Im Netz - Eva Rossmann - E-Book

Im Netz E-Book

Eva Rossmann

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  • Herausgeber: Folio Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Fake, Fakten und Freundschaft. Was ist Wahrheit? Wem kann man noch trauen? Carlo Neuhaus importiert italienische Spezialitäten. Er ist ein Liebling der Medien, sozial engagiert. Nach Gerüchten über Schlepperei und Drogenhandel wird er in seiner Öko-Villa tot aufgefunden. Wurde er über die "sozialen Medien" in den Tod gehetzt? Warum ist sein IT-Experte verschwunden? Wie viel zählen Fakten, wenn es um Quoten, Likes und Meldungen in Echtzeit geht? Wien als Drehscheibe von Cyberlegionären. Von Rufmord über Propaganda bis zur Staatskrise – wer zahlt, dem wird geliefert. Die Journalistin Mira Valensky und ihre Freundin Vesna Krajner auf der Suche nach der Realität.

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Seitenzahl: 432

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Foto © Barbara Pacejka

Eva Rossmann, 1962 geboren, lebt im Weinviertel/Österreich. Verfassungsjuristin, politische Journalistin, ORF-Pressestunde, Ressortleiterin für Innen- und Europa-Politik, seit 1994 freie Autorin und Publizistin.

Sachbücher, Kriminalromane zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen, Köchin, Drehbuchautorin, TV- und Radiomoderatorin des ORF.

Bei Folio sind alle Mira-Valensky-Krimis erschienen, zuletzt Gut, aber tot (2016) (siehe alle lieferbaren Titel im Anhang), außerdem das beliebte Kochbuch zur Krimiserie Mira kocht. 2017 hat Folio Rossmanns politischen Roman Patrioten veröffentlicht.

www.evarossmann.at

EVA ROSSMANN

IM NETZ

EIN MIRA-VALENSKY-KRIMI

Inhalt

Kapitel [ 1. ]

Kapitel [ 2. ]

Kapitel [ 3. ]

Kapitel [ 4. ]

Kapitel [ 5. ]

Kapitel [ 6. ]

Kapitel [ 7. ]

Kapitel [ 8. ]

Kapitel [ 9. ]

Kapitel [ 10. ]

Kapitel [ 11. ]

Kapitel [ 12. ]

Kapitel [ 13. ]

Kapitel [ 14. ]

Kapitel [ 15. ]

Kapitel [ 16. ]

Kapitel [ 17. ]

Kapitel [ 18. ]

Kapitel [ 19. ]

DANKE!

[ 1. ]

Wie kostbar das Leben ist.

Ich schalte den Voice-Rekorder ab. Die Frau, die mir gegenübersitzt, hat dunkle Ringe unter den Augen und starrt auf ihr Telefon. Zwei junge Männer unterhalten sich halblaut über was weiß ich was. Der Grundton der U-Bahn schluckt die individuellen Geräusche und macht daraus einen Soundteppich. Wien, Nachmittag um halb drei. Frauen, die von der Frühschicht heimfahren, Studenten auf dem Weg zur Uni, Mütter mit Kinderwagen zwischen Babyschwimmkurs und Park und Hausarzt, Muslimin mit Kopftuch und Glitzerhandy, italienische Touristen, die eine U-Bahnstation bewundern, Jugendliche zwischen Schule und Hoffnung. Journalistin über fünfzig, nicht dick, aber auch nicht schlank, kurze dunkle Haare, mit drahtlosem Kopfhörer, Smartphone und einem Lächeln im Gesicht. „Wenn man so jung ist wie Sie“, hat Rosa Prager gesagt. Alles relativ. Sie ist fünfundneunzig. Wer wohl mehr genieße, hat sie gefragt: jemand, der eine Flasche besonders guten Wein habe, oder jemand, dessen Keller voll mit solchen Flaschen sei. „Alt werden, glücklich leben“. Das ist der Titel der Reportage, an der ich arbeite. Ich finde ihn schmalzig. Aber im „Magazin“, für das ich jetzt schon seit zwanzig Jahren schreibe, hat sich einiges geändert. Nicht zum Besseren. Jetzt gibt der Chefredakteur die Titel vor. Und passend zu den Storys werden Anzeigenprofile erstellt. In diesem Fall wird es wohl eines zwischen Viagra, Seniorenresidenzen im Süden und Gesichtsstraffung werden. Zusätzlich könnte man winzige Hightech-Hörgeräte und das neueste krebshemmende Superfood bewerben. Das Gespräch mit der Schauspielerin war trotzdem nett. Mit neunzig habe sie beschlossen, nicht mehr auf der Bühne zu stehen. Jetzt genieße sie das Leben mehr als zuvor. Schließlich habe sie sich nichts mehr zu beweisen, was auf gewisse alte Männer in ihrem Beruf interessanterweise nicht zuzutreffen scheine. Hie und da, wenn es passe, eine Gastrolle im Fernsehen oder in einem Kinofilm, ansonsten einfach den Tag schön sein lassen. Und anderen helfen, weil einem das selbst guttue. Ob sie noch reise, habe ich sie gefragt.

– Ich war viel unterwegs, aber alles auf der Welt kann man ohnehin nicht sehen. Jetzt bin ich hier, fast wie auf Urlaub. Sie kichert. – Na gut, manches muss man sich schönreden. Ich würde gerne öfter fortfahren, aber das strengt mich an. Und ich hätte auch nichts dagegen, wenn rund um mich mehr jüngere Menschen wären.

Ein Bierbauch drängt sich auf den Platz neben mir, ich rutsche, so weit es geht, zur Seite. Die U-Bahn ist voll, wir nähern uns dem Zentrum.

Ich tippe auf das Lesezeichen für die neuesten Nachrichten. Klimawandel unbestreitbar! – So heiß war der September noch nie. Braucht man Rekorde, um ihn zu belegen? Und bei gewissen Typen, vom amerikanischen Präsidenten abwärts, nützen auch die nichts. Was sind Fakten gegen Gaukler? Ich kneife die Augen zusammen. Noch weigere ich mich, eine Schriftgröße einzustellen, die laut Telefonverkäufer meinem Alter entsprechen würde.

Carlo Neuhaus, 50, tot in seiner Villa aufgefunden. Der bekannte Unternehmer sah sich mit schweren Anschuldigungen konfrontiert. Sein Lebensmittelimport Loco soll vor dem Konkurs gestanden sein. Seine Frau Carina Neuhaus, 35, hatte sich nach den jüngsten Enthüllungen von ihm getrennt, die Scheidung soll laut Bekannten der Familie kurz bevorgestanden sein. Ersten Ermittlungsergebnissen zufolge wird von einem Selbstmord ausgegangen. Neuhaus hatte alle Vorwürfe bestritten, doch vor zwei Wochen hat die Wiener Staatsanwaltschaft einen seiner Fahrer wegen gewerbsmäßiger Schlepperei angeklagt. Hakan B. gibt an, Neuhaus habe ihn dazu gezwungen. Neuhaus war Eigentümer eines der bekanntesten und umsatzstärksten Importbetriebe italienischer Lebensmittel im deutschsprachigen Raum. Insider berichten allerdings, dass sein Unternehmen durch die immer stärker werdende Konkurrenz des Online-Handels in Turbulenzen geraten ist.

Die Frau mit den dunklen Augenringen hat die U-Bahn verlassen, die italienischen Touristen lachen, der Dicke neben mir blättert in der Gratiszeitung und drückt mir seinen Ellbogen in die Seite. Das Leben geht immer weiter. Ich sollte es längst wissen. Neuhaus. Ich habe ihn letzte Woche interviewt. Er hat vor einiger Zeit das Feinkostgeschäft übernommen, in dem Oskar so gerne einkauft. Buono. Der Besitzer wollte nicht mehr. Zu viele Auflagen, zu wenig Einnahmen, um davon leben zu können. Neuhaus hat ihn angestellt und gesagt, das sei einer der ersten Läden gewesen, die seine Produkte gekauft hätten. Jetzt könne er etwas zurückgeben. Der alte Kaufmann hat mich dazu gedrängt, mit ihm zu reden. Und ihn, mit mir zu reden. Damit endlich alles richtiggestellt werde in der Öffentlichkeit. Für ihn ist Neuhaus unschuldig, Opfer einer Kampagne. Vielleicht bin ich allzu leicht manipulierbar, wenn es um gutes Essen geht, aber ich habe ihm geglaubt. Warum sollte er, wie in gewissen Medien zu lesen stand, ein „Schlepper-Imperium“ aufgebaut haben? Es passt nicht. Er hat sich sozial engagiert. Auch für die Integration von Flüchtlingen. Er war bei der Plattform OneEarth. Ist so viel Heuchelei möglich? Er hat über Zukunftsprojekte geredet, über ein neues Lieferservice. Selbstmord? Wie passt der dazu? Wie passt Selbstmord überhaupt ins Leben? Wäre sein Selbstmord zu verhindern gewesen, wenn ich unser Gespräch früher veröffentlicht hätte? Ich wollte dem Chefredakteur vorschlagen, es als Interview der Woche zu bringen. Ich habe es bis jetzt nicht getan. Vielleicht, weil ich mich davor gefürchtet habe, wieder eine Abfuhr zu bekommen. Und einmal mehr überlegen zu müssen, ob es nicht höchste Zeit ist, das „Magazin“ zu verlassen.

