Im Schatten des Palio - Kerstin Groeper - E-Book
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Im Schatten des Palio E-Book

Kerstin Groeper

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Beschreibung

Unter der sengenden Mittagssonne Sienas wird ein Mann tot in einem Müllkontainer gefunden. Schnell steht fest: Das Opfer ist ein deutscher Politiker. In die Toskana ist er gereist, um als Mitglied einer Delegation zu verhandeln. Aber irgendetwas unterscheidet den Toten von den Parlamentariern. Zurückgezogen wohnt er in einem schäbigen Ferienhaus am Rande der Stadt. Die Festplatte seines Computers wurde gelöscht. Und winzige Blutspritzer an einer Wand stammen von einer unbekannten Person. Commissario Luca Marcetti entdeckt immer neue Ungereimtheiten, die es zu enträtseln gilt. Dabei haben gerade die Festtage um den Palio, dem gefährlichen Pferderennen Sienas, begonnen, das Marcetti heilig ist. Seine Ermittlungen geraten ins Stocken und es zeichnet sich bald ab, dass viel mehr hinter dem Mord steckt, als er vermutet hatte.

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Seitenzahl: 407

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Kerstin Groeper und Giuseppe Bruno

Im Schatten des Palio

Luca Marcettis erster Fall

Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2017 bei hey! publishing, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-95607-028-0

www.heypublishing.com

Die Geschichte ist frei erfunden. Jedwede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.

Prolog

Siena, die wunderschöne Stadt im Herzen der Toskana, ist der Schauplatz des berühmten Pferderennens, das zweimal im Jahr – am 2. Juli und 16. August – von den einzelnen Stadtteilen, genannt Contraden, ausgetragen wird.

Durch Dekret ordnete die Großherzogin der Toskana Violante von Bayern im Jahre 1729 die noch heute bestehenden 17 Contraden. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zum sozialen Leben der Stadt. Jede Contrade verfügt über ein Zentrum mit Garten, in dem das ganze Jahr über Treffen und Feiern stattfinden.

Als Angehörigen der Nobile Contrada dell‘Aquila (ebenso wie die Autoren des Buches) gibt es für unseren Protagonisten Commissario Luca Marcetti nichts Wichtigeres, als sich in dieser Zeit um einen Sieg seiner Contrade zu bemühen. Entsprechend genervt ist er auch, als er mit einem Mord konfrontiert wird, bei dem er die Ermittlungen übernehmen muss.

Luca Marcetti

Luca Marcetti eilte leicht schnaufend die Via di Città hinunter, die im morgendlichen Dunst lag, in diesem mystischen Halbschatten der Häuserschluchten, ehe die Strahlen der Mittagssonne für kurze Zeit das unebene Pflaster der alten Stadt streichelten. Er war noch kurz in seinem Büro gewesen, doch dann hatte ihn die Aufregung übermannt: die Verlosung der Pferde, die an diesem wunderschönen Mittwochmittag unter dem saphirblauen Himmel stattfinden sollte. Der Palio, das berühmte Pferderennen im Herzen von Siena, würde mit dieser Zeremonie seinen Anfang nehmen. Sein Herz schlug höher, als er sich dem zentralen, muschelförmigen Platz in Siena näherte.

Luca Marcetti erreichte den Campo, den weiten Platz, der sich plötzlich im gleißenden Sonnenlicht vor ihm öffnete, und ließ seinen Blick über die Menschenmenge schweifen, die sich vor dem gotischen Palast der Stadtverwaltung eingefunden hatte. Vor dem roten Gebäude mit den zierlichen weißen Säulen war eine kleine provisorische Bühne aufgebaut worden, auf der an einem langen wackeligen Holztisch und auf ebenso unsichereren Klappstühlen die Capitani saßen. In hitzigen Diskussionen hatten diese Vertreter der einzelnen Stadtteile in mehreren Proberennen die zehn Pferde ausgewählt, die nun jeden der teilnehmenden Stadtteile bei dem Pferderennen repräsentieren sollten. Marcetti konnte vage seinen Capitano erkennen. Er saß ganz links, seinen Kopf erwartungsvoll nach vorn gebeugt, im Mundwinkel eine seiner eindrucksvollen dicken kubanischen Zigarren, auf der er nervös herumkaute. Marcetti konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er seinen Freund bei dieser wichtigen Aufgabe sah.

Mandriani war sein Freund, natürlich hatte er ihn in der Generalversammlung im letzten Herbst zum Capitano gewählt, aber eher, weil zu dem Zeitpunkt niemand sonst zur Verfügung gestanden hatte, der qualifiziert gewesen wäre. Mandriani war beliebt, verstand es, die gespaltenen Lager in seinem Stadtteil wieder zu vereinen, außerdem hatte er als Arzt und Gerichtsmediziner viele Kontakte nach außen. Das war ein immenser Vorteil, denn nur durch geschicktes Manipulieren, durch geheime Kontakte und Absprachen mit anderen Contraden war ein Sieg bei dem Pferderennen inmitten von Siena überhaupt möglich. Marcetti wischte sich einige Schweißperlen von der Stirn und spitzte erwartungsvoll den Mund, als sein prüfender Blick über den Platz glitt. Seitlich neben der Bühne standen in einer Reihe die Pferde in provisorischen Boxen, die nacheinander wie in einer Lotterie verlost wurden. Weiße Nummern an den Flanken verhinderten, dass die edlen Tiere vertauscht oder heimlich ausgewechselt wurden. Nervös schlugen die Pferde mit ihren Schweifen, ließen sich von der Aufregung der vorbeidrängenden Menschen anstecken.

Ein eigenartiges Fieber lag über der Stadt, ein nervöses Pulsieren, das sogar die Touristen ansteckte, die wie jedes Jahr zu dem Palio nach Siena strömten. Luca Marcetti dagegen waren die Touristen völlig gleichgültig. Der Palio war keine Touristenattraktion, es war seit Jahrhunderten ein Wettkampf der einzelnen Contraden um Ehre und Sieg. Unhöflich bahnte er sich einen Weg durch die Menge, die sich vor der Bühne drängte. Er wollte noch näher am Geschehen sein, denn in dem Lärm der grölenden Menge war kaum etwas zu verstehen. Er erreichte den Ort, an dem sich die Mitglieder seiner Contrade versammelt hatten, erkennbar an den gelben Schals mit dem Symbol des doppelköpfigen Adlers, den alle sichtbar über die Schultern drapiert hatten. Aufgeregt machten ihm die Menschen Platz, ließen ihm automatisch den Vortritt oder schlugen ihm wohlwollend auf die Schultern: „Ah, ciao, Luca!“

Luca Marcetti war eine wichtige Persönlichkeit in Siena. Seit Generationen gehörte er dem Hochadel der Toskana an, aber noch wichtiger, zur Prominenz der Nobile Contrada dell’Aquila. Stolz flatterte das gelbe Fazzoletto, der Schal mit dem schwarzen Adler auf seiner Schulter, alt und ausgeblichen, ein Zeichen davon, wie oft er schon von seinem Besitzer getragen worden war. Aber auch Luca Marcetti selbst war eine eindrucksvolle Erscheinung. Groß und stattlich, denn er liebte gutes Essen; dunkle Locken, bereits hier und da mit einem silbernen Schimmer, der ihm mit seinen achtunddreißig Jahren durchaus Eleganz verlieh; und dazu ein sorgfältig gestutzter Vollbart. Der Knopf seines weißen Hemdes spannte sich gefährlich über seinem Bauch, bereit jederzeit abzuspringen und in einem Gully zu verschwinden. Es waren die typischen fünf Kilo zu viel, die er mit ein wenig Disziplin in vier Wochen wieder heruntertrainiert könnte, wenn ihm sein anstrengender Job die Zeit dafür ließ. In seinem Gesicht dominierte eine lange Nase, ganz nach etruskischem Profil, und um seine ausdrucksvollen braunen Augen hatten sich freundliche Lachfältchen gebildet. Er hatte ein lautes, tiefes, ansteckendes Lachen, das zu seiner ausladenden Gestik passte. Wenn er irgendwohin kam, zog er sofort alle Aufmerksamkeit auf sich. Er war der geborene Adelige oder Herrscher; seine Vorfahren waren Grafen, Ritter und Söldner gewesen und hatten bei allen Schlachten in vorderster Linie gekämpft. Immer noch steckte diese angeborene Präsenz in ihm, diese Aura von Größe, die einen natürlichen Anführer ausmachte. Tatsächlich war Luca Marcetti Hauptkommissar, Commissario Capo der Squadra Mobile, sehr zum Ärgernis seines Vaters, der eine Karriere in einer angesehenen Bank für ihn vorgesehen hatte. Aber da hätte er sicher nicht diesen Luxus, sein Büro während der Dienstzeit verlassen zu können, um sich um seine Contrade zu kümmern.

