court. Deshalb hatten wir aus einem ganz einfachen Grund keine Blumen im Garten: Uns fehlte das Geld dafür, sie zu bezahlen. Doch arme Leute geben nur ungern zu, dass sie Sklaven ihrer Armut sind, und erfinden abgründige Erklärungen für ihre mangelnde Freiheit. Deshalb redeten wir uns ein, es sei eine eigenartige Sache, aber in unserem Garten wollten einfach keine Blumen gedeihen.

Im vergangenen Herbst verließ uns Papa schließlich, und Mamma verkaufte einige Bilder, deren Wert ihr bekannt gewesen war, auch wenn sie es nicht offen zugegeben hatte, um in eben einer solchen Notsituation, die sie natürlich immer schon vorhergesehen hatte, für uns sorgen zu können. Auf einmal war bei uns, was Geld betraf, alles gut, oder jedenfalls beinahe. Und eines Tages waren Cordelia, Mary, Richard Quin und ich zu einer Gärtnerei am Rand von Lovegrove gegangen und hatten Beetpflanzen bestellt, die im neuen Jahr geliefert werden sollten, und ein paar Hyazinthen- und Tulpenzwiebeln mitgenommen, die wir sofort einpflanzen wollten. Vor Mamma hatten wir das Vorhaben geheim gehalten, und das war auch gut so gewesen, denn aus den Hyazinthen war nichts geworden. Das hatten wir schrecklich gefunden, denn es goss Öl in Cordelias Feuer. Doch nun waren die anderen Blumen gesprossen, ein kleiner, aber vollständiger Sieg. Die scharlachroten und goldenen Tulpen erhoben sich aus einem Kreis aus Goldlackblümchen, viel besser als ihre heutigen Abkömmlinge, denn die Blumengärtner hatten ihnen noch nicht die Rot- und Gelbtöne angezüchtet, und damals hatten sie eine tiefe und zarte braune Farbe, das Braun brauner Augen; und wir standen dort und sonnten uns in höchster Genugtuung.

»Oh, der Duft, der Duft dieses Goldlacks«, sagte Mamma mit mädchenhafter Stimme, obwohl sie so alt und dünn und ausgezehrt war. Wie immer, wenn sie große Freude empfand, war sie nicht unsere Mutter, sondern unsere Schwester.

Ich legte den Arm um ihre Taille und staunte wieder einmal über die, in unseren Augen, eigentümliche Veränderung unserer Beziehung zu ihr. Mittlerweile waren wir allesamt größer als sie, und wir konnten beschützend auf sie hinabschauen, wie sie es vor nicht allzu langer Zeit noch bei uns getan hatte. Dieser Umstand amüsierte uns so sehr, als wäre er noch nie zuvor in irgendeiner anderen Familie vorgekommen. Ich wäre sehr glücklich gewesen, wenn Glücklichsein mir damals nicht immer auch sein Gegenteil beschert hätte. Mamma besaß nun genug Geld, die Zukunft von uns Mädchen war gesichert, und Richard Quin würde immer zurechtkommen. Wir konnten jetzt wie andere Leute Blumen anpflanzen und all das tun, was sie sich leisten konnten. Doch bis zu Papas Fortgang war es nicht so gewesen, und es schien, als hätten wir diese Dinge im Tausch für ihn erhalten. Ich wünschte mir, ich könnte Gott klarmachen, dass ich gern für immer darauf verzichten würde, wenn nur Papa zu uns zurückkäme. Allerdings war mein Kummer über seinen Verlust schon nicht mehr so quälend wie am Anfang. Doch das bereitete mir nur weiteren Kummer, denn es zeugte von meiner Herzlosigkeit. Trotzdem zog ich Nutzen aus meiner Herzlosigkeit, indem ich die Tulpen betrachtete und den Worten der anderen lauschte, wohl wissend, dass ich bald vergessen würde, an Papa zu denken; und so geschah es auch.

»Wir müssen einander Zwiebeln und Pflanzen zu Weihnachten und zum Geburtstag schenken«, sagte Mary gerade, »und dann können wir die anderen Beete füllen.«

Cordelia sagte: »Bis wir genug Weihnachts- und Geburtstagsfeste dafür gehabt haben, werden wir uralt sein«, doch auch sie war glücklich, denn in ihren Worten lag keine Bitterkeit.

»Nein, ihr Lieben«, sagte Mamma, »das müsst ihr euch nicht aufbürden. Natürlich ist Umsicht geboten, bis ihr euren Weg gemacht habt, aber selbst unter diesen Umständen kann ich etwas für den Garten erübrigen.«

Sie war so lang arm gewesen, dass es sogar jetzt so klang, als fürchtete sie, nicht genug Geld für solche Ausgaben zu haben. Richard Quin wirkte auf uns ein wenig ruppig mit seinen Worten: »Dann leg so viel drauf, dass es einmal im Monat für einen Aushilfsgärtner reicht, anstatt abzuwarten und ihn erst zu rufen, wenn die Lieferanten sich den Weg zum Haus mit Äxten freihacken müssen – mit Macheten …«

»Mit Franzisken«, sagte ich.

»Was für Unsinn ihr Kinder doch redet«, sagte Mamma. »Was um Himmels willen sind denn Franzisken?«

»Denk nach, Mamma, denk nach«, sagte ich. »Man geht nicht zur Schule, um den Kopf mit Fakten vollgestopft zu bekommen, man geht zur Schule, um denken zu lernen …«

»Wie sehr ich den Satz hasse«, sagte Richard Quin.

»Was, sagen sie das in Knabenschulen auch?«, fragte Mary.

»Selbstverständlich, es gibt eine Art ganz verwerfliche Ganovensprache – verwende sie ja nicht im Haus –, die sowohl unter männlichen als auch weiblichen Lehrkräften verbreitet ist«, antwortete Richard Quin.

»Eine Franziska ist ein Wurfbeil, das bei den Franken in Gebrauch war«, erläuterte ich. »Wenn du nur einen Moment nachgedacht hättest, liebe Mamma …«

»Barongs«, sagte Mary, »hoffentlich benutzen die Lieferanten Barongs. Sie geben so ein schönes Geräusch von sich, wenn sie durchs Unkraut schneiden: Barrong, Barrrong.«

»Die Lieferanten benutzen Macheten, sage ich euch«, behauptete Richard Quin. »Sie bringen ›ein Dutzend Macheten, um den Wal zu zerhacken‹.« Das Zitat stammte aus einem elisabethanischen Reisebuch, das uns früher gefallen hatte. Er fuhr fort: »Ja, Mamma, ich weiß, dass du es für ratsam hältst, deine blassen Kinder an die frische Luft zu schicken …«

»Alle Erwachsenen meinen, Kinder sollten als fröhliche Landleute aufwachsen«, sagte Mary.