Nie, nicht einmal aus Gefälligkeit oder Mitleid hätte er in seinen Lkw Flüchtlinge mitgenommen, hat er gesagt. Man müsse politisch daran arbeiten, dass Menschen, die verfolgt werden, legal in sichere Staaten kommen dürfen, das sei der einzige Weg. Das Gerücht, dass er vor dem Konkurs stehe, hat er als Aktion von Konkurrenten abgetan. Der Online-Handels-Mafia sei eben nichts zu billig. Am besten, man kümmere sich nicht darum.

Gut möglich, dass ich das letzte Interview mit ihm habe. Das könnte meinem neuen Chefredakteur gefallen. Zillinger. Den meine Freundin Vesna immer nur „das Männchen“ nennt. Dabei ist er gar nicht klein. Aber seine Anzüge sind so verdammt eng, dass er irgendwie schmalspurig wirkt. Wunderbar. Da stirbt Neuhaus, und ich hoffe, dass mich das Männchen lobt. Im Netz gab es vor kurzem einen Aufruf, die Produkte von Loco zu boykottieren. Die Zeile „Wir kaufen nicht bei Schleppern!“ hat zwar auch für Empörung gesorgt, aber die Initiatoren haben umgehend bestritten, dass sie nur im Entferntesten an die Nazi-Parole „Wir kaufen nicht bei Juden!“ gedacht hätten. Es sei eine ausgemachte Sauerei, sie in dieses Eck zu rücken, und zeige einmal mehr, wie die selbsternannten Gutmenschen tickten. Neuhaus’ Mutter war Jüdin. Er sei froh, dass sie das nicht mehr erleben musste, hat er gesagt. Und dass es ihm wehtäte, dass weltoffene Menschen zwar das kritisiert, aber sonst kaum etwas zu seiner Ehrenrettung getan hätten. Selbstmord. Ich muss trotzdem heim, bevor ich in die Redaktion fahre. Oskar ist verreist und ich war heute so spät dran, dass ich vergessen habe, Vui zu füttern. Unser Kater Vui ohne Futter: eine Katastrophe. Er kann brüllen, dass das ganze Haus rebellisch wird. Nicht nur unsere spießbürgerlichen jungen Nachbarn, denen selbst sein Schnurren zu laut ist. Ohnehin besser, ich denke über die Sache mit Neuhaus noch etwas nach. Sicher gibt es bald mehr Details. Neue Erkenntnisse. – Welche zum Beispiel? Dass er doch nicht tot, sondern nur nach dem Genuss einer Alba-Trüffel in verzückten Tiefschlaf gefallen ist?

Vui hat mich an der Tür erwartet. Kreischend. Maunzen war gestern. Dieses Vieh ist in jeder Beziehung überdimensional. Maine-Coon-Kater, wiegt neun Kilo. Ich glaube allerdings, er hat seit der letzten Messung schon wieder zugelegt. An Größe und an Gewicht. Die wachsen angeblich, bis sie drei Jahre alt sind. Ich habe Vui von Vesnas Liebstem geschenkt bekommen. Als Trost, bald nachdem meine langjährige Gefährtin Gismo einen Heldinnentod gestorben war. Ich öffne den Kühlschrank und plötzlich ist es still. Vui schaut mich mit seinem blauen und seinem braunen Auge konzentriert an, der buschige weiße Schwanz peitscht hin und her. Hühnerfaschiertes. Sein Lieblingsfutter. Oskar hat große Mengen davon eingekauft, damit das arme Tier nicht so sehr unter seiner Abwesenheit leidet. Er hat mich angewiesen, jeden Tag am Abend ein Päckchen aus dem Tiefkühler in den Kühlschrank zu legen. Für mich hat er zwei neue Sugos von Loco heimgebracht, eines mit jungen Artischocken und eines mit Bottarga, diesem köstlichen getrockneten Fischrogen aus Sardinien. Bevor das Gekreisch wieder losgeht, werfe ich einen großen Batzen Faschiertes auf den Fußboden. Natürlich sollte eine Katze nicht kühlschrankkalt fressen, aber mir ist wichtiger, der Terrorist hat etwas im Magen. Um Reste auf dem Küchenboden brauche ich mir keine Gedanken zu machen, der Platz, auf dem das Faschierte gelandet ist, wird in Kürze klinisch sauber sein.

Ich gehe zu meinem Laptop. Wieder einmal habe ich vergessen, ihn zu schließen. Kann es sein, dass ich in letzter Zeit häufiger etwas vergesse? Lässt das Gehirn schon nach? Unsinn. Wenn, dann kommt es davon, dass ich zu viel im Kopf habe. Vui ist auf dem Laptop gelegen. Man muss keine Spurenexpertin sein, um das zu erkennen. Auf dem Bildschirm steht etwas.

fffffffffffffffffffffffffffffffffffffffffffffaaaaooookkke

Ich kneife die Augen zusammen. Fake? Facebook? Beides in einem? Mein weißes Orakel wummert mir den Kopf in die Kniekehle. Ich kann mich gerade noch auf den Beinen halten. Nachschlag, sagt sein Blick. Ich schüttle den Kopf. Ich sollte in die Redaktion. Auch wenn ich wieder einmal keine Lust darauf habe. Miese Stimmung unter den paar verbliebenen Redakteuren, eilfertiges Getue bei den neu eingestellten Leuten. Sie sondern sich ab. Wir sondern uns ab. „Blasen“ im Kleinen. Keine Ahnung, wie die Neuen ticken. Niemand von ihnen habe ich gekannt. Man hat sie von Online-Diensten, privaten Regionalsendern und Presseabteilungen zusammengekauft. Facebook. Eine gute Idee. Ich sollte nachsehen, was über den Tod von Neuhaus gepostet wird. Gibt es noch so etwas wie Pietät? Auf der offiziellen Seite von Loco finde ich nichts über seinen Tod. Er wird sie kaum selbst betreut haben. Lange brauche ich trotzdem nicht zu suchen. „Plattform für ein sauberes Österreich“:

Ein Verräter ist tot. Ausländische Lebensmittelverhökkerer und Umvolker, chascht ab, damit der Islam sigt.

Es geht weiter in dieser Art. Manche freuen sich offen, andere stellen fest, dass er jetzt ja nicht mehr am Leben ist und damit ein Problem gelöst sei. Ich lese von reichen naiven Narren, von Willkommensklatschern, von einem angeblichen Gutmenschen, der in Wirklichkeit Schlepperkaiser war, von einem Ausländermafiaboss. Jeder kann ablassen, was er möchte. Ich muss es ja nicht lesen. Ich muss es ja nicht glauben. – Aber ist es damit getan? Was ist mit denen, die weniger Information haben? Ich gehe zur Seite von OneEarth. International sind sie durch ihre Seerettungs-Aktivitäten aufgefallen. Sie sammeln die Verzweifelten auf, die übers Wasser nach Europa wollen. In Österreich kümmern sie sich um Projekte zur Integration von Geflüchteten. Neuhaus hat ihre Initiativen öffentlich unterstützt. Ihm sei es wichtig, dass jeder Mensch eine Chance bekomme, und wenn er es brauche, auch zwei, hat er gesagt. Das Deutsch der Einträge auf der Seite von OneEarth ist besser. Der Ton gemäßigter.

Fürchterlich! Offenbar konnte er nicht mehr damit leben, was er getan hat.

Das Posting darauf:

Fürchterlich ist, was er getan hat. Er hat alle an der Nase herumgeführt. Man hätte es ahnen können. Er hat große Geschäfte gemacht und sich als sozialer Vorzeigeunternehmer aufgespielt. Dabei hat er zu Lasten von uns allen verdient. Macht die Augen auf! Er transportiert Nahrungsmittel mit Lkw und verpestet die Umwelt. Haben wir hier nicht genug zu essen? Aber für die kleinen Leute sind seine italienischen Nobel-Sachen ohnehin nicht, sondern für die Elite, die von nichts genug bekommt.