Er war eindeutig eine Autorität, obwohl man das seiner legeren Kleidung nicht gleich ansah. Trotzdem war sein Sommer-Outfit modisch gewählt: kurze, elegante Hose, weißes Hemd, bequeme Sandalen. Jetzt hüpfte er vor Aufregung wie ein kleiner Junge, weil das nächste Pferd genannt wurde: „Numero 26, Zilata Usa!“

Die Stimmung erreichte ihren Siedepunkt, und kurz wurde es still, als das nächste Papier auseinandergefaltet wurde: „Aquila!“

Der Rest ging im tosenden Jubel der Contradaioli von Aquila unter, die zum roten Rathaus mit dem berühmten Turm drängten, um „ihr“ Pferd in Empfang zu nehmen. Die sechsundneunzig Stunden des Palio hatten begonnen!

Der Barbaresco, der Pferdepfleger der Contrade, nahm den Schimmel am Zügel und versuchte ihn vor den begeisterten Menschen in Sicherheit zu bringen. „Sch, sch!“, versuchte er sein Glück, denn von jetzt an musste alles unternommen werden, damit das Pferd sich nicht verletzte. Einige besonnene Männer, unter ihnen Luca, bildeten einen schützenden Ring um das nervöse Pferd und geleiteten es von dem mit Menschen überfluteten Platz. Johlend folgten ihnen die zahlreichen Anhänger der Contrade, sangen bereits die ersten Spottlieder gegen den „Feind“. Mit erhobenen Fäusten folgte die Hymne der Contrade, die mit einem laut gebrüllten „A-A-Aquile“ endete. Singend verließ der Tross den Platz, ließ einige kopfschüttelnde Touristen hinter sich zurück, die nicht verstanden, was hier vorging.

Eilig drängte sich der Pferdepfleger mit dem Tier die enge Straße hoch, die im Halbschatten der schlammfarbenen Häuserschluchten lag. In Siena war eigentlich alles wie getrockneter Schlamm. Von schlammrosa über schlammgelb bis schlammgrau. Selbst die gebogenen, oft verwitterten Dachziegel zeigten ein warmes Schlammorange. Aber diese gedämpften Farben passten zu den grünen Pinien, den silbergrauen Olivenhainen und dem erdigen Geschmack des Weins.

Der Barbaresco versuchte das tänzelnde Pferd zu beruhigen, das durch den Lärm irritiert den Kopf hoch warf. Auch der Capitano hatte sich inzwischen dem Zug angeschlossen und hob begütigend die Hände, um den Gesang zu dämpfen. Sein grauer Anzug war eine Spur zu groß, so, als versuchte er, durch die Kleidung die Wichtigkeit seiner Position zu unterstreichen. „Jetzt seid doch mal leise!“, bat er seine Anhänger mit tiefer Stimme. Seine Stirn war in sorgenvolle Falten gelegt, und er warf eine Locke seines silbrigen Haars nach hinten. Mehrere kräftig gebaute Männer drängten die begeisterten Menschen einige Meter zurück und gaben dem Pferd mehr Platz, sodass es sich beruhigen konnte. Diszipliniert reihten sich die anderen Contradaioli dahinter ein, gingen nun ordentlich hinter dem Pferd her, ihr Gesang um einiges harmonischer. Behutsam führte der Barbaresco das Pferd in Richtung des Stalles, der vor Jahrhunderten gebaut worden war und nur für diesen Zweck benutzt wurde: Zweimal im Jahr, im Juli und August, für das Pferderennen mitten in der Stadt, für das Siena weltweit bekannt war. Viele wussten vielleicht nicht, dass Siena in der Toskana lag, aber den meisten war der Palio zumindest ein ungefährer Begriff.

Luca Marcetti befand sich direkt hinter dem Pferd inmitten der aufgeregt diskutierenden Menschen, als sein Handy klingelte. „Pronto!“, rief er in Hochstimmung.

Eine Stimme redete aufgeregt auf ihn ein, und er verstand kein Wort. Amüsiert bat er um eine Pause: „Aspetti, aspetti!“, dann ließ er sich einige Meter zurückfallen. „Was?“

Wieder erklang die jugendliche Stimme, und er erkannte Pietro Balloni, seinen Assistenten. Ernst redete Balloni auf ihn ein, und Marcettis Stimmung sank auf den Nullpunkt: „Mord?“

„Si, si, si …“, weiter hörte Luca nicht mehr hin. Ein Mord? Jetzt? Jetzt war der Palio! Er hatte keine Zeit für einen Mord! Das ganze Jahr über war nichts los gewesen, und ausgerechnet jetzt? Sie hatten ein gutes Pferd, mit Aussicht auf Sieg. Jetzt mussten Ränke geschmiedet, Verbündete gewonnen und vor allen Dingen die feindlichen Contraden beobachtet werden. Die Contrade! Sie war der Inbegriff seines Lebens und Denkens. Die Nobile Contrada dell’Aquila war eine der siebzehn Contraden, die es in Siena gab. Sie war klein, aber vielleicht gerade deswegen eine in sich verschworene Gemeinschaft. Wie oft hatte er hier als Jugendlicher Zuflucht gefunden, ob bei Liebeskummer, Krach mit den Eltern, Ärger in der Schule. Seine Freunde waren stets für ihn da, auch jetzt noch, wenn er als Commissario auf verschlungene, geheime und diskrete Informationsquellen angewiesen war. Er zahlte es durch seine absolute Loyalität zurück, indem er der Contrade immer zur Verfügung stand. Ein Contradaiolo mit Leib und Seele. Sich jetzt um einen Mord zu kümmern? Mamma mia!

Jetzt musste schnellstens mit einem guten Fantino, wie die Jockeys in Siena genannt wurden, verhandelt werden, und es mussten politische Ränke geschmiedet werden! Marcetti gehörte zu den Vertrauten des Capitano, dem Mann, der während des Palios alles entschied, und auf ihn warteten wichtige Aufgaben. Nur widerwillig wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Handy zu: „Was ist passiert?“

Balloni wiederholte geflissentlich seine Worte, denn er kannte seinen Chef und sein Temperament nur zu gut. Kurz und knapp meldete er: „Ein Mann mit eingeschlagenem Schädel, gefunden in einem Müllcontainer, an der Superstrada nach Florenz, Ausfahrt Monteriggioni.“

„An der Superstrada?“, überlegte Marcetti überrascht. Dort gab es keine Müllcontainer.

