Im Licht der drei Monde (Die Monde-Saga 3) - Ewa A. - E-Book

Im Licht der drei Monde (Die Monde-Saga 3) E-Book

Ewa A.

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Beschreibung

**Endlich das langersehnte Finale der Monde-Saga!** Die 18-jährige Nysra ist die Häuptlingstochter des Stammes der Vlan. Doch sie ist nicht wie andere Töchter des Stammes, denn sie ist stumm geboren worden. Um sie vor dem Auswahlritus der Vlan zu schützen, opferte sich ihre Mutter bereits bei ihrer Geburt und stellte sie somit unter den Schutz der Monde. Aber selbst das half ihr nicht, als ihr Vater sie mit 16 Jahren als zweite Ehefrau an Hadd aus dem Stamm der Ikol verheiratete. Zwei Jahre voller Furcht und Gewalt liegen nun hinter ihr und Nysra ist klar, dass sie ihr Schicksal endlich selbst in die Hand nehmen muss. Auf ihrer Flucht begegnet sie dem reservierten Häuptlingssohn Dan der Hesturen. Als er Nysra als Frau verkleidet zu einem fremden Volk begleiten soll, ist der Krieger nicht sonderlich begeistert. Allerdings möchte er sie auch nicht allein ins Unbekannte ziehen lassen…     //Dies ist ein Roman aus dem Carlsen-Imprint Dark Diamonds. Jeder Roman ein Juwel.// Alle Bände der elektrisierenden Bestseller-Reihe »Die Monde-Saga«: -- Unter den drei Monden (Die Monde-Saga 1) -- Im Schatten der drei Monde (Die Monde-Saga 2) -- Im Licht der drei Monde (Die Monde-Saga 3) --Alle drei »Monde«-Bände der elektrisierenden Bestseller-Reihe in einer E-Box// Alle Bände der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden und haben ein abgeschlossenes Ende.

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Dark Diamonds

Jeder Roman ein Juwel.

Das digitale Imprint »Dark Diamonds« ist ein E-Book-Label des Carlsen Verlags und publiziert New Adult Fantasy.

Wer nach einer hochwertig geschliffenen Geschichte voller dunkler Romantik sucht, ist bei uns genau richtig. Im Mittelpunkt unserer Romane stehen starke weibliche Heldinnen, die ihre Teenagerjahre bereits hinter sich gelassen haben, aber noch nicht ganz in ihrer Zukunft angekommen sind. Mit viel Gefühl, einer Prise Gefahr und einem Hauch von Sinnlichkeit entführen sie uns in die grenzenlosen Weiten fantastischer Welten – genau dorthin, wo man die Realität vollkommen vergisst und sich selbst wiederfindet.

Das Dark-Diamonds-Programm wurde vom Lektorat des erfolgreichen Carlsen-Labels Impress handverlesen und enthält nur wahre Juwelen der romantischen Fantasyliteratur für junge Erwachsene.

Ewa A.

Im Licht der drei Monde (Die Monde-Saga 3)

**Endlich das langersehnte Finale der Monde-Saga!** Die 18-jährige Nysra ist die Häuptlingstochter des Stammes der Vlan. Doch sie ist nicht wie andere Töchter des Stammes, denn sie ist stumm geboren worden. Um sie vor dem Auswahlritus der Vlan zu schützen, opferte sich ihre Mutter bereits bei ihrer Geburt und stellte sie somit unter den Schutz der Monde. Aber selbst das half ihr nicht, als ihr Vater sie mit 16 Jahren als zweite Ehefrau an Hadd aus dem Stamm der Ikol verheiratete. Zwei Jahre voller Furcht und Gewalt liegen nun hinter ihr und Nysra ist klar, dass sie ihr Schicksal endlich selbst in die Hand nehmen muss. Auf ihrer Flucht begegnet sie dem reservierten Häuptlingssohn Dan der Hesturen. Als er Nysra als Frau verkleidet zu einem fremden Volk begleiten soll, ist der Krieger nicht sonderlich begeistert. Allerdings möchte er sie auch nicht allein ins Unbekannte ziehen lassen …

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Vita

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© privat

Ewa A. erblickte 1970 als fünftes Kind eines Verlagsprokuristen und einer Modistin das Licht der Welt. Im Jahr 2014 erfüllte sie sich den Traum, das Schreiben von Geschichten zu ihrem Beruf zu machen, und wurde selbständig freiberufliche Autorin. Nach wie vor lebt sie mit ihrem Ehemann und den zwei gemeinsamen Kindern in der Nähe ihres Geburtsortes, im Südwesten Deutschlands.

Unter dem Schutz der Monde

Die Sicheln der drei Monde standen tief über dem Horizont. Die letzte und kleinste von ihnen, die in einem grellen Grün leuchtete, gehörte Yaschi. Doch ihre Schönheit verblasste gegenüber Saris, welche mit ihrem satten Blau und den silbernen Ringen unweigerlich alle Blicke auf sich zog. Den größten Hof am Nachthimmel hielt jedoch der Halbmond Firus ab, der mit seinem türkisen Marmor Aret am nächsten stand. Sein Abbild spiegelte sich mit dem der anderen auf den sanften Wogen des Ozeans.

Hier, an der südöstlichen Küste Arets, wo die Schlingenbaumwälder gediehen, hallten nachts die unheimlichen Rufe der Schwarzeulen weit über das Land. Salzige Brisen wirbelten von den steilen Klippen herauf und brachten mit dem Geruch von Meer und trockenem Holz die willkommene Abkühlung in die geflochtenen Wohnkugeln der Vlan, in denen sich tagsüber die Hitze staute. Aus einer von diesen seltsam anmutenden Behausungen, die hoch oben in den kahlen Ästen der Schlingenbäume gebaut worden waren, drang der schmerzerfüllte Schrei einer Frau. Er stammte von Drifa, der Ehefrau des Häuptlings.

»Warum kommt es nicht?«, hechelte sie und sah verzweifelt zu der älteren Hebamme, die mit kummervollem Blick zwischen Drifas gespreizten Schenkeln kauerte.

»Das Kind liegt immer noch quer. Ich konnte es nur ein Stück drehen, Drifa, aber es reicht bei Weitem nicht … Es will auf Biegen und Brechen verkehrt herauskommen. Jetzt!«

Die nächsten Wehe rollte an und die werdende Mutter biss die Zähne zusammen. Sie versuchte nicht zu schreien, doch der Schmerz baute sich zu einer immer größeren Welle auf und drohte sie in Fetzen zu zerreißen. Sie spürte den übermächtigen Drang zu pressen, doch sie widerstand wild hechelnd mit ganzer Kraft. Sie wusste von vorhin: Wenn sie ihm nachgab, wurden die Schmerzen noch verheerender. Die Wehe flachte endlich ab und erneut drückte die Hebamme mit den Händen auf ihren stark gewölbten Bauch, um das Ungeborene in die richtige Lage zu bewegen. Aber das Kind rührte sich nicht und die neue Wehe setzte schneller und qualvoller ein als zuvor.

»Geh und hol Hefnir! Ich muss mit ihm reden«, keuchte Drifa unter den Schmerzen. Ihr Gesicht und Körper waren schweißgebadet von den nun schon lange andauernden Anstrengungen der Geburt.

Die ältere Frau nickte voller Sorge und verließ flink den Raum.

Kurz darauf kam sie in Begleitung des Häuptlings zurück.

Hefnir setzte sich mit leidvoller Miene an Drifas Lager. Seine Ehefrau quälte sich bereits unter der nächsten Wehe ab. Mit Tränen in den Augen griff er nach ihrer Hand. »Was kann ich tun?«

Zwischen hastigen Atemstößen wisperte seine Gemahlin: »Das Kind muss leben, Hefnir. Ich habe zu viele deiner Söhne und Töchter verloren. Diesmal nicht.«

»Nein, Drifa! Sag das nicht, bitte. Tu das nicht«, flehte er. Tränen vor Pein und Trauer rannen über die Wangen seiner Frau, vermischten sich mit ihren Schweißperlen.

Drifa spürte, wie das Blut und die Lebenskraft unaufhaltsam aus ihr hinausströmten. Unbeugsam atmete sie schnell und flach gegen die Wehen und widersprach: »Es ist mein Wunsch, Geliebter. Ich gebe mein Leben für das meines Kindes, auf dass die Monde es ewig beschützen werden.« Die tiefe Liebe, die sie in Hefnirs braunen Augen las, erleichterte es ihr, die Qualen zu ertragen, und mit letzter Kraft legte sie ihre Hand zärtlich an seine Wange. »Du musst unser Kind beschützen, Hefnir, komme, was wolle. Versprich es mir.«

Er schluckte, bejahte stumm weinend.

Ein zufriedenes Lächeln erschien auf Drifas Zügen, doch eine erneute Wehe brach über sie herein und schwemmte es fort. Die Schmerzen wüteten so gewaltig durch ihren Leib, dass sie laut schrie und schließlich bewusstlos wurde. Drifas Lider schlossen sich – ein letztes Mal.

»Ich muss es jetzt tun, bevor uns auch das Kind stirbt. Wenigstens spürt Drifa es nicht in ihrer Ohnmacht«, flüsterte die Hebamme in der traurigen Stille.

Voller Leid nickte Hefnir und hielt die Hand seiner Gemahlin, während die ältere Frau mit einer kurzen aber scharfen Klinge ihr Werk verrichtete.

Einige Zeit später übergab sie ihm einen blutverschmierten Säugling.

»Du hast eine Tochter bekommen, Hefnir. Eine Vlan, die unter dem Schutz der Monde steht.«

Schweren Herzens schaute der Häuptling von seiner toten Frau auf sein Kind. Er stutzte. »Es schreit nicht. Warum schreit es nicht?«, herrschte er die Hebamme an.