»Ich frage mich, ob Weber den Ausdruck erfunden hat«, sagte Mamma. »Ich lese ihn immer gern bei der Besetzung des Freischütz.«

»Mamma«, sagte Richard Quin, »schweifen wir doch nicht vom Thema ab. Ich kann den Rasen nicht regelmäßig mähen, wenn ich so viel Cricket und Tennis spiele, wie ich sollte, und auch meine Immatrikulation mehr oder weniger zur rechten Zeit bestehen soll, und Cordelia ist seit ihrer Krankheit nicht ausreichend bei Kräften, und wenn Mary und Rose es übernehmen, ist nichts gewonnen, außer dass man sieht, was aus einem Rasen wird, der von zwei talentierten jungen Pianistinnen gemäht wurde, die nichts als ihre Kunst im Kopf haben. Du solltest wirklich einmal versuchen, es vom Standpunkt des Rasens aus zu betrachten.«

»Der arme Rasen«, sagte Mamma, »wie eine Frau, die zu einem unfähigen Friseur geht.«

Der kleine Scherz löste übermäßige Heiterkeit bei uns aus. Aber wir waren sehr glücklich. Ich stand jetzt zwischen Mary und Rosamund, wir hatten die Arme ineinandergeschlungen und wiegten uns gemeinsam, als wären wir leicht wie Zweige im Wind.

»Du meine Güte«, seufzte Mamma, »es ist schon so viele Jahre her, dass ich beim Friseur gewesen bin.«

»Nun, dann geh«, spornten wir sie im Brustton der Überzeugung an, denn wir selbst hatten gerade angefangen, zum Friseur zu gehen, anstatt uns die Haare zu Hause zu waschen. »Dagegen spricht doch nichts. Törichte Mamma, natürlich solltest du dir wie andere Mammas das Haar frisieren lassen.«

»Aber nein, Kinder«, widersprach sie, da die Armut sich wieder zu Wort meldete. »Es wäre Geldverschwendung. Ich bin jetzt alt, und es ist egal, wie ich aussehe. Außerdem ist es ganz einfach, das Haar selbst hochzubinden.«

»Nicht halb so einfach, wie du denkst«, sagte Richard Quin.

»Ich lasse mir morgen die Haare schneiden«, sagte Cordelia. »Da vereinbare ich einen Termin für dich.«

»Warum ist uns das nicht schon früher einmal eingefallen?«, wunderte Mary sich.

»Du und der Rasen«, sagte ich, »um euch werden sich Fachleute kümmern, und dann werdet ihr beide schön aussehen.«

»Nein, Rasen erneuern sich von selbst«, sagte sie, »und Mammas eben nicht.«

»Egal, andere Mammas glauben, sie erneuern sich durch einen Friseurbesuch, und du kannst es auch, wenn du es nur versuchst«, sagte Richard. »Und außerdem bist du perfekt.«

»Ponce de Leon, Hoffriseur«, sagte Mamma. »Oh, wie süß dieser Goldlack riecht, es ist ein wunderbarer Duft, so schwer, aber doch so frisch.«

»Es ist so schade, dass die Hyazinthen nicht herausgekommen sind«, sagte ich, »denn sie haben einen noch intensiveren Geruch.«

»Warum erwähnst du das? Wir haben sie natürlich falsch eingepflanzt«, sagte Cordelia. Aber wieder sprach sie ohne Bitterkeit, sie schaffte es nur nicht, mit ihrer Gewohnheit zu brechen, alles, was wir taten, abzuwerten. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen und lächelte in den Sonnenschein. »Sand. Irgendwo habe ich gelesen, dass man immer Sand unter Blumenzwiebeln geben sollte.«

»Der Mann in der Gärtnerei hat nichts von Sand gesagt«, sagte Mary, allerdings ohne Zorn. Heute wollten wir uns nicht zanken.

»Es war so ein kleiner Einkauf, dass er sich nicht die Mühe gemacht hat, es uns zu erklären«, sagte Cordelia, aber sie lächelte immer noch.

»Ich weiß, warum die Hyazinthen nicht herausgekommen sind, die Tulpen aber schon«, sagte Richard Quin. »Die Hyazinthen haben wir eingesetzt, und die Tulpen Rosamund.«

»Natürlich«, riefen wir, »das muss es sein!«

»Nein, nein«, stammelte Rosamund. »Daran kann es nicht liegen. Eine Zwiebel zu pflanzen, ist ganz einfach. Man steckt sie nur in die Erde, und sie wächst.«

»Nichts ist so einfach«, sagte Mamma. »Oh, der Duft, der Duft, er kommt in Wellen.«

In meiner Erinnerung war es in dem Moment, dass mein Glück mich berauschte, dass ich wieder von Ungeduld gepackt wurde, weil man nicht langsam leben, so wie man langsam Musik spielen kann. Und doch handelte es sich um eine völlig unbestimmbare Begebenheit, eine Sache von leisem Lächeln und Halbtönen der Zärtlichkeit. Eine Frau fortgeschrittenen Alters, vier junge Mädchen und ein Schulknabe betrachteten zwei gewöhnliche Blumensorten und unterhielten sich eigentlich gar nicht, sondern reichten vielmehr freundliche Worte weiter, wie Kinder, die eine Pralinenschachtel reihum gehen ließen. Mir war unvorstellbar, warum das Blut in meinen Ohren sang und ich das Gefühl hatte, dass diese Art von Dingen das Wesen der Musik ausmachte. Doch der Moment verstrich, ehe ich mir seine Bedeutsamkeit erklären konnte, denn vom Haus rief jemand herüber, und wir sahen uns gereizt und voller Groll um, weil unser enger Zirkel durchbrochen war.

Es war jedoch Mr Morpurgo, und er störte uns selbstverständlich nie. Er war Papas alter Freund, der sich immer um ihn gekümmert hatte, selbst als Papa sich ihm gegenüber so seltsam verhalten hatte, dass sie sich nicht mehr treffen konnten, und der ihn zum Chefredakteur der Lokalzeitung in Lovegrove gemacht hatte. Bis zu Papas Weggang hatten wir Mr Morpurgo nie zu Gesicht bekommen, doch seitdem hatte er Mamma oft besucht und war ihr bei der Neuregelung ihrer Geldangelegenheiten eine große Hilfe gewesen; und durch die Erfahrung unserer ärmlichen Kindheit wussten wir es wertzuschätzen, mit welcher Sorgfalt er uns vermittelte, dass er uns nicht aus Mitleid gütig behandelte, sondern weil er uns, insbesondere Mamma, gernhatte. Er kam mit der Zögerlichkeit, die wir mittlerweile schon von ihm erwarteten, über den Rasen. Zuerst schickte er uns von Weitem ein strahlendes Lächeln, dann verfinsterte sich sein Gesicht, und sein Schritt wurde zaudernd, als fände er es schier unerträglich, seinen Körper Menschen zu präsentieren, zu denen sich sein Geist hingezogen fühlte. Tatsächlich war er ein ausgesprochen hässlicher Mann. Sein schwermütiges Gesicht war fahl, seine riesigen dunklen Augäpfel rollten zu lose im bläulichen Weiß, und die Tränensäcke unter seinen Augen hingen bis zu den Wangen hinab, die wiederum in Richtung seiner hängenden Kinne hinunterhingen; und unter seiner schönen, adretten Kleidung war sein kleiner Leib ein schlaffes Durcheinander, als wäre ein Regenschirm, dessen Streben allesamt zerbrochen waren, zu einem Bündel verschnürt worden. Doch wir betrachteten sein Erscheinungsbild längst nicht mehr als Abweichung vom Normalen, sondern nahmen es vielmehr zum Zeichen, dass er zu einer Spezies gehörte, die liebenswürdiger und feinsinniger war als die gemeine Menschheit: dass er nicht Mr Morpurgo war, sondern ein Morpurgo, so wie er vielleicht ein Elch oder ein Ameisenbär hätte sein können, und dass es sich dabei um etwas Gutes handelte.