„Nein, du nimmst die Ausfahrt Monteriggioni, fährst an der Festung vorbei, dann nach ein paar Kilometern kommt die Mülltonne.“

„Ach so! Ist der Tatort schon abgesperrt?“

„Natürlich“, erklärte Balloni in seiner ruhigen Art. „Und die Spurensicherung ist auch schon verständigt.“

„Bene“, knurrte Marcetti. „Was soll ich dann noch dort?“

Ein leises Kichern antwortete ihm: „Du bist der Chef. Es handelt sich um Mord.“

„Ach so! Na schön, ich komme gleich.“

„Ciao“, erklang es am anderen Ende.

Marcetti beeilte sich, die anderen einzuholen, und wandte sich an seinen Capitano: „Mi dispiace! Aber ich muss kurz weg. Ein Mord.“

Ungläubige, ein wenig wässrige Augen, von der aufgeschaukelten Begeisterung der letzten Minuten, schauten ihn entgeistert an. „Jetzt? Jetzt ist Palio! Ich brauche dich hier!“

„Lo so! Das weiß ich doch“, entgegnete Luca unwillig und warf theatralisch die Arme hoch. „Wahrscheinlich ein Tourist.“ Nur ein Tourist konnte die Frechheit besitzen, sich während des Palios umbringen zu lassen.

Ohne besondere Eile schritt Marcetti zu der Questura, dem Polizeipräsidium von Siena. Ein gelber Palast, mit grünen Fensterläden, der durch einen Bogengang im ersten Stock mit der gegenüberliegenden Präfektur, dem Amtssitz der Provinzregierung, verbunden war. Sein Blick fiel schuldbewusst an seiner legeren Kleidung herunter, aber ihm blieb keine Zeit, sich umzuziehen. In Sandalen unterwegs zu einem Mordfall! Madre mia! Er fürchtete den vorwurfsvollen Blick seines Assistenten, den er natürlich geflissentlich übersehen würde. Warum musste ausgerechnet heute ein Mord geschehen? Marcettis Auto stand in einer kleinen Seitenstraße auf einem der wenigen freien Parkplätze. Es hatte schon seine Vorteile, Commissario zu sein: Während die Stadt für den Verkehr gesperrt war, konnte er ungehindert überall hin – und noch besser: Er konnte überall parken. Respektlos kurvte er seinen roten Alfa Romeo GTV, schon ein Oldtimer, durch die engen Straßen, hupte manchmal, um eine der Vespas aus dem Weg zu scheuchen, die wie Libellen durch die engen Straßenzüge schwirrten, die Fahrer natürlich vorschriftswidrig ohne Sturzhelm. Er fuhr die enge Via di San Marco hinunter, an den winzigen Läden entlang, die sich überall im Erdgeschoss der Häuser verbargen. Leise bewegten sich die Fliegenvorhänge an den Eingangstüren, als er mit erhöhter Geschwindigkeit an ihnen vorbei donnerte, und kurz wehte eine leichte Brise aus Benzin- und Ölgeruch durch die Geschäfte. Das Dröhnen seines Motors hallte noch durch die Straßenzüge, als Luca bereits die Stadt über die Porta San Marco, eines der vielen vollständig erhaltenen Stadttore der Stadt, welche die uralte Ziegelmauer der Stadtfestung unterbrachen, verlassen hatte. Im Nu befand er sich auf der zweispurigen Superstrada nach Florenz. Er beschleunigte auf einhundertfünfzig Stundenkilometer und ignorierte wie immer die Geschwindigkeitsbegrenzung von neunzig. Aber wer sollte ihn auch aufhalten? Er würde einfach seinen Dienstausweis ziehen, und die Sache wäre geregelt.

Der Wagen holperte monoton über die Teerschwellen der Autobahn, und er ließ lässig seinen Arm aus dem offenen Fenster hängen, während der Wind seine Locken zerzauste. Seine Gedanken waren eindeutig nicht auf den Mordfall gerichtet. Stattdessen spekulierte er über die Chancen, die sie mit dem Pferd hatten. Zilata Usa! Kein schlechtes Los! Jetzt musste Mandriani beweisen, wie viel strategisches Geschick er besaß, auch wenn Marcetti ein wenig Zweifel daran hatte. Sein Freund kannte eine Menge Leute, aber er war neu als Capitano und verfügte vielleicht noch nicht über alle Kontakte, die er für diese Position brauchte. Genau hier würde Mandriani Unterstützung brauchen, politisches Kalkül, etwas, das Marcetti in die Wiege gelegt worden war. Aber wie sollte er sich um die Contrade kümmern, wenn er durch einen Mordfall aufgehalten wurde? Hoffentlich konnte er die Angelegenheit schnell klären.

Nach einigen Minuten erreichte Luca die Ausfahrt von Monteriggioni, eine vollständig erhaltene Festung aus dem Mittelalter, die trutzig auf einem Hügel stand und den Weg nach Siena überwachte. In regelmäßigen Abständen erhoben sich die Wachtürme über die eindrucksvolle Festungsmauer aus weißem Gestein, und mit ein bisschen Fantasie konnte man sich noch die Ritter und Soldaten vorstellen, die hier einst gekämpft hatten.

Nach einer langen Kurve wurde Luca von einem uniformierten Polizisten eingewiesen, der offensichtlich sein rotes Auto kannte und auf seine Ankunft gewartet hatte. Marcetti verzog erfreut die Mundwinkel. Balloni leistete wie immer gute Arbeit, und hatte die Polizia Stradale bereits über ihn aufgeklärt. Umsichtig parkte Marcetti sein Auto neben einigen verdorrten Ginsterbüschen und stieg aus. Eilig kam Balloni auf ihn zu, sein abgegriffenes braunes Notizbuch hatte er aufgeschlagen in der Hand. Seine runde Brille mit silberner Fassung rutschte fast von seiner schmalen Nase, als er über das Gestell hinweg seinem Chef zunickte. Sein Blick blieb konsterniert an dem sommerlichen Aufzug des Commissarios kleben, sein ganzes Gesicht war ein unausgesprochener Vorwurf. Inspektor Balloni wirkte neben seinem Chef geradezu bescheiden. Klein, zierlich, mit abstehenden Ohren, die alles zu hören schienen, und einem spitzen Gesicht. Seine schwarzen, kurz geschnittenen Haare waren wie bei einem kleinen Jungen nach vorn gekämmt, und so sah er wie ein Lausbub aus – oder eher: wie ein sizilianischer Lausbub. Balloni war ein südländischer Typ. Er wirkte auf den ersten Blick, als könnte er nicht bis drei zählen, aber seine blitzenden blauen Augen belehrten jeden eines Besseren. Sein Alter lag zwischen siebzehn und siebenundzwanzig und war einfach nicht zu schätzen. Laut Geburtsurkunde war er achtundzwanzig, falls diese nicht gefälscht war. Marcetti hatte ihn zu seinem Mitarbeiter ernannt, weil er dessen Arbeit schätzte. Balloni war gewissenhaft, fleißig und vor allen Dingen loyal. Durch ihn konnte sich Marcetti die eine oder andere Extravaganz erlauben. Allerdings schien er mit seinen Sandalen eine gewisse Grenze überschritten zu haben.

Marcetti überging gekonnt die Reaktion seines Mitarbeiters und musterte den Ort beziehungsweise die sandige Parkbucht, auf der ein normaler grüner Müllcontainer, mit eingedrückten Dellen und Schmutzflecken, flimmernd in der heißen Sonne stand. Die Straße war mit jungen Platanen gesäumt, die bereits die Blätter hängen ließen – ein Zeichen, dass es länger nicht mehr geregnet hatte. Auf der anderen Straßenseite lagen hinter einem hohen geschmiedeten Zaun einige verlassene Fabrikhallen. Sie trugen die typischen Zeichen von Vandalismus: eingeworfene Fenster, beschmierte Wände und zertrümmerte Türen. Auf den gekiesten Wegen wuchs Unkraut, und einige Fässer rosteten vor sich hin. Ansonsten war hier weit und breit nichts.

