Im Menschen muss alles herrlich sein - Sasha Marianna Salzmann - E-Book

Im Menschen muss alles herrlich sein E-Book

Sasha Marianna Salzmann

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Beschreibung

In ihrem gefeierten Roman erzählt Sasha Marianna Salzmann von Umbruchzeiten, von der »Fleischwolf-Zeit« der Perestroika bis ins Deutschland der Gegenwart. Sie erzählt, wie Systeme zerfallen und Menschen vom Sog der Ereignisse mitgerissen werden. Bildstark, voller Empathie und mit großer Intensität.

»Was sehen sie, wenn sie mit ihren Sowjetaugen durch die Gardinen in den Hof einer ostdeutschen Stadt schauen?«, fragt sich Nina, wenn sie an ihre Mutter Tatjana und deren Freundin Lena denkt, die Mitte der neunziger Jahre die Ukraine verließen, in Jena strandeten und dort noch einmal von vorne begannen. Lenas Tochter Edi hat längst aufgehört zu fragen, sie will mit ihrer Herkunft nichts zu tun haben. Bis Lenas fünfzigster Geburtstag die vier Frauen wieder zusammenbringt und sie erkennen müssen, dass sie alle eine Geschichte teilen.

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Seitenzahl: 508

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Titel

Sasha Marianna Salzmann

Im Menschen

muss alles

herrlich sein

Roman

Suhrkamp

Motto

Jede erfundene Geschichte handelt von einer wahren Begebenheit. Und um glaubwürdig zu sein, muss ich falschliegen.

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Motto

Inhalt

Steinehüpfen

I

Die Siebziger: Lena

Die Achtziger: Allee der Helden

Die Neunziger: Fleischwolf

2015

Ciguapa

II

Edi

Tatjana

Pirosmanis Giraffe

Nina

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Steinehüpfen

Natürlich wollte ich wissen, was passiert ist. Was überhaupt passiert ist, bevor Edi im Hof zusammengeschlagen wurde. Sie lag auf der Wiese, ihre Haare ganz bleich und schmutzig. Meine Mutter kniete neben ihr, Tante Lena brüllte die beiden zusammen. Alle drei gestikulierten, als vertrieben sie Geister. Als sie mich sahen, fingen sie an zu weinen, eine nach der anderen, wie eine Matroschka: aus den Tränen der einen wurden die Tränen der Nächsten und so weiter. Zuerst legte meine Mutter los, dann stimmten die anderen mit ein, ein Kanon an Jammerlauten, ich konnte das, was sie von sich gaben, überhaupt nicht auseinanderhalten.

Gut, warum meine Mutter nach der langen Funkstille feuchte Augen bekam, als sie mich da stehen sah, ist mir klar, aber die beiden anderen hatten wohl was miteinander auszufechten. Mutter und Tochter, die eine lag auf dem Boden, als wäre sie ein Schatten, den die andere warf. Und andersrum schien die eine aus den Füßen der anderen hochzuwachsen wie ein Strauch mit gebrochenen Zweigen. Tante Lena hatte einen grünen Hosenanzug an, der um ihren Körper schlackerte, ich hätte sie fast nicht erkannt. Ich habe die Strampler ihrer Tochter getragen, ich habe an ihrem Küchentisch für Klassenarbeiten und Prüfungen gepaukt, ich habe mitten in der Nacht an ihrer Tür geklingelt, wenn ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten habe, aber das ist lange her, und einen Moment lang war ich mir nicht sicher, ob es tatsächlich Lena war, die ihr auf dem Boden zusammengekrümmtes Kind anblaffte: »Warum treibst du dich hier draußen herum, was machst du nur?«

Edi sah ramponiert, aber nicht betrunken aus, sie behauptete allerdings im vollen Ernst, im Hof zwischen den Plattenbauten eine Giraffe gesehen zu haben. Die soll hier herumspaziert sein, mit der Schnauze ins Gras gepickt und in die Fenster der anliegenden Häuser gelinst haben. Das ist vielleicht der Osten hier, aber Giraffen haben wir, soweit ich weiß, keine, so ein Vieh gibt es hier nicht.

Edi war lange nicht hier gewesen, das merkte man an ihren Haaren, und an den Klamotten, an denen vor allem. Ich hatte mit ihr ohnehin wenig zu tun gehabt, auch als sie noch bei ihren Eltern wohnte, obwohl ich an deren Küchentisch Hausaufgaben machte. Ich war zu jung für sie, außerdem kam sie nie herein, um sich ein Brot zu machen oder einen Tee, wenn ich da war. Die Tür zu ihrem Zimmer hatte einen milchigen Glaseinsatz, durch den ich sehen konnte, wie sie das Licht an- und ausknipste, grundlos, am Tag oder am Abend, an und aus, an und aus. Irgendwann war das Glas zerbrochen, da ragten nur noch ein paar Zacken aus dem Rahmen, niemand sagte etwas dazu, ich fragte nicht nach, und bald gab es ein Ersatzglas, als sei nie etwas vorgefallen. Edi war damals ziemlich unauffällig, schwarze Haare, schwarze Jeans, schwarzes Shirt. Würde ich sie heute auf der Straße treffen, würde ich an ihr vorbeilaufen, so bunt gekleidet ist sie mittlerweile. Ich erkannte sie nur, weil ihre Mutter neben ihr stand und sie anbrüllte. Und weil es meine Mutter war, die versuchte, den Streit zu schlichten. Wieder und wieder ging ein Reigen an Beschuldigungen los, Tante Lena fauchte meine Mutter an: »Warum verheimlichst du mir – weißt du nicht –?«, und meine Mutter zurück: »Es geht niemanden etwas an, wenn ich sterbe.«

Blöder Zeitpunkt für mich, in das Gespräch einzusteigen, sie war noch mitten im Satz, als ihre Augen an mir hängenblieben, und dann wurde sie plötzlich ganz steif, als habe die Zeit einen Sprung gekriegt. Zack. Sie sieht mich an, ich sehe sie an.

Sie hat graue Haare bekommen, irgendetwas wirkte ganz gequetscht in ihr, auch wenn sie versuchte, schick auszusehen. Sie färbt sich die Haare, seit einer Weile schon, die waren am Anfang des Abends bestimmt noch ordentlich frisiert gewesen, aber jetzt waren die Strähnen zerzaust, und man sah den silbernen Ansatz. Ihre Tränensäcke wölbten sich vor, aber das konnte auch daran liegen, dass ich über ihr stand, aus dieser Perspektive sieht jeder schräg aus. Sie wirkte klein, an ihrem Scheitel vorbei sah ich auf ihre Hände, in dem Netz der Linien war Dreck, vermutlich hatte sie versucht, Edi auf die Beine zu stellen.

Ich war nicht überrascht, dass sie in der Stadt war, Onkel Lew hatte mir zugesteckt, dass sie zur Fete in die Jüdische Gemeinde kommen würde, das heißt, eigentlich kam er ganz offiziell, um es mir mitzuteilen und eine Versöhnung einzufordern, eine ganz feierliche Familienzusammenführung, er kam im frischen Hemd, seine Nasenflügel blähten sich, er hatte die besten Absichten, aber ich musste ihn enttäuschen. Als er sah, dass seine Versuche nichts brachten, wollte er mir ein schlechtes Gewissen machen, mit der eigenen Mutter breche man nicht, man habe sie zu lieben, ganz egal, was ist, aber ich denke, ich muss sie weder lieben noch nicht lieben, sie ist meine Mutter, und mehr ist dazu nicht zu sagen. Die Sache ist, wie sie ist.

Ich war einfach so an dem Abend draußen gewesen, schaute mir die Abendspaziergänger an, nichts Besonderes. Der Geruch der Straßen verändert sich in der Dämmerung, wird säuerlicher, ich mag das, aber an dem Abend roch ich verbrannten Zucker, hörte Schreie und dachte, ich sehe mal nach.

Im ersten Moment war ich froh, dass es nicht meine Mutter war, die da vermöbelt im Gras lag, dann merkte ich, dass ich nicht mehr fühlte als das. Lebe. Lass mich in Ruhe.

Vor kurzem schien es hier noch ein kleines Feuer gegeben zu haben, wir standen neben einem Haufen von verbranntem Papier, gewellte, zusammengeschnürte Bündel, überzogen mit Ruß, ganz schön eigentlich, ich glaube, es roch nach Cola, nach bitterem Karamell, der Geruch kitzelte in der Nase, Tante Lena kriegte einen Niesanfall. Wer auch immer hier zwischen den Häusern ein kleines Picknick hatte veranstalten wollen, war entweder vertrieben worden oder hatte schnell aufbrechen müssen, und was Edi damit zu tun hatte und warum die halbe Mischpoche der Jüdischen Gemeinde im zweiten Stock aus den Fenstern hing und zu uns heruntergaffte, war nicht aus den Frauen herauszukriegen. Sie weinten, wollten sich aber trotzdem keine Blöße geben. Sozialistische Manieren: Wenn man Gefühle hat, zeigt man der ganzen Welt, wie sehr man verletzt ist, aber versucht, sich zu beherrschen.

