Im Morgenlicht - Anna Blumbach - E-Book

Im Morgenlicht E-Book

Anna Blumbach

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Beschreibung

Die Anfang-40-jährige Architektin, Mutter und passionierte Clubgängerin Eva Rock ist nach einer Zeit der finanziellen Nöte und Unsicherheiten inzwischen in wohlsituierten Lebensumständen angekommen. Nachdem sie verschiedene Seminare über ihr Autarkhaus-Projekt erfolgreich abgehalten hat, stehen die Chancen nun sehr gut, als Beraterin für ein Siedlungsvorhaben im Ausland engagiert zu werden. Währenddessen sieht sich ihr Freund Tom, mit dem sie seit fast einem Jahr eine Art Wochenendbeziehung führt, in Prenzlauer Berg nach einer Eigentumswohnung um, in der Eva mit ihrem Sohn und Tom mit seinen drei Kindern als große Patchworkfamilie zusammenleben können. Zwei Vorhaben, die schwer miteinander zu vereinbaren sind - zumal der mittelstandsbürgerliche Traum von der Großfamilie in der Eigentumswohnung bisher Evas schlimmster Albtraum war! Obwohl Tom sich im Klaren darüber sein müsste, mit wem er sich eingelassen hat, scheint er die Tatsache, dass er sich bereit erklärt hatte, auf Evas Distanzbedürfnis Rücksicht zu nehmen, inzwischen verdrängt zu haben. Und Eva wiederum schiebt den großen Moment der Ernüchterung nur allzu gern auf die lange Bank der Wohnungsfindung, die sich - der Gentrifizierung sei Dank - hinzieht. Aber es kommt, wie es kommen muss. Tom hat plötzlich die Möglichkeit, zwei Wohnungen auf einer Etage zu kaufen - Eva und Tom müssten also noch nicht einmal zusammenziehen und wären sich trotzdem nah. Wie Eva es auch dreht und wendet, sie muss eine Entscheidung treffen.

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Anna Blumbach

IM MORGENLICHT

Roman

1.

Chill

Hier draußen fühlt es sich an, als würde jede Zelle meines Gesichts schockgefrostet. Ein Wunder, dass der Atem dampft, eigentlich müsste er, kaum ausgeatmet, klitzekleine Wölkchen bilden, aus denen Miniaturschnee rieselt. Ich ziehe mir den Schal vor den Mund. Dort oben im tiefen dunklen Winterhimmel funkeln hell und klar die Sterne.

Diese Pause brauchte ich.

Trotz der vielen Menschen um mich herum herrscht eine seltsame Ruhe. Da bahnt sich langsam eine weiße Limousine ihren Weg durch die Menge. Jemand klatscht, noch jemand, dann viele, bald klingt das Klatschen begeistert. Ein indisch aussehender Mann ganz in Weiß gekleidet steigt aus dem Wagen und verbeugt sich lächelnd. Mit betenden Händen verneigen sich die Menschen auch vor ihm. Im Vorüberschreiten hält er seine Hand über die Köpfe der Wartenden, bis er im Eingang der Backsteinhalle verschwunden ist. So spät am Abend wundern mich die Kinder an den Händen und auf den Armen ihrer Eltern.

Ich ziehe mir die Handschuhe an, nippe an meinem kalten Bier. Diese Performance eben geht mir nicht aus dem Kopf. Es verwirrt mich, dass die nackte Frau gar nicht nackt wirkte unter uns Angezogenen. Vielleicht hat es ja an ihrem Muschipelz gelegen … Dazu ist der Busch also auch noch da. Aha … Aber das war sicher nicht der tiefere Sinn dieser Aktion.

Ach, keine Ahnung, alles total schräg hier heute. Ich weiß gerade nicht, was mich mehr irritiert, die eingeschnürte nackte Frau hinter mir in diesem riesigen, weißen Igluzelt, oder diese vielen Jünger vor mir in der Backsteinhalle, als plötzlich Matthieu neben mir steht.

Wir geben uns Küsschen rechts und links. Ich freue mich sehr, dass er doch noch gekommen ist.

»You look like a snow …, like a snow something«, sonort er wunderhübsch mit seinem nur leicht französischen Akzent. Wir lächeln uns an. Ich verstehe erst gar nicht, wie er darauf kommt, doch dann fällt mir meine helle Aufmachung ein: Cremefarbener Mantel und Schal, sogar meine Handschuhe sind weiß.

Nach all diesen seltsamen Parallelwelt-Momenten beruhigt mich sein vertrautes Gesicht, obwohl das eigentlich seltsam ist, denn wir haben uns schon irre lang nicht mehr gesehen, über ein Jahr lang bestimmt nicht, und da ist noch etwas … Durch den Fünftagebart wirkt er älter, weiser oder … wie ein weit gereister Lebemann, wozu seine hellblauen Augen und dieses Whiskyglas in der handschuhlosen Hand gut passen. Dass er mir noch besser gefallen könnte, als er mir schon immer gefallen hat, macht mich verlegen. Lächelnd schüttele ich mich kurz. Matthieu schlägt vor, reinzugehen. Nein. Ich will noch nicht. Dass ich lieber allein mit ihm hier draußen bin, behalte ich für mich. Ob er die Performance schon gesehen hat, frage ich auf Englisch.

Nein. Aber er kennt die Künstlerin, sagt er.

Ich erzähle von der Schere, die ich mir ganz plötzlich wünschte, nachdem ich dabei zugesehen hatte, wie sie am Anfang im Kreis laufend langsam dem schicken Geschäftsfrauenanzug entstiegen war, um dann in der Mitte des Zeltes stehend, zitternd, zuckend und wimmernd, von einer anderen Frau mit einem pinkfarbenen Band eingewickelt zu werden. Aber als mir nach einer Weile so langsam schwante, dass dieses Band kilometerlang sein musste – bei dieser riesigen Spule, von der es abgerollt wurde –, da habe ich mich gefragt, ob ich diese Szene tatsächlich noch bis Kilometer eintausend aushalten will, nur um schlussendlich eine Frau in einem fetten pinkfarbenen Schnürkokon stecken zu sehen. Und so ohne Schere und genügend Mumm, dieser Aktion ein Ende zu bereiten, bin ich dann raus, ratlos, was mir das alles sagen sollte, weil, wäre die Frau vor dem Eingewickeltwerden ausgelassen und wild durch das Zelt getanzt, hätte ich es vielleicht ja noch kapiert, aber warum sie stattdessen bloß rumgestanden und gejammert und gezuckt hat … plappere und plappere ich und finde, ich rede viel zu viel zu viel … Ich hole tief Luft.