Freundlich begrüßte Marcetti erst einmal zwei Männer von der Polizei und tauschte Informationen über den bevorstehenden Palio aus. Dann erinnerte er sich an seinen eigentlichen Auftrag und nickte Balloni zu. Eifrig redete sein Partner auf ihn ein: „Also, eine Hausfrau hat die Leiche vor etwa einer Stunde in dem Müllcontainer gefunden. Sie heißt …“

„Unwichtig!“, wehrte Marcetti ungeduldig ab, denn ihm war klar, dass diese Frau sonst keine Informationen geben konnte. Er ging davon aus, dass die Polizei ein umfangreiches, nichtsdestotrotz nichts sagendes Protokoll abliefern würde. Im Moment hatte er keine Lust, sich mit einer hysterischen Hausfrau zu unterhalten. Das konnte er noch später oder in den nächsten Tagen oder … „Weiter!“ Er machte eine wedelnde Bewegung mit seiner Hand, als blätterte er in dem Notizbuch seines Assistenten.

„Sie hat sofort die Polizei verständigt, und die sind so gegen elf Uhr zwanzig hier eingetroffen. Sie haben erst die Spurensicherung verständigt. Das sind die zwei dort drüben.“ Balloni deutete auf zwei Männer in weißen Overalls, die bereits eifrig am Boden knieten.

„Ah, sehr gut! Ist der Staatsanwalt schon unterwegs?“ Ohne den Staatsanwalt konnte in einem Mordfall nicht ermittelt werden. Erst musste der Staatsanwalt sich ein Bild von dem Vorfall machen.

„Ja, er müsste gleich hier sein. Die Procura schickt Signore Brandesa.“

Marcetti unterdrückte ein unwilliges Schnauben, als er an den eleganten Staatsanwalt dachte, den er für einen aalglatten Typen hielt. Andererseits waren alle Staatsanwälte, die er kannte, aalglatt. Das gehörte offensichtlich zu ihrem Image. Interessiert nickte er in Richtung der Mülltonne. „Habt ihr schon etwas gefunden?“

„Nein, wir wollten erst so viele Spuren wie möglich sichern, ehe wir etwas anrühren.“

„Meinst du, dass sie hier überhaupt welche finden werden?“

Balloni zuckte mit den Schultern. „Der Müllcontainer steht auf unbefestigtem Boden. Vielleicht finden wir noch Reifenspuren.“

Stirnrunzelnd blickte Luca Marcetti auf den sandigen Boden. „Ziemlich viele Reifenabdrücke.“

„Stimmt“

„Gibt es sonst noch etwas?“

Balloni nickte eifrig, als er wichtig in sein Notizbuch blickte. „Der Müll ist Dienstag geleert worden, also gestern, daher kann die Leiche noch nicht so lange dort deponiert worden sein. Wir nehmen auf jeden Fall Fingerabdrücke von den Griffen.“

„Da werden Tausende sein! Ich glaube kaum, dass jemand seine Fingerabdrücke hier hinterlässt, wenn er eine Leiche verschwinden lässt.“

Wieder zuckte Balloni nur mit den Schultern. Diese Dinge gehörten zur normalen Polizeiarbeit, Fingerabdrücke auszuwählen oder auszuschließen war später Sache des Commissarios oder des Staatsanwalts.

„Haben sich irgendwelche Zeugen gemeldet?“

„Noch nicht, aber wir werden die Leute in der nächsten Ortschaft befragen.“

„Gut!“

Ein weiteres Fahrzeug näherte sich, und langsam wurde es eng um den Tatort. Ein schneidig gekleideter, in seinem dunklen anthrazitfarbenen Anzug ziemlich arrogant wirkender Mann mit dunkler Sonnenbrille stieg aus und näherte sich Marcetti. Er blickte indigniert auf seine schmalen schwarzen Schuhe, die nun leicht staubig wurden. „Was ist hier los?“, fragte er ohne Umschweife, machte sich noch nicht einmal die Mühe, die Brille abzunehmen.

„Buongiorno“ Der Commissario schüttelte ihm höflich die Hand und erinnerte sein Gegenüber auf unangenehme Weise an gewisse gesellschaftliche Gepflogenheiten.

„Buongiorno“, wiederholte der Staatsanwalt eine Spur freundlicher und schob die Brille auf die perfekt geschnittenen, glatten, leicht mit Gel gestylten Haare. Marcetti seufzte, als ihm klar wurde, dass er in diesem Fall mit dem Kerl zusammenarbeiten würde. Es graute ihm davor.

„Ein Mann liegt hier tot in der Mülltonne. Sehr appetitlich!“ Er wies undeutlich in Richtung des Fundortes.

Auch der Staatsanwalt wand sich sichtlich und schnaubte angewidert durch die Nase. „Haben Sie schon irgendwelche Informationen?“

„Nein, wir sichern die Spuren und haben ansonsten auf ihre Ankunft gewartet. Können wir die Leiche jetzt bergen?“

Der Staatsanwalt trat unschlüssig näher. „Sind die beiden von der Spurensicherung fertig?“

„Ja, ja, hier gibt’s nicht viel. Wir nehmen nur noch einige Reifenabdrücke. Wenn Sie also ein wenig vorsichtig sind …“

„Ja, kein Problem. Wir lassen den Tatort noch eine Weile gesperrt, damit ihr in Ruhe arbeiten könnt.“

„Danke!“

„Soll ich den Leichenwagen rufen?“, fragte Balloni eifrig und erntete einen eher spöttischen Blick seines Vorgesetzten.

„Na sicher!“

Die Polizisten winkten einige Fahrzeuge weiter, die extrem langsam an dem Tatort vorbeifuhren. Neugierige Augen hinter getönten Scheiben versuchten einen Blick darauf zu erhaschen, was hier vorgefallen war. Schließlich traten zwei uniformierte Männer an den Müllcontainer heran und öffneten den Deckel. Sie bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu dem sommerlich gekleideten Commissario. Schneidige graue Uniformhosen, steife dunkelblaue Hemden und schwarz polierte Stiefel. Sie schwitzten unter der unbequemen Kleidung und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Professionell zogen sie sich Plastikhandschuhe über, dann beugten sie sich über den Container. Fliegen summten um sie herum, und ein penetranter Geruch stieg auf. „Uhh!“, stöhnte Marcetti angeekelt und ging einen Schritt zurück.

Die Leiche lehnte halb sitzend, in eine braune Decke eingewickelt, an der Wand, denn der Container war nicht lang genug gewesen, um sie liegend aufzunehmen. Das war ein Glück, denn sonst wäre die Leiche wahrscheinlich nie gefunden worden. Die Hausfrauen hätten ihren Müll auf den Toten geworfen, und er wäre für alle Zeiten verschwunden gewesen. Umsichtig legten die Männer von der Spurensicherung eine graue Plane auf den Boden, damit die Leiche nicht in den Staub plumpste.

Mit einem Ruck zog ein Polizist den Körper hoch, dann griff der andere nach den Beinen des Toten. Wenig rücksichtsvoll zogen sie die Leiche aus dem Container, bis sie schließlich auf die Plane fiel. Eine klaffende Wunde am Hinterkopf zeugte von der Todesursache. Die blonden Haare waren verklebt vom getrockneten Blut, und Schmeißfliegen flogen aufgeschreckt herum. Vorsichtig schlugen die Männer die Decke auf, ob vielleicht noch andere Verletzungen zu sehen waren, aber die Leiche schien sonst unversehrt. Ein Mann, vielleicht Mitte vierzig, kräftig gebaut, aber schlank. Erstaunlich war nur seine Kleidung: eine offene Jeans, so als wollte der Mann gerade zur Toilette gehen, ein kariertes Baumwollhemd und schwarze Reitstiefel – das alles war für diese Jahreszeit sicherlich ungewöhnlich. Die Augen des Toten waren zum Glück geschlossen. Marcetti hasste es nämlich, in erstarrte Augen zu blicken. Mit spitzen Fingern zog ein Polizist der Spurensicherung den schmalen Geldbeutel aus der hinteren Hosentasche des Toten. Vorsichtig öffnete der Mann den Geldbeutel aus schwarzem Leder und zeigte erstaunt auf die grünen Geldscheine, die deutlich zu sehen waren.