Wir standen umrahmt von Balkonen, an deren Geländer die immer gleiche Fahne flatterte, als würden ihre Besitzer vergessen, wo sie sich befänden, wenn sie nicht das Stück Stoff draußen im Wind wehen ließen. Das ist vor allem deshalb witzig, weil bei vielen der Bewohner, zumindest bei denen, die ich kenne, die Fahne am Gitter nichts mit dem Wappen auf dem Umschlag ihrer Pässe zu tun hat.

Keine der drei wollte zurück auf die Party, im Hof liegen lassen konnte man sie auch nicht, die eine dreckig, gebleicht, verbeult, die andere mit verheultem Gesicht und dann noch meine Mutter, mit ihren zerzausten Haaren, die gerade behauptet hatte, dass es niemanden was anginge, wenn sie stirbt. Ich fragte sie, ob sie sich bei mir frischmachen wollen. Es schien mir richtig, ihnen anzubieten, sich an meinem Küchentisch auszuruhen. Wir gingen eilig, wortlos, als hätten wir Angst, dass uns jemand folgt, ich hörte das Gummigeräusch meiner Sohlen auf dem Asphalt.

Zu Hause stürzte Tante Lena gleich zum Spülbecken, hielt einen Lappen unters kalte Wasser und legte ihn Edi auf die Stirn. Ich drückte den Knopf des Wasserkochers und ignorierte die Blicke meiner Mutter, die Art und Weise, wie sie mein Sofa mit geweiteten Augen musterte, in jeder Ritze hängenblieb, als versuche sie, sich alles einzuprägen. Sie war zum ersten Mal hier, sie sah sogar die offenen Chipstüten auf dem Boden liebevoll an. Ich ignorierte die Stimme in meinem Kopf, die zischte, die Wohnung sei dreckig, klein und dunkel. Die einzige freie Wand war behängt mit einem riesigen Path-of-Exile-Poster, auf dem der Himmel düster war und das Blut spritzte. Es roch nach der Barbecue-Soße der Chicken Wings, die neben meiner Tastatur lagen, die Vorhänge waren zugezogen, der Computer lief, auf dem Bildschirm knallten sich Völker ab, das Rauschen des Lüfters füllte mir die Lunge.

Wir sagten eine Weile nichts. Dass Mamas Hände zittrig waren, sah ich an der Oberfläche des Tees, der Wellen schlug, als hüpften winzige Steine darüber, aber sie hatte ein ruhiges Gesicht und ganz große Augen, als glaube sie nicht, dass sie mich sieht. Und ich glaubte ihr auch nicht. Dass sie mich sieht.

Man kann den Menschen nicht vorwerfen, dass sie keine Helden sind, hatte sie zu mir in unserem letzten Streit gesagt, oder vielleicht war es nicht der letzte gewesen, unsere Streitereien hatten keinen Anfang und kein Ende, es war eine nicht abreißende Kette an Verletzungen. Es waren noch nicht mal Beschuldigungen, es war einfach nur Lärm. Warum sie aber – wenn es so war, dass man den Menschen nicht vorwerfen durfte, dass sie nicht besser sind, als sie sind – von mir erwartete, eine zu sein, die ich nicht sein kann, wollte sie mir nicht beantworten. Sie wollte mir gar nichts beantworten. Oder konnte es nicht. Und sie hatte keine Fragen an mich, auch jetzt nicht.

Sie saß da mit ihren silbernen Rotbuchenhaaren, die gebleichte Edi und ihre smaragdgrüne Mutter daneben, alle drei wiegten die Köpfe, ganz leicht, man konnte es fast nicht sehen, es wirkte, als würden Wellen durch ihre Schultern laufen, als würde ihnen Strom den Hals hochfließen. Über die Oberfläche des abkühlenden Tees hüpften nach wie vor Steinchen, mal schneller, mal langsamer, je nach Größe, noch ein Sprung und versenkt.

Wir gaben uns Mühe, redeten ein bisschen, fragten die Koordinaten unserer Tage ab, ganz vorsichtige Worte, ungelenke Tanzschritte, aber insgesamt okay.

I

Abdrücke froher Gesichter in meinen Handflächen.Die Frauen und Männer der Siebziger erhellen wie tote Planeten die sommerliche Luft.

Serhij Zhadan, Antenne aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

Die Siebziger: Lena

Aus der Nähe sah die Wand grün aus, aber Lena wusste, wenn sie nur einen Schritt zurückträte, würde sie die Streifen und Muster der Tapete erkennen, da waren schwarze Striche, wie Blumenstängel, die über Kreuz vom Boden bis hoch zur Decke liefen, aber sie schaute nicht hoch. Ihre Mutter hatte sie am Ohr gezogen und genau hier abgestellt. Sie sah auf einen grünen Fleck, da war sonst nichts, und von dem Nichts schmerzten ihre Augen. Ihr war langweilig, und sie musste pinkeln, vor allem war ihr langweilig, sie wäre aber lieber geplatzt, als auch nur ein Wort zu sagen. Sie würde nicht in die Hosen machen, dafür war sie schon zu alt, sie ging ja fast schon in die Schule, und sie würde nicht heulen, den Gefallen würde sie ihrer Mutter nicht tun. Außerdem wusste sie, dass ihr Vater bald nach Hause kommen würde, er würde sie erlösen. Er würde die Mutter anschreien, weil sie Lena angeschrien hatte, sie würde ihm alles beichten, und während die Eltern zankten, hätte sie einen freien Abend, könnte vielleicht rausgehen zu Jurij oder wenn nicht, dann in dem Buch blättern, das ihr der Vater mitgebracht hatte. Sie konnte lesen, davon war sie überzeugt. Sie erkannte zwar nicht alle Buchstaben auf dem Papier, aber wenn ihr Vater sie fragte, was da stehe, bohrte sie ihren Schneidezahn in die Zunge, kniff die Augen zusammen und hatte fast immer recht. Und ihr Vater würde sie nie anlügen, er war schließlich Lehrer. Bald würde sie auch in die Schule gehen, und dann könnte sie ihren Namen schreiben und den der anderen Kinder vorlesen und dann noch die Tiergattungen und die ganzen Vögel, von denen sie wusste, man unterscheidet sie an dem Zickzack am Rand der Flügel und am Bogen ihres Schnabels, und vielleicht ein paar Worte mehr. Sie freute sich auf die Schule, endlich wäre es nicht mehr so langweilig, und sie müsste nicht so viel Zeit allein verbringen, weil ihre Mutter immer in der Chemiefabrik Leute anwies, durch die Gänge zu rennen, und ihr Vater von Klassenzimmer zu Klassenzimmer stolperte – vielleicht könnte sie mehr bei ihm sein, wenn sie eingeschult würde, das könnte doch sein.

Lena biss sich auf die Unterlippe, weil sie merkte, dass ihr warme Flüssigkeit in die Hose tröpfelte, ihre Faust krampfte. Sie hatte eine Tasse zerbrochen, aber nicht mit Absicht, das wusste die Mutter doch. Lena hatte sie in die Hände genommen, weil sie schön gewesen war wie sonst nichts in der Zweizimmerwohnung und auch weil es gefährlich war, sie zu berühren, ihr durfte auf keinen Fall etwas passieren. Sie war aus dünnem, kaltem Porzellan mit einem geschwungenen Henkel in der Form von Papas Ohren – unten ausgebeult, nach oben hin spitz – und hatte ein blaues Netzmuster, das von sechszackigen goldenen Schleifen durchbrochen war, die wie Fischschuppen glänzten. Unten und oben waren die Ränder fein bemalt, als sei die Tasse mit einem goldenen Faden zusammengenäht worden, und es war Lena absolut klar, dass nie jemand aus dieser Tasse trinken würde. Sie stand da als Dekor, neben einer Faun-Figur, die Lena nie anfassen wollte, weil ihre Finger danach staubig waren und weil sie Angst vor ihr hatte mit ihren behaarten Ziegenbeinen und den Hufen statt Füßen. Lena war sich nicht sicher, ob es diese Tiere wirklich gab und ob sie ihnen im Wald begegnen könnte. Ob sie alle gebogene Flöten hatten, in die sie bliesen, um Kinder wie sie anzulocken, ob ihnen gekrümmte Hörner neben den Ohren wuchsen, mit denen sie die Kinder dann aufspießten. Lena versuchte die Figur nicht anzusehen, wenn sie an der Anrichte vorbeiging. Aber die Tasse musste sie ab und zu in den Händen halten. Sie war filigran und schimmerte wie Mamas Schmuck, an den sie erst recht nicht rankam, weil die Schatulle ganz oben im Schrank stand, und überhaupt durfte sie sich dafür nicht interessieren, meinte ihre Mutter. Die Tasse zerbrach, sie wusste nicht wie, ihre Hände waren gar nicht glitschig gewesen, Lena erinnerte sich nur an die Schreie – an den eigenen zuerst, dann an den ihrer Mutter und an den Schmerz am Ohr, und jetzt die Tapete, die sie seit Stunden, Tagen, seit einer Ewigkeit anstarrte.

Weil sie sich so verkrampfte, um nicht in die Hosen zu machen, hatte sie nicht gehört, wie ihr Vater nach Hause gekommen war. Jetzt drangen Satzfetzen aus der Küche durch den Flur zu ihr herüber.