Mamma rief: »Wie schön, dass Sie wieder da sind! Ihr Sekretär hat uns schon Angst eingejagt, indem er schrieb, er wisse nicht, wie lange Sie auf dem Kontinent bleiben wollten.« Als er ihre Hand ergriff, betrachtete sie ihn besorgt, und tatsächlich war er sehr gelblich und schwermütig, selbst für seine Verhältnisse. »Aber wie krank Sie aussehen! Ich weiß, woran es liegt. Sie sind in einer Region gewesen, wo man alles in Öl gebraten hat!«

Er wiederholte: »Wo man alles in Öl gebraten hat?« Einen Moment lang verfiel er in ein ehrfürchtiges Schweigen. »Wie merkwürdig, dass Sie das erraten haben! Ja, sie haben tatsächlich in Öl gebraten. Es war eine raue Küste, und die Einheimischen waren ungefällige Menschen. Wenn sie alle Butter der Welt gehabt hätten und auch alles Schmalz, so hätten sie sich doch Öl kommen lassen, und wenn es frisch geliefert worden wäre, hätten sie es aufbewahrt, bis es ranzig wird, bloß damit die richtigen ekelhaften Dünste aus ihren ekelhaften Küchen in ihre ekelhaften Gassen steigen. Aber ich bin ungerecht. Es sind einfache Leute gewesen, und sie haben es nicht böse gemeint. Schuld war die Angelegenheit, die mich zu ihnen geführt hat. Sie hat mir«, sagte er und sah mit einem herzzerreißenden Blick zu Mamma, »ein Grauen vor dem Ort eingeflößt. Doch wenigstens ist die ganze Sache früher ausgestanden gewesen, als ich erwartet hatte, und es ist aus und vorbei. Daher wollen wir es jetzt vergessen. Es nicht zu vergessen, ist sinnlos«, sagte er sich verdrießlich. »Deshalb bringe ich der Familie Aubrey ein paar Blumen, um mich ein wenig abzulenken, und ich treffe sie beim Betrachten ihrer eigenen Blumen an, die schöner sind als alle von mir geschenkten.«

»Sie verspotten uns«, sagte Cordelia.

»Nein, ich sage die reine Wahrheit«, erwiderte Mr Morpurgo. »Sie werden von mir keinen Unsinn darüber zu hören bekommen, Brotkanten wären besser als Kaviar, in keinem Lebensbereich. Clare, Ihre Kinder steuern nur auf Enttäuschungen zu, wenn ihnen nicht klar ist, dass kostspielige Dinge im Allgemeinen viel, viel schöner sind als billige. Dies gilt in einem Garten wie auch an jedem anderen Ort. Orchideen sind Meerviolen so haushoch überlegen, dass man seinen Verstand drangeben müsste, um dies nicht wahrzunehmen. Gleichwohl trifft es zu, dass niemand einem Freund schönere Blumen mitbringen kann als diejenigen, die der Freund in seinem eigenen Garten hat, und zwar aus dem Grund, dass eine gedeihende Blume ein Schillern besitzt, das eine Schnittblume innerhalb einer Stunde einbüßt. Ihre Tulpen haben ein Licht auf den Blütenblättern, das die von mir mitgebrachten Blumen auf dem Weg verloren haben müssen, und wenn Sie hineinschauen, so werden Sie eine Schicht auf den Staubbeuteln und Staubblättern sehen« – wir fürchteten, er werde eine pflücken, um es uns zu zeigen, aber natürlich tat er das nicht – »die von meinen abzufallen begann, während die Gärtner die Blumen zum Haus getragen haben. Also habe ich Ihnen Blumen mitgebracht, die nicht so gut sind wie diejenigen, die Sie bereits besitzen, und ich habe noch einen Fehler begangen. Ich habe Ihnen zu viele Blumen besorgt. Sehen Sie sich meinen Chauffeur an, der an Ihrem Fenster steht und sein zweifaches Körpergewicht in Nelken, Tulpen und Orchideen trägt, während sein beherrschtes Christengesicht sich seine Meinung über meine Maßlosigkeit nicht anmerken lässt. Und im Wagen liegen noch mehr. Ich übertreibe es immer«, klagte er mit einem Mitleid heischenden Blick in die Runde.

So eine lange Rede hatten wir noch nie von ihm gehört, und sein Gejammer klang, als spräche er, um nicht das zu tun, was auch immer Männer tun, statt in Tränen auszubrechen. Wir drängten uns näher um ihn, und Mary sagte: »Aber uns gefällt das. Man erträgt die Vorstellung nicht, dass es von irgendetwas Schönem nur ein Exemplar gibt, und man wird zufriedener, je weiter man sich von dieser knauserigen Zahl entfernt.«

»Aber diesmal kommt das Übermaß ungelegen«, murrte Mr Morpurgo. »Ihre arme Kate wird überall nach Blumenvasen suchen. Ich werde welche kaufen gehen.«

»Nein, bloß nicht«, flehte Mamma. »Sie kaufen bestimmt viel zu viele.«

»Sehen Sie!«, sagte Mr Morpurgo. »Sie kennen mich eben.«

»Kommen Sie ins Haus und trinken Sie in Ruhe eine Tasse Tee, während die Kinder die Blumen in irgendwelche Behältnisse stecken«, sagte Mamma. »Wirklich, Edgar, ich mache mir Sorgen um Sie. Aufgewühlt zu sein, weil Sie meinen, Sie hätten zu viele Blumen mitgebracht – zu viele Blumen! –, es ist völlig absurd. Sie müssen krank sein. Ich sage Ihnen, das liegt an der ganzen Ölbraterei. Aber wir haben bestimmt ein paar einfache Kekse für Sie zum Tee.«

So kauerte Mr Morpurgo sich im größten Sessel zusammen, wobei er aussah, als wäre er stark im Unrecht, während wir Vasen und Kannen und Wasserkrüge holten und sie mit seinen prachtvollen Blumen füllten, bis Mamma schließlich sagte: »Jetzt sieht es hier aus wie im Märchenland«, und er seufzte: »Nein, es sieht eher aus wie auf einer Blumenausstellung.« Dann zog er ein Kuvert aus der Tasche. »Bitte lesen Sie diesen Brief von meiner Gattin«, sagte er, und als Mamma das Schreiben entgegengenommen hatte, lächelte er, als wäre ihm zu seiner Freude wieder eingefallen, dass die Welt sich zumindest in einer Hinsicht nach seinen Wünschen richtete.