„Raubmord können wir ausschließen“, meinte Marcetti nüchtern.

„Sonst noch etwas?“

Der Polizist blätterte durch den Geldbeutel, was mit den Plastikhandschuhen nicht ganz einfach war. Dann zog er hinter einigen Kreditkarten einen Ausweis heraus.

„Wie praktisch“, murmelte Luca Marcetti und nahm den Ausweis in die Hand. „Florian Bauer. Ein Deutscher.“ Wie er befürchtet hatte. Nur ein Tourist würde sich während des Palios umbringen lassen.

Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Nase und gab den Ausweis an den Staatsanwalt weiter. „Sehr merkwürdig“, meinte dieser. In der Regel versuchte man die Identität einer Leiche zu verbergen und stattete sie nicht mit einem Ausweis aus. Mit einem Kopfschütteln gab er den Ausweis an Marcetti zurück: „Wir müssen das deutsche Konsulat in Rom verständigen, damit die Angehörigen benachrichtigt werden können.“

Marcetti nickte nur und blickte sinnend auf den deutschen Ausweis. Diese kleine grüne Plastikkarte bedeutete eine Menge Ärger. Das konnte er förmlich riechen.

Der Staatsanwalt wandte sich an die umstehenden Männer: „Va bene! Die Leiche geht in die Gerichtsmedizin. Ich will Todesursache und Zeitpunkt des Todes. Ich will alle Zeugenaussagen der Anwohner, ob sie irgendetwas gehört oder gesehen haben. Sämtliche Informationen landen unverzüglich bei dem Commissario. Ist das klar?“ Ein kurzes Nicken antwortete ihm, und im gleichen Tonfall wandte er sich an Marcetti: „Sie sammeln die Informationen und halten mich auf dem Laufenden. Die Deutschen wollen sicher einige Antworten.“ Gemeinsam mit dem Commissario schlenderte er zurück zu seinem Auto. „Was sind Ihre nächsten Schritte?“

„Ich lasse die Hotels überprüfen, vielleicht finde ich dort einen Hinweis“, schlug Marcetti vor.

„Das ist naheliegend“, stimmte der Staatsanwalt zu. „Und sonst?“

Marcetti hatte keine Ahnung. Die üblichen Methoden, wie Freunde und Bekanntenkreis abklopfen, eventuell Ehefrau oder Freundin befragen, den Arbeitgeber aufsuchen, waren hier nicht wirksam. Es würde schwierig werden, überhaupt irgendwelche Anhaltspunkte zu finden. Vielleicht ein Leihwagen? „Ich werde erst mal ermitteln, ob der Deutsche allein oder in Begleitung hier war und ob er beruflich oder privat unterwegs war. Vielleicht stoße ich dabei auf etwas Interessantes. Vielleicht liegt ja schon eine Vermisstenanzeige vor?!“

„Gute Idee“, murmelte der Staatsanwalt. „Halten Sie mich auf dem Laufenden.“

„Selbstverständlich, Dottore!“, beruhigte Marcetti den Staatsanwalt.

Schweigend beobachteten die beiden die Arbeit der Polizei, dann gingen sie einige Schritte zur Seite, als der silberfarbene Leichenwagen vorfuhr.

Balloni eilte geschäftig herbei und wies den Fahrer in seinem grauen Anzug ein. Die Leiche wurde mitsamt der Decke vorsichtig in einen länglichen metallfarbenen Behälter gelegt und dann in die Ladezone des Autos geschoben. Gesprächsfetzen drangen zu Marcetti hinüber, Spekulationen, wie der Mann wohl ermordet worden war. Der Staatsanwalt schaltete sich ein, gab dem Fahrer noch ein paar Anweisungen, dann wandte er sich wieder an Marcetti: „Der Gerichtsmediziner wird sich unverzüglich mit Ihnen in Verbindung setzen. Aber geben Sie mir auch Bescheid. Hier ist meine Handynummer.“

„Si, Dottore!“, murmelte Marcetti und steckte die Visitenkarte des Staatsanwalts sorgsam in seinen eigenen ledernen Geldbeutel.

Signore Brandesa stieg zufrieden in sein Auto. Im Gegensatz zu Marcetti, der Staatsanwälte als lästiges Übel empfand, mochte Brandesa den Commissario, obwohl er sich Mühe gab, es sich nicht anmerken zu lassen. Aber Marcetti hatte auf seine unkonventionelle Art Erfolg, und das ließ auch ihn gut aussehen.

Marcetti verabschiedete sich förmlich und ging missmutig zu seinem Alfa Romeo. Balloni folgte ihm und hielt ihm die Tür auf. „So ein Mist!“, schimpfte Marcetti. „Ausgerechnet ein Deutscher!“ Er befürchtete weitere Komplikationen, die er im Moment überhaupt nicht brauchen konnte. Wie sollte er sich da um seine Contrade kümmern? Pietro Balloni erriet die Hintergedanken seines Chefs. Er selbst kam aus Grossetto und hatte wenig Einfühlungsvermögen für die Begeisterung der Seneser für ihr Palio. Kopfschüttelnd beobachtete er, wie eine ganze Stadt zweimal im Jahr dem kollektiven Wahnsinn verfiel. „Und jetzt?“, fragte er höflich.

Marcetti drückte ihm den Ausweis des Toten in die Hand. „Hier, überprüf die Meldungen der Hotels. Irgendwo muss er schließlich gewohnt haben. Ah, ja! Ruf das Konsulat an und check die Vermisstenanzeigen. Ich muss schnell noch etwas anderes erledigen“, meinte Marcetti.

Balloni seufzte und verdrehte empört die Augen. So, wie er das sah, würde er den Fall alleine lösen müssen. Zumindest bis der Palio vorbei war. Energisch schob er seine Brille zurück, als er dem Auto nachsah, das in einer Staubwolke Richtung Siena verschwand. Insgeheim genoss er die Verantwortung, die Luca Marcetti ihm überließ. Sie waren ein Team, gleichberechtigte Partner, und Marcetti gab ihm nie das Gefühl, dass er der Vorgesetzte war. Er lächelte in sich hinein, denn in den nächsten drei Tagen wäre er der Chef. Erst danach würde sein Marcetti wieder ansprechbar sein. Seine Aufgabe bestand nun darin Dottore di Sabato, Leiter der Questura, zu verheimlichen, dass Luca etwas ganz anderes im Kopf hatte, obwohl er es sicherlich ahnen würde. Die meisten Mitarbeiter kamen zum Glück aus anderen Gegenden, sonst wäre die Mordabteilung in Siena über Wochen hinweg nicht einsatzfähig. Dottore di Sabato sah über diese Unzulänglichkeiten bei Luca Marcetti großzügig hinweg, denn es hatte auch Vorteile, einen Angehörigen einer Contrade im Team zu haben. Das verkürzte Behördengänge und machte Informationen zugänglich, die sonst überhaupt nicht zu ermitteln wären. Siena war eine geschlossene, in sich verschworene Stadt. Das hatte auch ein Kollege aus Mailand feststellen müssen, der gegen Siena wegen Bestechung im Fußball ermittelt hatte. Gerüchten zufolge hatte eine Menge Geld den Besitzer gewechselt, damit der Fußballclub von Siena weiterhin in der Serie A spielen konnte. Selbstverständlich konnte niemandem etwas nachgewiesen werden, und der Ermittler war unverrichteter Dinge abgezogen. Ganz Siena hatte darüber gelacht: In einer Stadt, in der seit Jahrhunderten das „Arrangiare“ beim Palio fester Bestandteil der Kultur war und in der Geheimabsprachen mit zum Spiel gehörten, war Bestechung eine hohe Kunst und kein Verbrechen. Niemand hätte sich gewundert, wenn tatsächlich bestochen worden wäre, alle hätten nur gestaunt, wenn sich jemand dabei hätte erwischen lassen. So hatte die Stadt einen Triumph mehr, und der AC Siena war in der Serie A geblieben.