Matthieu scheint meine gestisch wild untermalten Gedankengänge ziemlich witzig zu finden. Sein Lächeln gefällt mir jetzt zwar, aber ich weiß nicht so recht, ob es vielleicht bedeuten kann, dass er mich nun für eine Dumpfbacke hält. Er meint dazu nur ganz diplomatisch, dass ihn Kunst langweilen würde, die man nehmen, kategorisieren und in eine Schublade stecken kann. Das mit der Schere gefällt ihm, sagt er dann aber zum Glück auch noch, und dass er es gut gefunden hätte, hätte ich mich da eingemischt. Er kann mich später Vania Rovisco vorstellen, um ihr meine Eindrücke zu schildern, schlägt er vor. Dann lacht er.

Ich schäme mich. Er stellt sich gerade vor, wie ich mit der eingewickelten Frau spreche, erklärt er zu meiner Erleichterung. Und dass sie vielleicht sogar sehr froh darüber wäre, würde ich sie während unseres Gesprächs wieder freischnippeln.

Stimmt, das wäre schon ganz witzig. Aber »No, thanks«, ich muss gleich los, lasse ich ihn wissen.

In Wirklichkeit will ich weg. Weg, weil mir schlagartig bewusst wird, dass wir wie die Blöden flirten, und dass ich dem nichts entgegenzusetzen habe, außer diesem langsam immer dünner werdenden Band, das mich mit Tom verbindet.

»Bye«, säusele ich, flirtflirt zu ihm raufblinzelnd – lächelnd …

So ist es immer schon gewesen mit Matthieu. Es ist völlig egal, was wir tun oder was für einen Quatsch wir reden. Wir fühlen uns zueinander hingezogen, angezogen, bis es nicht mehr sehr lang dauert, und dann sind wir ausgezogen. Warum ich ihn heute nach so langer Zeit wiedersehen wollte, weiß ich selbst nicht so genau. Ich hätte das hier eigentlich wissen müssen. Oder bin ich gerade deshalb hier? Nein, das darf und wird heute nicht sein. Dass ich das plötzlich schade finde, beunruhigt mich jetzt schon ein wenig, und dann auch noch sein Blick jetzt, oder dass er sich nicht von mir verabschiedet, nur lächelt, mich ansieht, wie er mich ansieht, den Kopf leicht zur Seite neigt und lächelt und lächelt … Dieser Moment ist schon ziemlich scharf an der Grenze, ich sollte gehen, aber ich kann einfach nicht wegsehen, bin hypnotisiert, und ehrlich gesagt, fühle ich mich gerade auch viel zu wohl unter seinem einlullenden Blick.

Wir rühren uns eine ganze Weile nicht. Sprechen nicht … nicht … nicht … Das geht gut mit ihm. Jetzt erinnere ich mich wieder. Auch deshalb mag ich seine Gegenwart. Sprechen war gestern.

Als er seinen Arm anhebt, zieht es mich leicht magnetisch an seine Schulter, dann schlingt er den Arm um meine Taille, unsere Körper docken an – eng, schön eng, schön nah. Ich seufze hoffentlich unhörbar. Sein Mantelkragen riecht nach ihm, Ölfarbe und Winter. Ölfarbe? Ich weiß im Grunde gar nichts über ihn. Das gefällt mir.

Er flüstert mir ins Ohr, wir hätten gerade den Kussmoment verstreichen lassen. Sein Bart an meiner Wange ist lang genug, um nicht zu piksen. Ich nicke zwar, aber flüstere, dass wir wohl beide unsere Gründe dafür haben.

»There gonna be a next time, right?«, fragt er etwas unsicher, was ich unheimlich süß finde, dann lässt er mich los. Mir ist kalt.

»Sure«, antworte ich, mache einige Schritte rückwärts, weg von ihm. Schnell weg hier, obwohl ich es doch gar nicht will. That’s it …

»Bye …«, rufe ich im Rückwärtsgehen und hebe meine Hand.

»See you«, ruft er und deutet eine leichte Verneigung an. Nice!

Umdrehen. Gehen. Nicht umdrehen. Gehen … Tief kalte Luft einatmen. Tief warme weiche Wölkchen aus. Lächeln. Lächeln. Lächeln.

Zärtlichkeit hat Zeit, fällt mir auf dem Weg zur S-Bahn ein.

Stimmt … Matthieu wirkt nie gehetzt. Und wenn ich an unsere Begegnungen denke, dann fühlen sie sich in meiner Erinnerung an, als hätten sie nicht wirklich stattgefunden, wie geträumt … Seltsam, an unseren Sex kann ich mich kaum erinnern. Jetzt aber schnell, die Bahn sirrt oben schon rein.

*

Holla! Abends ist die Bahn viel voller als morgens auf dem Weg zur Uni. Völlig außer Atem werfe ich mich in die Ecke eines freien Vierersitzes, wo warme Heizungsluft seitlich an meinem Bein aufsteigt. Mit der Bierflasche in der Hand bin ich unauffälliger Zaungast der ausgelassenen Partymeute. Drei junge Hipsterteenies lassen sich auf die freien Plätze um mich herum fallen, zwei andere bleiben neben uns stehen. Meinen warmen Fensterplatz in Fahrtrichtung gebe ich bestimmt nicht her, sollen die doch woanders chillen.

Außerdem ist diese gut gelaunte Truppe hier verdammt hübsch anzusehen. Es gibt sie also doch in dieser Welt, die schöne, gesunde Jugend aus der Smartphonewerbung. Prompt läuft dazu der passende Song in meinem Kopf, aber den will ich da jetzt nicht drin haben. Ich stöpsele mir meine Musik in die Ohren. Radiohead. House of Cards. Mein Immergrün. Ganz passender Soundtrack gerade, weil geschmeidig. Alles bewegt sich im Rhythmus. Video.