»Sie hat das Leningrader Porzellan …«

»Das ist nicht pädagogisch …«

»Ich pfeife auf deine Pädagogik …«

»Ich bin Lehrer …«

»Und ich Mutter …«

Ihr Vater versagte. Lena biss sich noch fester auf die Lippen und hob den Kopf. Sie hatte nicht gemerkt, wie er ihr auf die Brust gesunken war. Sie schaute geradeaus auf die Tapete vor ihr und versuchte, an ihre Großmutter zu denken. Mamas Mama hätte sie mit Sicherheit aus dieser Lage befreit, sie war nicht so weich und warm wie ihr Vater, sie widersprach oft und hatte eine laute und klare Stimme, genau wie ihre Tochter. Manchmal, wenn die beiden miteinander sprachen, klangen die Sätze wie Peitschenhiebe. Und jetzt peitschte die Mutter in Richtung des Vaters, und er wurde leiser und leiser, so dass Lena ihn gar nicht mehr hören konnte, obwohl sie doch direkt vor der Wand stand.

Die Großmutter würde bald kommen und sie abholen, der Sommer stand bevor, und das hieß Sotschi und Strand und das nach modrigem Holz riechende Haus am Stadtrand und die Haselnussbäume, deren Zweige Lena schütteln würde. Und einmal, mindestens einmal, würde sie selbst reinklettern, und ihre Großmutter würde erst die Fäuste in die Hüften stemmen und nach ihr rufen, und dann würde sie Lena aus den Zweigen schütteln wie eine Nuss. Einen ganzen Sommer lang weg von Mama. Aber nicht jetzt, die Großmutter würde noch lange nicht kommen. Es könnte noch Tage dauern oder Wochen, in Lenas Hose brannte es.

Der Vater redete auf sie ein, sein Gesicht war ganz nah an ihrem Ohr, sie konnte seine Wärme spüren, aber rührte sich nicht vom Fleck, trotz nasser Hose und nasser Wangen sagte sie kein Wort und schob seine Hand von ihrer Schulter. Erst als er sich neben sie hockte und fragte, ob sie mit ihm am Wochenende, nur sie und er, zu zweit, ins neueröffnete Maschinenbaumuseum gehen wolle, wo es alle möglichen Dampferzeuger und Gasturbinen geben würde, atmete Lena tief aus. Sie schielte zu ihm hinüber. Sein Kinn war wieder stoppelig geworden, heute Morgen, als er rausgegangen war, hatte sein Gesicht geglänzt und nach Gurkenwasser gerochen, aber jetzt war es mit schwarzen Punkten übersät und miefte nach Bahnstaub. Die Haare auf seiner Stirn waren verklebt, er lächelte und fuhr mit seinen Händen erst über ihre Augen, dann über seine eigenen. Unter der mit feinen Falten durchzogenen Haut liefen dicke Adern von den Fingerknöcheln bis zum Handgelenk, Lena liebte es, wie sie auf- und abtauchten, und vor allem liebte sie das Gewimmel der kleinen, runden, dunkelbraunen Punkte, mit denen die Handrücken übersät waren, die gefielen ihr am besten. Auf der einen Hand ihres Vaters bildeten sie ein vogelschwarmähnliches Muster, das sich auch über die Finger ausbreitete, und wenn Lenas Vater sie ins Museum mit den Gemälden mitnahm und auf die Bilder zeigte, dann sah sie lieber auf die Muttermale als auf die Wände, darauf, wie sie je nach Bewegung zusammenliefen und wieder auseinanderströmten. Sie waren lebendig und viel interessanter als die eingerahmten, ernst dreinschauenden Menschen und pastellfarbenen Landschaften, die weit weg schienen, aber Vaters Hände waren nah, und manchmal griff Lena nach ihnen. Manchmal war sie auch einfach nur zufrieden, wenn sie wie ein Pendel neben ihrer Wange schwangen.

Ohnehin war das Museum mit den Bildern immer nur ein Vorwand, aus der Wohnung zu verschwinden, spazieren zu gehen, den Kopf in den Nacken zu legen, den Himmel anzustarren, etwas anderes zu riechen als den im Einmachglas gärenden Kwas auf dem Fensterbrett in der Küche, aber ein Technisches Museum mit allerlei Maschinen änderte natürlich alles. Das war kein Vorwand, das war ein echtes Ziel. Ihr Vater erzählte gerade, dass dort vielleicht sogar ein altes Flugzeug stehe, aber Lena konnte ihm nicht mehr zuhören, sie lief, während er noch mitten im Satz war, an ihm vorbei ins Bad und riss die Tür hinter sich zu.

Als sie endlich auf der Toilettenschüssel saß und mit den Füßen wackelte, die vor Entspannung kribbelten, stellte sie sich glänzende Gewinde vor und riesige Bohrer, Fräsen und Sägen, die sie nicht aus ihrer eigenen Stadt kannte, aber schon mal in Sotschi gesehen hatte, wo es überall Berge von Sägemehl gab, zwischen denen sie mit Artjom und Lika herumtobte. Sie hatten beide lange schwarze Haare, aber von dem Mehl, das in den Strähnen klebte, wirkten sie fast so hell wie die von Lena. Sie schüttelten sich, die streunenden Hunde aus der Siedlung nachahmend, während sie versuchten, auf dem Haufen zu balancieren, und schrien auf, weil der Holzstaub ihnen in die Augen flog. Das sich am Straßenrand türmende gehäckselte Holz fraß sich in alles hinein – in die Kopfhaut, in die Zunge, in die Socken. In Sotschi durfte Lena allein mit ihren Freunden herumlaufen, zumindest in der Haselnusssiedlung, wo ihre Großmutter wohnte.

Die Großmutter jagte Lena abends vor dem Schlafengehen durch die Zimmer und versuchte, die letzten Sägemehlreste aus ihr herauszuschütteln, Lena schrie vor Vergnügen, zog ihre Unterhose aus und wirbelte sie über ihrem Kopf. Die Oma fing sie ein und hob sie in die Höhe, schimpfte über den gelbweißen Staub auf dem Boden und über die Späne, die Lena im ganzen Haus verteilte, und drückte sie dabei fest an sich.

Großmutters Hände waren rau auf Lenas nackter Haut, weil in Sotschi alles von der Hitze rau wurde. Und von den Haselnüssen. Lenas Hände begannen zu jucken, wenn sie die Blätter von den braungereiften Kugeln abreißen musste, bevor sie sie in einen der Säcke warf. Die Säcke waren fast so groß wie Lena selbst, die spitzgezackten Blätter, die sich wie Trichter um die Nussschalen schlossen, waren nicht einfach abzupellen, aber das Kribbeln in den Fingerkuppen machte ihr nichts aus, weil sie wusste, dass am Ende eines solchen Tages die Großmutter mit ihr an die Promenade am Wasser gehen würde, von der aus weißglänzende Wege zu Cafés mit blauen und buntkarierten Sonnenschirmen führten, unter denen Leute in Feiertagskleidung saßen. Was es zu feiern gab, war Lena nicht klar, sie tranken eine Limonade und lasen in der Zeitung und richteten ab und zu ihre Gürtel und Sonnenhüte, ohne ihre Tischnachbarn zu beachten, manche rauchten, manche starrten an den Hoteldächern vorbei in den Himmel. Bis zum Abend nahmen sie ihre Sonnenbrillen nicht ab, und manchmal glänzten ihre Gestelle auch noch im Laternenlicht auf. Sie schienen nie arbeiten, nie Haselnüsse ernten zu müssen, es nirgendwohin eilig zu haben, sie saßen mit durchgedrücktem Rücken da oder gingen betont träumerisch spazieren.

Lena lachte über ihre seltsame Langsamkeit, wenn sie an ihnen vorbeilief, um an den Zuckerwattestand zu kommen oder zum Karussell, aber meistens wollte sie gar nicht in den Sattel von einem der bemalten Plastiktiere auf der Drehscheibe, sondern reckte die Arme nach der Zuckerwatte, hielt dann den dünnen Stängel für ihre Großmutter, bis die sich die Hosen über die Waden hochgerollt hatte, und krempelte dann ihre eigenen hoch bis zum Knie. Sie stopften ihre Sandalen in die Tasche und stapften barfuß die Treppe hinunter, die bis an den Sand führte. Sie standen mit den Füßen im Wasser, Lena hob jeden Zeh einzeln und spürte das Kitzeln in den Zwischenräumen, und erst wenn sie aufgegessen hatten, tauchten sie die klebrigen Finger in das Schwarze Meer.

Einige dieser seltsam langsamen Urlauber entdeckte Lena schon im Zug, wenn die Großmutter sie abholte, damit sie den Sommer gemeinsam verbrachten. Weil das Rauschen der Räder auf den Schienen bei ihr ein Kribbeln in den Beinen und Armen auslöste, kletterte sie immer wieder hinauf in die obere Schlafkoje und hinunter auf die Bank, während die Großmutter für Bettwäsche beim Schaffner anstand. Wie eine Ameise kroch sie auf allen vieren über die noch nicht bezogenen Matratzen und schielte aus dem Fenster, ob man vielleicht schon Bäume sehen konnte oder immer noch die Fabrikklötze, in deren Schornsteinen die krummen Schwaden stecken geblieben zu sein schienen, als wären sie eingefroren. Die Großmutter hatte ihr eine Flasche gezuckerte Milch versprochen, wenn sie keinen Lärm machte, aber der Verkäufer war noch nicht mit seinem Bauchladen durch die Gänge gekommen, und die Großmutter war auch noch nicht wieder da. Sie hörte das Klirren der Teegläser im Nachbarabteil, sie hörte Leute lachen. Mit den Fingern strich sie über das an der Wand befestigte Gepäcknetz wie über die Saiten eines Musikinstruments, betastete die Fahrscheine, die die Großmutter in die Ablage geklemmt hatte, und starrte auf die langen Streifen Farbe, die Gorlowka hinterließ.