Luca Marcetti parkte seinen knatternden Alfa Romeo wieder vor dem Dom und bemerkte nebenbei, dass der Auspuff erneuert gehörte. Das war der Nachteil mit diesem Oldtimer: Die Reparaturen kosteten ihn ein Vermögen. Aber der Wagen hatte Klasse und passte zu dem Image des Junggesellen, das er eifersüchtig hegte. Immer wenn eine Beziehung zu eng wurde und die Angebetete plötzlich nach Namen für die zukünftigen gemeinsamen Kinder suchte, suchte er stattdessen das Weite. Eine Scheidung und ein sechzehnjähriger Sohn reichten ihm.

Warum wollten alle Frauen immer gleich heiraten? Mit seinen achtunddreißig Jahren fühlte er sich zu jung für diese Verpflichtung. Noch einmal wollte er sich nicht an die Kette legen lassen. Er hatte eine gute Beziehung zu seinem Sohn, eine eher schlechte zu seiner Exfrau, zahlte pünktlich den Unterhalt für die beiden, und das war genug. Nur ungern erinnerte er sich an ihr ständiges Nörgeln, an die ewigen Forderungen ihrer Eltern. „Unsere Tochter hat etwas Besseres verdient. Warum arbeitest du nicht bei deinem Vater in der Bank? Nie bist du zu Hause. Polizist ist doch kein anständiger Beruf.“ Nun hatte seine Exfrau etwas Besseres. Nämlich nichts! Vielleicht eignete sich sein Beruf wirklich nicht für eine Ehe? Mag sein. Aber er liebte seine Arbeit und wollte sich nicht noch einmal von einem nörgelnden Weib oder ehrgeizigen Schwiegereltern einengen lassen.

Im Dauerlauf erreichte er die Questura und nickte dem Polizisten, der an dem winzigen verglasten Empfangsschalter über einigen Überwachungsmonitoren schwitzte, freundlich zu. Dann öffnete er die mit Glas eingefasste Tür zum Treppenhaus und hechtete in den ersten Stock. Die Wände der Flure waren in freundlichem Gelb gestrichen, und die Räumlichkeiten der Büros waren zweckmäßig und modern eingerichtet. Helle Schreibtische, ergonomische Drehstühle und silberne Aluminiumregale dominierten die Ausstattung. Sein Büro dagegen war ein einziges Sammelsurium aus Papier und Aktenbergen. Die meiste Zeit verbrachte er hier und wühlte sich durch Stöße von Papier. Über die Abwechslung im Moment war er eigentlich ganz froh. Nachlässig machte er einige Notizen, überhörte dabei geflissentlich das Telefon, das gleichmäßig vor sich hin summte, dann war er wieder auf dem Weg nach draußen.

„Dottore Marcetti!“, hörte er die sonore, aber bestimmte Stimme seines Vorgesetzten. Eine freundliche Erscheinung mit sanften braunen Augen, dunkelbraunen Haaren, einer hohen Stirn und stets im gepflegten hellen Anzug.

Marcetti zuckte merklich zusammen, dann drehte er sich langsam um. „Si?“

„Haben Sie das Telefon nicht gehört?“

Uh! Sein Chef liebte es überhaupt nicht, wenn er den Gang entlanglaufen musste, um nach seinen Mitarbeitern zu sehen. „Äh, doch, aber …“, versuchte sich Marcetti herauszureden.

„Gibt es schon Neuigkeiten über den Toten?“

„Ah, aber ja!“ Marcettis Brust schwoll an vor Stolz, als er die ersten Ermittlungsergebnisse aufzählte: „Ein Deutscher! Den Namen und die Adresse haben wir schon. Florian Bauer.“

Angenehm überrascht blinzelte der Dottore. „Das ging aber schnell! Haben Sie das deutsche Konsulat verständigt?“

„Äh, ja“, stotterte Luca verlegen, „das wollte ich gerade tun.“

„Gut! Was sind Ihre nächsten Schritte?“, fragte der vollendete Gentleman und stemmte dabei geschäftig die Hände in die Hüften.

„Nun, wir ermitteln erst mal den Aufenthaltsort des Opfers. Die Hotels oder so. Wir gehen nicht davon aus, dass der Fundort der Leiche auch der Tatort ist. Vielleicht finden wir in dem Hotel einen Hinweis. Die Leiche ist auf dem Weg zur Gerichtsmedizin, um den genauen Todeszeitpunkt festzustellen.“

„Sehr gut! Sie halten mich bitte auf dem Laufenden“, mahnte der Dottore freundlich. Seine Stirn legte sich in einige besorgte Falten, als Marcetti verdächtig eilig durch die beige gestrichene Tür verschwand.

Marcetti blinzelte, als das gleißende Sonnenlicht ihn blendete, dann sauste er im Dauerlauf zu dem Treffpunkt seiner Contrade. Die Questura lag direkt zu Füßen des riesigen Doms, der auf dem höchsten Hügel die Stadt überragte. Er war aus schwarzem und weißem Marmor gebaut und erinnerte Marcetti an einen Sträfling in seiner Gefängniskluft, wie in einem Dick-und-Doof-Film, mit Stan Laurel und Oliver Hardy. Aber wahrscheinlich kam ihm dieser Vergleich nur, weil er Polizist war.

Der Stadtteil von Aquila grenzte direkt an den Dom; so musste Marcetti nur eine Seitenstraße entlang sausen, und schon war er inmitten des Geschehens. Eine der wenigen Möglichkeiten, in denen Arbeit und Freizeit so dicht nebeneinander lagen. Die Costa Larga, die kurze steile Straße, die an dem Stall vorbeiführte und in der man bereits nach wenigen Metern ins Schnaufen geriet, als wollte man einen Gipfel erstürmen, war bereits für den Verkehr gesperrt worden. Eifrige junge Männer schützten das Pferd nun vor eventuellen Übergriffen, hielten abwechselnd Wache, stolz auf diese ehrenvolle Aufgabe. Mehrfach war es vorgekommen, dass ein Pferd von einer verfeindeten Contrade verletzt oder vergiftet worden war. Und das Tückische daran war, dass der Feind meist nebenan hauste. Wie sonst könnte wohl eine seit Jahrzehnten andauernde Feindschaft entstehen?!

Der Staatsfeind von Aquila war Pantera, der Panther, dessen Gebiet gleich hinter dem Brunnen von Aquila begann. Es war ein ständiger Ort des Konfliktes. Jetzt hatten sich an der unsichtbaren Grenze dieser beiden Stadtviertel einige Jugendliche versammelt, die mit erhobenen Fäusten den Feind herausforderten:

E abbasso stallo riggi

san quircio e due porte

sono tutte gatte morte

sono tutte gatte morte

fanno schifo alla citta!