»Ich … ich weiß nicht«, stammelte sie. »Irgendetwas scheint mit dem Mädchen nicht zu stimmen.«

Kapitel 1

Freud und Leid

18 Jahre später, im Dorf der Zut

»Nein, ich begleite dich auf keinen Fall!«, sprach Geirun und warf Nysra einen missbilligenden Blick zu. Obwohl sie den Kopf schüttelte, konnte sie den heimlichen Wunsch nicht verbergen, genau das Gegenteil von dem zu tun, was sie behauptete.

Nysra musste über das verzweifelte Gesicht der schwarzhaarigen Frau schmunzeln, sodass sich ihre verschorften Lippen kräuselten, weshalb erneut die Wunde aufbrach, die sie von ihrer letzten Züchtigung davongetragen hatte. Der vertraute Schmerz an dieser Stelle flammte erneut auf. Doch das scherte die Achtzehnjährige nicht. Schmerzen dieser Art waren alte Bekannte und das fröhliche Lachen der Menschen und die Musik, die vom Dorfplatz der Zut zu ihr ins Zelt hereinschallten, waren viel spannender und machten ihr gute Laune. Ja, die angenehmen Geräusche lenkten sie von den vielen Verletzungen ab. Diese Gelegenheit, endlich einmal Spaß zu haben, konnte sie sich doch nicht entgehen lassen.

In einer abrupten Drehbewegung, gegen die ihre Rippen schmerzhaft protestierten, deutete Nysra Geirun an mit ihr das Zelt zu verlassen und auf das Fest zu gehen. Aber die ließ empört ihre Handarbeit sinken.

»Willst du, dass er dich wieder grün und blau schlägt?«

Nysra hob zynisch die Augenbrauen und zeigte auf ihr blau unterlaufenes Auge und die geschwollene Wange.

Geirun kannte die Zweitfrau ihres Ehemannes gut genug, um zu wissen, was sie ihr damit sagen wollte. Sie schnaubte und erwiderte voller Bitterkeit: »Ja, ich weiß auch, dass er sowieso ständig die Hand gegen uns erhebt.« Bedrückt widmete sie sich wieder der Näharbeit an der Hose ihres gemeinsamen Ehemannes. »Dennoch will ich Hadd keinen zusätzlichen Grund liefern, weil ich seinen Befehl missachte. Er hat es zurzeit schwer genug. Nicht nur die anderen Stämme hassen ihn wie eine Eiterbeule. Nach seiner Rückkehr und Isleifs Tod lassen ihn sogar die eigenen Clanmitglieder spüren, wie sehr seine Intrigen den Ikol geschadet haben. Wegen ihm werden wir wahrscheinlich die nächsten Jahre vom Sonnenfest ausgeschlossen werden und du weißt, was das heißt. Keiner wird mit uns mehr Handeln betreiben wollen.« Gedankenverloren schüttelte Geirun den Kopf. »Über kurz oder lang werden die Ikol am Hungertuch nagen und da hilft es uns dann auch nicht, dass Hadd letztlich alle Stämme vor den Weißen gerettet hat.« Betrübt schaute sie wieder zu Nysra auf. »Es wird für uns niemals wieder so sein, wie es vor dem ganzen Schlamassel war. Alles wird sich verändern – und nicht zum Besseren. Sie werden uns noch schlimmer als die Ausgestoßenen behandeln, das sag ich dir.« Geiruns Schultern sackten herab, fortan schwieg sie und ignorierte Hadds jüngere Zweitfrau, die immer noch vor dem Zelteingang stand.

Sehr wahrscheinlich hatte Geirun recht, ganz bestimmt sogar, sagte sich Nysra. Doch gerade deswegen wollte sie mit den anderen den Frieden feiern, den sie gegen die Weißen errungen hatten. Sie hatte so wenig zu lachen gehabt in ihrem bisherigen Leben und das würde dem Anschein nach auch so bleiben. Warum sollte sie sich dann nicht ein paar Augenblicke des Glücks gönnen? Hatte sie nicht ebenso welche verdient wie alle anderen? Sie könnte doch kurz auf das Fest gehen. Geirun würde sie gewiss nicht verraten, das hatte sie noch nie getan. Trotz ihrer Worte war in dieser Beziehung auf ihre Leidensgenossin Verlass. Wenn sie es geschickt anstellte, würde niemand ihr Fehlen bemerken. Sie müsste lediglich aufpassen, dass sie nicht Hadd oder seiner Mutter, Asdis, in die Hände fiel. Seit dem Tod ihres Ehemannes hatte ihre Schwiegermutter zu deren Verdruss ebenfalls gänzlich das Ansehen bei den Ikol verloren, was sie Geirun und sie selbst jeden Tag aufs Neue spüren ließ. Denn neben den Schandtaten ihres einzigen Sohns, die die Ikol ihr ebenso übel nahmen, war Asdis nun nach dem Ableben ihres Gemahls auch keine Häuptlingsehefrau mehr. Bisher hatte sie ihre geachtete Stellung im Clan aufgrund der Häuptlingswürde ihres Gatten noch einigermaßen halten können. Aber jetzt war all das, was Asdis einst Macht und Ansehen im Stamm beschert hatte, abhandengekommen. Der Ältestenrat der Ikol hatte nämlich beschlossen, dass die Häuptlingswürde wegen Hadds unverzeihlicher Fehltritte nicht an ihn weitergereicht werden dürfe. Dass er von den Weißen wieder zu ihnen übergelaufen war und, wie Geirun erwähnt hatte, die Schlacht für sie zum Sieg entschieden hatte, ließ der Rat dabei völlig unbedacht. Vielmehr konnte Hadd froh sein seinen Kopf noch nicht verloren zu haben. Die Stammesältesten wussten: Abgesehen von der Strafe, dem Ausschluss vom Sonnenfest, würden die Ikol all den geschädigten Clans und deren Verbündeten noch eine Wiedergutmachung zahlen müssen. Aufgrund dessen hatten sie die Häuptlingswürde Hadds Onkel Yngvar zugesprochen, der sie sofort angenommen hatte. Auch die Ehefrauen von Hadds Vater samt deren unmündigen Kindern waren in das Eigentum des neuen Clanführers übergegangen. Das hatte Asdis allerdings nicht trösten können. Denn es gab immer nur eine Erstfrau, deren ältester Sohn Häuptlingsnachfolger werden durfte, und die hatte Yngvar, der neue Häuptling, bereits vor langer Zeit in einer anderen Ikol gefunden. Schon vor dem Tod ihres Ehemannes war Asdis eine bissige Giftnatter gewesen, aber jetzt war sie zudem vor Trauer noch verbittert geworden.

Für Nysra war es nach zwei Jahren Ehe und Leben im Stamm der Ikol kein Geheimnis, dass Hadd die vielen schlechten Eigenschaften seiner Eltern in sich vereinte. Die Herrschsucht und die Verschlagenheit hatte ihm seine Mutter vorgelebt, indem sie Isleifs Nebenfrauen falscher Taten oder Reden bezichtigt hatte, um sie bei seinem Vater zu verunglimpfen. Asdis, so hätte Nysra geschworen, war sicherlich auch nicht ganz unschuldig gewesen an den zahlreichen Fehlgeburten ihrer Nebenbuhlerinnen. Und Hadds Vater, der zwar ein gerechter, aber eisern regierender Häuptling gewesen war, hatte ihm immer wieder gezeigt, mit welch rücksichtsloser Brutalität man seine Ziele erreichen konnte. Denn er hatte jedes Vergehen eines Stammesmitglieds rigoros blutig bestraft.

Unschlüssig, ob sie das Risiko nun eingehen sollte, nagte Nysra sacht an ihrer wunden Lippe. Doch als sie erneut das Gelächter der Feiernden vor dem Zelt hörte, fasste sie den Entschluss, den Ausflug zu wagen.

Sie überlegte, wie sie sich Hadds und Asdis’ Augen entziehen konnte. Ihr kam die Idee, ihr Äußeres zu verändern, und so zog sie ihren Skal aus, der sie mit seinem Farbmuster als Ikol verraten hätte, rollte ihn zusammen und verbarg ihn hinter einem Sitzkissen an der Zeltwand.

Geirun beobachtete verstohlen ihr Tun. »Wenn er dich ohne Skal entdeckt, wirst du morgen nicht mehr laufen können.«

Trotzig zuckte Nysra mit der Schulter und griff nach der Holzschale, aus der sie mittags ihre dünne Suppe verspeist hatte. Das Wasser und die paar Rübenabschnitte hatten gerade so den größten Hunger gestillt. Lautlos huschte sie hinaus vors Zelt, füllte eilig an der verglühten Feuerstelle die kleine Schüssel mit Kohle und Asche und hastete wieder zu Geirun zurück, die noch immer mit baffem Ausdruck dasaß. Derweil ließ sich Nysra auf dem Boden nieder, gab Wasser aus dem Trinkbeutel in die Schale und verrührte das Kohle-Wasser-Gemisch mit den Fingern zu einem schwarzen Brei. Den verteilte sie anschließend vom Ansatz bis in die Spitzen ihrer hüftlangen Wellen. Alsbald hatte ihr Haar den Goldschimmer verloren, für den Hadd sie einst geschätzt hatte.