Doch meine Mutter legte bald den Brief nieder und sagte: »Es ist sehr liebenswürdig von Ihrer Frau zu schreiben, dass sie mich kennenlernen möchte. Es ist wirklich außerordentlich liebenswürdig von ihr, zumal zu einem solchen Zeitpunkt, wenn sie gerade eben erst aus Pau zurückgekehrt ist und so viel zu tun haben muss. Aber es würde mir niemals in den Sinn kommen, ihr zur Last zu fallen. Sie muss so viele Freunde haben, und diese Einladung erfolgt gewiss aus reiner Güte. Sie kann unmöglich den echten Wunsch verspüren, eine uninteressante Person wie mich kennenzulernen.«

»Unsinn«, sagte Mr Morpurgo, »Sie sind eine gefeierte Pianistin gewesen, und Sie sind eine bemerkenswerte Frau. Außerdem«, fügte er hinzu, »sind Sie die Gattin eines alten und lieben Freundes von mir. Selbstverständlich möchte meine Frau Sie kennenlernen. Sonst wäre sie dumm und mir gar nicht nah, und so ist es nicht. Sie ist sehr intelligent, sehr attraktiv und sehr impulsiv und warmherzig.«

»Natürlich besitzt Ihre Frau all diese Eigenschaften«, sagte Mamma. »Trotzdem ist sie viel zu liebenswürdig. Ach, sie schreibt, wir alle sollen zu Besuch kommen. Dabei sind wir so eine Horde! Und Richard Quin ist noch ein Schuljunge, er ist viel zu klein für gesellschaftliche Anlässe.«

»Nein, nein«, widersprach Mr Morpurgo, »Sie müssen alle kommen. Zumal es absurd ist, dass keiner von Ihnen jemals bei mir zu Hause gewesen ist.«

»Aber das sind wir doch«, sagte Mamma.

»Nein, noch nie«, widersprach Mr Morpurgo. »Oh, ich verstehe, was Sie meinen. Aber dieses Haus im Eaton Place ist nicht meins. Es hat einem Onkel von mir gehört, der vor ein paar Jahren verstorben ist, und meine Onkel, meine Cousins und ich fanden, es spare uns Mühe, es zu behalten. Es kommt sehr gelegen, wenn der eine oder andere von uns sein Stadthaus zusperren möchte, wie es im Winter zufälligerweise bei mir der Fall gewesen ist, oder wenn sich Verwandte aus Paris oder Berlin oder Tanger einstellen. Obwohl, was das betrifft«, sagte er in der strengen und doch sich selbst beglückwünschenden Manier eines Mannes, dem eine Sparmaßnahme eingefallen ist, »das neue Hotel Ritz ist so annehmlich, dass eine Suite dort im Grunde ebenso gut ihren Zweck erfüllt. Aber mein eigenes Haus ist etwas ganz anderes. Schauen Sie auf den Briefkopf. Ich möchte, dass Sie alle es sich ansehen, und Richard Quins Alter ist doch einerlei. Ich will, dass unsere Familien sich gegenseitig kennenlernen, und überhaupt glaube ich nicht, dass Richard Quin mehr als ein oder zwei Monate jünger ist als meine Stephanie. Wenn sie beim Mittagessen zugegen ist, besteht kein Grund, weshalb er fehlen sollte. Es mag ein wenig langweilig für ihn sein, aber ich hoffe, er lässt es dieses eine Mal über sich ergehen, mir zuliebe.«

Richard Quin ging in die Hocke, gelbe Tulpen überall um ihn herum verstreut, und lächelte strahlend. »Ihnen zuliebe würde ich alles tun.« Das war nicht nur so dahergeredet. Anderen Menschen eine Freude zu bereiten, war ihm das reinste Vergnügen.

»Seine Anwesenheit dort ist wichtig«, sagte Mr Morpurgo in geheimnisvollem Tonfall über seinen Kopf hinweg zu Mamma. »Ist Ihnen in den Sinn gekommen, dass er der einzige Sohn in unseren beiden Familien ist? Oh, schauen Sie angesichts der ganzen Veranstaltung nicht so skeptisch drein. Alles ist in Ordnung, andernfalls hätte ich Ihnen die Einladung nicht überbracht. Meine Gattin und ich haben es gestern Abend besprochen. Sie, meine Töchter und ihre Gouvernante sind das letzte halbe Jahr in Pau gewesen, um bei ihrer Mutter zu sein, die an Asthma leidet und jetzt dort lebt. Meine Frau ist für vierundzwanzig Stunden zurückgekehrt, um mir zu sagen, ihrer Mutter gehe es besser und sie beabsichtige, die ganze Schar in zehn Tagen nach Hause zu bringen.« Er lachte. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie impulsiv ist. Sie konnte es nicht erwarten, mir die Neuigkeiten zu verkünden, sie sagte, auf einmal habe sie das Gefühl gehabt, dass sie mich sehen müsse, und schon war sie da. Und nun ist sie wieder fort. Wie schön es immer ist, wenn sie und meine Mädchen zurück sind! Frau und Kinder um sich zu haben und Freunde einzuladen, etwas Besseres kann es nicht geben. Und Sie sind unsere allerersten Gäste. Nun, ich muss gehen, aber heute in vierzehn Tagen werden wir uns alle sehen. Ich habe einen Samstag gewählt, damit keiner Ihrer Sprösslinge in die Schule muss.« Lächelnd stand er auf, als sei ihm etwas Angenehmes in den Sinn gekommen und er wolle forteilen, um es ganz für sich zu genießen. Seine schwarzen Augen, glänzend von ihrem Geheimnis, fielen auf einen Haufen roter Nelken, den Mary auf ein Tablett gelegt hatte, und seine feisten Finger wühlten darin herum, bis er ein besonders prächtiges Exemplar fand, den saftigen Stängel abbrach und sich die Blume ins Knopfloch steckte. Doch er blickte auf die dunkle Rosette hinab und wurde wieder traurig. »Wenn die Dinge gut laufen«, sagte er entschuldigend zu Mamma, »kann man nichts dagegen tun, fröhlich zu sein.«

»Warum nicht?«, fragte Mamma.