Einige posten R.I.P. – rest in peace, aber das posten sie auch, wenn ihr Hamster stirbt. Likes und Dislikes und andere Emojis, Hinweise darauf, dass man niemanden verurteilen sollte, aber auch Rechtfertigungen für den Kaufboykott gegen Loco. Die Aktion hatte es sogar in die Hauptnachrichten des Fernsehens geschafft. War sein Selbstmord die logische Folge? Wer hält so etwas aus? Neuhaus hat die Angriffe als Momentaufnahmen und Hysterie im Netz abgetan. Er nehme das nicht ernst. Wie würde ich reagieren? Ich käme nicht in so eine Situation. Wirklich nicht? Irgendjemand mag eine meiner Reportagen nicht und beginnt zu hetzen. Und mit Pech wird es geteilt und dann noch etwas dazuerfunden, weil man Journalisten generell nicht mag und Journalistinnen vielleicht noch weniger, und irgendwann schwappt das Ganze über den virtuellen Rand und kommt in die herkömmlichen Medien und ich muss mich rechtfertigen und … Okay. Ich bin kein Unternehmer mit eindrucksvoller Villa, mehreren hundert Beschäftigten und einem gewissen öffentlichen Selbstdarstellungsdrang. – Darf man über solche Menschen eher herziehen als über Durchschnittstypen? Und wer bestimmt das?

Jedenfalls scheinen sich unterschiedlichste Communitys darüber einig zu sein, dass man über Neuhaus’ Tod nicht traurig sein muss. Über Tote sagt man nichts Schlechtes, heißt es. Außer im Wirtshaus, wenn es spät geworden ist. So habe ich früher gedacht. Außer auf Facebook, weiß ich jetzt. Und wohl auch auf Twitter. Ich habe keinen Account. Nur weil ein US-Präsident nicht mehr als ein paar hundert Zeichen schafft, muss ich dort auch nicht hin. Ich sehe auf die Uhr. ToPost. Ich kann von daheim einsteigen. Eine Medienagentur. Unser Blatt hat sie abonniert. Versorgt Journalisten, Redakteurinnen und alle, die sich dafür halten, mit Informationen. Oder besser: mit ihrer Wahrheit. So etwas Ähnliches wie Reuters und AFP, nur auf anderem Niveau. Und so multimedial, wie es jetzt angesagt ist. Es gibt Videos, Beiträge speziell für Online-Medien, Ton-Files. Hauptsächlich auf Deutsch, aber auch auf Englisch, Spanisch und bisweilen in anderen Sprachen. Selbstverständlich alles gegen Bezahlung. Mein neuer Chefredakteur ist stolz darauf, früher mit Thomas Lukic zusammengearbeitet zu haben. Der Typ hat eine faktisch bankrotte Zeitung gekauft, von welchem Geld weiß niemand, und zur Agentur umgebaut. Mit Erfolg. Wenn man Erfolg in Zahlen misst.

Da. Sie haben es als Top-Meldung. Pizza-Kaiser hat sich selbst gestürzt. Neuhaus hat, soviel ich weiß, nie Pizza importiert.

Der Gründer der Italo-Importfirma Loco setzte sich stilgerecht ein Ende. Er zelebrierte allein in seiner Luxusvilla ein Festessen. Wie ToPost aus Ermittlerkreisen erfuhr, war eine tödliche Portion Opiate in seinen Hauptgang gemischt. Dessert hatte er keines mehr vorbereitet. (Update und nähere Infos in den nächsten Stunden.) Fakt ist, dass Neuhaus beschuldigt wurde, sein Unternehmen zu einem Schlepper-Ring umgebaut zu haben. Die Flüchtlinge soll er als billige Arbeitskräfte und als Illegale für mafiöse Zwecke eingesetzt haben. Noch immer drängen Afrikaner, vor allem junge Männer, nach Europa. Viele kommen trotz Grenzschutzmaßnahmen über das Mittelmeer nach Italien, doch ihr angestrebtes Ziel liegt weiter nördlich: Österreich, Deutschland, Frankreich, Schweden. Der Name seines Unternehmens ist italienisch. Auf Deutsch heißt Loco verrückt. Im Slang bedeutet Loco aber auch so viel wie Miete oder Pacht. Locazione. Wer war Neuhaus wirklich? Und womit hat er in Zeiten, in denen auch Luxus-Lebensmittel online gekauft werden, sein Geld verdient?

Neuhaus hinterlässt keine Kinder. Ein Interview mit seiner zweiten Frau, die sich von ihm getrennt hatte, ist in Vorbereitung (Print + Video).

Ich schaue zu Vui. Er hat sich in unserem Zeitungskorb zusammengerollt und geht seiner zweitliebsten Beschäftigung nach. Schlafen. Ich wünschte, Oskar wäre hier. Ich brauche ihn, ich will mit ihm über den Selbstmord reden. Ist das eine Überreaktion, weil ich Neuhaus kannte? Ich finde den Text widerlich. Woher haben die ihre Informationen? Oder saugen sie sich das einfach aus den Fingern? Viele Medien übernehmen es. Und zahlen dafür. Es gibt Zeitschriften, die bestehen nur mehr aus dem Chefredakteur, der Anzeigenabteilung und ein paar freien Mitarbeitern. Im Hauptberuf sind sie Lehrerinnen, Studenten, Landschaftsgärtnerinnen. Sie schreiben für ganz wenig Geld, weil sie es gerne tun. Oder weil sie hoffen, so Fuß zu fassen und irgendwann einmal fix bei einem Medium zu landen. Online-Medien. Nicht nur Waren, auch Meinungen und Informationen werden immer häufiger online verkauft. Manche dieser Medien entstehen einzig in der Hoffnung, dass jemand auf ihrer Seite wirbt. Hat ToPost wirklich ein Interview mit der Witwe von Neuhaus? Dass ihm jetzt sogar aus seinen Kontakten zu Italien ein Strick gedreht wird. Es lässt sich eben alles drehen, wie man will. Feine Küche. Mafia. Gibt’s ja tatsächlich beides. Oskar ist mit seiner Mutter nach Jesolo gefahren. Ich war froh, dass ich nicht mitmusste. Sie vergöttert ihren Sohn. Was für ein erfolgreicher Anwalt. Was für ein liebenswerter Mensch. Ich bin gerade einmal akzeptiert. Ohnehin eine hohe Auszeichnung, behauptet Oskar. Frühere Begleiterinnen hätte sie nicht über ihre Schwelle gelassen. Als er ein Kind war, sind sie jedes Jahr an der Adria gewesen. So wie Hunderttausende Österreicher in den Sechziger- und Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Lange vor Facebook, auch vor Playstation und Flat-TV. Computer waren damals so groß wie Kleiderschränke und hatten eine Rechenleistung wie heute ein billiges Mobiltelefon. Besser? Schlechter? Oskars Mutter war sicher noch nie auf Facebook. Das eine oder andere Vorurteil hat die Hofratswitwe dennoch. Und auch ihr könnte man vorwerfen, sie lebe in ihrer Blase. Konservativ ausgerichtete Zeitung, Freundinnen mit guter Pension und Konzertabonnement. Ich bin böse. Sie ist eine reizende alte Dame und für ihre sechsundachtzig ganz schön agil. Noch eine Dame im reiferen Alter. Wenngleich neun Jahre jünger als Rosa Prager. Und anders. Aber warum sollten die Menschen über achtzig alle gleich sein?