Einige der Fahrgäste trugen bereits auf der Reise gebügelte Dreiteiler und weich fallende Kleider. Vor der Abteiltür, die die Großmutter offen gelassen hatte, beugte sich eine Frau im eierschalenfarbenen Kostüm aus dem heruntergeschobenen Fenster, Lena konnte ihr Gesicht nicht sehen, roch aber den Nelkenduft ihrer Zigarette und stellte sich die roten Lippen dazu vor, breit wie bei einem Frosch, und dornenähnliche Wimpern. Die Frau blieb am Fenster stehen, bis sich die Großmutter mit einem Bündel Laken und Bezügen an ihr vorbeidrückte, und als sich die Frau umdrehte, um ein wenig Platz zu machen, waren ihre Lippen wie eine Pflaume im Gesicht, schmal und trocken und dunkellila, sie war angemalt, wie Lenas Mutter es niemals tun würde, aber diese Frau fuhr in den Urlaub, was Lenas Mutter auch nie tat, zumindest hatte Lena das nie gesehen, sie wusste nur, dass ihre Mutter manchmal auch am Wochenende in das Chemiewerk ging. Vielleicht hatte sie sich auch mal so geschminkt, bevor sie Vorsitzende geworden war. Aber richtig in die Ferien fuhr auch Lena nicht, sie fuhr, um zu arbeiten, um ihrer Großmutter zu helfen, die Haselnussbäume zu schütteln, das machte sie stolz.

Zweimal die Woche postierten sich Großmutter und Enkelin an einer Bushaltestelle auf der anderen Seite der Haselnusssiedlung, die nicht von Schildern markiert war, sondern von einem Schwarm Menschen – Frauen mit Kindern und Säcken voller Waren, in den meisten wahrscheinlich Nüsse, mutmaßte Lena, zumindest Erzeugnisse aus den eigenen kleinen Gärten, schwer sahen sie alle aus. Sie war mit ihren fünf Jahren immer noch nicht viel höher als die Schnallen der Gürtel, an denen die Frauen ihre Lederbrieftaschen befestigt hatten, also war es ihre Aufgabe, sich an ihren Hüften vorbei als Erste in den Bus zu drängen und einen Sitzplatz zu ergattern, am besten einen am Fenster, durch das die Großmutter ihr dann den Sack mit den Haselnüssen reichte. Es war schwer, ihn durch den Rahmen zu ziehen, aber er war bis jetzt noch nie gerissen, wovor Lena am meisten Angst hatte. Die ganze Arbeit wäre dann umsonst gewesen, das ganze Pflücken und Aufsammeln, die juckenden Finger, die Nüsse würden auf den Boden regnen, der Bus ohne sie abfahren. Der Platz reichte eh nicht für alle, das Gefährt sah aus, als sei nur die eine Hälfte von ihm losgefahren, die zweite war am Bahnhof geblieben, höchstens fünfzehn Leute hatten in dem Fahrzeug Platz. Die restlichen mussten zwischen den Sitzen stehen oder auf den nächsten Minibus warten, was bedeutete, dass sie später auf den Markt kämen und keine schattigen Plätze für ihre Stände mehr übrig waren. Ihr Gemüse würde verdorren und ihre Haut geröstet.

Die Gesichter der Frauen an der Haltestelle sahen schon morgens von der Sonne zerkratzt aus, einzelne Strähnen hatten sich aus den Zöpfen gelöst, ihre Schenkel verströmten den Geruch von Sauerrahm. Von unten sah es so aus, als würden die Frauen Grimassen schneiden, wenn sie ans Ende der Straße starrten, das irgendwo weit hinten im Staub lag. Lena bildete sich ein, den Bus immer früher als andere kommen zu sehen – wie sonst ließe sich erklären, dass sie immer als Erste den Fuß auf das Trittbrett stellen konnte, wenn er endlich vor ihnen hielt? Sobald der Sack mit den Nüssen eingeladen war und ihre Großmutter neben ihr Platz genommen hatte, rutschte sie auf ihrem Sitz hin und her und freute sich auf den Abend, wenn die Menschen sich die Hälse heiser geschrien, die Lederbrieftaschen gefüllt und die Säcke geleert hatten, wenn sie die Wachstuchdecken wieder zusammenrollen, die Haare mit der feuchten Handfläche glätten und in das Gummi oder unter das Tuch zwängen würden. Der ganze Markt lag dann im Schatten und kühlte ab, zwischen den Gängen lag zertretenes Obst, und ein paar runzelige Kartoffeln rollten hin und her. Dann legte die Großmutter Lena einen Rubel in die Hand und packte ihre Sachen zusammen. Lenas selbstverdientes Geld. Pro Fahrt eine ganze Münze mit eingeprägten Zeichen und bärtigem Männerprofil, und damit lud sie ihre Großmutter zum Essen ein. Mit knurrendem Magen und dem leeren Jutesack in der Hand machten sie sich direkt vom Markt ins Stadtzentrum auf, immer zu derselben Kantine im Erdgeschoss eines in die Höhe schießenden Gebäudes, in der Lena das Geldstück auf den Tresen legte und nach einem Teller Pelmeni verlangte, den sie vor die Großmutter stellte. Die Sahne dazu kippten sie nicht auf den Berg Teigtaschen, sondern tranken sie direkt aus dem Becher, weil sie so das heiße Fleisch zwischen ihren Backenzähnen und ihre Zunge kühlten.

Manchmal feierten die Nachbarn einen Geburtstag oder eine Hochzeit mit einem Essen mitten in der Siedlung, und der Tisch, auf dem sie das gegrillte und gebratene Fleisch ausbreiteten, war so lang, dass alle Kinder aus der Nachbarschaft Platz darunter hatten. Die Großmutter erklärte ihr, dass die Menschen singen, bevor sie die Tiere essen, weil es das Essen heilig mache, und es wirke besonders gut, wenn man dabei die Augen geschlossen hielt und den Kopf neigte. Lena sang nicht mit, aber sie schaute auf die murmelnden Münder in den für einen Moment lang verschlossen und ernst wirkenden Gesichtern und verspürte den Wunsch, auch etwas zu tun, also küsste sie den Zipfel der Tischdecke. Ihre Großmutter nahm sie nie mit in die Kirche, aber bekreuzigte sich oft, was Lena weder ihre Mutter noch irgendwen anderen bei sich zu Hause in Gorlowka hatte tun sehen. Manchmal ahmte sie die Bewegung nach, ohne zu wissen, in welche Richtung sie die Finger zuerst führen sollte, und es endete in einem unkoordinierten Tanz der Hände, für den Lika und Artjom sie auslachten.

Einmal versuchte sie, vor dem Essen richtig die Hände zu falten und den Kopf zum Beten zu neigen, als sie mit Likas Eltern und der Mutter von Artjom in die Berge fuhr. Die Erwachsenen hatten Decken direkt am Fluss ausgebreitet, entkorkten Flaschen und spießten die Beine des Grills in den Sand. Lena schielte zu ihren Freunden und bewegte die Lippen mit, als alle für das Essen dankten, und als der Schaschlik aufgegessen war, dankten sie noch einmal.

Lika und Artjom waren etwas größer und schneller als sie, liefen den Hügel hoch in den Wald hinein und drückten Lena Äste in die Hand, mit denen sie sich vor den Ottern schützen sollte. Man müsse auf das Gras vor ihnen schlagen, nicht auf die Schlangen selbst, sagte Lika. Und wenn sie nicht kommen, kannst du dich auf den Stock aufstützen und wandern wie ein echter Pionier, sagte Artjom.

Jeden Sommer, den sie in Sotschi verbrachte, rechnete Lena damit, auf bissige und giftige Tiere zu treffen, die sie abwehren müsste, oder auf Gnome wie in den Büchern, die ihr zu Hause vorgelesen wurden, die sie in unterirdische feuchte Höhlen ziehen würden, oder auf echte, große Faune mit dichtbehaarten muffelnden Ziegenbeinen, mit Flöte oder ohne, aber bereit, mit ihren geschwungenen Hörnern die verirrten Kinder aufzuspießen. Sie schaute aufmerksam, ob im Gras Abdrücke von menschenfußgroßen Hufen zu sehen waren, und hatte für alle Fälle meistens auch einen Stein dabei, bereit, ihn zwischen die weit auseinanderstehenden Augen des Fauns zu werfen. Sie war nie einem Tier in der Wildnis begegnet, noch nicht einmal einem Fuchs, aber sie forderte die Waldgeister heraus, indem sie vor dunklen Hecken länger stehen blieb als nötig und ihr Gesicht nah an die Zweige hielt, um vielleicht etwas anderes zu riechen als Blätter und Gräser. Vielleicht modriges Haar. Und manchmal, ganz selten, sah sie Leuchtkäfer über dem Gestrüpp aufblitzen und dachte dann, dass es die funkelnden Augen von viel größeren Wesen seien, traute sich aber nicht, den Arm nach ihnen auszustrecken, und starrte nur vorsichtig zurück.