»Nysra, bei den Monden, was tust du da?«, fuhr Geirun sie an. Vor Entsetzen hatte sie ihre Handarbeit erneut sinken lassen. »Deine schönen Haare …« Schließlich seufzte sie besorgt. »Ich hoffe, das hilft dir wirklich unentdeckt zu bleiben. Wenn nicht, will ich nicht in deiner Haut stecken.«

Nysra nickte gleichgültig und schlang ihre nun schmutzig schwarzen Strähnen zu einem Knoten im Nacken. Im Stillen betete sie, dass auch niemandem die kurz geschorenen Stellen über den Ohren auffallen würden, für welche die Clanmitglieder der Ikol ebenso bekannt waren. Von jeher hatte Nysra dieses Symbol der Stammeszugehörigkeit gehasst. Bereits als sie es bei ihrem ersten Treffen mit Hadd wahrgenommen hatte, mochte sie es nicht. Vergeblich hatte sie sich als seine Ehefrau im Lager der Ikol gegen die Rasur gewehrt und unzählige Schläge und Tritte von ihm deswegen eingesteckt. Letztlich hatte Hadd sie brutal auf den Boden geworfen, sie mit seinem Gewicht niedergepresst und sie festgehalten, bis Asdis ihr die Kahlstellen an den Seiten geschoren hatte. Noch heute kamen ihr schier die Tränen, wenn sie an diese Demütigung dachte, die zwei Sonnenfeste hinter ihr lag und der noch viele weitere gefolgt waren.

Nein, sagte sich Nysra, sie wollte nicht daran denken. Heute Abend wollte sie Spaß haben. Einmal unbekümmert sein. Einmal ihr schreckliches Dasein vergessen.

Mit Wasser aus dem Trinkbeutel und der Innenseite ihres Rockes, der ohnehin schon verschlissen war, rieb sie sich die Schwärze der Kohle von den Händen. Nach getaner Arbeit stand sie auf, winkte Geirun zum Abschied und schlüpfte zum Zelteingang hinaus.

Verstohlen sah Nysra sich um. Nur einzelne Stammesmitglieder tummelten sich in den Gassen des Ikol-Lagers. Die Sonne hatte bereits den Horizont verlassen, nur noch ihr sanft gelbes Glühen am rosaroten Abendhimmel erinnerte an ihre sengende Kraft am Tag. Stimmengewirr und eine fröhliche Melodie schwebten aus der Dorfmitte zu ihr hinüber. Die Ikol hatten wie all die anderen Stämme ihr Lager um das Dorf der Zut aufgeschlagen. Aber selbst von dem außerhalb liegenden Standort aus konnte Nysra den Wipfel des riesigen Dorfbaumes über den Zeltdächern hinausragen sehen. Die Zut hatten ihn einst auf ihrem Dorfplatz eingepflanzt und hegten und pflegten ihn seit Generationen. An seinem Stamm hielt der Clan seine Abstimmungen ab, feierte Feste, fällte und vollstreckte seine Urteile. So hatten auch vor Tagen die Häuptlinge Arets dort Rat über die Schlacht gegen die Weißen gehalten und genauso würden sie dort heute den Sieg über die Eindringlinge feiern. Sie würden Rindenwein trinken, gegrillte Fische und Krebse essen, musizieren, singen und tanzen.

Bei den Monden, wann hatte sie das letzte Mal glücklich getanzt und gelacht? Das musste in einem anderen Leben gewesen sein.

Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, wandelte Nysra den heiteren Klängen und Geräuschen nach. Stetig schlich sie an den Zeltwänden entlang und versuchte mit keinem Aretaner den Weg zu kreuzen. Hin und wieder schaute sie sich kurz über die Schultern und auch zur rechten und linken Seite, um sich zu vergewissern, dass Hadd oder Asdis nicht in ihrer Nähe waren. Je näher sie dem Festplatz kam, desto mehr Menschen trieben sich in den Gassen herum. Stimmen und Musik wurden mit jedem Schritt lauter, bis Nysra mitten im Getümmel auf dem Fest stand.

Noch nie hatte sie eine solch ausgelassene Stimmung erlebt. Nicht einmal beim jährlichen Sonnenfest, dem Fastmö, oder beim Sjöhastrid hatten die Aretaner so harmonisch in Freundschaft gefeiert. Überall saßen die Menschen dicht gedrängt beisammen, an Tischen und Bänken, auf Sitzkissen um die Lagerfeuer, aber auch auf Mauern oder dem nackten Boden. Einträchtig schunkelten sie zur Melodie der Flöten und Trommeln, erzählten einander lebhaft Geschichten, lachten zusammen, tranken und aßen gemeinsam von den reichlich aufgefahrenen Speisen. Frauen, Männer und Kinder, Jung und Alt, alle schienen an diesem Abend glücklich zu sein. Unter den weitreichenden Ästen des Dorfbaums spielten die Musikanten und die Paare tanzten im Kreis. Viele der Feiernden trugen ihre bunten Umhänge, an denen Nysra genau erkennen konnte, wer welchem Stamm angehörte. Verblüfft beobachtete sie, wie ein Unaru mit einem Smar, zwei Männer unterschiedlicher Stämme, die sich noch vor wenigen Wochen bekriegt hatten, Arm in Arm an ihr vorübertorkelten.

Ja, sagte sich Nysra im Geiste, dank Ragnar, Eyvinds Sohn, hatten die Stämme Arets ihre Feindseligkeiten überwunden und sich vereint.

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen und einem Funken Glück im Herzen schlenderte sie durch die Menge in Richtung der Musik. Sie kam an Ständen mit gegrilltem Fisch, gefüllten Fladen und in Honig gerösteten Nüssen vorbei, wo sie sehnsüchtig schnuppernd stehen blieb. Der köstliche Duft der Speisen ließ Nysras Magen prompt laut knurren. Da sie weder wertvolle Steine noch Muscheln besaß, die sie gegen das Essen hätte eintauschen können, wollte sie schnell den verführerischen und doch unerreichbaren Leckereien entkommen. Allerdings packte sie im Gedränge plötzlich eine Hand an der Schulter. Erschrocken drehte sich Nysra um und erwartete schon, von Asdis in die Mangel genommen zu werden. Zu ihrer Erleichterung war es aber eine Gul-Frau, die ihr mit einem freundlichen Lächeln ein Fladenbrot entgegenhielt.

»Hier, nimm! Ich weiß leider genau, wie jemand aussieht, der schon zu lange vom Hunger gequält wird.«

Betroffen starrte Nysra die blonde Frau an, deren eingefallene Wangen ihre Rede bezeugten.

Da Nysra noch immer zögerte, nahm die Gul ihre Hand, legte ihr das Brot hinein und schloss ihre Finger darum. »Keine Angst, ich verlange dafür nichts. Es ist ein Geschenk, das du nötiger hast als ich.« Lächelnd wandte ihr die Gul schließlich den Rücken zu und verschwand in der Menge.

Eine ganze Weile stand Nysra einfach nur regungslos mit dem Essen in den Händen da. Noch nie hatte ihr jemand etwas geschenkt. Zuerst roch sie argwöhnisch an dem gefüllten Fladen, der jedoch einen derart appetitlichen Geruch verströmte, dass sie ihre Bedenken über Bord warf und genüsslich in ihn hineinbiss. Schlemmend bummelte sie in Richtung Tanzplatz weiter, freute sich über ihr und das Glück der anderen. Als sie ihre Mahlzeit vertilgt hatte, hielt sie ein Mann auf, der ihr ungefragt einen Becher Rindenwein in die Hand drückte. Leicht schwankend prostete er ihr zu: »Auff ein neues Arett, meine Kkkleine.«

Mit einem zurückhaltenden Lächeln nickte Nysra ihm zu und hob ebenfalls den Becher an, um seinen Trinkspruch zu erwidern. Im Gleichtakt genehmigten sie sich einen großen Schluck und während Nysra sich den Mund abwischte, torkelte der Mann bereits zum nächsten, dem er den Arm um die Schulter legte und erneut seinen Trinkspruch entgegenlallte. Nysra strahlte, trank ihren Wein leer und erreichte kurz darauf den Tanzplatz. Die fröhliche Melodie und die Atmosphäre rissen sie mit, steckte sie an und ließ sie nicht mehr stillstehen. Sie stellte ihren Becher auf einem Tisch ab, wippte im Takt mit und bewunderte die Männer und Frauen, die gemeinsam im Kreis tanzten. Eines der Paare fiel ihr besonders ins Auge, denn es war wunderschön. Nysra erkannte die junge Frau allein an ihren langen roten Haaren, für die sie in ganz Aret bekannt war, man nannte sie Minea. Sie war die Tochter von Cnut, dem Häuptling der Unaru, von dem sie die auffallende Haarfarbe geerbt hatte. Ihr Tanzpartner, dessen Gesichtszüge bereits aus der Ferne so ebenmäßig und schön aussahen, dass sie schon als zu hübsch für einen Krieger galten, gehörte dem Clan der Hesturen an. Er hieß Dan und war der einzige Sohn ihres Häuptlings Grumir. Seine dunkelblonde Mähne fiel ihm in sanften Wellen auf die breiten Schultern und bei jeder Bewegung schwangen die dünnen Zöpfe mit, die sein Gesicht umsäumten. Da er Minea um gut eineinhalb Köpfe überragte, beugte er sich ihr immer wieder mit einem strahlenden Lächeln entgegen. Zwei Grübchen hielten dabei auf seinen Wangen Einzug und ließen ihn noch einnehmender wirken als ohnehin schon. Seine gestählte Statur verriet, dass er wie die meisten Krieger viel mit dem Schwert trainierte, somit kräftig und gut zu Fuß sein musste. Keine Frage, Grumirs Sohn war genauso stattlich, wie Minea schön war.

Nachdem Nysra sie eine Weile beobachtet hatte, stand für sie unleugbar fest, dass sich der Hesturen-Häuptlingssohn über beide Ohren in die Unaru-Häuptlingstochter verliebt hatte. Allerdings gab es da ein kleines Problem, das genauso groß und stattlich gebaut war wie er, auf der anderen Seite der Tanzfläche stand und sie von dort aus mit mörderischen Blicken ebenfalls beobachtete: Ragnar, Eyvinds Sohn und Mineas Ehemann.