Er zögerte. »Es ist doch gewiss so etwas wie ein Verrat«, sagte er, »an all den Dingen, die nicht gut verlaufen sind.«

»Ohne diese ganze Ölbraterei«, sagte Mamma, »wäre Ihnen niemals so ein lächerlicher Gedanke in den Sinn gekommen.«

Mary fand bald einen Vorwand, um uns nicht zu begleiten, meiner Meinung nach recht skrupellos: Sie münzte einen ehemals vagen Vorschlag in ein festes Versprechen um und packte dann Mamma an ihrem feinen Ehrgefühl. Wir wussten alle ganz genau, an welchem Tag wir Mr Morpurgos Haus besuchen würden, doch Mamma erwähnte das genaue Datum erst nachdem einige Zeit verstrichen war, woraufhin Mary zusammenfuhr und rief: »Am zehnten! Nun, Mamma, dann musst du Mrs Bates sagen, dass ich an dem Nachmittag nicht bei dem Wohltätigkeitskonzert von St Jude spielen kann.« Wie Mary längst gewusst hatte, erwiderte Mamma sogleich: »Was! Ist das am selben Tag? Kannst du rechtzeitig zurück sein? Nein, das schaffst du wohl nicht. Nun, man darf keinen vereinbarten Auftritt absagen, bloß um einer gesellschaftlichen Verpflichtung nachzukommen. Das darf man niemals. Wie schade! Ich will gleich den Morpurgos schreiben.«

Ich trat Mary recht brutal unter dem Tisch, denn der Eintritt in die Erwachsenenwelt war ein ständiger Streitpunkt zwischen uns beiden. Mary dachte, dass die Leute, deren Bekanntschaft wir dort machen würden, ganz genauso lästig wären wie die Mädchen und Lehrerinnen an der Schule in Lovegrove, und wir uns daher entschließen sollten, nichts mit ihnen zu tun zu haben, außer auf Konzerten für sie zu spielen. Ein paar sympathische Menschen würde es zwar geben, genau wie früher in der Schule Ida, die Ärztin werden wollte und eine Mutter hatte, die ganz passabel Brahms spielte, doch diese Menschen würden wir ohnehin kennenlernen, sie würden wie wir außen vor sein. Und überhaupt, so Mary, müssten wir keine Einsamkeit fürchten, denn zu Hause seien wir so viele, dass wir genügend Gemeinschaft hätten. Zahlenmäßig waren wir recht stark. Rosamund und ihre Mutter Constance waren inzwischen bei uns eingezogen, also waren wir zu acht, einschließlich Kate, unserem Dienstmädchen, die voll und ganz eine von uns war; und neun, wenn wir Mr Morpurgo mitzählten, und er schien sich uns angeschlossen zu haben; und falls Papa zurückkehren sollte, wären wir zu zehnt. Was wollten wir da mit irgendwelchen anderen Leuten?, fragte Mary. Aber ich war der Meinung, es müsse sich lohnen, die Welt außerhalb von Lovegrove zu erkunden, weil es Menschen geben musste, die wie die Figuren in Büchern und Theaterstücken waren. Schriftsteller konnten sie sich nicht einfach ohne die geringste Vorlage ausgedacht haben.

Anlässlich dieser Mittagsgesellschaft war diese Hoffnung auf überaus verlockende Weise in mir aufgekeimt. Es schien gewiss, dass Mrs Morpurgo freundlich und edel sein musste, denn ihr Ehemann sagte, sie sei schön, und keine schöne Frau hätte einen derart hässlichen Mann geheiratet, würde sie nicht Güte über alles schätzen. Wir hatten ein Faible für die Romane von George du Maurier, ganz besonders Peter Ibbetson, und ich sah Mrs Morpurgo als die heilige und imposante Herzogin von Towers. Ihre Erscheinung wäre ein wenig anders; als Jüdin wäre ihr Haar schwarz und nicht kupferbraun, wie es das der Herzogin laut du Maurier war. Doch wie Mary Towers und sämtliche vorzügliche Frauen, die du Maurier zeichnete, würde sie hochgewachsen sein und sich ein wenig nach vorn beugen, die Stirn umwölkt von einer Sorge, die nicht gereizt, sondern zartfühlend war, bewegt von der Angst, aufgrund ihrer Körpergröße könnte sie eine Gelegenheit zur Güte übersehen haben. Ich hielt Mary für einen Dummkopf, weil sie ihre Chance verwarf, diese treffliche Person kennenzulernen, und ich sagte es ihr am Tag der Gesellschaft, während sie am Rücken meiner besten Bluse die Knöpfe schloss. Doch als sie fertig war, und ich mich wieder zu ihr umdrehte, sah sie kalt und grimmig aus, und dies war ein Zeichen, dass sie Angst hatte. So sah sie aus, wenn einer von uns krank war. Deshalb schalt ich sie einfach eine Närrin, damit sie glaubte, ich hätte nichts bemerkt, und ging hinunter ins Erdgeschoss.

Im Wohnzimmer saß Cordelia auf dem Sofa, fertig angekleidet, sogar schon in ihren Handschuhen, die wir Übrigen erst im letzten Moment anzogen, weil wir sie aus Prinzip missbilligten; und sie sah Richard Quin und Rosamund bei einer Partie Schach zu. Sie runzelte die Stirn, obwohl Richard Quin genauso aufbruchsbereit wie sie war und Rosamund uns nicht begleiten würde. Es bereitete Cordelia Sorge, dass Richard Quin ständig spielte, und während er und Rosamund vor dem Schachbrett saßen, verströmten sie tatsächlich einen Hauch von genießerischem Luxus, vielleicht aus keinem anderen Grund, als dass sie beide blond waren und sich der Sonnenschein von draußen über sie ergoss. Inzwischen trug Rosamund das Haar hochgesteckt, wenn sie das Haus verließ, doch obgleich sie erwachsener als wir Übrigen aussah, genoss sie Erwachsenendinge nicht wie wir, und sobald sie nach Hause kam, hob sie die langen Hände, zog gemächlich die Nadeln aus dem Haar und ließ es langsam, Locke für Locke, offen über ihre Schultern fallen. Bei meinem Eintreten schlug Richard Quin aufs Spielbrett, sodass die roten und weißen Schachfiguren umfielen, beugte sich über den Tisch und zog fest an einer jener losen Locken.

»Du hast mich dreimal hintereinander geschlagen«, sagte er. »Das ist wider die Natur. Die Regel lautet, ich schlage dich, du schlägst mich, in Ewigkeit, amen.«

»So wäre es ja auch«, stammelte Rosamund, »wenn du mit deinen Gedanken heute nicht woanders wärst.«

»Du konzentrierst dich nie«, sagte Cordelia ihm.