Bis sie die Turbine eines Flugzeugs gleich in der Eingangshalle des Museums erblickte, dachte sie an nichts anderes als an Artjoms und Likas schwarze Mähnen und ob sie wohl wieder gewachsen waren und ob sie vielleicht in diesem Sommer endlich schwimmen lernen würde, vielleicht in dem Fluss in den Bergen, der ihr noch lieber war als der Stadtstrand. Sie hatte neulich einen Film gesehen, in dem ein grünleuchtendes Menschtier mit Flossen an den Beinen und aufgestelltem Kamm auf dem Kopf, das sowohl eine Lunge als auch Kiemen besaß, in der Bucht eines warmen Landes die Netze der Fischer zerschnitt, Boote versenkte und bedrohlich nah ans Ufer kam. Ihr war flaches, überschaubares Gewässer lieber. Aber dann sah sie die verzerrte Spiegelung ihres Vaters im Stahlgehäuse des Triebwerks und musste vor Aufregung niesen. Sie vergaß den Amphibienmenschen und Artjom und Lika. Die Kraftmaschinen füllten die riesigen Hallen des Museums, ihr Vater schritt voran, als hätte er es eilig, sie hörte ihm kaum zu, sie sah solche großen Propeller zum ersten Mal und wollte sich nicht beeilen. Sie umkreiste in jedem der riesigen Ausstellungsräume die Exponate mehrmals, versteckte sich, als der Vater nach ihr rief, und ließ sich nicht an die Hand nehmen. Der Generator eines halb nachgestellten Kraftwerkes hypnotisierte sie so sehr, dass sie noch nicht mal mit der Aussicht auf ein Eis aus dem Gebäude zu locken war. Erst als der Vater verkündete, ohne sie zu gehen, lief Lena ihm hinterher und wurde, sobald sie durch den Ausgang getreten waren und der Zauber der Maschinen nachließ, misstrauisch bei der Einladung auf einen Spaziergang zur Eisdiele, denn wenn der Vater ihr vor dem Mittagessen Süßes versprach, konnte es nichts Gutes bedeuten. Überhaupt war er den ganzen Vormittag seltsam gewesen, seine Hände waren schweißig, er redete viel, und das tat er nur, wenn etwas nicht in Ordnung war, dann floss es nur so aus ihm heraus. Sonst konnte er abendelang ohne ein Wort am Fenster sitzen und zu den weißen, gefleckten Bäumen auf der anderen Straßenseite hinüberstarren, als würde dort etwas passieren, was er nicht verpassen durfte. Nun redete er und redete, wischte sich die Spucke mit dem Handrücken aus den Mundwinkeln und erzählte irgendetwas darüber, dass man das Schulgebäude nicht in denselben Schuhen betrat, mit denen man gekommen war, weshalb man ein Paar zum Wechseln in einem Beutel mittrug, der am Ranzen baumelte. Und dass es für sie eine Uniform geben würde und an Feiertagen dürfe sie eine weiße Schürze tragen, aber an den anderen Tagen eine schwarze. Dass sie irgendwann ein Pionier sein würde und danach eine Komsomolzin, aber das erst später, vorher sei sie ein Kind des Oktobers, sie kriege ein Abzeichen mit roten Zacken, sie dürfe sich dann um die Gemeinschaft verdient machen, Pflanzen in den Unterrichtsräumen gießen, zum Beispiel, denn das ist das, was Oktoberkinder gerne tun, nämlich für das Kollektiv arbeiten. Er mahnte, dass es Regeln für ein Oktoberkind gebe, die wichtigsten seien Fleiß, die Liebe zur Schule und die Achtung vor Älteren, und es gebe noch viel mehr, das würde sie alles bald lernen, es würde alles großen Spaß machen, denn sie würde mit vielen anderen Kindern lesen, rechnen, malen und singen, und das alles heiße, dass sie diesen Sommer nicht nach Sotschi fahren würde, da standen sie schon mit der Waffel in der Hand vor dem Kiosk, und Lena hatte die halbe Kugel Eis in sich hineingesaugt. Ihr wurde schlagartig kalt und dann sehr heiß, sie vergaß zu schlucken.

»Du musst dich auf die Schule vorbereiten, ich werde mit dir den Sommer über lernen«, beendete der Vater seinen Monolog.

»Und Großmutter? Sehe ich sie jetzt nie wieder?«, flüsterte Lena. Ihre Gedanken überschlugen sich, Haselnussbäume​Artjom​und​Likas​Haare​und​Zahn​lücken​der​Markt​der​Strand​die​Zuckerwatte​die​albernen​Flanierer​an​der​Promenade​von​Sotschi.

»Oma kommt zu uns«, versprach der Vater, »sie kommt nach Gorlowka und bleibt. Sie gibt ihren Garten in Obhut, damit sie bei dir sein kann. Sie freut sich auch. Wir machen ihr die Pritsche im Wohnzimmer fertig, sie kocht für dich mittags, du hast jetzt viel mehr von ihr.«

»Die Haselnüsse werden doch nicht wachsen ohne Großmutter!« Lena fuchtelte mit den Armen, das Eis fiel auf ihre offenen Schuhe und sickerte zwischen die Zehen. Sie wollte auch schreien: Aber Artjom und Lika werden ohne mich schwimmen lernen! Sie werden das grüne Menschtier mit Kiemen und Lunge in den Wellen auftauchen sehen! Sie werden den Faun im Wald ohne mich treffen! Hier in Gorlowka gibt es nur fette schwarze Kater, die einem von rechts nach links über den Weg laufen und Unglück bringen! Aber alles, was sie herausbrachte, war: »Von welchem Geld soll ich jetzt die Großmutter auf Pelmeni einladen?«

»Pelmeni?« Ihr Vater zog die Augenbrauen hoch, als höre er das Wort zum ersten Mal. »Welches Geld?«

Es war sinnlos, mit ihm zu reden. Gab es in Gorlowka überhaupt einen Ort für Pelmeni, oder blieb sie jetzt für immer in der stinkenden Küche gefangen, wo der Kwas auf der Fensterbank gärte, und musste Nudeln mit geriebenem Käse essen? Und was sollte das heißen, Oma schläft auf der Pritsche, wenn schon Lena auf der ausziehbaren Couch im Wohnzimmer schlief? Wenn man das Sitzpolster auszog, reichte es genau bis zu den Beinen des Esstisches in der Mitte des Raums, auf der anderen Seite blieb ein schmaler Gang bis zur Anrichte mit der Faun-Figur und dem Leningrader Porzellan hinter Glastüren. Sollte die Großmutter vielleicht auf dem Schrank schlafen? Da standen doch die verzierten Vasen und irgendwelche Kisten, von denen Lena nur die Kanten erahnte. In Sotschi hatte sie ein eigenes Zimmer, und man konnte in den muffligen Schränken Verstecken spielen. Hier in Gorlowka platzten die Schubladen wie überreife Früchte, wenn man nur die Hand nach ihrem Griff ausstreckte, und auf dem Boden des Kleiderschranks der Eltern standen Koffer, die Lena nicht anrühren durfte. Die Großmutter würde auf Lena schlafen müssen und sie mit ihrem sehnigen Körper erdrücken, sie würde in der Küche auf dem Stuhl sitzend, den Kopf auf die Tischplatte gelegt, dösen, sie würde im Vorraum der Wohnung auf einer mit staubigen Teppichen behängten Truhe kauern. Lena entschied sich, nicht zu weinen, weil sie ahnte, dass die Sache mit der Schule ernster war als bis jetzt angenommen. Wenn der Vater beschlossen hatte, ihr den Sommer und das ganze Leben zu verderben, war sie von Verrätern umgeben, und es war besser, ab jetzt aufmerksam zu sein.

Mit einem Stofftaschentuch, das er aus seiner Jacketttasche zog, wischte ihr der Vater die klebrige Masse zwischen den Zehen heraus und fragte sie, ob sie ein neues Eis wolle, aber Lena war wie erstarrt und außerdem beleidigt, dass er so tat, als wäre alles wie immer. Warum drehte sich die Welt weiter, und all diese Menschen gingen mit denselben sorglosen Gesichtern an ihr vorbei? Verstanden sie nicht, dass jetzt etwas anfing und gleichzeitig zu Ende ging, verstanden sie nicht, dass die Dinge schlimm werden würden?

Auf allen Fotos der Einschulungszeremonie schaute Lena grimmig. Hunderte von Schülerinnen standen auf der Treppe der Schule in Reihen und hielten sich aneinander fest, sie lächelten ihren Eltern zu, ohne die Hand des Nachbarkindes loszulassen und zu winken. Die Haut ihrer Handinnenflächen war kalt und glitschig, und Lena versuchte, nicht nach links und rechts zu schauen. Die weiße Schürze war um ihre Hüften und den Po zu eng gebunden, aber sie hatte sich nicht darüber beschwert, sie konzentrierte sich auf das leichte Jucken an den Stellen, an denen das Band drückte, und kniff die Augen zusammen. Man hatte ihr die Haare kürzer geschnitten, so dass sie keine ordentlichen Zöpfe mehr binden konnte, das hatte zu einem Streit zwischen Oma und Mutter geführt, Oma war für Haareabschneiden gewesen, und wie so oft hatte sie gewonnen. Seit die Großmutter bei ihnen eingezogen war, saß sie viel auf der für sie herangeschafften Pritsche und kratzte sich die Handrücken mit den abgekauten Nägeln auf. Mit den wunden Stellen fuhr sie sich dann übers Gesicht wie eine Katze, die sich wäscht, eine Angewohnheit, die Lena nie an ihr in Sotschi beobachtet hatte.