»Hey, kennst du einen der beiden, dass du sie so anstarrst?« Eine junge Frau mit braunen Locken hatte sie angesprochen. Obwohl ihre Frage nach Ärger klang, zeigte ihr niedliches Gesicht, das einen Leberfleck am Mundwinkel zierte, lediglich aufgeweckte Neugierde. Die konnte sie sich auch getrost erlauben, wie Nysra feststellte, denn sie lehnte mit dem Rücken an einen dunkelhaarigen bärtigen Riesen, über dessen rechte Gesichtshälfte ein langer Schnitt verlief. Der musterte sie jedoch eher grimmig, sodass es Nysras mulmig zumute wurde.

Eingeschüchtert schüttelte sie den Kopf und der Riese brummte abfällig. »Kleine Mädchen. Ts, immer nur glotzen und kichern.«

Die Braunhaarige, die einen Unaru-Skal trug, linste erst zu dem Hesturen-Häuptlingssohn auf die Tanzfläche und dann wieder zu Nysra. Grinsend zwinkerte sie ihr zu. »Dan gefällt dir.«

Empört schüttelte Nysra den Kopf.

Die Unaru brachte ihre Augenbrauen auf unterschiedliche Höhe. »Minea gefällt dir?«

Abermals verneinte Nysra, diesmal allerdings würzte sie ihren Blick mit spöttischer Verwunderung.

»Kannst du nicht sprechen, Mädchen, oder hat es dir nur die Töne wegen der Schönheit des Kriegers verschlagen?«, fragte der Riese sie schließlich.

»Dagur!«, schalt ihn seine Freundin. »Sei doch nicht immer gleich so direkt.«

»Warum? Das gefällt dir doch an mir.« Mit einem verwegenen Grinsen fügte er an: »Und noch ein paar andere Dinge.«

Die Brünette verlor sich im Anblick ihres Freundes, wand sich dann aber mit einem kurzen Kopfzucken aus dem Bann. »Ihr ist das aber peinlich.« Zu Nysra meinte sie dann: »Entschuldige. Bist du … eine Stammeslose?«

Nysra verneinte knapp, was die Unaru dazu verleitete, sie genauer zu betrachten. Ihr Blick wanderte über Nysras Gesicht, zu ihren Schultern und schnellte an ihre Schläfen zurück. Überrascht und mit einer unüberhörbaren Spur Ablehnung fragte sie: »Du bist eine Ikol?«

Panisch wollte Nysra die Flucht ergreifen, doch die Unaru hielt sie auf, indem sie nach ihrem Handgelenk griff. »Halt! Warte! Ist schon gut. Ab heute spielen die Farben unserer Skals keine Rolle mehr.« Mit einem Lächeln sagte sie: »Ich bin Lijufe und das ist mein Verlobter Dagur. Wie ist dein Name?«

Heftig hob und senkte sich Nysras Brust. Unschlüssig huschte ihr Blick zwischen den beiden hin und her, die geduldig auf ihre Antwort warteten. Sie holte tief Luft, überwand die Scheu und die Angst, ausgelacht zu werden, und probierte ihren Namen auszusprechen, ihn aus ihrem Hals herauszuzwingen. Aber wie immer kam nur ein seltsam kehliger Laut, ein Krächzen, hervor, was auch diesmal, wie gewöhnlich, zu betroffenen Gesichtern der Zuhörenden führte. Nur schwer war der Ton als das Wort Nysra zu verstehen.

Bekümmert senkte sie den Blick bis sie Lijufe sagen hörte: »Nysra? Das ist ein schöner Name, nicht wahr, Dagur?«

»Ja«, brummte dieser mit betretener Miene. »Sehr schön. Tut mir leid, Kleine, ich wollte dich mit meinem Spruch nicht verletzen. Ich ahnte ja nicht, dass du tatsächlich nicht sprechen kannst.«

Nysra schaute staunend auf. Sollte sich wirklich nach dem Krieg gegen die Weißen etwas in Aret geändert haben? Wurden die Ausgestoßenen, die alle möglichen Makel hatten und zu denen sie im Grunde zählte, denen sie aber nie angehört hatte, nicht länger ausgestoßen?

Verzagt nickte sie Dagur und Lijufe zu. Bisher war sie in ihrem Leben wegen ihrer Stummheit fast immer nur auf Spott und Ablehnung gestoßen. Es fühlte sich seltsam an einmal nicht mit Hohngelächter vertrieben zu werden.

Lijufe begutachtete sie eingehend und Nysras Wangen färbten sich vor Scham rot. Die derzeit aschgraue Ikol wusste genau, welchen Anblick sie in dem dreckigen und zerlumpten Kleid bot. Gern hätte sie ein anderes getragen, doch Hadd hatte seit seiner Rückkehr keine Tauschwaren mehr zu bieten. Sein Hab und Gut hatte der Stamm Geirun und ihr nach seiner Verurteilung weggenommen. Und Asdis hatte ihr nichts gegeben, das sie gegen Wolle oder Webstoff hätte eintauschen können. Seitdem waren Geirun und sie vollkommen mittellos und schon froh, wenn sie etwas zu essen bekamen.

»Wie kommt es, dass du trotz deiner Stummheit bei den Ikol lebst?«, fragte Lijufe. »Sie schienen mir im Umgang mit ihren Stammesmitgliedern nicht gerade barmherzig zu sein?«

Nysra wollte Lijufe gerade begreiflich machen, dass sie verheiratet war, als ein blonder Krieger neben ihnen auftauchte. Wegen seiner Narben, die von seinem Mund über das Kinn bis an den Hals verliefen, wusste sie sofort, dass Bram, Cnuts Sohn, vor ihr stand. Er war der Häuptlingssohn der Unaru, der laut den Gerüchten nach Thorirs Tod der neue Häuptling der Nutas werden sollte. Er legte Dagur eine Hand auf die Schulter.

»Wir müssen sofort zum Zelt meines Vaters. Der alte Eyvind macht Probleme. Minea und Ragnar sind schon dort. Lasst uns gehen. Vielleicht können wir helfen das Ränkespiel zu verhindern, welches der alte Smar sich ausgedacht hat.«

»Ach ihr heiligen Monde«, murmelte Lijufe. »Ist Kadlin schon dort?«

»Ja, Avir ist bei ihr«, entgegnete Bram und die drei machten sich auf den Weg.

Nysra blickte zur Tanzfläche, tatsächlich war von Minea und Dan nichts mehr zu sehen. Überhaupt schien plötzlich Unruhe in die Menge gekommen zu sein. Das Glück, das vorher noch aus jedem Gesicht gestrahlt hatte, war fort. Die Funzelsteine schienen das Einzige zu sein, was noch strahlte. Langsam und bei jedem Schritt darauf bedacht, von Hadd und Asdis unentdeckt zu bleiben, folgte Nysra Lijufe, Dagur und Bram, die zum Lager der Unaru liefen.

Als sie vor Cnuts Zelt ankam, hatten sich dort schon eine flüsternde Menge eingefunden, die gebannt das Schauspiel zwischen Ragnar, Minea, Eyvind und Cnut verfolgte, das vor ihnen stattfand. Von den Umstehenden erfuhr Nysra, dass Eyvind Minea im Namen Ragnars verstoßen wollte, weil sie angeblich ein Verhältnis mit Dan hätte, was dieser jedoch lauthals abgestritten hatte. Auch Ragnar begehrte vehement gegen die Verstoßung auf, die sein Vater ausgesprochen hatte. Gerade als Nysra den jungen Smar-Häuptlingssohn sagen hörte: »Ich mache dir Schande? Reden wir über jene, die du unserem Stamm bereitet hast«, entdeckte sie Hadd ein gutes Stück weit rechts von sich zwischen den Zuschauern. Mit Schadenfreude beobachtete ihr Gemahl, wie Vater und Sohn stritten.

Als er Nysra zur Frau genommen hatte, war der Häuptlingssohn der Ikol ein stolzer, gut aussehender Krieger gewesen. Mit seiner langen dunklen Haarpracht, einem dichten Bart und den braunen stechenden Augen hatte er trotz seines Rufes, grausam zu sein, viele Mädchenherzen schneller schlagen lassen. Doch nun galt er als ehrenloser, gefallener Krieger und sein Äußeres spiegelte sowohl seine schrecklichen Taten als auch all das Schlimme wider, was er bei den Weißen durchgemacht hatte. Kahlköpfig und ohne Bart konnte man die vernarbten Wunden, die von Unterdrückung, Kampf und Feuer herrührten und seine gesamte rechte Gesichtshälfte bedeckten, nicht übersehen. Wie bei den Ikol üblich, trug er diese Narben ebenso wie die restlichen auf seinem Körper voller Stolz.

Nysra empfand bei Hadds plötzlichem Anblick allerdings solche Panik, von ihm ebenfalls entdeckt und anschließend bestraft zu werden, dass sie gar nicht bemerkte, wie Hadds Name im Streitgespräch der beiden Smar fiel. Zu ihrer Verwunderung mischte sich ihr Gemahl mit lauter Stimme in die Unterhaltung der beiden ein.

»Ich bin schon hier, mein Freund«, rief er Ragnar zu. Mit einem dreckigen Grinsen trat er aus der Menge und widmete dem alten Smar-Häuptlings ein kurzes Nicken. »Tut mir leid, Eyvind. Ich muss ihnen die Wahrheit sagen, sonst werden sie mir nie vertrauen und mich …«

Weiter kam er in seiner Rede nicht, denn Ormi, der Häuptling der Otulp, war hinter ihm aufgetaucht und rammte ihm unerwartet ein Messer in die Kehle.

»Das ist für meinen Sohn, der wegen deiner dreckigen Lügen starb«, brüllte der Otulp und zog nach einem langen Schnitt die Klinge wieder aus Hadds Hals. »Du wirst nie wieder Unheil stiften.« Mit einem Ausdruck von tiefster Zufriedenheit sah er seelenruhig zu, wie der Ikol blutspeiend und röchelnd vor seinen Füßen zusammenbrach.