Tagsüber sehen die Leute anders aus. Oder macht die Nacht die Menschen schöner? Die hippe Hauptstadtjugend liefert gerade styleblogtaugliche Bilder und coole Werbefilmsequenzen ab. Unsichtbar hocke ich vor der Glotze – in meiner Ecke – und mag diesen Zustand gerade sehr, denn das ist und war schon immer meine favorisierte Superkraft.

Ein Mädchen setzt sich auf den Schoß des Jungen neben mir, sie lehnt sich an seinen Kopf, um mit ihm ein Selfie zu schießen – schnell verziehe ich mich aus der Schussrichtung hinter ihren Rücken. Boah, das nervt! Als ob es nichts Geileres gäbe, als seine Fresse ungefragt von Fremden im Web veröffentlicht zu sehen. Aber dann gefällt mir die Vorstellung doch, dass meine grummelige Visage unsichtbar veröffentlicht wird. Cool! Unbombing nenne ich das und mach ’ne Tumblr-Seite draus. Oder muss es Nonbombing heißen? Kann ich ja mal googeln. Obwohl, besser nicht, am Ende bekomme ich noch Stress an der Flughafenkontrolle, und ich muss ja vielleicht nach Kapstadt dieses Jahr, im Sommer dann …

Auch an der nächsten Station reges Ein- und Aussteigen aufgebrezelter Leute mit Flaschen in den Händen, jung und alt, immer und immer mit den gleichen Vorglühfantasien. Hört das jemals auf?

Bevor Lasse in drei, vier Jahren mit seinen Freunden abends loszieht, müssen wir unbedingt unsere Reviere abstecken. Nicht, dass wir uns eines Nachts auf der Tanzfläche gegenüberstehen. Urgs … neee … bloß nicht! Ich hoffe aber inständig, dass er sich damit noch etwas Zeit lässt. Wenn Schnucki wüsste, dass deine Mudda! jetzt schon mit dem Gedanken spielt, jeden seiner Ausgehschritte per GPS orten zu lassen. Besser, er würde da nach seinem ausgehfaulen Vater geraten und wir alle könnten uns entspannen, wo wir gerade sind. Noch spricht einiges dafür. Lasse spricht nicht mit mir. Nicht wirklich. Ganz der Papa.

Wie laut und freudig sich hier alle in die beißend kalte Nacht heut stürzen … Nein, ich will noch nicht heim. Ein kleiner Absacker noch … und ein wenig ganz geschmeidig zärtlich zeitlos so in Kussmomenten schwelgen …

2.

Perle

Das Schwarzsauer ist wie immer rappelvoll um diese Zeit, in die verrauchte Luft kann man Schneisen schlagen. Aus übersteuerten Boxen spult sich die übliche 80er-Kassette ab. Damit kann ich heute leben. Dann fühle ich mich jetzt eben auch wie zwanzig. Der Tresen ist von allen Seiten besetzt und in zweiter Reihe umlagert. Also dauert es eine ganze Weile, bis ich mich so weit vorkämpfen kann, um meine Bestellung loszuwerden, und da sehe ich … Oh! Mein süßer Barmann arbeitet heute. Tolltolltoll! Dann kann ich mir wieder den gesamten Abend über einbilden, er würde supersubtil mit mir flirten. Ich meine damit diesen Blick da gerade zu mir rüber, der trotz seiner profimäßigen Coolness immer diesen Schimmer eines klitzekleinen Hey!-Du-hier?-Lächelns für mich übrig hat. Doch, doch, so ist das und nicht anders. Richtig gute Barleute haben das eben drauf. Nicht zu nah und nicht zu fern. Und wenn man dann im Laufe eines Abends einmal ihr großes Strahlelächeln erhaschen kann, dann durchfährt es einen süß und wohlig – Honig.

Da! Er guckt! Ich strahlelächle. Er deutet auf ein großes Bierglas vor dem Zapfhahn. Ich nicke. Hach, dass er sich auch noch an meine Trinkgewohnheiten erinnert. Was für ein Profi von superguter, supersüßer Barmann!

Um zu bezahlen, muss ich mich zwischen zwei Typen am Tresen quetschen, die die Unterbrechung ihres Gesprächs damit quittieren, ungeniert mein Profil von rechts und links zu begaffen. Ich hasse distanzlose Menschen. Erst jetzt bemerke ich, dass um die Bar herum lauter Sakkoträger, wie die beiden blöden Grinsebacken hier, herumsitzen und -stehen. Und da fällt mir auf, dass auch der überwiegende Teil der holden Weiblichkeit heut Abend diesen Dresscode zu präferieren scheint. Was geht denn hier ab?

Endlich bekomme ich mein Glas auf den Tresen gestellt, ich reiche einen Schein rüber, mein Barmann schnappt ihn sich, und als er mir das Wechselgeld zurückgibt, nimmt er meine Hand in seine und legt das Geld in meine Handfläche. Ich lächele bestimmt bekloppt und pink angelaufen, er eher siegesbewusst oder irgendwie so, ich weiß nicht … Hilfe! Der macht mich echt wuschig, der Typ. Aber: Wow! Das war echt frech, Mann. Nein! Voll süß, war das! Ich liebe unsere Kommunikation.

Hübsch verwirrt im Kopf mit meinem Bier in der Hand versuche ich, mich etwas von diesen Glotzern wegzubewegen, aber weil es so irre voll ist, weiß ich nicht wohin. Also bleibe ich erst einmal stehen, wo ich bin, obwohl ich rein gar nicht auf Gruppenkuscheln stehe, also in diesem nüchternen Zustand zumindest nicht, aber ich will hier doch noch ein, zwei Barmann-Blicke erhaschen.