Lena hatte ihren Großvater nie kennengelernt, und die wenigen Male, als sie nach ihm gefragt hatte, war von den Erwachsenen nichts herauszubekommen gewesen, sie hatten abgelenkt, sagten Dinge, die nicht zu verstehen waren. Großmutter gab es schon immer ohne Großvater, so war es Lena gewohnt, doch jetzt, in Gorlowka, schien sie irgendwie unvollständig, wie sie sich durch die engen Räume bewegte. Als würde ihr permanent etwas fehlen, oder jemand. Als suche sie etwas, was sie eben noch in den Händen gehalten hatte. Auch war neu, dass man es ihr nicht recht machen konnte. Immer war es ihr zu stickig in der Wohnung, aber riss man das Fenster auf, war es ihr zu laut. Lena sollte nicht durch die Wohnung trampeln, das würde die Nachbarn aufscheuchen, schlich sie an der Großmutter vorbei, sollte sie »wie ein normaler Mensch gehen«. Jeden Abend stand die Großmutter am Herd, führte zischende Selbstgespräche und fuhr immer und immer wieder mit dem Kochlöffel den Topfrand entlang. Der sich ausbreitende Geruch des Essens und ihr Gezische machten die Räume noch kleiner, die Decke schien plötzlich viel niedriger, Lena wachte manchmal in der Nacht auf und überprüfte, ob sie in der Dunkelheit näher gekommen war, ganz heimlich, so dass es keiner merkte. Darum glaubte Lena auch, dass ihre Mutter absichtlich erst von der Arbeit nach Hause kam, wenn sich alle schon zum Schlafengehen wuschen. Aber auch dann wurde gezankt.

Ein »Schon so früh zurück?« reichte oft aus oder ein »Ach, du wohnst auch hier?«. Worüber genau gestritten wurde, konnte Lena nicht ausmachen, nur dass die Stimmen erst leise waren und rau und dann abrupt lauter wurden, als hätte man eine Tür, hinter der ein Chor sang, aufgerissen. Lena sah das als einen weiteren Beweis dafür, dass Schule einem nichts Gutes brachte. An der hitzigen Diskussion um ihren Haarschnitt hatte sie sich nicht beteiligt, ohnehin hatte sie keiner gefragt. Großmutter und Mutter keiften sich über ihren Kopf hinweg an, was für das Kind das Beste wäre, während dicke Büschel Haar auf ihre Hausschuhe fielen. Die ausgelegten Zeitungsblätter unter ihrem Stuhl waren verknittert und vergilbt, der gesamte Küchenboden war damit ausgelegt worden, er sah plötzlich aus wie eine helle geröstete Brotkruste, die einen kitzeln würde, wenn man mit nackten Füßen darüberliefe.

Bevor sie zum Schulgebäude aufgebrochen waren, hatte man ihr einen Blumenstrauß in die Hand gedrückt, die weißen Strümpfe bis zum Knie hochgezogen und sie angewiesen, in die Kamera zu lächeln. Sie verzog keine Miene, griff folgsam nach der Hand der Großmutter, als der Vater die Kamera wieder beiseitegelegt hatte, und stieg ohne ein Wort in den Bus, den sie von nun an jeden Tag nehmen würde.

Tapp, tapp, tapp, tapp, kommentierten ihre breitmauligen Schuhe den Gang zum Schulgebäude, Lena zählte die Schritte, versuchte, sie zu verlangsamen. Sie schaute nur einmal auf, als sie an der Büste eines Mannes mit Ziegenbart vorbeigingen, von dem sie wusste, dass er Lenin hieß, Wladimir Iljitsch genaugenommen, und dass man seinen Namen stolz, also gehaucht, auszusprechen hatte. Sie gab sich Mühe, genau das zu tun, als sie gleich in der ersten Unterrichtsstunde gefragt wurde, nach wem die Schule, auf die sie jetzt ging, benannt sei. Sie erhob sich, stellte sich seitlich neben das Pult und versuchte, mit der eingeübten triumphierenden Intonation den Namen Wladimir Iljitsch Lenin! herauszuhauchen. Die Mitschüler kicherten, eine Pause entstand. Die Lehrerin fragte noch einmal, jetzt aber ein blondes Mädchen in der ersten Reihe, das aufsprang wie eine Matratzenfeder, sich ebenfalls neben ihren Tisch stellte und feierlich verkündete: »Jurij Gagarin!« Dann drehte sie ihr Halbmondprofil zur Klasse, damit alle ihr selbstzufriedenes Lächeln zumindest zur Hälfte betrachten konnten. Die Lehrerin nickte und befahl beiden, sich wieder zu setzen. Lena fühlte sich taub vor Scham und beschloss, in den kommenden zehn Jahren, die sie auf diese Schule gehen würde, nie wieder den Mund aufzumachen. Nie wieder.

Obwohl Lena in der Schule oft genug »Wir sind aktive Dinger / ​Denn wir sind Oktoberkinder / ​Oktoberkind, vergiss nicht – / Bald bist du Pionier!« mit den anderen aus der Klasse anstimmen musste, war für sie Pionier eigentlich nur der Name des Fotoapparats, den ihre Eltern zu Hause oben auf dem Schrank aufbewahrten und den sie bis jetzt nur zu ihrer Einschulung herausgeholt hatten. Sie verstand die Tragweite des Übergangs vom Oktoberkind zum Pionier erst, als ihre Mutter zu Beginn der dritten Klasse verkündete, dass sie ab dem nächsten Sommer in ein Lager fahren werde, wo sie in der Natur herumtoben könne und gleichzeitig lernen werde, Teil einer Gemeinschaft zu sein, eines Kollektivs. Und die Großmutter würde für die Zeit nach Sotschi zurückkehren, zur Ernte und um nach dem Rechten zu schauen, sie käme wieder, wenn das Schuljahr beginnen würde. Großmutters Nachbarin, die den Garten bestellte und von den Erträgen der Haselnussbäume lebte, sei dabei, zu ihren Kindern in das anliegende Dorf zu ziehen, die hatte es mit dem Rücken, und überhaupt taten ihr alle Knochen weh, die Großmutter müsse zurück und eine Nachfolgerin finden, außerdem vermisse sie ihr Haus und den Garten.

Lenas Mutter seufzte. »Wenn es nach Mama ginge, würde sie gleich dortbleiben. Die hasst es hier, hasst es, bei mir zu sein, und unsere Wohnung auch. Wir müssen ihr danke sagen, dass sie uns trotzdem die Böden schrubbt und das Huhn in den Topf wirft. Hoffentlich dankst du ihr, wenn du einmal groß bist, dich wird sie hören. Meine Worte gehen durch sie hindurch. Sie jammert, sie will in Sotschi mal wieder in eine Kirche gehen. Ich sage ihr, das kann sie doch auch hier machen. Dann setzt sie sich trotzig in eine Ecke, schmollt und ist beleidigt vom Leben.«

Vor Lenas Augen tanzten zwei schwarze Mähnen, die sich wie Hunde schüttelten, Münder mit löchriger Milchzahnpartie tauchten auf, dünne, von der Sonne und vom Staub wie Bronze gefärbte Arme flogen durch die Luft – Artjom und Lika tobten im Sägemehl, während sie danebenstand und ihnen zuschaute, viel älter, unendlich groß, gewaschen und elend. Sie bohrte die Fingerkuppen in die Handflächen und fragte, so ruhig sie konnte, warum sie nicht mit der Großmutter zusammen nach Sotschi reisen durfte, da brauste ihre Mutter schon auf, noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte: »Du hast ja keine Ahnung, was es mich gekostet hat, dich in das Lager Kleiner Adler reinzubekommen! Da kommen sonst nur die Kinder von Parteikadern hin!«

Dementsprechend hasste sie die Zeremonie, als man ihr das Pionierhalstuch aushändigte. Bei der feierlichen Versammlung, als die Klassengemeinschaft gefragt wurde, wer sich besonders bei der Bewältigung der zugeteilten Aufgaben und beim Lernen hervorgetan hatte und als Erste das Tuch umgebunden bekommen sollte, tat sie so, als überhöre sie ihren Namen, und wurde von ihrem Nachbarn Wassili angeschubst, erst dann ging sie nach vorne. Wassili war einer der Letzten, denen die Ehre erwiesen wurde, er schaute etwas hohl drein und versuchte zu lächeln, und Lena lächelte zurück, weil sie fand, dass er witzig aussah mit dem Rot um den Hals und dem Rot seiner Haare, fast hübsch.