Unter den bestürzten Schreien der Anwesenden taumelte Nysra keuchend mehrere Schritte rückwärts. Ihr Verstand konnte nicht begreifen, was sie gesehen hatte. Ihren Blick noch starr auf das Unglück gerichtet schrillte in ihrem Kopf unaufhörlich der Schrei, der nicht aus ihrem Mund kam.

Kapitel 2

Flucht und Freiheit

Totenbleich hielt Nysra inne und beobachtete, wie herbeieilende Krieger sich um Hadd scharten, den sie nach seinem Zusammenbruch im Gedränge nicht mehr sehen konnte. Dem Anschein nach bemühten sie sich darum, seine Wunde zu verschließen und damit die verheerende Blutung zu stoppen. Doch als sich einer von ihnen wieder erhob und Ragnar mit einem stummen Kopfschütteln ein Zeichen gab, wusste auch Nysra, dass es für Hadd keine Rettung mehr gab. Wenige Augenblicke später, als sie seinen Leichnam fortschafften, wurde es für sie zur Gewissheit: Hadd, ihr Ehemann, war tot. Er hatte endgültig für seine Verbrechen bezahlt. Ormi, der Otulp-Häuptling, hatte Rache an ihm genommen und Nysra zur Witwe gemacht. Im ersten Moment spürte Nysra Entsetzen und ein Verlustgefühl in sich aufwallen. Doch dann …

Heilige Sari, hatten die Monde es einmal im Leben gut mit ihr gemeint und sie von ihrem brutalen Ehemann befreit? Sollte ihr Leiden bei den Ikol endlich ein Ende gefunden haben? Sie war jetzt Witwe und da Hadd keinen Bruder hatte und sein Vater nicht mehr lebte, war es das erste Mal in ihrem Leben, dass kein Mann mehr über sie verfügen würde. Sie war frei, endlich frei. Asdis, der es anders ergangen war, würde das gar nicht gefallen. Nein, vielmehr würde sie ihr noch die Schuld an Hadds Tod geben und ihr das Leben erst recht in Firus Abgründe verwandeln. Asdis würde sie nie gehen lassen, denn zu sehr genoss sie es, sich von ihr und Geirun bedienen lassen. Nein, keinen Tag länger wollte sie bei den Ikol bleiben, die sie wie Abschaum behandelten. Nur einmal in ihrem Leben würde sie gegen das Schicksal aufbegehren, das stets andere für sie bestimmt hatten. Es war an der Zeit, dass sie ihre Zukunft selbst in die Hand nahm.

Mit bebender Brust, in der Entschlossenheit und Angst tobten, stolperte Nysra durch die Menge davon.

Sie kannte einen Ort, an dem Menschen wie sie, Ausgestoßene, unter ihresgleichen glücklich lebten und nicht drangsaliert wurden: in der Zuflucht. In den letzten Tagen hatte sie Frauen verschiedener Clans darüber reden hören, als man sie allesamt zu den Inseln der Kivit bringen wollte, um sie dort vor der Versklavung der Weißen zu beschützen. Allerdings waren sie niemals bei den Kivit angelangt, denn bereits auf dem beschwerlichen Weg dorthin hatte man sie ins Dorf der Zut zurückgerufen. Da es den Kriegern gelungen war, die bösartigen Eindringlinge aus Aret zu vertreiben, hatten sie sich bei den Zut erneut nach der Schlacht versammelt und auf ihre Frauen und Kinder gewartet. Aus den Unterhaltungen der fremden Frauen hatte Nysra ebenso erfahren, dass die Zuflucht nordwestlich des Zutdorfs im Flaggebirge lag.

Es würde eine lange und beschwerliche Wanderung werden, das stand fest. Wenn sie jedoch ein Reit- oder Flugtier hätte, wäre die Reise wesentlich schneller und angenehmer. Da sie jedoch kein eigenes Tier besaß, würde sie eins stehlen müssen, was kein leichtfertiges Unterfangen war. Auf keinen Fall dürfte man sie bei dem Diebstahl erwischen, denn die Folgen für sie wären verheerender, als sie es sich jemals ausmalen könnte. Nein, wenn sie ein Tier stahl, musste ihr die Flucht gelingen, und das würde sie auch. Ja, sie würde sich diese günstige Gelegenheit nicht entgehen lassen. Bis Asdis in dem Trubel ihre Abwesenheit bemerken würde, wäre sie schon in der Dunkelheit der Nacht auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Jetzt oder nie. Und auf »nie« würde sie sich nicht einlassen.

Geschwind trugen Nysras Beine sie über den warmen Sand aus dem Gedränge hinaus, an den Zeltwänden entlang bis zum nördlichen Rand des Dorfs. Dort hatten die Stämme Koppeln errichtet, in denen sie ihre Optera hielten. Hinter den Gattern wimmelte es von den langen bunten Leibern und Flügeln. Davor patrouillierte eine Handvoll Krieger, die die Tiere vor Fressfeinden beschützten. Unschlüssig biss sich Nysra auf die Unterlippe. Obwohl die Flugtiere den meisten Stämmen in Aret als Transportmittel dienten, hatte sie noch nie selbst eins geflogen, sie hatte immer nur hinter einem Reiter gesessen. Sollte sie es wagen, selbst eins zu lenken? Sie war mit den Optera nicht vertraut, wie Hadd oder Geirun es gewesen waren.

Unruhig trat Nysra von einem Fuß auf den anderen. Die Zeit drängte, denn sobald Asdis den Schreck über Hadds Tod überwunden hatte und in sein Zelt ging, würde die Alte bemerken, dass sie nicht dort wartete. Womöglich würde sie noch im Dunkeln nach ihr suchen lassen. Aber allein die Vorstellung, dass in luftiger Höhe keiner vor ihr auf der Optera sitzen und ihr zusätzlich Halt geben würde, verbreitete Übelkeit in Nysras Magengegend. In ihrem Nacken und an ihren Händen bildete sich Angstschweiß.

Nysra Blick schweifte über die Koppeln, um eine andere Möglichkeit zu finden, die ihr die Reise verkürzen würde. Ein Stück weit entfernt erspähte sie auf der rechten Seite einen Pferch mit Nennips. Auf den schmalen, schwarz glänzenden Chitinkörpern spiegelte sich schwach der letzte Streifen des Abendrots, der am Himmel noch glühte. Unmerklich zuckte Nysra zusammen. Die achtbeinigen Tiere waren ihr wohl vertraut, denn sie gehörten dem Stamm ihres Vaters, den Vlan. Kein anderer Clan besaß diese Wesen, weil sie nur im Stammesgebiet der Vlan beheimatet waren und diese ihre gezähmten Tiere nur ungern verkauften.

Hefnir war mit seinen Männern im Zutdorf wie alle anderen Häuptlinge auch, was sie angesichts der vergangenen Schlacht eigentlich nicht überraschen sollte. Dennoch tat es das, weil sie von seiner Anwesenheit nämlich nichts geahnt hatte. Offensichtlich hatte ihr Vater es nicht für notwendig befunden, sie bei den Ikol zu besuchen, obwohl ihm wegen der Häuptlingsversammlungen bekannt sein dürfte, dass sie ebenso im Dorf der Zut lagerten wie alle anderen.

Traurige Bitterkeit stieg in Nysra auf. Mit einem leisen Seufzen schüttelte sie diese ab und zwang sich zu kühlen Überlegungen. Zwar konnten die Nennips nicht fliegen, dennoch überwanden sie mit ihren acht langen Beinen jedes Gelände in hohem Tempo und sprangen im Notfall sogar über Flüsse und Gräben. Sie wusste einen Nennip zu reiten und wäre gewiss zügig vorangekommen. Leider jedoch galten die Tiere als Seltenheit und waren in Aret heiß begehrt. Auf keinen Fall würde sie eins von Hefnirs Tieren stehlen und damit riskieren, ausgerechnet von ihm verfolgt und zu Asdis zurückgeschleppt zu werden. Womöglich würde er sie aber auch zu den Vlan schleifen? Nur das nicht – dann könnte sie auch gleich bei den Ikol bleiben. Nein, nein, sie musste nach einem anderen Mittel suchen, um flink und sicher die Zuflucht zu erreichen.

Links von den Optera befand sich eine weitere Tierherde, die eingezäunt war. Es waren die Pferde der Hesturen, große, kräftige Tiere mit seidig schimmerndem Fell. Ihr Schnauben und Wiehern wehte zu Nysra herüber.

Ja, sagte sie sich. Pferde konnten zwar nicht fliegen und sicherlich hätte sie mit einer Optera oder einem Nennip die Zuflucht leichter und eher erreicht, aber angeblich würden die Pferde stets von allein ihren Weg nach Hause finden. Das hieß, das Tier würde sie ganz von selbst in Richtung Nordwesten tragen, dort, wo nicht nur die Zuflucht, sondern auch die Gefilde der Hesturen lagen. Außerdem könnte sie das Tier dann bei ihrer Ankunft in der Zuflucht einfach freilassen und es würde zu seinem Besitzer zurückfinden, was wiederum bedeutete, sie hätte es nur geliehen und nicht gestohlen.

Dieser Gedanke gefiel Nysra und beruhigte ihr Gewissen, weswegen sie die positionierten Wachen vor dem Pferdegatter genauer beobachtete. Die Krieger vernachlässigten ihre Pflicht. Sie standen beisammen, tranken Rindenwein, lachten und schwatzten. Offensichtlich glaubten sie, die Pferde könnten auf sich selbst aufpassen. Nysra freute sich heimlich, denn die Unachtsamkeit der Männer bot ihr die Gelegenheit, eins der Tiere unbemerkt entwenden zu können. Ein Pferd fiel ihr in der Herde wegen seines hellen Fells besonders auf. Mit dem zartgrauen Streifenmuster, seinem schwarzen Schopf und der Mähne, die sich in langen Wellen über Nasenrücken und Hals ergoss, war es eine wahre Pracht. Selenruhig graste es inmitten der anderen Pferde an einer der spärlich gedeihenden pinken Grasnarben.