Puh, ist mir heiß. Einhändig versuche ich, ohne das Bier zu verschütten, meinen Hals vom Schal zu befreien und den Mantel aufzuknöpfen. Plötzlich will mir jemand mein Bierglas aus der Hand nehmen. Ich greife fester zu. Ein ganz ansehnlicher Typ lächelt freundlich. Er deutet an, mir behilflich sein zu wollen. Ach sooo.

Zu mir runter geneigt, beschwert er sich, dass er von den Barleuten einfach übersehen wird, was ja einer so »strahlenden Schneeflocke« wie mir gar nicht passieren kann. Nachdem ich meinen Mantel aufbekommen habe, nehme ich ihm mein Glas wieder ab.

Hä? Warum guckt der denn jetzt so? Hat er was gefragt? Was hat er gesagt? Zum Glück ist er endlich dran mit seiner Bestellung.

Ich sehe mich um, ob ich vielleicht jemanden kenne … Nö. Und das Klientel hier heute gefällt mir auch nicht. Keine schrägen Vögel, keine umwerfend schönen Mädchen, kein interessanter Mann … Plötzlich prostet mir der Typ von eben zu und stellt sich neben mich, er bleibt da stehen und stehen … wir trinken und stehen und lassen unsere Blicke schweifen … Also was soll’s, da wir nun schon einmal nebeneinanderstehen, frage ich, ob er auch zu dieser Sakkoträgertruppe gehört, weil er mit seinem weißen Hemdkragen, der aus dem V-Ausschnitt-Pulli ragt, schon ganz gut dazu passen würde. Leider muss ich dann nach einigen Sätzen erfahren, dass er Ghostwriter eines FDP-Funktionärs ist.

Nee! Mich jetzt mit dieser Gesinnung auseinanderzusetzen, dazu habe ich echt keinen Bock. Und in welchem Universum kann man damit eigentlich angeben? Da hocke ich lieber allein in einer Ecke, wenn denn hier endlich eine frei wäre. Er fragt, ob ich mich zu ihm und seinen Kumpels setzen will, von denen wir wahrscheinlich schon die ganze Zeit über begafft worden sind, so wie die zu uns rübergrinsen – voll grenzdebil.

No way! Es ist mir ein Pläsier, ihm reinzudrücken, dass sie sich der falschen Partei angeschlossen haben. Und weil ich jetzt nicht die geringste Lust verspüre, auf seine blöden Beschwerdefragen einzugehen, verschwinde ich aufs Klo, wo sich eine blonde Hanseatentochter die Hände wäscht und wäscht – das kommt mit der Zeit wie eine Zwangsneurose rüber –, während ich darauf warte, dass sich endlich eine Klotür öffnet. Im Spiegel weicht sie meinem Blick aus. Ich ihrem dann eben auch – pfff – und glotze ihr stattdessen auf den Arsch. Na ja, von vorn sieht sie auch nicht besser aus: jagdgrüner Kaschmir-Angora-Alpaka-Brustrauten-Rolli mit integrierter Perlenkette – oder was? Wo bin ich heute hier gelandet?

Die Klospülung rauscht. Aus der Kabine quietscht es: »Duhuuu, Sissy, ich brauch mal deinen Lippiii.«

What the fuck!

Endlich öffnet sich eine Tür. Sissys Pendant in Weinrot und Brünett macht mir den Weg frei.

Sissy?! Lippi?! Rolli?!

Aaarrrgh! Hier kann ich nicht bleiben. Ich will nach Hause in mein Nest. Das hochfrequente Geschnatter der beiden vor meiner Klotür überpullere ich lautstark.

In der Bar sehe ich nur noch Anzug-Schnullis. Mein noch gar nicht leer getrunkenes Glas stelle ich auf einem Tisch ab. Ich knöpfe mir gerade den Mantel zu, setze meine Mütze auf, da tippt mich dieser Ghostwriter noch mal an, er grinst ganz blöde, druckst herum und herum …

»Was?«

Und dann raunt er mir ins Ohr, er hätte gerade mit seinen Kollegen gewettet, ob ich wohl eine rasierte Muschi habe.

»Kannst du das noch mal wiederholen?«, frage ich entgeistert.

»Sag doch ma’!«, grölt er gut gelaunt und ich bekomme eine Ladung seines Bieratems ab. Ich möchte speien!

Hinter ihm sehe ich die Kollegen auf der Sitzbank ertappt zur Seite grinsen. Der Blödi hier vor mir ist wohl ihr Kanonenfutter, so wie die sich einen abkringeln, nur ist mir meine Energie viel zu wertvoll, um sie für solch einen Milchbubischeiß hier zu verschwenden. Schnell raus hier!

Aber auf dem Weg zur U-Bahn kocht so eine Wut in mir auf … ich möchte allen dreien eine in die Fresse hauen – mit der Faust. Dann fällt mir etwas anderes ein. Ich krame in meiner Tasche, drehe um, stapfe wütend wieder ins Schwarzsauer rein und drängele mich bis an ihren Tisch durch.

Als ich mir das Handgelenk des Ghostwriters schnappe, ist er erst erschrocken, er wirft seinen Bubi-Bros einen Blick über seine Schulter zu, die machen ihm große Augen, und sieht mir dann ziemlich irre grinsend dabei zu, wie ich ihm auf den Unterarm schreibe: Peaches – Set It Off. Ich lasse seinen Arm fallen. Er liest und scheint das nicht zu kapieren. War ja klar. »Googeln hilft«, schreie ich ihn an und weg bin ich. Was für spätpubertäre Vollpfosten!

*

Und da fährt sie hin, meine Bahn! Mist! Das kostet mich jetzt zehn Minuten in Arscheskälte. Saudumme Ärsche, verdammte! Nein, bleib ruhig, Eva. Die sind es nicht wert. Boah, ist das kaaalt! Ich will ins Bett. Nein, das war jetzt kein guter Abschluss für diesen Abend. Endlich gehe ich nach Jahrhunderten mal wieder allein aus und dann so was … Bibbernd trampele ich auf dem Bahnsteig auf der Stelle herum und hauche Gewitterwölkchen aus …

Was kotzt es mich an, dass die hier frei herumlaufen dürfen. Die sollen im Bundestag ihre Prollpartys abhalten. Jetzt muss ich mir schon wieder eine neue Bar suchen. Die haben nicht das Recht, jeden guten Laden mit ihrem Dünnsinn zu verpesten! Der Russenclub war nach deren Afterworkpartys auch dem Untergang geweiht. Und ich war früher echt gern in diesem Laden.