Als das Schulkomitee die Pioniere in unterschiedliche Arbeitsgruppen einteilte, war sie froh, dass sie mit ihm gemeinsam für die Altpapiersammlung zuständig war, obwohl sie den Geruch, der von seinem Hemdkragen aufstieg, nicht mochte und die weißen Schuppen auf den Schultern auch nicht, aber sie waren nun mal seit der ersten Klasse zusammen, sie hatte sich an ihn gewöhnt. Sie hatte ihm oft mit den Hausaufgaben geholfen, und einmal hatte sie ihre Hand auf seine gelegt, als er mit gesenktem Kopf und gelbem Schleim in den Augenwinkeln aus dem Einzelgespräch mit dem Schulkomitee zurückgekommen war, das ihn wegen seiner ungenügenden Noten gerügt hatte. »Lenin hat uns zu anderem Betragen ermutigt!«, sollen sie gesagt haben.

Mit dem Auftrag, Altpapier zu sammeln, musste man ernsthaft umgehen, die Klassenlehrerin wachte streng über die abzuliefernden Mengen. Lenas Vater hatte geschmunzelt, als sie das energische Gesicht seiner Kollegin nachahmte – wie sie die Brille richtete, die Lippen aufeinanderpresste, das Kinn nach vorne streckte und die Pioniere anwies, gewissenhaft zu sein, der Staat brauche wiederverwertbares Material. Seinen Kommentar hatte sie nicht richtig verstanden: »Ein jeder Schüler schuldet der Sowjetunion jährlich fünfzehn Kilogramm Altpapier und mindestens zwei Mitschüler, die das Pensum nicht erreicht haben!«, und dann lachte er auf, als hätte er sich verschluckt, und Lenas Mutter stimmte mit ein, nur die Großmutter schüttelte den Kopf und widmete sich wieder dem dampfenden Topf auf dem Herd.

Witz oder nicht – Lena und Wassili liefen die Hauseingänge ab, schnappten sich jedes Papierfitzelchen, das in den Ecken liegen geblieben war, klingelten an Wohnungstüren, erbaten alte Zeitungen und Zeitschriften und versprachen, dass mit der Spende die Wälder der geliebten Heimat gerettet würden, sie stachelten sich gegenseitig an, versuchten sich zu überbieten.

Es bereitete Lena viel mehr Vergnügen, als mit ihrem Vater einmal im Monat Besorgungen zu machen, wofür sie frühmorgens, noch früher als für die Schule, geweckt wurde. War es kalt, zogen sie mehrere Pullover übereinander, und Lena bekam ein Tuch unter der Mütze umgebunden, so dass sie statt Großmutters Stimme nur noch ein Rauschen hörte. Ihr Vater bewegte sich umständlich in den dunklen Straßen, das Knirschen des Schnees glaubte sie noch in ihrem Kiefer zu spüren, und die Kälte drang trotz der zusätzlichen Gummigaloschen in die Filzstiefel. Sie musste dicht hinter ihrem Vater gehen, um seine Silhouette in der Dunkelheit nicht aus den Augen zu verlieren. Die orangen Kegel der Laternen beleuchteten immer nur einen kleinen Kreis auf dem Asphalt, kaum Licht und keine Wärme ging von ihnen aus, Lena und ihr Vater tippelten durch sie hindurch und schauten beide zu Boden, um nicht auszurutschen. Ihr Vater rammte seine Füße in den Boden, als habe er Dornen an den Sohlen, deshalb war er langsam, und Lena lief immer wieder in ihn hinein.

Irgendwann zwang sie der säuerliche Geruch von Schweiß und frischem Fleisch, hochzuschielen. Ihr Vater stellte sich in die eine Schlange vor dem Lebensmittelgeschäft, sie in die Parallelschlange, einmal zwinkerte er ihr noch zu, dann taten sie, als würden sie sich nicht kennen. Manchmal bekamen beide die ihnen zustehende Ration Schweinebauch oder -haxe, manchmal bekam nur Lena etwas. Wenn keiner von ihnen Glück hatte und die Verkäuferin vor der sich zum Knäuel zusammendrängenden Menschenmenge die Arme verschränkte und die leeren Kühlregale für sich sprechen ließ, nahmen sie einen vollbesetzten Bus zu einem anderen Geschäft, wo ihr Vater mit der Ladenbesitzerin tuschelte. Diese knetete meist ihre großen Hände unter der gelb geblümten Schürze, und es klang, als würde sie mit den Fingern durch Sand fahren. Danach trugen Lena und ihr Vater Fleisch, Wurst und Butter nach Hause, und Lena schmiss sich, sobald sie die Galoschen und die Filzstiefel abgestreift hatte, wieder aufs Bett, erschöpft von der Kälte und der Anspannung. Sie träumte von den wärmeren Monaten, in Sotschi oder nicht, es musste nur dringend wieder besser werden, denn jetzt froren ihr die Zehen zusammen. Und wenn sie im Juni tatsächlich in ein Pionierlager fahren musste, war das vielleicht nicht die schlechteste aller Möglichkeiten, denn dann müsste sie zumindest nicht mehr für Lebensmittel anstehen, dort würde einem das Essen dreimal am Tag serviert werden, es wäre endlich Sommer, und das hieß auch, man konnte ans Wasser.

Lena wollte sich eigentlich freuen, aber als der Juni anbrach, bekam sie ein Ziehen im Bauch.

»Es sind sechs Betten im Abteil, du hast die Nummer 37, die Plätze sind im Uhrzeigersinn nummeriert. Zeig mir, wie herum die Uhr sich dreht.«

Lena zeichnete mit den Fingern einen Halbkreis in die Luft und faltete die Hände wieder vor dem Bauch, der sich wölbte und von innen spannte. Er machte Gurgelgeräusche, seit die Großmutter am Vortag Lenas Hemden und kurze Hosen gefaltet und in den Koffer gelegt und immer wieder betont hatte, man dürfe auf gar keinen Fall vergessen, täglich die Socken zu wechseln. Lena roch ihren buttrigen Atem und dachte daran, dass niemand, den sie kannte, dort mit ihr sein würde. Nicht auf dem Weg dorthin, nicht im Ferienlager. Das Dort war viele Stunden von zu Hause entfernt, erst nahmen die Pioniere einen Zug über Nacht, dann einen Bus in den Wald, und die Pionierführer würden aufpassen, dass sie am richtigen Bahnhof aus- und umstieg. Sechs Wochen lang würde sie nach niemandem, den sie kannte, rufen können. Und ihr Vater sagte – wie immer – nichts dazu. Mal saß er auf dem Hocker, mal auf dem Stuhl daneben, dann irrte er ziellos durch die Wohnung. Lena hob immer wieder den Kopf, wenn er vorbeistreifte, aber er beachtete weder sie noch den am Boden liegenden Koffer, aufgerissen, wie ein Mund, der stumm AAAAAHHHH! schreit.

Immerhin brachten er und ihre Mutter sie am nächsten Tag zusammen zum Bahnsteig, auch wenn sie sich die meiste Zeit anschwiegen. Die Pionierführer benutzten zwischen ihren raukehligen Befehlen auch Trillerpfeifen, um die Schar der Kinder zu den richtigen Waggons und Abteilen zu dirigieren. »Gepäck unter die Sitze! Für die auf den oberen Liegen ist die Ablage über ihnen bestimmt! Nicht drängeln! Nicht schubsen! Aufpassen, habe ich gesagt! Nicht mit den Fingern an die Fensterscheibe patzen!« Die Würstchenkette der Schlafwaggons zog sich endlos über die Gleise. Lena blickte so lange zu Boden, bis sie über die Trittstufen hoch in den Waggon gehievt wurde, und ging dann nicht zum Fenster, um den am Perron stehenden Eltern zu winken. Der ganze Wagen stank nach alten Galoschen, und das Abteil hatte nichts gemein mit der Schlafkoje, in der sie mit ihrer Großmutter immer nach Sotschi gereist war. Gezuckerte Milch würde es hier bestimmt auch nicht geben, und niemand würde ihr zur Beruhigung die Hand aufs Ohr legen und sie an sich drücken. Ihr Bauch jaulte auf und krampfte sich zusammen.

Die anderen fünf Betten waren noch nicht belegt, und Lena hoffte inständig, dass einfach niemand kommen würde. Vielleicht schliefe sie ein und würde erst wieder aufwachen, wenn die unendlichen sechs Wochen vorüber wären. Sie würde wieder aussteigen und nach Hause laufen, sich unter dem Hauskleid ihrer Großmutter verstecken, nichts mehr. Aber das Abteil füllte sich rasch, die Hinterteile der anderen fünf Kinder schoben sich eines nach dem anderen an ihrem Gesicht vorbei, sie schnatterten, als würden sie sich schon seit einer Ewigkeit kennen, und in Lenas Kopf begann ein Summen, das in ein Rattern überging, als sie am nächsten Tag in die bereitstehenden Busse umstiegen. Sie wollte keine Freundinnen finden, hatte auf der ganzen Fahrt niemanden angesprochen und war froh, als die Busse am Fuß eines Hügels ihre Fracht zerkaut ausspuckten.