»Rosamund, die Sache mit dem Schach werde ich niemals begreifen«, sagte ich. »Du behauptest immer, du seist nicht schlau, und du hast in der Schule außer in Handarbeiten und dieser grässlichen Hauswirtschaftslehre nie Auszeichnungen bekommen, und zur Aufnahmeprüfung hat man dich nicht einmal zugelassen. Nun, Schach ist ein sehr schwieriges Spiel, und Papa ist ein Genie, und Richard Quin wäre gescheit, wenn er sich jemals anstrengen würde, und trotzdem kannst du beide schlagen. Wie schaffst du das, wenn du nicht schlau bist?«

»Es ist ganz einfach«, sagte Richard Quin. Er hatte ihre lange malzbonbonfarbene Locke nicht wieder losgelassen, sondern zwirbelte sie zwischen den Fingern. »Rosamund hat keinen Verstand. Aber sie kommt sehr gut ohne klar. Sie denkt mit der Haut. Die Menschen bei der Reifeprüfung mögen so etwas nicht, sie sehen es scheel an, wie Kate sagt, aber Schach ist anders. Solange man die Züge hinbekommt, ist es dem Schach egal, ob man, wie Rosamund, anstelle eines Gehirns bloß etwas Glänzendes hat.«

Ohne Groll fragte Rosamund ihn: »Da ich nun einmal so bin, wird es mir gelingen, eine gute Krankenschwester zu sein?«

Doch Richard Quin sah an ihr vorbei zur offenen Tür. Mamma trat ein, ging schweigend zu einem Sessel und setzte sich. Cordelia und ich musterten sie prüfend, ob sie für die Gesellschaft passend gekleidet war, aber Richard Quin fragte scharf: »Was ist los?«, und wir merkten, dass ihr Gesicht ganz weiß war und dass sie einen Zettel in den Händen drehte. Es war, als würde Papa immer noch bei uns wohnen.

»Kinder«, sagte sie, »etwas Schreckliches ist geschehen.«

»Oh, nicht heute! Nicht heute!«, rief Cordelia. »Mr Morpurgo wird jeden Moment hier sein.«

»Es gibt da einen Mann, der bisweilen hergekommen ist, um Geld zu fordern«, sagte Mamma. »Es ist sein Gewerbe, und selbstverständlich muss es auch solche Leute geben, und für ihr Dasein bestünde keine Notwendigkeit, wenn jeder seine Schulden begleichen würde. Oh, Kinder, ihr müsst immer eure Schulden bezahlen. Das erste Mal ist dieser Mann hergekommen, um die Miete einzufordern, aber das dürft ihr Cousin Ralph nicht verübeln, der Makler hat es ohne Rücksprache in die Wege geleitet. Da habe ich euren Cousin Ralph brieflich gebeten, das zu unterlassen, denn es sei zwecklos, und sobald ich das Geld hätte, würde ich die Miete bezahlen. Er hat mir sehr freundlich geantwortet und geschrieben, er habe nichts von dem Gerichtsvollzieher gewusst und werde sich darum kümmern, wir würden nicht noch einmal auf diese Weise behelligt werden. Ein andermal ist dieser Mann hier gewesen, um die Miete für jene Büroräume einzutreiben, die euer Vater und Mr Langham für diese Firma angemietet hatten, die nie gegründet worden ist, irgendetwas mit Straußenfedern. Und es gab andere Gelegenheiten, aber die sind mir entfallen.«

»Nun, wenn er jetzt hier ist, kann es nicht aus dem gleichen Grund sein«, sagte Richard Quin, der auf der Armlehne von Mammas Sessel Platz genommen hatte. »Sämtliche Rechnungen sind an den Anwalt gegangen.«

»Im Moment befindet der Mann sich im Esszimmer«, sagte Mamma, »und er behauptet, wir würden einer Druckerei zehn Pfund schulden.«

»Nun, dann bezahlen wir ihn eben«, sagte Cordelia und erhob sich. »Zehn Pfund werden wir doch wohl haben? Ich laufe zur Bank, wenn du einen Scheck ausstellst. Aber vielleicht haben wir keine zehn Pfund. Wir haben wohl immer noch recht wenig Geld.«

»Setz dich wieder, Liebling, du bist im Stehen keine Hilfe, außerdem macht es mich nervös«, sagte Mamma. »Das Problem besteht darin, dass wir ihm keine zehn Pfund schulden, noch nicht einmal ein Pfund. Jedenfalls würde ich das meinen. Ich bin mir sicher, dass alles geregelt ist, und dieser Mann hat keinerlei Beleg für die Schulden, abgesehen von diesem Wisch Papier. Marchant & Ives, Druckerei, Kingston, im Oktober, auf Rechnung, zehn Pfund. Ich habe noch nie von ihnen gehört, und ich glaube, euer Vater hatte schon lange vor seinem Weggang nichts mehr drucken lassen. Das war eines der Anzeichen, die mir verrieten, dass er krank war, er hat nichts mehr geschrieben.«

»Und es ist im Oktober datiert«, sagte Richard Quin. »Da ist Papa längst fort gewesen.«

»Das hat nichts zu bedeuten, die Monate, die im Zusammenhang mit irgendwelchen Schulden eures Vaters erwähnt werden, können in jedes Jahr fallen, vergangen oder zukünftig. Euer Vater war die Geldschuld in Person«, sagte Mamma ganz ohne Verbitterung, einfach, als spräche sie von einem Unwetter. »Aber diese Angelegenheit ist absurd. Bei seinen früheren Besuchen hat dieser Mann offizielle Papiere dabeigehabt. Er hat sie mir immer vorgelegt, auch wenn ich nicht hingesehen habe. Aber jetzt hat er nichts als diesen verschmierten Wisch.«

»Dann gehen wir zu ihm und sagen ihm, dass wir die Polizei einschalten, wenn er nicht auf der Stelle verschwindet«, sagte ich, setzte mich auf die andere Armlehne und küsste sie.

»Ihr seid mir alle ein großer Trost«, sagte Mamma, »aber steht auf, ihr Lieben, kein Möbelstück wurde angefertigt, um solch eine Last zu tragen, und ihr begreift den Kern der Sache nicht. Seht doch, er ist nur ein armer alter Mann. Er hat einen grauen Bart, der früher gepflegt war, jetzt ist er struppig und sein Mantel verdreckt. Ich habe ihn von seinen früheren Besuchen als recht adrett in Erinnerung. Was kann ihm widerfahren sein? Aber welch törichte Frage, ihm kann alles Mögliche zugestoßen sein. Jedenfalls muss es sich wohl unter derlei Leuten herumgesprochen haben, dass wir all unsere Schulden begleichen, und er ist auf diese Methode verfallen, um sich Geld zu beschaffen.«

»Werfen wir ihn hinaus«, sagte ich, »und ich wünschte, wir könnten ihm umbringen.«

»Aber warum glaubst du nicht, dass Papa dieses Geld wirklich schuldig gewesen ist?«, wollte Cordelia wissen. »Wenn er doch überall in der Kreide stand, warum dann nicht auch bei dieser Druckerei in Kingston?«

»Ich bin mir sicher, dass es keine echten Schulden sind«, sagte Mamma. »Als ich ins Zimmer trat, fiel mir auf, dass der alte Mann geweint hatte. Er ist nicht nur liederlicher als früher, er wirkt um Jahre gealtert. Außerdem hat er mir, nachdem er mir gegenüber unhöflich geworden war, einen schrägen Blick zugeworfen, ob ich einlenken würde, und seine Augen sind wie die eines alten Hundes gewesen. Was können wir für den armen Teufel tun? Wir können nicht vorgeben, ihm tatsächlich zehn Pfund zu schulden, das ist zu verrückt, und auch fünf Pfund sind viel Geld.«

»Wie kommen denn auf einmal fünf Pfund ins Spiel?«, fragte Richard Quin.