Wenn die sich schon überall einnisten müssen, dann sollen sie wenigstens ihre bescheuerten Mäuler halten, diese Dumpfbackenvollpfostenoberdeppen aus Kleinposemuckeldorf – benehmen sich in meinem Bezirk als gäbe es kein Morgen – wie der letzte Saufprolltourist, verdammt! Genau solche Typen sind nämlich der Grund, weshalb ich meinen Muschipelz schön hege und pflege. Genau wegen dieser gottverfickten Pornoficker! Die glauben doch, dass die Weiber auf ihren Barhockern nur darauf warten würden, so als Restefick mal eben abgeschleppt zu werden, um sich in der nächsten Hausflurecke von ihnen durchnudeln zu lassen, bevor diese geistig verwahrlosten Vollpfosten dann nur drei Häuser weiter torkeln, wo sie sich vom eigens für sie angebauten Hinterhof-Fahrstuhl unters Dach ihres Altbaulofts auf dem P-Berg in ihre stylishe Vintageeinrichtung befördern lassen, um nach einer Spurenbeseitigungsdusche neben ihre Macchiatomuttis zu kippen und mit ihren schrumpeligen Schlappschwänzen in Händen strunzbesoffen in den Tiefschlaf fallen. Erbärmlich! Die sollen zurückverschwinden auf ihr Deppendorf Schützenfest und sich hinterm angepissten Festzelt in den Büschen einen auf die Nacktmuschis ihrer Online-Porno-Göttinnen runterholen. Geht mit Gott! Aber verschwindet verdammt und gottverfickt noch mal!

3.

Yolo

Vor dem Kaffee Burger stehe ich in einer kurzen Schlange. Bei der Lautstärke hier auf der Straße kann man die Musik drinnen nicht so richtig hören. Wenn der Kaminer auflegt, klaue ich ihm seine Kassette. So nach fünfzehn Jahren muss es doch endlich mal genug sein mit Balkanpop. Als ob es keine verdammt gute neue Musik gäbe. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich Troll wie ferngesteuert hier gelandet bin. Wollte ich nicht in mein Bett? Ich bin so doof. Und aggro bin ich auch, und zwar so was von … Wenn mir jetzt einer komisch kommt …

An der Tür sitzt Matze, nickt mir sein Hallo, als wäre ich erst letztes Wochenende hier gewesen. Ich zahle, halte ihm meinen Unterarm für den Stempel hin. Gefahrgut!, lese ich, und grinse ihn an, er ist aber schon mit dem nächsten beschäftigt. Also rüber zur Theke. Die Barmenschen sind auch noch dieselben, und weil ich damals schon zum Inventar gehörte, sieht mich der eine von ihnen jetzt sehr freundlich lächelnd an.

Ich zeige auf einen Bierhumpen vor dem Zapfhahn. »Radler?«, fragt er. Ich nicke und lächle mein Dankeschön. Kann ja vielleicht doch sein, dass ich erst letztes Wochenende hier raus bin – eben ferngesteuert rein und wieder raus –, was weiß ich … nichts hat sich verändert.

Mit meinem großen schweren Radlerhumpen stelle ich mich wie immer an die Tanzfläche. Den DJ kenne ich allerdings nicht.

»Ooh baby looove, my baby looove. I need you. Oh, how I need you. But all you do is treat me bad. Break my heart and leave me sad. Tell me, what did I do wrong. To make you stay away so long …«, singen einige Mädchen beim Tanzen mit, imitieren diese verhalten schicklichen Schunkelbewegungen der Surpremes und schnipsen dazu. Im Ernst? Geht’s noch?

Ich möchte jeder einzelnen mit ihrem Handtäschchen eine Schelle an den Hinterkopf verpassen, damit da drinnen alles wieder an die richtige Stelle fluppt. Ich hoffe, sie kapieren nicht, was sie da mitsingen.

Irgendwann kommt dann durch die fröhlich schunkelnde Menge ein Typ auf mich zugesteuert.

Nein! Hau ab!Ich sehe möglichst gelangweilt weg, aber aus den Augenwinkeln kann ich erkennen, dass er weiter auf mich zukommt. Ich drehe mich zur Seite. Dreh ab! Du kapierst das jetzt und drehst ab … geh weg … bleib weg! … Nein!

Er steigt auf den Treppenabsatz zu mir hoch und stellt sich neben mich, schreit runter in meine Richtung:

»Du siehst ja aus wie Vanessa Paradies. Nur vergrätzter irgendwie. Ha! Das hat sich ja gereimt. Cool!«, findet dieser Typ.

»Depp!«, sage ich.

»Was?«, schreit er.

»Und du siehst aus wie Johnny Depp. Lass uns doch ein paar Kinder adoptieren«, schreie ich zurück.

»Waaas?«

Verdammt, wie peinlich. Das mit den Adoptivkindern sind Brangelina, ich Blödchen.

Ich verziehe mich besser in die Raucherbar.

Was für ein Schwachsinn! Nie im Leben sehe ich so aus. Das hat mir noch keiner gesagt. Der Typ ist bestimmt mal mit dem Spruch bei irgendeiner Frau gelandet und … Ach, egal.

Hier drüben läuft ganz entspannte Elektromucke. Die gefällt mir wesentlich besser. Warum können die nicht einfach die DJs tauschen? Ich drehe eine Runde, aber es ist niemand da, den ich kenne. Und sobald ich mich hier hinsetze, so allein schöne Frau?, habe ich bestimmt gleich wieder den nächsten ignoranten Vollhonk an der Backe. Warum meinen Typen eigentlich, dass Frau permanent, wo sie geht und steht, so unbedingt wissen will, was Mann von ihr hält? Bin ich denn ’ne Pinnwand oder was? Wer hat eigentlich diese Unsitte aufgebracht? Es nervt! Und warum ziehe ich wohl ein vergrätzte Schnute? Weil ich so debil bin und meine Gesichtszüge nicht unter Kontrolle habe? Oder was?