Ich trödle. Der Weg von unserer Wohnung zur Redaktion ist kurz, ein paar Gassen durch den Ersten Bezirk, dann über die Brücke in den Zweiten, dreihundert Meter danach kommt der Glaspalast mit der Aufschrift LESEN SIE DAS! Es steht seit vielen Jahren auf der Fassade. Klotzig. Es hat den neuen Eigentümern gefallen, deswegen durfte es bleiben. Der frühere Chefredakteur ist zurück zum Fernsehen und moderiert jetzt eine Talkshow. Den Älteren der Belegschaft wurde nahegelegt, in Pension zu gehen. Umstrukturierung heißt das Zauberwort. Zwei Japanerinnen sehen mich erschrocken an. Noch nie eine grantige Österreicherin gesehen? Nicht ärgerlich, nicht verärgert, grantig. Es gibt sie noch, die feinen Unterschiede, auch in der Sprache, ihr japanischen Gänse. Grantig. Das klingt schon nach Knurren und Zähnefletschen. Zu Recht. Die beiden drehen sich um und tuscheln. Unser neuer Chefredakteur heißt Stefan Zillinger. Davor hat er die Autozeitschrift „Turbo!“ geleitet. Eines der sogenannten Special-Interest-Magazine des Summa-Verlags. Damals gemanagt von Thomas Lukic. Was heißt: Zillinger hat dafür gesorgt, dass der Platz zwischen den bezahlten Anzeigenseiten gefüllt wird. Als ich mich bei meinem alten Freund Droch darüber beklagt habe, dass ein Autozeitschriften-Fuzzi über den Inhalt des „Magazin“ bestimmt, hat er gemeint, an mir nage eben auch der Zahn der Zeit. Er hat das lustig gefunden. Vielleicht vertrottelt man doch im Alter. Zumindest die Männer. Vor seiner Pensionierung war er einer der angesehensten Politikjournalisten in Österreich. Österreich ist klein. Wie auch immer. Ich bin beim „Magazin“ geblieben. Wahrscheinlich bin ich zu träge. Zu unflexibel. Ich war nie angestellt, ich liebe es, frei zu sein, und ich wurde gut bezahlt. Jetzt habe ich sogar akzeptiert, dass sie mir das Fixum gestrichen haben. Büroarbeiten könnten andere billiger und besser erledigen, hat Zillinger gesagt. Und dass ich mich freispielen könne. Für Reportagen, die nachweislich die Auflage steigern, gäbe es Prämien, die diesen Verdienstausfall mehr als wettmachen würden. Nur: Was die Auflage steigert, analysiert eine Beratungsfirma, die eigentlich dazu da ist, Kosten zu sparen. Neuhaus. Ich habe ein aktuelles Interview. Dass das viele interessiert, ist klar. Ich fange schon an zu denken wie die. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Ein Zitat von Marx. Vielleicht sollte ich es der neuen Führungsgarnitur um die Ohren hauen, so wie einem Vampir das Kreuz. Oder Knoblauch. Oder war es das Sonnenlicht, das diese Blutsauger zu Staub werden lässt? Recherchieren. Ich habe es gelernt. Auch wenn es nicht mehr sehr gefragt zu sein scheint. Zumindest nicht bei uns. Klar gibt es sie noch, die guten Medien. Auch online. Für interessierte Randgruppen. Und ob ich davon leben könnte, wenn ich für sie schreibe, bezweifle ich. Noch einmal: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Dass das Zitat verkürzt ist, weiß ich. Aber was wird heutzutage nicht gekürzt?

Eine Frau in geblümtem Sommerkleid schiebt mit der einen Hand ein Rad, in der anderen hält sie ein Smartphone. Sie lacht laut. Beinahe hätte sie mich angefahren. Blöde Kuh! Im letzten Moment unterdrücke ich es. Steckt die Schimpferei im Internet an? Und warum Tiernamen? Was kann sie für meine miese Laune? Sie entschuldigt sich, noch immer ein Lächeln im Gesicht. Es gibt Menschen, denen geht es gut. Oder hat sie vor zehn Minuten ein Bild online gestellt, das eine Kollegin zeigt, die gerade aus ihrem viel zu engen Kleid platzt? Ende. Luft holen. Und rein ins „Magazin“.

– Die Community hat ihn gerichtet. Schreiben Sie so etwas. Natürlich nicht mit diesen Worten. Erfinden Sie eine knackige Headline, die passt. Sie wissen schon, was ich meine.

Ich sehe Zillinger so neutral wie möglich an. Pokerface. Ich hoffe, es funktioniert. Ich hoffe, er merkt nicht, dass ich koche. – Weiß ich nicht.

– Der Punkt der Geschichte ist doch klar: Wir brauchen keine Todesstrafe, der Täter richtet sich selbst. Es ist quasi der Sieg der neuen Gemeinschaft. Er hat gegen ihre Gesetze verstoßen.

– Ich wusste gar nicht, dass er verurteilt wurde.

– Darum geht es eben. Man muss nicht warten. Er bestätigt die Anschuldigungen, indem er sich selbst richtet.

– Und was, wenn er die falschen Beschuldigungen nicht ertragen konnte?

– Da bringt man sich doch nicht gleich um.

– Ach. Die Frau lässt sich scheiden, die Firma geht den Bach runter, man steht als Boss einer mafiösen Schlepperbande da, von links und rechts wird auf einen eingeprügelt.

– Ja. Das ist es. So können Sie es schreiben. Drama. Das Ende eines ehemals erfolgreichen Unternehmers. War er nicht sogar Unternehmer des Jahres?

– Es ist nichts bewiesen.

– Die Gemeinschaft sieht das anders. Und Fakt ist, er ist tot.

Am liebsten würde ich diesen Typ aus seinem viel zu engen Anzug prügeln. – Und Hetze ist jetzt die neue Form der Demokratie?

– Werden Sie nicht melodramatisch. Demokratie … Viele alte Formen haben sich überlebt. Die Herrschaft des Volkes. Wir kommen ihr näher. Finden Sie mir einen Philosophen, der das allgemeingültig erklären kann. Oder einen von diesen Paradeintellektuellen. Die sollen etwas darüber schreiben. Nehmen Sie meinen Freund … Sie wissen schon, der mit den jungen Mädchen, sein Name fällt mir gerade nicht ein. Dann können wir diesen #MeToo-Nervensägen auch gleich eins auswischen. Links und rechts, Parteien, Eliten, das ist alles von gestern.

– Sie haben den respektvollen Umgang miteinander vergessen. Ist auch von gestern. Genauso wie die unabhängige Justiz.

– Wusste ich doch, dass Sie darauf anspringen. Und unabhängige Justiz? Dass ich nicht lache. Haben nicht gerade Sie immer wieder etwas auszusetzen an der Rechtsprechung?

– Ich versuche die Wahrheit herauszufinden.

– Die Wahrheit. Weil Sie die gepachtet haben.

– Ich suche danach. Meine Stimme überschlägt sich. Dieser Typ treibt mich in eine Ecke und ich kann mich nicht wehren. Wie wehrt man sich gegen so einen?

– Das Volk hat recht. Müsste Ihnen doch gefallen, mit Ihren linken Attitüden.

– Ich dachte, links und rechts gibt es nicht mehr.

Wir konnten einander von Anfang an nicht leiden. Es war ausgerechnet der frühere Haupt- und jetzige Minderheitseigentümer, der mich halten wollte. Auflagenträchtige Storys. Mira Valensky ist eine Marke, hat er gesagt. Sie sollen sie sich irgendwohin kleben.

Zillinger sieht mich spöttisch an. – Ich habe bloß gesagt, das ist veraltet. Volkswille statt Ideologie.

– So wie im „Magazin“: Wer zahlt, schafft an.

– Sie begreifen es ja doch. Nicht Sie bestimmen die Inhalte, es wird geschrieben, was die Leute gerne lesen. Die zahlen für das Heft. Und das sollen sie weiterhin tun. Sonst gibt’s das „Magazin“ nicht mehr, Sie nicht, mich nicht und auch nicht das Christkind.

Er hat meinen Sarkasmus einfach nicht bemerkt. Er ist völlig ironiefrei. Und ohne jede Empathie. Ich lege trotzdem noch eins drauf. – Und natürlich wird geschrieben, was die Inserenten wollen.

– So ist es. Es ist dumm und unhöflich, die Hand zu beißen, die einen füttert.

– Haben Sie schon einmal etwas von journalistischen Grundsätzen gehört? Ich brülle. Vui wäre stolz auf mich.

Der Chefredakteur ist für einen Moment irritiert. Er macht den Mund auf. Unter seinem affigen dunkelblauen Sakko sehe ich, wie er langsam ein- und wieder ausatmet. – Machen Sie sich doch nicht lächerlich.

– Ich habe übrigens ein Interview mit ihm.

– Mit wem?

– Mit Neuhaus.

– Der ist tot.

– Ich kann es einem anderen Magazin anbieten.

– Sie haben die Konkurrenzklausel unterschrieben.

– Die neoliberale Freiheit gilt nicht für alle, was?

– Sie sind Juristin. Sie wussten, was Sie taten.

– Also weiß ich auch, was ich jetzt tue.

– Was hat er gesagt? Von wann ist das Interview?

– Von voriger Woche.

– Und warum haben Sie das bisher verschwiegen?