»Aber ich sehe nicht, wie wir ihm weniger als fünf Pfund anbieten sollen, ohne ihn wissen zu lassen, dass wir ihn als Betrüger durchschaut haben«, sagte Mamma. »Ich habe ein furchtbar schlechtes Gewissen, denn mir ist nie in den Sinn gekommen, dass diese Menschen ein eigenes Leben haben; für mich sind sie immer nur als meine Plagegeister in Erscheinung getreten und dann wieder verschwunden. Doch dieser alte Mann hat ganz gewiss ein eigenes Leben, und ich glaube, es ist traurig.«

»Mamma, weich nicht vom Thema ab«, flehte Cordelia. »Woher weißt du, dass wir ihm das Geld nicht schulden?«

»Oh, meine Liebe«, erwiderte Mamma ungeduldig, »wenn es ihn nicht kränken würde, würde ich dich bitten, die Tür zu öffnen und ihn dir anzusehen. Er ist das reinste Häufchen Elend. Ich wünschte, in dem Zimmer gäbe es einen kleinen Gegenstand von moderatem Wert, sodass er ihn unter seinen Mantel stecken und mitnehmen könnte.«

»Nein, Mamma«, sagte Richard Quin. »Nein. Wir können unsere Räume nicht mit Gegenständen vollstellen, die gerade die richtige Größe haben, um unter einen Mantel zu passen, damit Diebe sie stehlen können, ohne in ihren Gefühlen verletzt zu werden, weil sie wissen, dass du ihre Unehrlichkeit durchschaut hast. Das ist wirklich zu verrückt.«

»Ja, aber was sollen wir tun?«, fragte Mamma. »Ich sage euch, er leidet.«

»Tante Clare«, stammelte Rosamund. Sie hatte die roten und weißen Schachfiguren wieder richtig auf dem Brett aufgestellt.

»Aber was macht es schon, ob er leidet oder nicht«, sagte ich, »wenn er doch unverschämt gewesen ist und versucht hat, dich zu betrügen?«

»Der Wagen wird gleich hier sein«, sagte Cordelia. »Wir müssen etwas tun. Will denn keiner Vernunft annehmen?«

»Tante Clare«, wiederholte Rosamund. Mit einer unbeholfenen Geste warf sie die Schachfiguren zu Boden. »Oje«, hauchte sie.

»Papas geliebte Schachfiguren!«, rief Cordelia. »Rose, pass auf, dass du nicht drauftrittst. Oh, ich kann mich nicht hinknien, um sie aufzuheben, denn mein Rock ist zu eng, er wird zerknittern.«

»Es besteht kein Grund, warum du sie aufheben solltest, Rosamund wird das tun«, sagte Mamma. »Und sie lässt so selten Dinge fallen oder zerbricht etwas, dass wir ihr ein Malheur gönnen können, ohne gleich die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Ich wünschte, ich käme darauf, was ich mit diesem armen alten Mann tun kann.«

Richard Quin zwinkerte mir zu. Wir begriffen beide, dass Rosamund das Schachbrett umgeworfen hatte, um die Diskussion zu beenden und uns dazu zu bringen, ihr Gehör zu schenken, und dass Mamma und Cordelia aus recht unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage waren, dies zu erraten.

»Tante Clare«, stammelte Rosamund, »du solltest nicht versuchen, selbst mit diesem alten Mann fertigzuwerden. Das sollte keine von uns.«

»Nun, wer soll es denn dann machen?«, wollte Mamma wissen.

»Aber es gibt doch K-K-Kate«, sagte Rosamund und öffnete die Augen zu einem weiten, kindlichen Starren. »Gib mir etwas Geld, dann bringe ich es nach unten in die Küche und bitte sie, dem alten Mann eine Tasse Tee zu kochen, und sie wird sie nach oben tragen und ihm das Geld geben. Dabei wird sie ihm zu verstehen geben, dass wir über seinen Betrug im Bilde sind. Sie wird es auf eine Art ausdrücken können, die ihn nicht kränkt, jedenfalls nicht so sehr wie irgendetwas, das wir sagen könnten.«

Sie hatte sich erhoben, und nun stand sie an einer Seite von Mammas Sessel, während Richard Quin auf der anderen stand. »Ja, Mamma«, sagte er und tätschelte ihre schmale Schulter, »Rosamund hat recht, so machen wir es.« Furchtsam blickte Mamma zu ihnen hoch, so viel kleiner als die beiden, und so blass. Sie beugten sich über sie, stark und hell, und agierten Hand in Hand. »Wenn du mir das Geld gibst, lässt sich alles noch vor eurem Aufbruch regeln«, sagte Rosamund, und Richard Quin sagte: »Deine Handtasche, liebe Mamma.«

Ihre Augen schweiften auf der Suche nach einer besseren Lösung unstet umher. Sie war ein vom Gewissen geplagter Adler. »Ich frage mich, ob das nicht zu viel von Kate verlangt ist«, sagte sie. »Sie ist sehr gütig, ansonsten hätte sie uns schon vor Jahren verlassen, um in einem Haus zu arbeiten, wo es weniger zu tun gäbe und man ihr mehr bezahlen würde. Außerdem begreift sie möglicherweise nicht die Notwendigkeit, jemanden zu schonen, der versucht hat, uns Schaden zuzufügen.«

»Du machst aber ein Gewese, Mamma«, sagte Richard Quin. »Wenn Cordelia sich immer so ziert, ist sie ganz deine Tochter. Kate ist in Ordnung. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, was sie mit dem alten Mann anstellen wird. Wenn ein Hund einen von uns anfallen würde, würde sie ihn zwar schlagen, aber nicht brutal. Hier ist deine Handtasche.«

Er reichte sie nicht Mamma, sondern Rosamund, die sie mit ihrer langsamen Fingerfertigkeit öffnete und in dem Durcheinander sogleich das Portemonnaie fand. »Wie viel Geld soll ich nehmen, Tante Clare?«, fragte sie in sanftmütigem Tonfall.

»Er hat zehn gefordert«, seufzte Mamma. »Es wäre beleidigend, ihm weniger als fünf anzubieten – oh, ich weiß ja, dass das absurd ist. Sagen wir drei.«

»Nicht drei Sovereigns, sondern einen«, sagte Richard Quin zu Rosamund, »und lass dich nicht vom Gebetbuch zu dem Glauben verleiten, es ginge hier um die Dreifaltigkeit und ich würde von einem sprechen, aber drei meinen.«

»Ich habe euch Kindern immer wieder gesagt, ihr dürft euch nicht über das Athanasische Glaubensbekenntnis lustig machen«, sagte Mamma. »Achtet ihr denn auf nichts anderes in der Kirche? Und es ist töricht, über das Athanasische Glaubensbekenntnis zu lachen, ihr werdet es verstehen, wenn ihr erwachsen seid. Oder vielleicht ist das zu viel versprochen. Aber ihr werdet einsehen, dass Dinge durchaus so sein können, mehr oder weniger. Aber ja, erst einmal einen Sovereign. Oh, ich muss ehrlich sein, er riecht nach Alkohol. Und zum Glück wird Kate herausfinden, ob es eine Möglichkeit gibt, ihm später unter die Arme zu greifen.«