Ich hatte völlig vergessen oder eher verdrängt, was mich hier erwartet. Ist doch nix Neues. Wahrscheinlich liegt es am Logo vom Burger. Die kommen hierher und bilden sich ein, sie seien Teufelskerle, die fette Brautbeute machen. Das war doch schon immer so. Wahrscheinlich bin ich bloß zu nüchtern für diesen Ort. Hier mag ich auch nicht mehr sein. Nirgendwo passe ich hin. Und bald trage ich einen Rautenrolli mit Perlenkette. Was bin ich für eine Zicke. Vielleicht wollte der Typ nur nett sein …

Ja, ja, so nett wie der Ghostwriterparteifuzzi …

Ich sollte gehen. Morgen kommt Tom … Wie spät ist es eigentlich? Nach diesem Humpen … ja, gleich … gleich gehe ich heim. Aber erst noch mal gucken, ob drüben keiner guckt …

Im Flur kommt mir Vito entgegen. »Hell! Yeah!«, ruft er, öffnet seine Arme, in die ich jetzt unheimlich gern laufe. Er verpasst mir feuchte Schmatzer auf die Wangen.

»Heeey, beauty ice queen! Are you comming or leaving?«, raunt er und lässt mich los. Vito darf das – von wegen Pinnwand. Außerdem finde ich beauty ice queen ganz lustig. Er sieht aber auch verdammt gut aus, so frisch rasiert … so jung … so strahlend und knackig. Na ja, jung ist er ja tatsächlich mit seinen Anfang dreißig. Mir fällt auf die Schnelle keine witzige Erwiderung ein, würde dann doch ziemlich pädorüberkommen, ihm zu sagen, dass er frisch und knackig aussieht. Und Gemüse ist er ja auch nicht. Wir stellen uns an die Seite. Eigentlich wollte ich gehen, sage ich ihm, aber das will ich jetzt nicht mehr. Da zieht eine dunkle Horde an uns vorüber, die rein gar nicht hierherpasst, weil die sind so … so rockabillymetallpunkig. Vito hält einen von ihnen am Arm fest und redet kurz mit ihm. Ich will wissen, woher die kommen. Vito erzählt, dass sie norwegische Freunde seines Mitbewohners sind und dass vier von ihnen in seiner WG übernachten.

»Fucking freaky mess! But big fun. I think, I’m drunk for three days now«, stöhnt er und lächelt echt schön. Besoffen wirkt er gar nicht. Zwei ganz gute Musiker sind dabei, mit denen sie schon ordentlich gejammt haben, erzählt er noch. Den Namen ihrer Death-Metal-Band verstehe ich nicht so richtig. Dann lädt er mich ein, sie zu joinen, was ich sehr gern tue, denn seine Freunde interessieren mich, außerdem muss ich dann hier nicht mehr als potenzielle Beute ständig Haken schlagen.

In der Raucherbar steht die Truppe vor dem großen runden Tisch. Wir quetschen uns auf die Sitzbank neben die anderen, Stühle werden angeschleppt. Ein an den Armen tätowiertes, dunkel angezogenes Mädchen mit schwarzen Amy-Winehouse-Haaren und knallroten Lippen, die so rot sind wie die Kirschen in ihrem weißen 50er-Jahre-Haarband, fläzt doch sehr grazil und klein wie eine Puppe auf dem Lederhosenschoß ihres furchteinflößenden Norwegerrockabillydeathmetallpunkfreundes. Sein kräftiger, bunt tätowierter Arm um ihre Schultern sieht sehr schwer aus, ist er sicher auch, und trotzdem beneide ich sie. Beide beneide ich. Ich weiß nicht so genau … für ihre Nähe irgendwie, oder … ach, ich weiß nicht, sie sind einfach schön zusammen. Zwei Typen bestellen an der Bar Getränke für uns. Ich kann mich gar nicht sattsehen an diesen Gestalten, ihren Piercings, Tattoos, Frisuren, Outfits, die völlig respektlos alle Styles krude durcheinanderwürfeln. Ein ganz schnuckeliger blonder Typ mit Popperhaarschnitt zwinkert mir zu. Ich proste ihm zu. Ob er auch Burlington-Socken trägt? Fände ich voll witzig. Voll cool. Alles an diesen Typen ist cool. Die wirken so … überhaupt nicht verkleidet. Echt. Authentisch eben. Und deshalb fühle ich mich jetzt selbst total cool, weil ich total cool, cool mit ihnen hier abhängen darf. Obwohl ich doch rein gar nicht zu ihnen passe, aber neben Vito geht es wohl okay, mit ihm so als Verbindungsglied.

Ha-ha! Sie hat Glied gesagt – würde Lasse jetzt grinsend rausprusten. Ich mag diesen Running Gag unter den Teenies gerade. Immer, wenn ein auch nur entfernt anrüchig klingendes Wort fällt, wird es in diesen Ha-Ha-Spruch eingepackt.

Tom sagt manchmal, ich bin ein Teenie.

Tom …

Nur ein Bier noch und dann gehe ich.

Nachdem alle einen Humpen haben, stoßen wir wie die Wikinger mit großem Geklong miteinander an. Norweger legen aber offensichtlich keinen Wert darauf, sich beim Anstoßen anzusehen. Das ist mir sympathisch.

Vito fragt, wohin ich denn verschwunden war die ganze Zeit. Ich erzähle von der Ausschreibung, meinem Haus, das jetzt in der Pampa steht, und von den zwei Seminaren, die ich darüber an der Uni abgehalten habe, und dass ich mich gerade für eine Beraterstelle bei der südafrikanischen Regierung beworben habe, die außerhalb von Kapstadt eine Kolonie von energieautarken Wohnmodulen errichten will, um die Leute aus den Innenstadtslums rauszuholen.

Vito macht große (hübsche) Augen: »Respect, Rock!«

Der Ausdruck in seinem Gesicht wirkt tatsächlich, als könne er es kaum fassen, was für eine steile Karriere ich hingelegt habe.