– Sie hatten Ihre eigenen Vorstellungen von der Story.

Zillinger sieht mich an und seufzt. Sicher hat er auch diesen Blick in einem Seminar gelernt. Aber bei mir verfängt er nicht. Ich kann ihn nicht einmal decodieren. Mit jemand von einem anderen Stern könnte ich besser kommunizieren. Der da stammt aus einer anderen Galaxie. Wie haben die aus „Per Anhalter durch die Galaxis“ geheißen? Vogons. Aber sie haben keine Slim-Fit-Maßanzüge getragen, sondern waren grobe Kumpels mit einem Sinn für grausige Poesie. Zillinger ist eher wie die Geschäftsmänner, die eine Weltraum-Umfahrungsstraße bauen und dafür die Erde wegräumen würden, weil sie Größerem im Weg steht.

– Wann kann ich es lesen?

– Ich muss erst überlegen, ob ich das Interview nach seinem Tod veröffentlichen kann.

– Dafür haben wir unseren Juristen.

– Es ist eine Juristin.

– Hören Sie auf mit den Haarspaltereien. Hat das die Frauen jemals weitergebracht? Sehen Sie. Im Gegenteil. Das Interview wird auf der Titelseite angekündigt, wenn es etwas taugt. Ich brauche es spätestens morgen Vormittag.

– Es wird so gedruckt, wie ich es schreibe.

– Selbstverständlich.

Er lügt. Ich weiß, dass er es umschreibt, kürzt, so gewichtet, wie es ihm in den Kram passt. Aber ich kann es nicht beweisen. Es hat ja noch nicht stattgefunden. – Anderenfalls bin ich weg.

– Reisende soll man nicht aufhalten.

Er dreht sich um und geht. Oberschenkelmuskeln, die sich durch das edle Beinkleid abzeichnen. Fitnessstudiogestählt.

Ich arbeite seit mehr als zwanzig Jahren fürs „Magazin“. Ich habe dem Blatt einige seiner besten Geschichten geliefert. Es gibt Leute, die kaufen es nur, weil ich da schreibe. Sagen sie zumindest. Trotzdem. Zillinger würde sich freuen, wenn ich gehe. Eben. Er würde sich freuen. Ich sollte ihm die Freude nicht machen. Aber deswegen bleiben? Ich könnte das Interview nehmen und als Türöffner verwenden. Habe ich nicht notwendig. Man kennt mich. Trotzdem sind gute Jobs in meinem Beruf Mangelware. Und wenn, holt man sich jemand Jungen. Leute, die top ausgebildet sind, motiviert, die für eine gute Chance fast alles tun. Ich könnte aussteigen. Ich könnte ein Buch schreiben. – Und mich von Oskar aushalten lassen? Wir sind verheiratet. Er verdient Geld genug. Trotzdem. Ich mag das nicht. Ich bin Juristin. Was wäre, wenn ich als Juristin arbeitete? Sechsundfünfzigjährige Juristin ohne Praxis sucht abwechslungsreiche, gut bezahlte Tätigkeit mit flexibler Freizeit. Ich könnte in Oskars Kanzlei anfangen. Als Anhängsel? Unter dem genervten Blick seiner Sekretärin, die seit Jahrzehnten in ihn verliebt ist? Sofern Drachen dieser Sorte lieben können.

Vesnas Unternehmen floriert. „Sauber – Reinigungsarbeiten aller Art“. Dreck gibt es immer, pflegt meine Freundin zu sagen. Ich müsste ja nicht putzen gehen, obwohl das auch keine Schande ist. Nur eben nicht besonders gut bezahlt. Vesna hat, nachdem sie im Jugoslawienkrieg mit ihren damals dreijährigen Zwillingen geflohen ist, als Putzfrau gejobbt. So habe ich sie kennengelernt. Immer offen für Neues, mit einem Motorrad, das so illegal war wie sie. Und trotzdem eine verdammt gute Mutter, wie man an Jana und Fran sieht. Sie hat sich hinaufgearbeitet. Ich könnte ihre Trupps einteilen. – Weil ich eine ausgezeichnete Organisatorin bin. Ich bin schon froh, wenn ich es schaffe, das eigene Chaos im Griff zu haben. Oder ich heure in ihrem inoffiziellen Unternehmenszweig an. Nachforschungen, Personenschutz. Reinigungspersonal hat bald wo Zugang. Vesnas Putzfrauenconnections haben mir mehr als einmal geholfen. Wäre die Detektivordnung nicht so verzopft, hätte sie längst eine Lizenz. Und was soll ich dort tun? Untreue Ehefrauen beschatten? Buntmetalldiebstähle aufdecken, ohne dass die Polizei davon Wind bekommt, weil die Täter nahe Verwandte sein könnten? Vesna liebt das Abenteuer. Ich bin eigentlich mehr für das ruhige Leben. – Und deswegen lasse ich mir von einem Schmalspur-Männchen auf der Nase herumtanzen?

[ 2. ]

Vesna, hast du einen Job für mich?

– Du wirst dich nicht von Männchen kleinkriegen lassen.

– Er … Ich kann mit ihm nicht einmal reden, er ist wie aus einer anderen Galaxie.

– Vielleicht es dreht ihm jemand den dürren Hals um. Weißt du, was dann übrig bleibt? Was, das die Kühe ausgespuckt haben. Die können ihn dann wiederkauen.

Ich gehe über die Brücke, schaue in den Donaukanal unter mir und lache ins Telefon.

– Ehrlich. Ich habe ihn gesehen bei einem großen Buffet. Alles vom Besten, die Feinen haben aufgeladen, als wären sie vor dem Hungertod. Und er hat eine Riesenportion grünen Salat am Teller. Mit nichts. Auch kein Öl oder so. Ich habe nachgesehen. Der isst wie eine Kuh, was willst du von dem?

– Er ist mein Chefredakteur.

– Ignoriere ihn. Dann welkt er.

– Du bist unmöglich.

– Ich bin in halber Stunde im LeMar. Passt das?

– Ja. Perfekt. Was soll ich tun? Soll ich dem „Magazin“ das Interview geben?

– Wem sonst?

– Ja. Eben.

– Wir reden. Lass dir von Lemar Drink mixen.

Ich schlendere durch den Ersten Bezirk. Herrschaftsbauten und Touristen, Luxusläden und in den Seitengässchen einige Geschäfte, in denen die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Bänder und Knöpfe. Lampen, die seit Jahrzehnten keiner kauft. Antiquarische Bücher und Postkarten. Ich brauche eine Jacke. So ein Teil für alle Fälle. Bequem, nicht zu eng, gut zu Jeans, dezent. Mein Lieblingssakko hat zwei Brandlöcher. Das kommt vom Nachtleben. Und davon, dass in Österreich in gewissen Bereichen noch geraucht werden darf. Ich sollte besser kein Geld ausgeben. Bis ich weiß, wie es weitergeht. Seit ich über die Machenschaften der internationalen Textilindustrie recherchiert habe, versuche ich nur mehr fair erzeugte Kleidung zu kaufen. Aber finde die erst einmal mitten in Wien. Und dann finde noch dazu ein Sakko. T-Shirts mit lustigen Sprüchen drauf gibt es, Freizeithosen, Baumwollkleider, die an allen aussehen, als wäre man eine seltsam verpackte Öko-Wurst. Am besten wird sein, ich probiere durch, was ich ohnehin im Schrank habe. Neuhaus hat gesagt, dass er privat nicht viel brauche. Der Konsumterror nehme dem Leben bloß Zeit weg. Ob man ihm glauben kann? Er hat Delikatessen verkauft. Und in einer beachtlichen Villa nördlich von Wien gelebt. Sie ist erst einige Jahre alt, er hat sie mir stolz gezeigt. Vorzeigeprojekt mit Photovoltaik und Energiespeicher, nachhaltige Materialien. All so etwas. Hat ihm trotzdem nicht geholfen, im Netz galt er bei vielen Ökos als Heuchler. Schickt Lkw quer durch Europa, verpestet die Luft, bereichert sich und wohnt schick. Was hat ihn in den Tod getrieben? Wer hat ihn in den Tod getrieben? Niemand. Oder alle. Keiner kann zur Rechenschaft gezogen werden. Volkswille. In gewissem Sinn hat das Männchen recht. Es fragt sich nur, ob es gut ist. Wie entsteht der Wille des Volkes? Wie werden Meinungen gemacht?