Frei übersetzt hieß das ungefähr:

„Hinter den Straßen Stalloreggi und San Quirico und dem Platz Due Porte, da sind die toten Katzen und verpesten mit ihrem Gestank die ganze Stadt!“

In vorderster Linie brüllte ein vierschrötiger junger Mann mit knallrotem Kopf, der kaum noch zu bändigen war: Mirco – allen als Dampfhammer bekannt. Die Wand aus gelben Poloshirts, die Statussymbole der Contradaioli, und gelben Fazzoletti, die wie Fahnen in die Schlacht getragen wurden, wog in Hetzattacken vor und zurück. Auf der anderen Seite marschierten ebenfalls Jugendliche auf, jederzeit bereit, eine Invasion ihres Gebiets zu verhindern. Unauffällig standen da auch einige Mannschaftswagen der Polizia Municipale. Polizisten, mit Schlagstöcken bewaffnet, quollen daraus hervor und stellten sich wachsam, aber ohne einzuschreiten, in der Nähe auf. Giovanni Mandriani fühlte sich als Capitano von Aquila genötigt, einzuschreiten. Mit beruhigenden Worten redete er auf die erregten jungen Männer ein: „Was wollt ihr denn von diesen Beckamorti, diesen Totengräbern? Sie nehmen doch am Rennen überhaupt nicht teil! Jetzt beruhigt euch mal wieder. Wir haben andere Aufgaben. Diese Miezekatzen sind es nicht wert.“

Sogleich nahmen mehrere Männer Mirco an den Schultern und zogen ihn wieder auf den Platz mit dem Brunnen zurück. Hier wurden im Herbst die neuen Mitglieder der Gemeinschaft getauft und damit in einer feierlichen Zeremonie in die Contrade aufgenommen. Ein Adler, das Namenssymbol der Contrade, schmückte den Brunnen, und die Touristen schöpften daraus kostenlos das Wasser in ihre Plastikflaschen, nicht ahnend, welch heilige Handlung hier sonst durchgeführt wurde.

Luca Marcetti gesellte sich dazu und gestikulierte lebhaft mit dem Capitano und dessen zwei Stellvertretern.

„Habt ihr schon einen Fantino?“

Giovanni Mandriani zuckte mit den Schultern, als ahnte er bereits, dass sein Freund von ihrer Wahl wenig begeistert sein würde. „Ja, Minisini!“

Luca Marcetti schnaubte empört durch die Nase: „Der? Der ist ein Idiot! Der kann sich nicht mal auf dem Rücken von dem Pferd halten.“

Mauro und Paolo nahmen ihren Capitano sofort in Schutz: „Minisini hat bereits zwei Palios gewonnen! So schlecht ist er nicht! Und Zilata Usa ist ein gutes Pferd!“

„Ja, aber warum nicht Massimo oder Bruscelli?“, brachte Marcetti die beiden erfolgreichsten Jockeys ins Spiel.

„Weißt du eigentlich, wie viel die kosten? Das können wir uns nicht leisten.“

„Wir werden nie gewinnen, wenn wir keinen guten Fantino einkaufen.“, bemerkte Marcetti gereizt. Der letzte Sieg lag nun fünfzehn Jahre zurück, und langsam wurde es knapp. Es fehlten nur noch drei Contraden, dann wäre Aquila die „Nonna“ des Palios. Die Großmutter aller siebzehn Contraden, die schon am längsten nicht mehr gewonnen hatte. Den ungeliebten Rekord hielt Torre: Vierundvierzig Jahre ohne Sieg. Eine unglaublich lange Zeit. Aber auch fünfzehn Jahre waren beileibe zu lang. Wie würde Pantera lachen, wenn sie wieder nicht gewannen.

Es war abzusehen, dass Pantera irgendetwas unternehmen würde, damit Aquila auch dieses Mal nicht den Sieg davontrug.

„Wir brauchen Verbündete! Drago läuft nicht, also müssen wir sehen, dass uns jemand anderer hilft“, meinte Mandriani sachlich. Drago, die Contrade mit dem grünen Drachen auf der Fahne, war ihr engster Verbündeter. Doch ein Freund, der nicht am Start war, konnte nicht helfen. Er konnte nicht den Start verzögern, den Feind blocken, vielleicht die anderen Pferde in die Zange nehmen, damit der andere einen Vorteil hatte.

„Hm, vielleicht Torre?“, schlug Paolo vor.

„Torre hat seit vierundvierzig Jahren nicht mehr gewonnen. Die unterstützen niemanden. Torre will selbst siegen.“

Marcetti lächelte spöttisch. „Solange Torre eine Frau als Capitano hat, werden sie nicht gewinnen.“

Alle lachten verhalten, dachten eher spöttisch an die Contrade mit dem Zeichen des Elefanten auf dem scharlachroten Tuch. Aber es war ein bitteres Lachen, denn allzu schnell konnte es ihnen ebenso gehen. Jahre der Hoffnung, ohne die Chance zu siegen. Dann überlegten sie weiter.

„Wir könnten mit Civetta und Tartuca verhandeln. Die beiden haben keine guten Pferde gezogen.“

„Stimmt. Vai Go ist eine Krücke. Ich verstehe überhaupt nicht, warum diese Schindmähre zugelassen wurde“, meinte Marcetti geringschätzig. Selbstverständlich war das eine reine Loyalitätsbekundung gegenüber seiner Contrade, keine fachliche Meinung über die tatsächlichen Qualitäten des anderen Pferdes.

„Nun, dann kannst du dich um Tartuca kümmern. Rede du mit dem Capitano, ob er bereit ist, uns zu helfen.“ Marcetti neigte den Kopf und rechnete sich seine Chancen aus. Tartuca, die Schildkröte, war tatsächlich ein williger Verhandlungspartner, wenn die in Aussicht gestellte Summe stimmte. „Welche Summe habe ich zur Verfügung?“

Eine undeutliche Handbewegung war die einzige Antwort, aber Marcetti hatte auch so verstanden: So wenig wie möglich, aber mit der größten Aussicht auf Erfolg.

„Ich rede mit dem Capitano. Ich kenne Carlo Arezzini recht gut. Außerdem haben sie erst letztes Jahr gewonnen und brauchen vielleicht Geld“ So erstaunlich das klang, aber es war eine einfache Tatsache. Ein Sieg kostete eine Contrade ein Vermögen. Manche mussten sogar Darlehen aufnehmen, um die teure Siegesfeier bezahlen zu können. Der Palio lief nach anderen Regeln als ein normales Pferderennen.

„Gut! Und ich besuche den Capitano von Civetta“, bot Mandriani zufrieden an.

Hmh. Civetta, die Eule, galt als Verbündeter von Aquila, ebenso wie Drago, aber Luca Marcetti bezweifelte, dass ihnen von dieser Seite geholfen würde. „Ich glaube nicht, dass Civetta uns unterstützen wird.“

„Warum nicht? Sie sind unsere Verbündeten.“

„Ja schon, aber sie haben seit 1979 nicht mehr gewonnen. Wenn Civetta nicht aufpasst, dann sind sie bald die Nonna des Palios und tragen den schwarzen Schleier.“

„Aber sie haben kein gutes Pferd“, widersprach der Capitano.

„Na gut, versuch es. Vielleicht ziehen sie im nächsten Palio ein besseres Pferd und brauchen dann unsere Unterstützung.“ Wieso sollte Civetta auf Sieg setzen, wenn sie ohnehin keine Chance hatten? Es wäre tatsächlich vernünftiger, sich Gunst und Wohlwollen seiner Freunde zu sichern für den Fall, dass sie im nächsten Jahr mehr Glück bei der Auslosung der Pferde haben.