»Fuck! You made it! So you don’t have any money problems anymore …«, sagt, fragt, vermutet er. Da kommt so eine Welle Stolz in mir auf. Schnell runter damit. Ich nehme einen großen Schluck von meinem Humpen.

»Yes. I mean no. No money problems lately.«

»That’s cool!«, sagt er und nickt.

In meinem Kopf rotiert es. Ja, schon cool. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann ich mir das letzte Mal den Kopf darüber zerbrochen habe, ob das Geld reichen wird, um alle Rechnungen zu bezahlen.

Vito lehnt sich zu meinem Ohr runter. Er haucht: »So if you need a toy boy, just text.«

Breit grinsend nicke ich und kann nichts dagegen tun, mich total verwegen zu fühlen. Es geht mir hier ganz prächtig mit meinem zuckersüßen italienischen Ex-Lover und potenziellen Toy Boy in dieser Horde schöner, wilder Norweger. Wie cool das alles gerade ist. Das hier, das sind die Stimmungsbilder, die mich rumkriegen würden, mir endlich auch ein Smartphone zuzulegen.

Aber dann fällt mir ein … als wir uns kennengelernt haben, war ich eine depressive Hartz-IV-Aufstocker-Minijob-Sekretärin, der ein Jahr lang mit einem Festvertrag für eine Halbtagsstelle vor der Nase herumgefuchtelt wurde, aber in Wirklichkeit hatte niemals jemand vorgehabt, ihr diesen Vertrag vor die Nase zu legen. Wenn ich an diese miese Zeit und üble Verarschekackscheiße denke, werde ich wieder völlig aggro. Nein, das ist dunkelste Vergangenheit. Mein Jetzt-und-Hier ist spitzenmäßig! Yes, es ist so weit. Morgen besorge ich mir ein Smartphone und poste jeden Moment meines Vorzeigelebens. Lächelnd lehne ich mich mit dem Rücken an Vitos Oberarm, der hebt ihn an und hängt ihn mir um den Hals. I like. So what?

Zwei Frauen kommen auf unsere Runde zu. Sie werden ganz groß von den anderen begrüßt. Vito rückt etwas von mir weg, um ihnen auf der Bank Platz zu machen, ich rücke wieder an ihn heran, wieder unter seinen Arm. Die umwerfend hübsche Blondine von den beiden setzt sich neben mich. Sie sagt lächelnd: »Hi!« zu Vito rüber, er hält ihr die Hand zu einem High five hin, sie klatschen ab. Ihre Zähne perfekte Perlen. Ihre Lippen die perfekte Welle. Da wird mir klar, dass die beiden entweder schon miteinander gevögelt haben oder aber wollen, also ganz sicher werden. Ich rutsche weg von Vito, mit dem Rücken an die Lehne.

Unter ihrem blonden schnurgerade geschnittenen Pony trägt sie ein Twiggygesicht. Sie ist eindeutig der Traum seiner schlaflosen Nächte, das weiß ich, weil er auf Facebook vornehmlich mit solchen Szene-Grazien befreundet ist. Ein wenig traurig bin ich schon, dass ich bei ihm für heute abgeschrieben bin. Aber okay. Die beiden passen zusammen wie Arsch auf Eimer. Ich sollte jetzt echt einfach mal die Biege machen.

Über der Bar sehe ich mir in den Fernsehern an, was drüben auf der Tanzfläche los ist. Bock, noch etwas zu tanzen, hätte ich schon, wo ich schon mal hier bin. Die Menge hüpft eng aneinandergequetscht fröhlich auf und ab und auf und ab … Die entsprechende Mucke dazu höre ich schon in meinem Kopf. Besser ich bleibe doch noch etwas, wo ich bin.

Vito fragt meine Sitznachbarin über meinen Schoß hinweg, wo sie gerade herkommen. Sie sagt ihm über meinen Schoß hinweg, dass sie Döner essen waren. Ich rieche dann auch ihren Zwiebelatem. In meiner Manteltasche krame ich nach einem Kaugummi, will aber noch warten, ihn in meinen Mund zu stecken, bis die beiden ihre Konversation über meinem Schoß beendet haben. Ein ganz klein wenig beuge ich mich vor, um unauffällig an ihren Haaren zu riechen. Ich rieche aber nichts, weil sie doch noch zu weit weg ist, und näher traue ich mich nicht an sie heran. Dann stellt Vito mich ihr mit den Worten vor: »This is Eva. She’s one of my good old friends here in Berlin. And she’s a fucking architect for ecohouses or something like that!«

Ich stecke mir das Kaugummi in den Mund.

»I don’t believe!«, raunt sie begeistert und erzählt mir, dass sie gerade dabei ist, ihren Bachelor in Architektur in Amsterdam zu machen, und dass sie unbedingt dort studieren wollte, weil sie voll darauf abfährt, was die da an Ideen für schwimmende Inselsiedlungen vor den Küsten haben, für den Fall, dass das Land eines Tages mal unter Wasser steht. Ich liebe sie. Ich hasse sie! Ob sie ein Kaugummi möchte, frage ich.

Keine Ahnung, wie lange wir uns schon über verrückt-visionäre niederländische Auf-dem-Wasser-Architektur, nachhaltiges Bauen und über die Rettung der Welt unterhalten, aber so langsam würde ich jetzt ganz gern tanzen. Wir haben uns gegenseitig lauter Webadressen, Namen und Stichworte aufgeschrieben, und sie ist dermaßen fit im Kopf, dass ich echt nicht anders kann, als sie in mein Herz zu schließen. Wir wollen Facebook-Freunde werden. Morgen bin ich mit einer norwegischen einundzwanzigjährigen obersmarten werdenden Architektin aus Amsterdam befreundet! Diese Welt ist so mini. Ich liebe Berlin! Und ich liebe solche Nächte. Aber jetzt muss ich dringend pullern und will gucken, was drüben los ist. It’s your turn, Vito honey, brabbelt es in meinem Kopf.

Als ich aufstehen will, zieht er mich aber auf die Bank zurück. Ob ich gehe, fragt er. Nein, und dass ich nur meine Klamotten abgeben will, sage ich.