Nysra huschte in die Gasse zwischen den Zelten zurück und machte in ihrem Schutz einen Bogen um die Wachen. Bald trat sie wieder aus dem Zeltlager hervor und hatte nun die unaufmerksamen Aufpasser und die Pferde rechts von sich. Sie wartete einen günstigen Moment ab und huschte im Halbdunkeln über das offen liegende Wegstück, das sie jetzt noch von dem Tiergehege trennte. Mit klopfendem Herzen duckte sie sich hinter dem Gatter und den unzähligen Tieren und hoffte inständig, unentdeckt geblieben zu sein. Eilig schlich sie in gebeugter Haltung die Umzäunung entlang, bis sie die Wüste im Rücken hatte. Schweiß rann ihr aus den Haaren ins Gesicht und ihre Kopfhaut begann unter dem verklebten Kohlenstaub, mit dem sie sich die Haare gefärbt hatte, zu jucken. Sie strich sich über die Stirn und richtete sich langsam auf. Rigoros ignorierte sie den Juckreiz. Denn in Anbetracht dessen, was sie nun beabsichtigte, war ihre List mit der Asche ein genialer Einfall gewesen. Sie hatte sie nicht nur auf dem Fest unkenntlich gemacht, sondern würde sie jetzt auch mit der Dunkelheit verschmelzen lassen. Wie erwartet nahmen die Wächter sie nicht wahr.

Mit neu gefasstem Mut zwängte Nysra sich zwischen den Holzpfählen des Gatters hindurch. Im Gehege hielt sie jedoch die Luft an. Denn erst da wurde ihr plötzlich bewusst, wie groß die Pferde im Gegensatz zu ihr waren. Ihre Rücken überragten sie um drei Häupter und ihre Körper schienen nur aus Muskeln zu bestehen. Ängstlich presste Nysra sich gegen das Holzgatter. Prompt spürte sie an ihrem empfindsamen Rücken die grobe Rinde, die kratzend durch den Stoff ihrer Tunika stach. Ein sachter Schmerz durchzuckte sie und die damit einhergehende Erinnerung vertrieb letztlich die Furcht vor den Tieren, die sie ohnehin nicht wirklich wahrnahmen. Manche wichen vor ihr zurück, andere wandten ihr das Hinterteil zu oder trabten gar davon.

Nysra wusste, sie durfte nicht zu viel Aufregung in der Herde verursachen, die den Wächtern auffallen würde. Mit leisen lockenden und beruhigenden Zungenlauten versuchte sie einzelne Pferde auf sich aufmerksam zu machen. Doch keines traute ihr oder näherte sich. Sie war schon vollkommen verzweifelt, als unvermutet das hell gestreifte Tier auf sie zutrabte. Wenige Schritte vor ihr verharrte es und schien sie zu mustern. Nysra Puls schnellte in die Höhe und doch wagte sie es, ihm zögernd die Hand entgegenzustrecken. Langsam lief das Tier auf sie zu und schob auffordernd seinen Nasenrücken unter ihre Finger.

Erleichtert atmete Nysra auf und mit einem Lächeln auf den Lippen streichelte sie das Pferd, das ihr überraschenderweise vertraute. Sie bemerkte, dass es ein Hengst war und wie all die anderen Pferde lose geschnürtes Zaumzeug aus dünnen Lederriemen trug. Nysra führte ihn vorsichtig zum Gatter, wo er brav wartete, während sie den obersten Pfahl aus der Halterung hievte. Mit Mühe schaffte sie es, das eine Ende ohne Poltern auf den Boden zu lassen. Artig folgt ihr der Hengst aus dem Gehege und blieb auch geduldig stehen, als sie auf das höher liegende Ende des Pfahls kletterte, um auf seinen Rücken zu steigen. Nachdem sie ihn erklommen hatte, lobte sie ihren neuen Freund mit einem kurzen Halskraulen. Anschließend zog sie an den Zügeln und schnalzte leise mit der Zunge, was das Pferd davontraben ließ. Dicht an den Hals des Hengstes gebeugt hoffte Nysra, ihre Flucht würde für eine ganze Weile unbemerkt bleiben. Sie stahl sich mit dem wundervollen Tier in die dunkle Nacht davon.

Kapitel 3

Vermutung und Wahrheit

Mit einem schmerzlichen Grinsen beobachtete der blonde Hesturen-Häuptlingssohn, wie Ragnar und Minea sich küssten. Er gönnte den Liebenden das Glück und doch fühlte er eine unschöne Mischung aus Frust und Neid in sich heraufschlängeln.

Er zuckte zusammen, als sich aus dem Nichts ein Arm um seine Schulter legte und kräftig zupackte. »Es tut mir leid für dich, Bruder. Aber so ein hübscher Krieger wie du wird bestimmt ein anderes Weib finden, dem er sein Herz schenken kann.«

»Du solltest deine Hände von mir lassen, Avir, sonst verdirbst du dir heute Abend noch deine Chancen auf eine Affäre.« Dan wandte den Kopf und schenkte dem großwüchsigen Krieger einen amüsierten Blick. Wie üblich unter gut befreundeten Kriegern nannten sie sich gegenseitig »Bruder«, obwohl sie nicht miteinander verwandt waren.

Der schnalzte missbilligend. »Wieso glaubt jeder, dass ich auf ein schnelles Vergnügen aus bin? Wie jedes schüchterne Mädchen suche auch ich bloß nach der einen, der wahren Liebe.«

Obwohl es den Anschein hatte, als scherze Avir, bemerkte Dan, dass das Grinsen seines bärtigen Freundes eher betrübt war und sich Trostlosigkeit in seinen Augen widerspiegelte. Plötzlich fiel ihm der Grund dafür ein und er schalt sich im Geiste einen vergesslichen Tölpel.

Er klopfte Avir tröstlich auf den Rücken. »Verzeih, Freund. Ich vergaß Lu-Nei. Du weißt noch besser als ich, was es heißt, seine Liebe zu verlieren.«

»Du liebst Minea?«, fragte der Bärtige überrascht.

Dan wippte grübelnd mit dem Kopf. »Ich denke schon. Zumindest …«, er blickte erneut zu dem Paar hinüber, »… fühle ich Eifersucht und wünschte, ich könnte mit Ragnar den Platz tauschen.«

»Hm«, brummte Avir. »Weißt du … ich könnte jetzt versuchen etwas Kluges zu sagen, dass dich tröstet. Aber … lass uns einfach Rindenwein saufen, bis wir alles vergessen haben und kein Wort mehr herausbringen.«

Dan lachte. »Ein ausgesprochen guter Plan, mein Freund.«

Sie schlenderten zum Dorfplatz und suchten sich mit zwei Rindenweinschläuchen ein nettes Plätzchen, wo sie sich niederließen. Zechend beobachteten sie das Treiben um sie herum und unterhielten sich.

»Glaubst du, es wird noch zu einem Kampf zwischen Ragnar und Eyvind kommen?«, fragte Avir und gönnte sich einen großen Schluck Wein.

Dan setzte den Schlauch ab und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund. »Nein. Wenn Eyvind nicht vollends seine Würde verlieren will, wird er freiwillig den Platz für seinen Sohn räumen. Ragnar ist in vielerlei Hinsicht zu beneiden.«

»Ja, das ist er«, stimmte Avir ihm zu. »Aber er hat es auch verdient.«

Dan blickte betreten auf den Schlauch in seinen Händen. »Ja, das hat er wirklich.«

Noch immer sah der Hesturen-Häuptlingssohn Minea vor sich, wie glücklich sie Ragnar angestrahlt hatte, als dieser ihr seine Liebe gestanden hatte. Wieso konnte sie nicht ihn lieben? Wieso Ragnar? Nie hätte er auch nur in Erwägung gezogen sie zu verstoßen, wie der Smar es laut Mineas eigener Aussage vorgehabt hatte.

Die letzten Tage hatte er fast ausschließlich mit ihr verbracht, da sie seine Nähe gesucht hatte. Noch bis zum Abend war sie ihrem Ehemann aus dem Weg gegangen, sodass Dan heimlich gehofft hatte, dass sie mit ihm zusammenkommen würde. Doch im letzten Moment hatte Ragnar in aller Öffentlichkeit bewiesen, wie sehr er seine Ehefrau liebte und dass er sie keineswegs verstoßen wollte, sondern um ihre Liebe kämpfte. Er hatte sich sogar gegen seinen Vater, den Smar-Häuptling, gestellt und ihn herausgefordert, weil der Minea verstoßen wollte. Vor der versammelten Clangemeinschaft hatte Ragnar seinen Vater eines schwerwiegenden Vergehens bezichtigt und zum Wohle seines Stammes verlangt, mit ihm um die Häuptlingswürde kämpfen zu dürfen, weil jener diese ihm nicht abtreten wollte. Damit hatte Ragnar gezeigt, wie ehrenwert und scharfsinnig er war. Ja, Ragnar hatte die Häuptlingswürde und auch Respekt verdient, und das nicht nur mit dieser Tat. Denn er war derjenige gewesen, der die Stämme Arets zum Kampf gegen die Weißen vereint hatte. Er als junger Krieger hatte es vollbracht, dass alle Häuptlinge von ihren eigenen Interessen abgesehen und am gleichen Strang gezogen hatten. Ragnar war maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass sie den Sieg gegen die Eroberer davongetragen hatten und nun als ein Volk, als Aretaner, feiern konnten. Man würde noch lange Lieder über den Smar-Häuptlingssohn und seine Taten singen, wenn seine Asche schon längst über die Pinke Steppe wehte. Im Grunde war es kein Wunder, dass Minea diesen Krieger liebte. Bei den Monden … Wenn er ein Weib wäre, hätte er wahrscheinlich selbst um dessen Hand gebuhlt.