Diese Schlepper-Geschichte. Einer seiner Fahrer wurde gefasst. Er hatte drei Somalis in seiner Ladung versteckt. Hakan Bilgin, türkischstämmig, österreichischer Staatsbürger, schon hier geboren. Er sitzt in Untersuchungshaft. Über die drei Somalis weiß man nichts. Sind sie bereits abgeschoben worden?

Ich spaziere Richtung Ring. Auf der anderen Seite erheben sich das Naturhistorische und das Kunsthistorische Museum. Unübersehbar. Wuchtig. Ich mag diese Art Architektur nicht besonders, aber Touristen lieben solche Gebäude als Fotohintergrund. Francesca und Carlo vor dem steinernen Pferd. Li und ihre Kinder auf der Eingangstreppe. Früher wurde man viel häufiger gebeten, bei Urlaubsfotos zu assistieren. Jetzt macht sie jeder selbst. Selfie und Selfiestick. Drei Klicks und alles ist online. Tante Jiang kann es in Peking sehen. Vorausgesetzt, es fällt nicht der Zensur zum Opfer.

Warum will ich nicht glauben, dass Neuhaus mit dem Somali-Transport zu tun hat? Dass er den Auftrag dazu gegeben hat? Vielleicht hat er es zu Beginn nicht wegen des Geldes, sondern aus Mitleid getan. Dann ging es der Firma nicht mehr so gut und er konnte sich immerhin sagen, dass bei ihm keine Menschen zusammengepfercht und unter Lebensgefahr transportiert werden. Bei ihm sind sie komfortabel und sicher gefahren. Drei Afrikaner zwischen Nudeln und eingelegtem Gemüse. Der Fahrer hat angeblich mitgemacht, weil er Angst hatte, seinen Job zu verlieren. Sein Anwalt hat das einigen Zeitungen erzählt. Er sei froh, dass es zu Ende sei. Bilgin könnte die Somalis auf eigene Rechnung mitgenommen haben. Dagegen spricht freilich, dass auch ein anderer ehemaliger Mitarbeiter von solchen Aktionen berichtet hat. Auf Facebook. Als er dahintergekommen ist, dass er deswegen Probleme mit der Polizei bekommen könnte, hat er alles widerrufen und gemeint, die Postings seien gar nicht von ihm gewesen. Jedenfalls: Neuhaus hat nicht so gewirkt, als würde er Geflüchtete ausbeuten. Ich hätte ihm zugetraut, am Höhepunkt der Flüchtlingswelle eine schwangere Frau zu ihrer Familie zu fahren. Oder alte Menschen, Kranke. Gleich mache ich einen Heiligen aus ihm. Lächerlich. Wie wirkt jemand, der viel Geld damit verdient, andere über Grenzen zu bringen? Mein alter Kollege Droch würde mich wieder einmal als naiv verspotten. Aber der ist in Pension. Und wie immer um diese Zeit im September mit seinem alten Freund Zuckerbrot segeln. In Kroatien. Ab und zu schalten die beiden ihr Mobiltelefon ein, die meiste Zeit aber sind sie offline. Abgetaucht. Der ehemals gefürchtete politische Kommentator und der Leiter der Gruppe Leib und Leben im Ruhestand. Ich bin Zuckerbrot immer wieder ins Gehege gekommen, er mag mich trotzdem. Er hat mir eine Ansichtskarte geschrieben. Ansichtskarte. So etwas ist selten geworden. Leib und Leben, das hat nichts mehr mit Mord zu tun, sondern mit gutem Essen und Trinken und aufs Meer sehen und genießen. – Sonnigste Grüße. Droch hat dazugekritzelt, dass ich brav sein solle, dann bringe er mir etwas Schönes mit. Brav. Was das ist. Ich bin viel zu brav. Sonst hätte ich mit Karacho das „Magazin“ verlassen, als die neuen Macher aufgetaucht sind. Und privat? Ich habe Oskar noch nie betrogen. Stimmt nicht. Einmal doch. Aber das ist so lange her, dass man es schon vergessen kann. Eine verzauberte Nacht am Strand. Was wäre gekommen, wenn ich dort geblieben wäre? Mit dem schönen Mann, der einst einer der schnellsten Läufer der Welt war? Jetzt wird er auch schon graue Haare haben. Und vielleicht einen Bauchansatz. Wie wichtig ist das? Neuhaus’ zweite Frau war deutlich jünger als er. Warum hat sie ihn wirklich verlassen? Ich sollte mit ihr reden. Stattdessen werde ich es bald auf ToPost lesen. Wer war eigentlich die Erstfrau? Kinder scheint es keine zu geben.

Das Lokal, in dem ich mit Vesna verabredet bin, liegt in einer kleinen Gasse unweit unserer Prunkmuseen. Lemar strahlt mich an. Wie immer trägt er einen Al-Capone-Hut, ein weißes Hemd und Hosenträger. Die Bar soll etwas vom verruchten Charme der amerikanischen Prohibitionszeit ausstrahlen, Schwarz-Weiß-Fotos von Filmstars, als Hollywood noch Stil hatte. Lemar stammt aus Afghanistan. Er ist als Kind nach Österreich gekommen und hat eine umfassende Gastronomieausbildung genossen. Unter den Fittichen eines liebenswürdigen und kompetenten Hoteldirektors. Jugendstilhotel, fünf Minuten vom Stephansdom. Ich habe ihn bei einer Reportage über versteckte Perlen in Wien kennengelernt. Das dazu passende Anzeigenpaket des „Magazin“ war klar. Fremdenverkehrswerbung, Hoteleinschaltungen, aktuelle Musicalproduktionen. Die Passage über sein feines Kleinod wäre fast aus dem Blatt gekippt, weil er nicht inserieren wollte. Ich konnte es verhindern, aber es ist mir bis heute peinlich. Ich hoffe, er denkt nicht, ich hätte mit der Belagerung durch den Anzeigenkeiler zu tun gehabt.

Lemar weiß, was ich brauche. Pink Mira, den Drink, den einst ein Barkeeper in Zypern für mich kreiert hat: frisch gepresster roter Grapefruitsaft, viel Eis, Soda und ein guter Schuss Campari. Perfekt. Ich sitze vor dem Lokal und entspanne mich langsam. Es liegt an der Stimmung, nicht am Alkohol. Hier bin ich willkommen. Und die kleine Gasse so nah am Ring ist überraschend ruhig. Nichts ist zu spüren vom Großstadt-Getue. Weil eine richtig große Stadt wird Wien ohnehin nie. Wenn auch in den letzten Jahren eine zunehmend bunte. Der frühere Wiener Bürgermeister hat vielleicht ausgesehen wie ein Fiaker-Kutscher. Und er war sicher ein Machtpolitiker. Aber er war klug und weltoffen. Und erstaunlich mutig, als es darum ging, den nationalistischen Moden gemeinsam mit den Grünen etwas Zukunftsträchtigeres entgegenzusetzen. Ich kann nur hoffen, die Neuen machen nicht zu viel kaputt. Ich mag meine Stadt und manchmal kann ich sogar stolz auf sie sein. Wenn Leute wie Lemar eine Zukunftsperspektive bekommen. Seine ganze Familie hat ihn unterstützt, damit er die Bar aufmachen konnte. Ich halte ihm die Daumen, dass er Erfolg hat. Und wenn er scheitert, dann soll er nicht anders behandelt werden als einheimische Gastronomen, die sich geirrt haben. Lemars Mutter ist Altenpflegerin. Sie sieht zwanzig Jahre jünger aus, als sie eigentlich ist. Was weiß ich schon über afghanische Frauen? SMS. Vesna verspätet sich um 4tel Stunde.