»Ja, Tante Clare«, sagte Rosamund. Sie entnahm eine Münze und gab Mamma ihre Handtasche zurück, wobei sie erklärte, an dem Portemonnaie hätten sich ein paar Stiche gelöst und sie werde es am nächsten Morgen zum Sattler bringen, und dann war sie verschwunden. Mamma sah sich zu uns um und fragte, als wären wir die Erwachsenen, ob alles in Ordnung kommen würde. Dann seufzte sie und sagte, ihr Hut müsse mittlerweile wohl schief sitzen, und durchquerte das Zimmer zum Spiegel. Doch aufgrund ihres mangelnden Interesses an ihrem eigenen Erscheinungsbild gab sie sich keine sonderliche Mühe, und ich ging ihr helfen. Obwohl ihre Stimme recht fest geklungen hatte, zitterte sie; es war, als hätte man einen Vogel unter den Händen. Abermals einen Schuldeneintreiber im Haus zu haben, hatte uns allen jedoch selbstverständlich die Vergehen ins Gedächtnis gerufen, die Papa sich uns gegenüber herausgenommen hatte und die wir in seiner Abwesenheit hatten vergessen können. Es war ein Segen, dass Rosamund und Richard Quin klug genug gewesen waren, einen Weg zu finden, wie Mamma sich den alten Mann vom Hals schaffen konnte, ohne gegen ihre eigene Natur zu verstoßen und ihm ihre Hilfe zu verweigern. Trotzdem war ich nicht ganz zufrieden. Als die zwei zu beiden Seiten von Mammas Sessel gestanden hatten, waren sie nicht unvorbereitet gewesen wie wir übrigen Anwesenden. Sie hatten in wunderbarem Einvernehmen gehandelt, in der Bereitschaft, augenblicklich auf ihr jeweiliges Stichwort zu reagieren, dass es ebenso gut eine Szene hätte sein können, die sie schon häufig heimlich geprobt hatten; und ihr lieblicher und strahlender Teint hatte ihnen das Aussehen von für die Bühne zurechtgemachten Schauspielern verliehen. Doch es war kein treffender Vergleich, denn das Credo von Schauspielern lautet, dass sie sprechen und sich bewegen müssen, damit sich ihrem Publikum die Bedeutung des Theaterstücks erschließt. Richard Quin und Rosamund waren eher wie ein Zauberkünstler und seine Gehilfin mit der falschen Offenheit von Flüssen, die unverhohlen im Hellen dahinfließen, aber nicht innehalten, um sich begutachten zu lassen. Ich liebte Richard Quin und Rosamund mehr als irgendwen sonst, abgesehen von Papa und Mamma, denn Mary konnte ich eigentlich nicht lieben, sie war meine Zwillingsschwester, und wir waren beide Pianistinnen, wir waren also beinahe ein und dieselbe Person. Ganz bestimmt erwiderten Richard Quin und Rosamund meine Liebe, doch zwischen ihnen herrschte ein Einvernehmen, das mir verwehrt blieb, und es fiel mir schwer zu sehen, wie das mit irgendeiner Liebe, die beide für mich empfinden mochten, vereinbar sein sollte.

Cordelia platzte heraus: »Oh, wie dumm wir alle aussehen werden, wenn sich herausstellt, dass der Mann wirklich einen Mahnbescheid hat.«

Mamma drehte sich um und sagte gereizt: »Unsinn, Männer, die Mahnbescheide haben, weinen nicht.« Da merkte sie, dass Cordelia kurz vor den Tränen stand, und rief zärtlich: »Oh, Cordelia, ich bin töricht gewesen. Ich dachte, du benähmst dich wegen des Mannes albern, aber in Wirklichkeit liegt es nur an deiner Nervosität, weil du zum ersten Mal ein großes Haus besuchst und Leute siehst, die reich sind. Selbstverständlich hast du Angst, das ist nur natürlich. Aber dir muss nicht im Geringsten bange sein. Es besteht kein Grund, weshalb ich nicht offen mit dir reden dürfte, denn du bist nicht eingebildet. Du bist ein hübsches Mädchen, sogar ein außergewöhnlich hübsches Mädchen, und die Leute mögen junge Mädchen, die hübsch sind.«

»Ja, Cordy«, sagte Richard Quin. »Ich will dir etwas erzählen, das dich davor bewahren sollte, jemals wieder Bammel zu kriegen, jetzt oder in Zukunft. Wenn du bei einem Cricketspiel dabei gewesen bist, erkundigen sich nicht nur die anderen Jungen nach dir, sondern auch die Lehrer. Sie reden lange um den heißen Brei, besonders die Älteren, aber letzten Endes kommen sie doch darauf zu sprechen. Nun, weißt du, das ist ein Test. Wenn du das Interesse von Lehrern wecken kannst, gelingt es dir bei jedem anderen auch.«

»Du weißt doch noch, dass dein Vater früher immer gesagt hat, wie sehr du seiner Tante Lucy ähnelst«, fuhr Mamma fort. »Nun, sie galt als ausgesprochene Schönheit. Wenn du einen neuen Ort betrittst und nervös bist, dann steh einfach nur da und lass dich von den Leuten betrachten, und du wirst feststellen, dass alle freundlich zu dir sein wollen. Das war mir nie vergönnt. Wenn die Leute mich zum ersten Mal gesehen haben, selbst als ich noch ganz klein war, fanden sie mich seltsam. Aber ich habe schon oft hübsche Mädchen in ein Zimmer treten sehen, und alle mögen sie auf Anhieb. Es ist ein zauberhafter Anblick«, sagte sie und lächelte über irgendeine Erinnerung.

Cordelia lachte zaghaft. »Bin ich wirklich in Ordnung?«, fragte sie uns. Sie wandte sich zu mir um, schien sich innerlich zu stählen und wiederholte: »Bin ich wirklich in Ordnung?«

Insgeheim dachte ich: Aber es ist, als glaubte sie, wenn ich sage, dass sie hübsch sei, muss es wirklich stimmen, weil ich angeblich immer so streng zu ihr bin. Ich fragte mich, woher diese Meinung über mich rührte.

War ich manchmal grausam? Ich hatte den Eindruck, wohlwollend zu sein, obschon sich die Leute mir gegenüber oft grausam verhielten. Außerdem überlegte ich, wie merkwürdig es war, dass sie einer Bestätigung bezüglich ihres Äußeren bedurfte, schließlich hatte sie ihr hübsches Aussehen auf geradezu berechnende Art und Weise eingesetzt, wenn sie auf Konzerten schlecht Geige spielte, und schien sich ihrer Wirkung vollkommen bewusst zu sein. Hatte der Beweis ihrer musikalischen Talentlosigkeit Cordelia möglicherweise derart aus der Bahn geworfen, dass sie jetzt sogar am Vorhandensein der Gaben zweifelte, die sie tatsächlich besaß?