Die beiden Krieger hatten beinahe ihre Schläuche gelehrt, als ein Hesture durch die Menge angestürmt kam.

»Dan, da bist du ja. Wir suchen dich überall. Komm, schnell. Jemand hat dein Pferd gestohlen. Die Wachen haben es gerade bemerkt und sofort die Verfolgung aufgenommen.«

»Was?«, rief Dan und sprang auf die Beine. »Wie konnte es demjenigen gelingen, Wari zu stehlen?« Er verkorkte den Rindenweinschlauch und warf ihn Avir in den Schoß. »Hier, ich komme später wieder«, rief er ihm zu und machte sich mit seinem Stammesgenossen auf den Weg.

»He, wartet! Ich komme mit.« Überrascht über den plötzlichen Aufbruch seines Freundes erhob sich Avir flink und drückte dem nächstbesten Krieger, der neben ihm stand, die beiden Schläuche in die Hand. »Hier, Bruder, genieß du den Wein, wenn es uns schon nicht vergönnt ist.« Im Laufschritt folgte er den Hesturen. »Ich dachte Hesturen-Pferde lassen nur Vertraute an sich heran und sich von niemandem einfach wegführen, wie es bei den gezähmten Nennips oder den gezüchteten Optera der Fall ist?«

Dan blickte sich zu ihm um. »So ist es auch. Und gerade deswegen wundere ich mich. Es ist mir ein Rätsel, wie es demjenigen gelingen konnte, mein Pferd zu stehlen.«

Avir hob die Augenbrauen. »Und mir ist es ein Rätsel, wie dumm man sein muss, um ein Hesturen-Pferd zu klauen. Und dann auch noch das des Häuptlingssohns?«

Zu dritt erreichten sie die Tiergehege, wo bereits weitere Hesturen warteten und für Dan ein Pferd bereithielten. Während er sich behände auf dessen Rücken schwang und die Verfolgung der glühenden Funzelsteine seiner Kameraden in der finsteren Ferne aufnahm, suchte Avir seine Optera im Gehege daneben auf.

***

Dan rückte dem grünen Glimmen seiner Männer immer näher und bald hatte er zu den Wachen aufgeschlossen. Außer Atem galoppierte er in hohem Tempo neben ihnen her und konnte in der Dunkelheit vor ihnen bereits Waris helles Fell ausmachen. Harsch fuhr er die Wachen an: »Wie konnte der Dieb Wari rauben?«

»Was fragst du mich das? Ich weiß nicht, was in deinem Tier vorgeht. Ausgerechnet von einem kümmerlichen dahergelaufenen Dieb ließ es sich aus der Koppel führen. Dabei greift dein Hengst uns an, wenn wir ihn bloß schief anschauen.«

Verärgert grummelte Dan vor sich hin. Kümmerlicher Dieb? Demnach konnte es also nur ein Knabe sein. Kein Wunder, dass er mit Wari nicht groß vorwärtsgekommen und noch nicht über alle Berge verschwunden war. Ein geübter Reiter hätte nämlich auf seinem Hengst alle Verfolger hinter sich abgehängt. Zudem musste der Bursche entweder dumm oder tollkühn sein, um es zu wagen, ein Hesturen-Pferd zu stehlen. Doch egal was zutraf, den Knaben würde dieses Vergehen teuer zu stehen kommen. Weder Unwissen noch Verwegenheit würden ihn vor den Strafen der Hesturen und seines eigenen Stammes retten können. Ja, nach dieser Tat musste man dem Jungen beibringen, was es für ihn und seinen Clan hieß einen Diebstahl zu begehen. Sein Schicksal würde ihn schneller einholen, als er jemals hätte vermuten können. Bei den Monden, was hatte der Bursche sich bloß dabei gedacht? Hatte er keine Augen im Kopf oder gar den Verstand verloren?

Wari war ein kräftig gebauter Hengst, um den alle Clanmitglieder wegen seines hitzigen, nahezu kampfeslustigen Temperaments am liebsten einen Bogen machten. Ein einziger Tritt des Gauls hätte den Bengel sein Leben kosten können. Hatte der Junge womöglich eine Wette verloren? Oder war es eine Mutprobe unter Heranwachsenden gewesen, die ihn zu solch einem folgenschweren und unüberlegten Unsinn angestiftet hatte? Und, zum Firus, was war nur in seinen sonst so wilden Hengst gefahren, dass er sich von einem Fremden, offensichtlich einem Knaben, reiten ließ?

Verdrossen trieb Dan das Pferd an, immerzu dem hellen Flecken entgegen, der größer und größer wurde. Irgendwann vernahm er über sich die Flügelschläge einer Optera und Avirs Rufen: »Ich sehe das Pferd, ihr habt es bald eingeholt. Ich kann es zu euch treiben.«

»Lass nur, das wird nicht nötig sein. Ich will das Risiko nicht eingehen, dass Wari verletzt wird.«

Erneut rief Avir zu ihm hinunter: »Wie du willst, mein Freund. Allerdings … Mir scheint, dein Hengst ist ohnehin nicht der Schnellste, was? Sicher, dass du ihn zurückhaben willst?«

Mies gelaunt brummte Dan vor sich hin und schluckte die Antwort auf die freundschaftliche Stichelei hinunter. Seine Heiterkeit war schon längst verflogen.

»Was wirst du für den Diebstahl verlangen?«, fragte Avir, der seine Optera mittlerweile auf der Höhe von Dans Pferd fliegen ließ.

»Das Wertvollste, was der elende Dieb besitzt. Denn Wari ist das Kostbarste, was ich mein Eigen nenne.«

»Und wenn der Gauner nichts zu bieten hat?«, wollte Avir wissen und beäugte seinen Freund neugierig.

»Dann wird er wie bei uns Hesturen üblich eine satte Prügelstrafe bekommen.«

Avir nickte. »Ja, damit kann er sich glücklich schätzen. Bei anderen Stämmen kann dich solch ein Diebstahl ein Körperteil kosten. Wer weiß, was sein Clan mit ihm anstellen wird? Sicherlich bereut der dumme Tropf seine Tat schon.«

»Das ist mir gleich«, raunte Dan verbissen.

Als er sich schließlich in Hörweite seines Hengstes wähnte, stieß er einen kurzen schrillen Pfiff aus, der weit über die Dünen hallte. Prompt konnte er sehen, wie Wari die Richtung änderte und in einem weiten Bogen zu ihnen zurückgaloppierte. Jahrelang hatte Dan genau dieses Manöver mit Wari geübt und deswegen genau diese Reaktion erwartet. Mit einem breiten Grinsen ließ er sein derzeitiges Reittier in einen langsamen Trab fallen. Er freute sich schon auf den überraschten Gesichtsausdruck des Knaben, der nun einsehen musste, wie hoffnungslos sein Diebstahl missglückt war.

Wari trottete mit seinem Reiter näher, der den Bewegungen nach, die Dan im schwachen Licht ihrer Funzelsteine ausmachen konnte, vergeblich an den Zügeln zerrte und Geräusche von sich gab, die das Tier wohl zur Umkehr bewegen sollten. Doch Wari trabte brav neben den blonden Hesturen und kam schließlich im selben Moment wie dessen Pferd zum Stehen.

»Gut gemacht, alter Junge!«, lobte Dan seinen Hengst und kraulte ihn. Sein vorwurfsvoller Blick wanderte zu dem Dieb. »Im Gegensatz zu dir, du …« Vor Verwunderung verlor seine Stimme die Lautstärke und den drohenden Unterton. Sein »Halunke« stob leise im Nachtwind davon.

Fassungslos starrte der Häuptlingssohn in ein Antlitz, das ohne Zweifel einer jungen, dunkelhaarigen Frau gehörte. In ihren großen Augen, von dem eines von Schatten umgeben war, schimmerte Furcht. Sie wirkten, ebenso wie die zierliche Nase und das zarte Kinn, weiblich. Auch die hohen Wangenknochen und die vollen Lippen konnten keineswegs das Gesicht eines Mannes zieren. Obwohl diese von Schwellungen und verschorften Wunden verunstaltet waren, die eigentlich nur von einer Prügelei herrühren konnten, hätte nichts die unumstößliche Wahrheit verheimlichen können: Der Dieb war eine Frau und kein Knabe.

»Es ist ein Mädchen!«, kam auch einem von Dans Männern die gleiche Erleuchtung.

Die anderen Wachen verfielen ebenfalls in Staunen. »Das gibt es doch nicht!«

»Eine Frau? Was will die mit einem Pferd?«

Zur selben Zeit landeten Avir und seine Optera ein Stück weit von ihnen entfernt. Der blonde Riese sprang von seinem Flugtier. »Großartig, ihr habt den elenden Mistkerl gefasst«, rief er ihnen freudig zu, geriet jedoch ins Stammeln, als er seinen Freund erreichte und des Langfingers ansichtig wurde. »Aber, das … das ist ja gar kein Mistkerl. Oder?« Verwirrt blickte er zu Dan.

»Nein, ist es nicht!«, knurrte der eisig und stieg von seinem Tier ab, ohne das Mädchen aus den Augen zu lassen. »Dennoch ist es eine elende Diebin!« Voller Ingrimm nahm er der jungen Frau Waris Zügel ab, was sie ohne Gegenwehr hinnahm.

Beschämt senkte sie ihren Blick.