Ich öffne den Browser meines Smartphones und suche nach Carina Neuhaus. Facebook-Profile und Werbung für das Netzwerk XING. Es geht, es funktioniert, heißt XING auf Chinesisch. Das Netz soll vor allem deutsche, österreichische und Schweizer Business-Leute verbinden. Angeblich haben die Chinesen gar nichts damit zu tun. Vielleicht ist XING genau das Ding im Netz, mit dem die Chinesen wirklich nichts zu tun haben. Vor kurzem habe ich gelesen, dass sie an einem Personenerkennungsprogramm arbeiten. Kameras speichern Gesichtszüge und Bewegungsabläufe. Dem werden dann Personen zugeordnet. Und danach ist jede und jeder immer und überall erkennbar. Gespenstisch. Ich werde Fran fragen, ob das stimmt. Vesnas Sohn und Computergenie seit Jugendtagen. Jetzt hat er eine Firma, die sich mit Software-Entwicklungen und maßgeschneiderten Lösungen für Unternehmen beschäftigt. Die Suchergebnisse zu Carina Neuhaus liefern Berichte von Galerieeröffnungen und Charity-Veranstaltungen. Fotos einer lächelnden Blondine. Ich logge mich bei ToPost ein. Vielleicht haben sie das angekündigte Interview schon online gestellt. Wieder tippe ich Carina Neuhaus. Wieder Berichte über sogenannte Society-Events. Und da. Das Interview. Ich öffne die Seite. Nicht mehr vorhanden. Seltsam. Kaum veröffentlicht und schon wieder weg? Was steckt dahinter? Was hat sie gesagt? Hat es schon jemand übernommen? Immerhin ist ToPost eine Agentur. Mich packt das Jagdfieber. Zurück zum Browser. Im letzten Moment sehe ich das Datum. Das Interview stammt aus dem vergangenen Monat. Deswegen haben sie es offenbar gelöscht. Weil es Neueres gibt. Oder weil es bald Neueres gibt. Trotzdem. Ich suche und finde gleich mehrere Medien, die damals von ToPost zugekauft haben.

– Es ist mir nicht leichtgefallen, aber ich musste mich von ihm trennen. Man darf sich nicht zerstören lassen.

– Wie meinen Sie das?

– Er wurde immer mehr zum Eigenbrötler. Er hat alles hinterfragt, auch unsere Beziehung. Dabei habe ich ihn so geliebt. Ich war blutjung und gerade am Karrieresprung als PR-Managerin, mir hat es nichts ausgemacht, dass er älter war. Er hatte Charisma. Aber dann hat er begonnen, an allem zu zweifeln. Er hat abendelang gegrübelt und nur mehr die Wand angestarrt. So als ob ich gar nicht da wäre.

– Im Allgemeinen gilt Carlo Neuhaus als umgänglicher Mensch. Ist das nur Fassade?

– Ich will nichts Schlechtes über ihn sagen, ich will nur Frauen Mut machen, sich nicht alles gefallen zu lassen. Er hat mich auch bei öffentlichen Veranstaltungen einige Male in sehr peinliche Situationen gebracht. Als wir unser Projekt Sport statt Drogen präsentiert haben, hat er in die Kamera gesagt, dass er die Heuchelei satthat, und dann ist er davongelaufen.

– Warum, glauben Sie, hat er von Heuchelei gesprochen?

– Woher soll ich das wissen? Mit unserem Projekt hatte es jedenfalls nichts zu tun. Jetzt im Nachhinein denke ich, er hat vielleicht von seiner eigenen Heuchelei geredet.

– Sie glauben, dass er tatsächlich den Transport von Flüchtlingen organisiert hat?

– Nein, das habe ich nicht gesagt. Nur dass vielleicht sein wirkliches Leben anders war, als viele glauben. Ich wollte auch nicht mehr akzeptieren, dass er mit seinen Lkw unsere Luft verpestet und damit sogar Bio-Produkte verkauft. Ich denke an unsere Umwelt und an die Zukunft. Vieles hat bei ihm nicht mehr zusammengepasst. Leider. Ich habe ihm den Rücken freigehalten und dafür meine Karriere aufgegeben. Jetzt stehe ich vor dem Nichts.

– Darf man fragen, wovon Sie momentan leben?

– Ich habe zum Glück etwas gespart. Und ich werde bei der Scheidung darauf bestehen, dass ich meinen fairen Anteil bekomme. Immerhin habe ich mich in einer entscheidenden beruflichen Phase für ihn entschieden. Da ist das nur recht und billig. Wir Frauen müssen uns auf die Hinterbeine stellen.

Jetzt ist er tot. Ob sie erbt? Ob ToPost das Interview aus Pietät aus dem Archiv genommen hat? Bisher haben sie sich um so etwas nicht gekümmert. Was hat Neuhaus bei unserem Gespräch über seine Frau gesagt? Ihm sei klar geworden, dass er für sie einfach eine gute Partie zum richtigen Zeitpunkt gewesen sei. Klang auch nicht eben freundlich. Zehn Jahre davor: Sie hat in seiner PR-Abteilung gearbeitet. Er war begeistert von der jungen schönen Frau, die ihn anhimmelte. Sie war begeistert davon, dass er von ihr begeistert war. Ein altes Lied. Dann war es vorbei mit der Begeisterung. Er hatte Probleme und bei ihr wenig Rückhalt. Sie hat sich das Leben an seiner Seite anders vorgestellt. Ich glaube nicht, dass er sich aus Gram über das Ende dieser Beziehung umgebracht hat.

– Du starrst böse ins Telefon, als möchtest du jemand töten. Geht Voodoo über Handy? Vesna küsst mich auf beide Wangen und setzt sich.

– Sollte man googeln. Es gibt sicher eine App. Wäre vielleicht eine Möglichkeit. Ansonsten muss ich wohl weg vom „Magazin“. Ich kann mit diesem Typ nicht arbeiten. Man sollte den Eigentümern klarmachen, dass er das Blatt ruiniert.

– Die haben ihn geholt, meine liebe Mira. Du verschwendest besser keine Zeit und Energie an das Männchen. Du machst deine Geschichten und basta.

– Er schreibt sie um, wenn einem Anzeigekunden etwas nicht passt. Und er hat politische Seilschaften, die ich zum Kotzen finde.

– Sprichst du womöglich von Teil unserer Regierung? Die Menschen haben sie gewählt. Du wolltest eine Story über Kriminalität im Internet machen. Fran hilft dir. Das ist besser als sich in der Sache mit Neuhaus verrennen.

– Verrennen? Ich weiß nicht, ob er sich umgebracht hat. Und wenn: Dann gibt es Leute, die daran schuld sind.

– Ja. Zum Beispiel er selbst. Schreibe das Interview und dann mache etwas anderes. Die Firma von Fran lauft übrigens immer besser. Gerade wegen Kriminalität im Internet. Weil die Menschen Angst haben vor Attacken. Er kann sie schützen. Wenn auch nicht perfekt. Das geht nicht.

– Vielleicht machen die IT-Unternehmer solche Attacken selbst? Und verkaufen dann die Schutzmaßnahmen dagegen.

– Mira Valensky, du spinnst. Du kannst nicht Fran …

– War ein Witz.

– Aber kein guter. Hast du mitbekommen, was die Russen getan haben? Das EU-Parlament hat die Freilassung von russischen Regimegegnern verlangt und zwei Tage danach sind ihre Server durch eine DDoS-Attacke lahmgelegt worden.

– Eine was?

– Das du solltest recherchieren. Da wird ein Server von ganz vielen Geräten aus angesteuert, es ist so, als wollen alle in Wien auf einmal in den Stephansdom. Eine Million Menschen. Da ist das totale Chaos. Und alle Wege dorthin sind verstopft.

– Ich hab gelesen, dass das EU-Parlament attackiert worden ist. Eine Zeit lang ist auch der Strom ausgefallen.

– Alles wird über Server gesteuert, das sage ich dir. Da geht es nicht nur um Homepage.

– Haben sie die Seite zerstört?

– Sie haben alles lahmgelegt, das ist Schaden genug. Schon allein für Renommee. Wobei Fran sagt, das ist nicht sicher, ob sie nicht doch eine Schadsoftware hinterlassen haben. Irgendwo.

– Na super. Die haben uns also in der Tasche.

– War jetzt wieder ein Witz?

– Könntest du mir sagen, warum niemand meine Witze versteht?

– Ist eher Sarkasmus und so etwas kenne ich nicht an dir, Mira Valensky.

– Die Stimmung im „Magazin“ färbt eben ab.

– Du entscheidest, ob du das zulasst. Übrigens ist es nicht sicher, ob der Angriff wirklich aus Russland gekommen ist. Fran sagt, es gibt Hinweise auf Österreich. Ausgerechnet.

– Hätte er wohl gerne. Muss sich eben um sein Geschäft kümmern.

– Rede nicht so. Was ist mit dir, Mira? Du hast keinen Grund, auf die ganze Welt sauer zu sein.

– Ich weiß auch nicht. Es ist … Bei allen läuft es gut, nur bei mir nicht.

Vesna lächelt und greift nach meiner Hand. Ich will schon spotten, dass sie es üblicherweise nicht so mit Sentimentalitäten hat, aber ich unterdrücke es. Ich kann mich selbst nicht leiden.

– Mira, Süße: Du hast die größte Katze von allen, du hast einen supernetten Mann. Du lebst in einer wunderschönen Wohnung in der Mitte von Wien. Und zur Not kann Oskar dich erhalten.