Die Reisebegleiterin scheuchte die Pioniere samt ihrem Gepäck in flottem Tempo die Anhöhe hinauf, ordnete sie in Reih und Glied und begann ihre Ansprache. Dass nur denjenigen mit den besten Noten und mit besonderen Auszeichnungen die Ehre erwiesen würde, hier kostbare Sommerwochen verbringen zu dürfen, widersprach zwar der Behauptung ihrer Mutter, nicht Lenas Erfolge in der Schule, sondern nur ihre guten Beziehungen hätten den Aufenthalt in dem Lager der Bessergestellten möglich gemacht, aber es erklärte zumindest, warum Wassili nicht hatte mitkommen dürfen. Lena starrte durch die Ringe des blauen Metalltorbogens auf die Gebäude und das Lagergelände Kleiner Adler. Das Tor sah aus wie eine Konstruktion, die man vor vielen Jahren vergessen hatte abzubauen, das übriggebliebene Klettergerüst eines Spielplatzes vielleicht, und hinter der Abgrenzung begann gleich der Wald. Man konnte nicht sehen, ob der Zaun das gesamte Gelände umfasste, sein welliges Gitter verlor sich im durchbrochenen Grün der Wacholderbüsche und Bäume, und Lena bildete sich ein, von weit her das Plätschern eines Sees zu hören – vielleicht würde sie ja hier endlich schwimmen lernen. Vielleicht gäbe es hier in dem See solche Amphibienmenschen mit glänzenden Schuppen statt Haut, die mit aufgestelltem Kamm aus dem Wasser kamen und die Kinder mit sich fortzogen.

Die Allee der Helden, ein schmaler betonierter Pfad, der vom Torbogen in das Ferienlager hineinführte, war gesäumt mit den Büsten junger Männer. Die meisten hatten kurzgeschorene Haare, einige von ihnen trugen Schirmmützen, nur wenige ein Pionierhalstuch aus Stein. Sie standen auf Betonsockeln, die so hoch waren wie die Kinder selbst, Dutzende Augenpaare schauten zu ihnen hoch. Die Gruppenleiterin richtete ihr senffarbenes Kleid, das nach der langen Reise aussah wie zertretenes Laub, zupfte an ihrem Dutt und zeigte mit der Hand auf die eine und die andere Statue, um zu fragen, ob jemand wüsste, wie der junge Mensch hier hieß. Sie blieb stehen vor der Hauptattraktion, einem Jungen mit hoher Stirn und quadratischem Haaransatz, der fast schon auf seinem Hinterkopf lag. Er trug eine schiffchenähnliche Feldmütze leicht schräg auf dem Scheitel und schaute sehr, sehr ernst, fast wütend. Sein Halstuch saß eng über dem zugeknöpften obersten Hemdknopf, und hätte die Büste einen kompletten Oberkörper gehabt, hätte sie bestimmt eine Lederjacke getragen, mutmaßte Lena. Sie hatte dieses Gesicht mit den strichartigen Brauen und den weit aufgerissenen Augen schon mal gesehen, aber es fiel ihr nicht ein, wo, und sie bemühte sich auch nicht, den richtigen Namen zu finden. Die Gruppenleiterin hatte ohnehin keine Geduld mit den Reinrufern und erklärte selbst, wer Pawel Morosow war, nämlich ein Pionier-Held, einer, der dem Kulakentum getrotzt und mit seinem Leben dafür bezahlt hatte.

»Wer von euch weiß, wer Kulaken sind?«

»Feinde! Feinde!«

»Ja, richtig. Aber warum?«

»Weil sie uns verraten haben.«

»Ja, und wie?«

Lena wusste, dass Kulaken Bauern gewesen waren, die Land besessen hatten, und dass Besitz zu haben verboten war, aber sie hörte jetzt zum ersten Mal, dass Kinder ihre Eltern bei der Kolchose meldeten, wenn sie Korn oder Vieh horteten, und dass Pawlik Morosow so einer gewesen war. Er hatte seinen Vater, der Getreidevorräte versteckt hatte, beim Dorfobersten angezeigt und wurde gemeinsam mit seinem kleinen Bruder dafür von seinem Großvater im Wald beim Beerensammeln erstochen. Lena blieb noch kurz vor Pawliks abgeschnittenem Rumpf stehen, als die Pioniere schon die Allee weitergeeilt waren, schaute in seine lidlosen Augen und nieste.

In der Nacht hing seine hohe Stirn über Lenas Matratzenende, und immer wenn sie zu ihm hinschielte, nieste Pawlik, ohne zu blinzeln, über sie hinweg – hatschuuu –, sie kriegte vor Angst Schluckauf, in ihrem Bauch fing es wieder an zu gurgeln und zu ziehen. In den Nachbarbetten hörte sie die Mädchen tuscheln und versuchte zu verstehen, was sie sich erzählten, weil sie hoffte, dass ihr Gemurmel sie beruhigen würde, so dass sie nicht mehr die zwischen den Preiselbeersträuchern aufblitzende Messerklinge sehen musste, aber auch den anderen ging der Pionier-Held offenbar nicht aus dem Kopf. Sie flüsterten, dass Pawlik und sein Bruder nicht nur erstochen, sondern mit großen Messern zerteilt und danach gefressen worden waren, denn das sei es, was Kulaken tun: Sie töten ihre Kinder und fressen sie. Sie hätten einen unersättlichen Hunger und wollten nicht mit der Gemeinschaft teilen, und darum waren Wagen gekommen und hätten sie weggeschafft, und als man ihre Kinder in Heime brachte, zeigte sich, dass sie genauso von Raffgier besessen waren wie ihre Eltern, sie rissen sich gegenseitig das Fleisch von den Knochen und fraßen es, sie legten ihre jüngeren Geschwister in den Schnee, warteten, bis sie erfroren waren, und kochten ihre Überreste. Nur wenige waren Ausnahmen, Ausnahmen wie Pawlik Morosow.

Lena blieb die ganze Nacht über wach und beobachtete die sich hebenden und senkenden Körper der anderen Pioniere, deren Decken wie graue Erde in dem dunklen Saal wirkten, die über gekrümmte Körper geschüttet worden war. Die freistehenden Einzelbetten hatten große weißlackierte Rahmengestelle mit Füßen auf Rollen, die Matratzen waren weich wie Weißbrot und hatten einen Hängebauch. Sie standen in größeren Abständen zueinander, ihre Schatten berührten sich nicht. Manche Mädchen schnaubten im Schlaf, Lenas Bettnachbarin zirpte bis in den Morgen wie eine Heuschrecke.

Lena fuhr sich mit beiden Händen zur Beruhigung über die Oberarme, auf und ab, auf und ab, als versuche sie, die Gänsehaut zu glätten. Beim ersten Weckruf sprang sie auf, war die Erste im Waschraum, die Erste auf dem Vorplatz, stand vor einer saubergefegten Feuerstelle auf dem Appellplatz und wartete, bis alle anderen nachkamen und die Trompete an ihrem Ohr ihr auch noch den letzten Gedanken aus dem Kopf blies. Das Hemd hing dem Pionier, der so heftig zum Aufstehen getrötet hatte, schlaff von den Schultern und war umständlich in den Hosenbund gestopft, er kam Lena vor wie ein halb aufgepumpter Ballon, der in Schüben Luft entließ. Hinter ihm auf einer riesigen Tafel mit der Überschrift TAGESABLAUF war zu lesen:

1. Aufstehen8:00

2. Gymnastik8:00–8:15

3. Aufräumen der Schlafräume und Toiletten8:15–8:45

4. Appell und Hissen der Flagge8:45–9:00

5. Frühstück9:00–9:30

6. Freie Zeit9:30–9:45

7. Pflege des Geländes 9:45–10:00

Die folgenden Punkte verdeckte die leuchtend rote Fahne mit den goldenen Fransen, die von der Trompete hing, aber ab 10. konnte Lena wieder weiterlesen: Freie Zeit, dann 11. Mittagessen, 12. Nachmittagsschlaf, 13. Zwischenmahlzeit, 14. Gruppenkurse, 15. Freie Zeit, 16. Abendessen, 17. Gemeinsame Aktivitäten, 18. Abendappell und Einholen der Flagge, 19. Abendtoilette 20. Schlaf.

Die betonierten Wege, die über das in den Wald geschlagene Gelände führten, standen wie gestreckte dicke Finger von der Handfläche des Appellplatzes ab. Sie stachen mit ihren Fingerspitzen in einstöckige Holzbaracken mit angebauten Verschlägen, manche führten weiter zu den Gemüsebeeten und den dahinterliegenden Feldern, einer wies auf den vor Hitze zitternden Plastiküberzug des Gewächshauses weiter abseits. Lena lief über die Wege und las die Hinweisschilder auf den Gebäuden in Buchstaben so groß wie ihr ganzer Körper: FÜR MÄDCHEN, FÜR JUNGEN, BIBLIOTHEK. Zwischen der länglichen Bühne, von der aus sie bei ihrer Ankunft begrüßt worden waren, und dem Platz für sportliche Betätigung mit Laufbahn, Fußballfeld, Barren und Ringen war ein Transparent aufgespannt mit der Losung: WIR SIND IM MÄRCHENLAND. Über dem Appellplatz selbst stand auf einer Plakatwand: KINDER – DAS LAGER GEHÖRT EUCH!, gleich daneben die Anordnung, das Areal nicht zu verlassen. Der Speisesaal war nach zwei Seiten komplett verglast, und auf der gesamten linken Fensterfront klebten riesige Buchstaben: W E N N I C H E S S E B I N I C H T A U B U N D S T U M M.