»Weshalb hast du mein Pferd gestohlen?«, herrschte Dan sie an. Doch das Mädchen schwieg und Dan wurde zunehmend wütender. »Sprich, Weib!«, befahl er ihr lauter als zuvor. »Was wolltest du mit meinem Pferd?«

***

Nysra schluckte. Obwohl sie wusste, dass es besser für sie wäre, dem Hesturen zu antworten, brachte sie keinen Ton heraus. Sowohl die Furcht, sich wegen ihrer komischen Töne vor den Kriegern zu blamieren, als auch jene vor der Strafe, die sie nun erwartete, lähmten sie gleichermaßen. Angstschweiß floss ihren Rücken hinab und ihre zitternden Hände verkrampften sich in der Mähne des Pferdes, das sie schmählich verraten hatte.

»Warum redest du nicht?«, bellte Dan zornig, weil Nysra sich weiterhin in Schweigen hüllte. »Ist dir dein Wagemut auf einmal abhandengekommen, der dich zuvor noch angetrieben hat mir mein Pferd zu stehlen?« Böse stierte er zu ihr auf und seine Männer taten es ihm nach.

Avir musterte die junge Frau jedoch aufmerksam. Beschwichtigend legte er dem Hesturen-Häuptlingssohn die Hand auf die Schulter. »Sie will wohl nicht, Bruder.«

Dan schnaubte verächtlich. »Das soll nicht länger meine Sorge sein. Sie wird sich vor ihrem Stamm verantworten müssen, der wiederum den Hesturen nicht nur Rede und Antwort stehen muss, sondern auch eine Wiedergutmachung schuldet.«

»Welchem Stamm gehörst du an, Mädchen?«, fragte eine der Wachen.

»Sie trägt keinen Skal. Vielleicht gehört sie zu den Ausgestoßenen.«

»Nein, das glaube ich nicht«, widersprach Avir nachdenklich und wagte sich an Nysra heran, um sie aus nächster Nähe genauer zu betrachten. »Seht, sie hat kurz geschorenen Stellen über ihren Ohren! Und die blauen Flecken! Ich würde sagen, sie ist eine Ikol – eine verheiratete.«

Aufgeschreckt über Avirs Vermutungen, die exakt den Tatsachen entsprach, hob Nysra jäh den Blick, was Dan nicht entging. Anhand ihrer Reaktion folgerte der Häuptlingssohn, dass sein Freund ins Schwarze getroffen hatte. Da ihm sowohl die Brutalität der Ikol und deren Geringschätzung Frauen gegenüber bekannt waren, sah er Nysras Verletzungen nun in einem ganz anderen Licht. Hilflos bemerkte er, wie sich sein Magen vor Mitgefühl und Grauen zusammenzog.

Welche Strafe würde die ohnehin schon geschundene Frau von ihren erbarmungslosen Stammesbrüdern erdulden müssen? Und was hatte sie bloß durchgemacht, um solch einen schwerwiegenden Diebstahl zu wagen und die etwaigen grausamen Folgen in Kauf zu nehmen?

Kapitel 4

Schläge und Schutz

Nysra erkannte es in dem Moment, als sich Dans Gesichtsausdruck veränderte: Er hatte Mitleid mit ihr. Das überraschte sie nicht, vielmehr rüttelte es ihre Wut wach, die sie momentan gut gebrauchen konnte. Ihr Verstand war nämlich noch immer vor lauter Angst zu keinem klaren Gedanken fähig. Da kam ihr diese stille Wut gerade recht, die stets in ihr schwelte, wenn sie jene mitleidigen Blicke erntete. Die Menschen schienen sie entweder nur verachten oder bemitleiden zu können. Üblicherweise geschah das zwar aufgrund ihrer Stummheit und nicht, weil man sie für eine verprügelte Ikol hielt, was es aber nicht besser machte. Geirun war die Erste und Einzige gewesen, die sie irgendwann schließlich als ihresgleichen behandelt hatte.

Von dem stattlichen Hesturen-Häuptlingssohn voller Zorn angestarrt zu werden hatte sie wesentlich leichter ertragen. Denn es hatte sie zu einer gewöhnlichen Diebin gemacht und nicht zu einer bemitleidenswerten Kreatur, die auf die Gnade anderer angewiesen war, um zu überleben. Das war sie nämlich nicht. Sie könnte gut für sich allein sorgen, wenn man ihr das nur zugestehen würde. Davon war sie überzeugt – auch wenn viele Menschen in ihrem Leben das nicht wahrhaben wollten und sie als wertlos brandmarkten. Sie konnte nur nicht sprechen, das war alles. Ihre Stummheit störte sie schon lange nicht mehr. Als Kind hatte sie damit noch gehadert, aber seit fünf Sonnenfesten hatte sie für sich entschieden, dass sie perfekt war, so wie sie war. Nicht sie hatte ein Problem, sondern die anderen, die aus ihrer Stummheit eins machten.

Und obwohl Nysra derlei Verhalten und Blicke gewohnt war, ärgerte es sie maßlos, dass der hübsche Krieger, den sie zuvor noch auf dem Fest bewundert hatte, sie nun ebenso als unzulänglich betrachtete – sowohl als Diebin als auch als Frau. Warum hatte sie ausgerechnet aus der großen Herde sein Pferd stehlen müssen?

»Ob Ikol oder nicht, ihr beharrliches Schweigen wie auch der fehlende Skal werden ihr nicht helfen«, sprach Dan mürrisch in die angespannte Stille hinein. »Sie hätte mein Pferd ja nicht stehlen müssen. Keiner hat sie dazu gezwungen. Es war ihre Entscheidung. Jeder von uns kennt die jeweilige Strafe, die der eigene Stamm für Diebstahl verhängt.«

Mit einem Stirnrunzeln beäugte Avir seinen Freund, dessen Rede sich in seinen Ohren schwer nach einer Rechtfertigung anhörte. Als wolle er sich selbst davon überzeugen, dass es unumgänglich war, die junge Frau auszuliefern. Er würde jedoch nicht die Dummheit begehen, seinen Bruder vor den anwesenden Kriegern darauf hinweisen. Wenn sie aber allein gewesen wären, dann …

»Sei unbesorgt, Dan«, sprach eine der Wachen dem Häuptlingssohn zu. »Wir werden die Ikol zuerst zwanglos fragen, ob sie eine Frau vermissen und danach mit unserer Anklage herausrücken. Und falls die Diebin keine Ikol sein sollte, werden wir ihre Stammzugehörigkeit auf anderem Wege herausfinden.«

»Ja«, nickte Dan und schwang sich auf sein Pferd. »Mein Vater und der Ältestenrat werden ein gerechtes Strafmaß für sie bestimmen. Was allerdings ihr Clan mit ihr anstellt, liegt nicht mehr in meiner Hand.«

Avir seufzte. Er konnte es Dan nicht verdenken, dass er es, kaum nachdem er den letzten Satz ausgesprochen hatte, vermied, der jungen Frau noch mal ins Gesicht zu sehen. Es war wahrlich nicht leicht, ein Häuptlingssohn zu sein, den damit verbundenen Anforderungen seiner Stammesmitglieder gerecht zu werden und die Regeln der Clangemeinschaft strikt zu befolgen – selbst wenn es den eigenen Auffassungen zuwiderlief. Die junge Ikol tat ihm leid und er war froh nicht in Dans Haut zu stecken.

Nysra erschauderte unter den kühlen Worten des hübschen Hesturen-Häuptlingssohns, die ihre Angst wiederkehren ließ. Da er vor ihr herritt und mit den Zügeln ihr Pferd führte, starrte sie giftig auf seinen Rücken. Seelenruhig trabte Wari seinem Herrn nach und ignorierte jedes Kommando, das sie ihm mit dem Druck ihrer Schenkel gab. Im Geiste schalt sie den Hengst einen Verräter und linste verstohlen in die Gegend. Sie wartete, bis die Wachen, die eine halbe Pferdelänge hinter Dan ritten, ihr keine Beachtung mehr schenkten. Zweimal holte sie Luft und schob sich dann langsam über den Rücken des Pferdes, bis sie seinen Hintern hinabglitt. Mit einem dumpfen Plumps landete sie auf den Knien in der sandigen Steppe. Die Erschütterung der Landung erinnerte sie an ihre Blessuren, sodass sie leise ächzte. Doch das hielt sie nicht auf. Verbissen stand sie auf und rannte, so schnell es ihr auf dem unbekannten Terrain möglich war, in die Dunkelheit hinein.

Dan hörte Waris sachtes Schnauben. Er sah sich um, entdeckte den leeren Pferderücken und stöhnte genervt auf. »Verdammt noch mal, glaubt die Kleine ernsthaft, sie würde uns entkommen – zu Fuß?« Er ließ sein Pferd umkehren, schnalzte mit der Zunge und gab die Zügel frei. »Wari, führe mich zu ihr. Los, mein Junge!«

Der Hengst galoppierte in die Nacht, schlug aber nicht jene Richtung ein, in die er mit Nysra zuvor geflohen waren. Dan schoss ihm blindlings nach. Bald vernahm er das Geräusch von schnellen Schritten und bemerkte im Dunkeln vor sich den Schatten einer Gestalt. Wari lief neben der jungen Frau her, die sich stetig von ihm weiter nach links treiben ließ, sodass sie demnächst in einem Bogen zu Dan zurücklaufen würde. Der Hengst spielte mit ihr. Dan lächelte und überlegte, ob er Wari den Spaß wirklich schon verderben sollte. Aber in einem erneuten Anflug von Mitleid spornte er sein Pferd an, lehnte sich seitlich hinunter und zog im Galopp Nysra mit zu sich aufs Pferd. Sie schrie nicht auf, als sein Arm sich um ihre Taille legte und er sie fest an seinen Körper presste. Nur ein Zischlaut kam über ihre Lippen. Dafür versuchte sie jedoch sich vehement aus seiner Umklammerung zu befreien.