– Das hab ich mir immer gewünscht.

– Musst ja nicht. Ich rufe Fran an. Er wird dich auf andere Gedanken bringen. Und dir eine gute Story liefern.

Fran sitzt neben uns, rührt in seinem Caffè Latte und schüttelt den Kopf. – Ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist. Simon war einer der engsten Mitarbeiter von Neuhaus. Er hat zu ihm gehalten, er war ihm dankbar.

– So wie der alte Kaufmann.

– Wie wer? Fran sieht mich irritiert an.

– Buono. Oskars Lieblingsladen. Er wurde von Neuhaus übernommen.

– Was heißt verschwunden?, fragt Vesna nach. – Dieser Mitarbeiter kann auf Urlaub sein. Oder einfach nicht online. Das ist früher häufig so gewesen, auch wenn du dir das nicht mehr vorstellen kannst.

Fran lächelt seine Mutter an. – Kann ich doch. Ich schalte manchmal alles aus.

– Wenn du schlafen willst.

– Wenn ich lesen will. Ein Buch. Faszinierendes Ding. Kann nicht abstürzen und keiner kann mitlesen. Sie haben Simon nicht nur im Netz gesucht, sondern auch überall, wo er regelmäßig war.

– Wer sind „sie“?, will ich wissen.

– Freunde von ihm. Gute Leute. Aus der Hackerszene. Simon ist ein Ass. Und ein wirklich netter Typ. Er war Neuhaus’ Experte für alles, was online funktionieren musste.

– Hackerszene? Was du tust in der Hackerszene? Vesna sieht ihren Sohn beunruhigt an.

Fran lacht. – Wenn du nervös wirst, kommt dir noch immer die Satzstellung durcheinander, Mam. Hacker sind okay. Nur weil dummerweise immer wieder Kriminelle als Hacker bezeichnet werden, ändert das nichts daran. Hacker suchen kreative Umwege, sie zerstören nichts und sie erpressen kein Geld.

– Sie brechen in fremde Computer ein, beharrt Vesna.

– Sie kümmern sich um die Sicherheit im Netz, sie finden Lücken und arbeiten inzwischen eng mit den Cybercrime-Leuten zusammen. Cyber Crime Competence Center, kurz C4.

– Habe ich davon gehört. Du hast auch zu tun mit denen?

– Natürlich. Ich sehe viel, wenn ich an Sicherheitslösungen für meine Auftraggeber arbeite. Wir helfen.

– Und die haben nichts dagegen, dass du gemeinsam bist mit Hackern? Du solltest nicht mit ihnen sein, das ist besser für den Ruf. Vielleicht hast du recht, aber die meisten Leute wissen das nicht. Für die sind Hacker die neuen Verbrecher. Vielleicht ist Simon wegen so etwas verschwunden.

– Ach, und um der lieben Vorurteile willen soll ich Freunde hängenlassen?

– Er ist ein Freund? Wenn er dein Freund ist, warum ich kenne ihn nicht?

– Mam, ich bin kein Kind mehr.

Ich mische mich in den Familienstreit. – Dieser Simon war also ein enger Mitarbeiter von Neuhaus, er hat sich um alle Computerdinge gekümmert. Und er ist genau zu der Zeit verschwunden, als sich Neuhaus umgebracht hat.

– Oder als er umgebracht wurde, sagt Fran.

– Vielleicht von ihm. Diesem Simon, wirft Vesna ein.

Fran sieht sie genervt an. – Sicher nicht. Für Simon war Neuhaus ein Held. Er hat ihm eine neue Chance gegeben. Er hat sich eben nicht von Vorurteilen leiten lassen.

– Neue Chance? Warum? Was hat er vorher getan?

– Na gut. Als er jung war, war Simon ein wenig wild.

– Wie alt ist er?

– So alt wie ich. Circa.

– Als er jung war, wiederhole ich amüsiert.

– Ich werde dreißig.

– Entzückend.

– Was war mit Simon?, will Vesna wissen.

– Er war in Berlin im Schwarzen Block. Gegen Imperialismus und all so was, Straßenschlachten gegen Neonazis und gegen das Establishment. Sachbeschädigungen, Widerstand gegen die Staatsgewalt. Er hatte eine echt miese Kindheit. Der Vater war ein rechter Politiker. Er hat sich scheiden lassen, um die Tochter des Parteichefs zu heiraten. Inzwischen hat er sich offenbar total versoffen. Seine Mutter ist nach der Scheidung um die Häuser gezogen. Irgendwie ist Simon in Wien gelandet und Neuhaus hat ihn aufgegabelt, als er in einen Container eingebrochen ist, um nach Essen zu suchen.

– Du kennst Leute, sagt Vesna und schüttelt den Kopf.

– Neuhaus hat ihm zu essen gegeben, statt ihn anzuzeigen. Und er hat ihn im Lager arbeiten lassen. Dann ist er dahintergekommen, dass Simon ein Computerfreak ist und sich schon damals ausgesprochen gut im Netz bewegen konnte.

– Hacker eben.

– Ja, genau. Er ist gut und schlau. Oder ist dir lieber, er wirft mit Steinen? Neuhaus hat ihm Kurse gezahlt. Dafür hat er jetzt einen der besten Computerspezialisten im Land.

– Hast du keine Idee, warum er verschwunden ist?, frage ich.

– Es muss mit dem Tod von Neuhaus zu tun haben.

– Ihr habt schon Krankenhäuser, Notschlafstellen, Polizei durchtelefoniert? Vesna nimmt noch einen Schluck Soda-Zitrone. Tagsüber will sie keinen Alkohol. Ich wünschte, ich wäre so konsequent.

– Durchtelefoniert nicht, aber …

Ich sehe Vesnas Sohn an und lächle. – Du meinst, deine Freunde haben andere Methoden.

– Es geht schneller. Und man weiß, dass die Auskünfte stimmen. Es ist peinlich, wie schlecht gewisse Einrichtungen gesichert sind. Ganz abgesehen davon, dass es fast überall Menschen gibt, die ihre Zugangsdaten mehr oder weniger offen herumliegen lassen. Simon ist nirgendwo aufgetaucht.

– Er kann in der Donau schwimmen, murmelt Vesna.

– Wer macht da schlechte Witze? Ich tippe in mein Smartphone und suche nach Simon Wiedner. Unterdessen debattiert Vesna mit ihrem Sohn weiter über Hacker und ihren Ruf und die Auswirkungen auf seinen Ruf. Besser, ich gieße nicht Öl ins Feuer, indem ich Vesna damit aufziehe, wie stockkonservativ sie ist, wenn es um ihre Kinder geht. Ihr sind halblegale Umwege, wenn sie dem richtigen Ziel dienen, kein Problem. Aber Fran und Jana haben den ganz geraden bürgerlichen Weg zu nehmen. Damit ihnen ja nichts passiert.

Die Nachricht ist bereits im Netz angekommen. Neuhaus’ IT-Experte Simon W. ist verschwunden. Was seine Vergangenheit angeht, scheint Fran untertrieben zu haben. Drogenkriminalität, Körperverletzung, Beteiligung an einer kriminellen Organisation. Vom Verdacht auf fahrlässige Tötung aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Alles rund zehn Jahre her. Die Berichte sind einander sehr ähnlich. Ich logge mich bei ToPost ein und finde das Ausgangsmaterial: Hat ihn seine Vergangenheit eingeholt? – Simon W., Computerexperte und enger Mitarbeiter von Carlo Neuhaus, spurlos verschwunden.

Nach der Aufzählung seiner Vergehen und Verbrechen wird der Verdacht geäußert, dass der vorbestrafte Mann, der auch in der Hackerszene aktiv gewesen sein soll, mit dem Tod seines Chefs in Verbindung steht. Polizeiliche Ermittlungen laufen.

Ich halte Fran mein Smartphone vor die Nase. Die beiden streiten gerade darüber, ob sich Jana nicht endlich einen fixen Job suchen sollte, statt im Libanon Flüchtlinge zu betreuen.

– Sie schreibt an ihrer Dissertation, knurrt Fran.

– Niemand muss schreiben, wenn es so gefährlich ist.

– Für sie ist es nicht gefährlich. Sie weiß, was sie tut. Sie kann jederzeit weg.

– Und wenn Unruhen ausbrechen?

Fran liest und sieht mich an. – Irre. Diese Agentur. ToPost. Dreckschleuder.

– Darüber könnte Jana ihre Dissertation machen, wirft Vesna ein.