Dann lächelt er mich zuckersüß an und sieht zu meiner Sitznachbarin rüber: »I should have studied architecture«, sagt er, hängt mir seinen Arm um den Hals und schüttelt mich etwas im Schwitzkasten. »Stay, Rock«, säuselt er.

Kichernd winde ich mich aus seinem Arm und zupfe an meinen Haaren. Ach, Vito ist so ein süßer Welpe.

*

Nach dem Pullern stelle ich mich im Flur an der Garderobe an. Neben mir steht eine junge Frau, die ihre Sachen schon auf den Tresen gelegt hat. In unserem Rücken hören wir: »Übrigens, ich habe einen gaaaaaanz kleinen Lulli.« Wir Frauen sehen uns verdutzt an und lachen los. Ich drehe mich grinsend um. Der Typ steht allein da, hat also mit uns geredet. »Lulli?«, frage ich. Völlig zugedröhnt versucht er, mein Gesicht zu fokussieren. Seine Augen sind rosa um die Iris herum, die Lider fallen und öffnen sich in Zeitlupe, er schwankt leicht vor und zurück. »Ja, echt. So klein …,« piepst er mit Fistelstimme, hält seine Hand hoch, Daumen und Zeigefinger bewegen sich aufeinander zu und wieder auseinander. Ich kann nicht anders, ich muss wieder lachen. »Du weißt doch, die Größe ist nicht so wichtig«, sage ich großgönnerhaft. Die Frau neben mir prustet los.

»War nur Spaß … in Wirklichkeit …«, lallt er, aber ich unterbreche ihn vorsichtshalber schnell: »Nur mal so für die Zukunft, vielleicht solltest du mit anderen Vorzügen prahlen.«

Er grinst ganz breit irgendwohin in die Leere neben oder hinter mir: »Wieso denn? Ihr habt doch gelacht«, nuschelt er, mit den Händen in den Hosentaschen wankend.

»1:0 für dich!«, gebe ich zu und Mantel und Tasche ab.

Eigentlich ’ne ganz gute Strategie. Ich meine, wenn man dem anderen gleich seine Macken auftischen würde, dann könnte man sich eine Menge Zeit und Stress ersparen. Der gesamte verliebt verblendete Umweg, bis man dann doch eines Tages vor der blanken Realität steht, bliebe einem erspart.

An der Bar bestelle ich ein großes Bier, kein Radler, und stelle mich mit dem Humpen auf meinen Treppenabsatzplatz – ja, genau das ist mein Platz! Müsste nicht so langsam mal der DJ wechseln? Wie spät ist es? Hübsch besoffen fühle ich mich jetzt auch inzwischen. And fuck! I love it!

Das Gespräch mit Solvejg war echt gut gerade. Verdammt! Einen schönen Namen hat diese Fjord-Fee auch noch. Was hab ich mit einundzwanzig so getrieben? Ich habe fröhlich alles studiert, wonach mir gerade war … aber so zielstrebig wie Solvejg, so zielstrebig wie all diese jungen Leute heute, war ich nie. Wir konnten immer jobben, hatten mehr Zeit und brauchten kaum Geld. Ja, das wird es sein. Diese Smartphone-Generation ist immer an- und abrufbar, sie springen, wenn Springen angesagt ist, sie haben gelernt, mit der Informationsflut zu jonglieren, sie wissen immer Bescheid, sie sind schnell, schneller fertig, schneller reif, schneller erwachsen. Und was haben sie davon? Keine Arbeit, oder mies bezahlte Arbeit oder ein Ende als ewig ausgebeutete Praktikanten. Deshalb wohnen sie so lang wie möglich bei ihren Eltern, hüpfen auf der Tanzfläche zu Retroliedern, kleiden sich und wohnen vintage, werden immer konservativer, sehnen sich nach Geborgenheit, Sicherheit, nach Traditionen, sind religiös, wollen heiraten, essen vegan und träumen heimlich von einem Hollywood-Märchen-Leben in ihrem Schlösschen – aber ein Schloss muss es schon sein, ausgestattet mit Elitemarken, regionaler Biokost auf dem Tisch und der täglichen Yoga-Stunde vom Personal Trainer. Kein Wunder also, dass der Punk heute nur noch als Niete in der Designerklamotte abgeht.

Ehrlich, ich will heute nicht jung sein. Die Jugend tut mir leid. Sie hat Angst vor jedem Pups. Und wenn ich heute jung wäre, hätte ich auch Angst vor jedem Pups. Aber ich bin mit einem anderen Grundvertrauen aufgewachsen. Denn meine größte Sorge als Studentin war, ob die Wartenummer in meinen Fingern gut genug sein würde, um im Gedrängel vor der Theke des überfüllten, stickigen AStA-Raums einen der heiß begehrten Unkrautzupfjobs für den Nachmittag ergattern zu können, damit ich abends im Club meine Drinks und Zigaretten selbst bezahlen konnte, statt einen der Typen anschnorren zu müssen, die um mich herumlungerten. Das war dann schon alles an Leistungsdruck, dem ich damals ausgesetzt war.

Gibt es eine Sorglose-Jugend-App? Jepp! Morgen werde ich ein Crowdfunding für mein fesches Start-up einrichten und nach zwei Jahren verscherbel ich den Laden für Milliarden an eine fette Datendieb-Netzkrake.

*

Auf einmal steht Vito vor mir. Mit ausgestreckten Armen lächelt er zu mir rauf.

»You look like a fucking businesswoman, Rock«, stellt er fest, und ich stelle nun auch fest, dass er fucking recht damit hat. Kein Wunder also, dass mich der fucking Ghostwriter in dieser Aufmachung für Seinesfuckinggleichen gehalten hat. Aber ich habe mich heute doch bloß für diese Südafrika-Besprechung an der Uni so aufgebrezelt, und es war ja auch gar nicht geplant, dass ich heute hier auflaufe. Ich schäme mich vor Vito für dieses Outfit und versuche völlig umständlich, auf Englisch zu erklären warum und wieso. Er findet mich aber