Verschwörerisch steckten die Männer die Köpfe zusammen und gingen den ausgesprochen engen und dunklen Weg entlang. Die Gasse wirkte wie eine überlange Toreinfahrt und führte von der Piazza di Postierla mit dem Brunnen zum „Rostro“, dem Adlernest. Hier war der Treffpunkt von Aquila, ein kleines denkmalgeschütztes Gebäude mit bröckeliger Fassade, an der Efeu emporrankte. Im ersten Stock befand sich ein baufälliger Balkon mit geschmiedeter Brüstung, der an Romeo und Julia erinnerte. Der Treffpunkt lag in einem Hinterhof, an einer Seite abgeschirmt von einigen hohen Steineichen, auf der anderen Seite umgeben von geschmackvoll renovierten Häusern. Einige lange Reihen mit Biertischen und Bänken waren bereits aufgestellt worden, um am Abend die Menschen bewirten zu können. Diese Essen fanden in allen Contraden statt, selbstverständlich vor dem Palio, aber auch zu anderen Gelegenheiten. Der Zusammenhalt der Gemeinschaft war wichtig. Und so wurden immer wieder Abende veranstaltet, die diese Solidarität förderten. Die Abendessen waren zudem eine wichtige finanzielle Einnahmequelle, um das Geld für einen Fantino oder etwas anderes Wichtiges aufzutreiben. Mehrmals im Jahr gab es kulinarische Wochen, aber vor dem Palio war die Teilnahme an diesen Essen sozusagen Pflicht, eine Art Solidaritätsbekundung. Für die Touristen war der Palio vielleicht nur drei Minuten lang, aber für Siena dauerte der Palio das ganze Jahr.

Die Männer betraten nacheinander das Gebäude, das gerade erst renoviert worden war und noch nach frischer Farbe roch. Auf elegante Weise waren die wurmstichigen Balken getüncht und das alte Flair mit moderner Architektur ergänzt worden: Große Fenster mit Rahmen aus schwarzem Aluminium und eine Treppe mit modernem Drahtgeländer. Prunkstück im Erdgeschoss war eine großzügig bestückte Bar, im Obergeschoss waren die vorsintflutlichen Toiletten so erneuert worden, dass sich nun selbst Damen nicht mehr wie früher auf den völlig verdreckten Plumpsklos genieren mussten. Am silbernen Drahtgeländer der offenen Galerie hing ein riesiger rosa Stoffpanter am Galgen, als permanente sichtbare Herausforderung an den Feind. Im Keller gab es eine riesige Küche, in der die Abendessen für die Angehörigen der Contrade gekocht wurden. An den gelb gestrichenen Wänden im Erdgeschoss hingen Fotos, die den Ruhm vergangener Jahre bezeugten und jetzt mit deutlichen Fettspuren am Glas versehen waren, die von den duftenden Nebeln stammten, die regelmäßig aus der Küche aufstiegen.

Ins Gespräch vertieft stellten sich die Männer an den Tresen der Bar, die im Sommer auch gern draußen aufgebaut wurde. Paolo zapfte für alle das Bier, und eindringlich redete der Capitano auf einige andere Männer ein. Im Hof tobten kreischend Kinder aller Altersstufen herum, spielten den Palio der Kinder, während ihre Mütter die neugeborenen Babys bewunderten. Manchmal verirrten sich Touristen in den Hof, hielten den Treff für ein billiges Restaurant und wollten sich auf die einladenden Bänke setzen. Dann sprangen einige der Jugendlichen Hände wedelnd auf und scheuchten die verdatterten Störenfriede davon. „No tourists, no tourists!“, machten sie ihnen unmissverständlich klar.

Der Capitano wurde über sein Handy zu einem Einsatz gerufen und verabschiedete sich hastig. „Eine Untersuchung im Krankenhaus. Wahrscheinlich dein Mordfall“, grummelte er unwillig und blinzelte Marcetti vertraulich zu. „Dann ruf mich an, wenn du etwas weißt.“ Marcetti lächelte zurück, wusste natürlich, was den Capitano erwarten würde. „Du weißt doch! Der tote Deutsche in dem Container.“ Es war durchaus positiv für seine Ermittlungen, wenn ausgerechnet der Gerichtsmediziner sein Freund war.

Luca Marcetti merkte, dass es im Moment nichts zu tun gab, und schlenderte zurück zur Questura. Den Capitano von Tartuca konnte er noch am Abend treffen – oder später am Campo, wenn die Pferde ihren ersten Probelauf machten.

So etwas musste geschickt eingefädelt werden, beiläufig und unauffällig.

In seinem Büro wartete bereits Pietro Balloni auf ihn, der ihn vorwurfsvoll über seine Brille hinweg anblinzelte. Marcetti ignorierte den deutlichen Vorwurf und schenkte sich erst einmal ein Mineralwasser ein. „Und?“

Balloni schnaubte ärgerlich, dann berichtete er: „Die deutsche Botschaft weiß Bescheid. Sie setzt sich mit uns in Verbindung, auch wegen der Überführung nach Deutschland und so …“

„Das wird noch eine Weile dauern, bis wir vom Staatsanwalt die Genehmigung haben. Schließlich handelt es sich hier um Mord.“

Balloni nickte nur, dann fuhr er fort: „Die Polizei ermittelt den Aufenthaltsort. Sobald sie etwas wissen, rufen sie uns an.“

„Na, wunderbar! Dann werfe ich jetzt einen Blick auf die letzten Berichte, und anschließend mache ich Feierabend.“

„Schön, dann fahre ich ins Krankenhaus und schaue, was die Obduktion ergibt.“

Marcetti grinste überheblich. „Das brauchst du nicht. Giovanni Mandriani ist der Gerichtsmediziner. Er wird mich sofort anrufen, wenn er etwas weiß.“

„Ist er nicht der Capitano von Aquila?“

„Ja“, bestätigte Marcetti mit einem Augenzwinkern.

„Und wieso ruft er dich an, wenn er noch nicht einmal weiß, ob du für den Fall zuständig bist?“

„Na, aus Gewohnheit! Ich will immer alles wissen! Aber er war dabei, als du mich angerufen hast. Er ist gerade unterwegs zum Krankenhaus.“

Pietro Balloni verdrehte zum hundertsten Male die Augen. In Siena gab es zwei Strukturen: die offizielle und die inoffizielle. Die inoffizielle war bei weitem schneller.

Also vertiefte er sich wieder in den Bericht eines Einbruchs, der in den letzten Tagen stattgefunden hatte – und der, wie die anderen auch, zu dem Stapel mit den ungeklärten Fällen hinüber wandern würde. Ausländische Banden kamen per Schiff an Land, versteckten sich einige Tage in den dichten Wäldern um Siena, raubten einige Häuser aus und verschwanden dann auf Nimmerwiedersehen. Manchmal gelang es den Carabinieri, eine Bande zu schnappen, aber das gestohlene Gut blieb in der Regel verschwunden. Siena unternahm alle Anstrengungen, um dieser Diebesbanden Herr zu werden, denn sie fürchteten Umsatzverluste, wenn die Touristen ausblieben. Immer wieder stießen ahnungslose Wanderer auf Carabinieri oder sogar Soldaten, die sich in der Wildnis auf die Lauer legten, um die Banden zu schnappen. Oft war monatelang Ruhe, und dann schwappte wieder eine Einbruchswelle über die Stadt. Die Seneser kochten vor Wut, denn sie waren stolz auf ihre Stadt und darauf, dass Siena trotzdem zu den sichersten Städten in Europa gehört.

Die erste Probe

Am frühen Nachmittag kam der ersehnte Anruf: Die Polizei hatte den Aufenthaltsort des Ermordeten ermittelt. Der Deutsche war tatsächlich ordnungsgemäß im Hotel Garden gemeldet gewesen.

„Hotel Garden?“, krächzte Marcetti nervös.

„Si, si!“, bestätigte die Stimme eifrig.

„Oh, dio!“ Marcetti wusste rasiermesserscharf, dass es Ärger geben würde. Das Hotel gehörte Lisa Bari, eine der prominentesten Familien in Siena. Marcetti bekam Magenschmerzen, als er daran dachte, dass er nun in ihrem Hotel ermitteln musste. Wie sollte er nur einen Skandal von ihr fernhalten? Die Presse, das Gerede, die Touristen? Alles würde plötzlich sehr peinlich werden. Hätte dieser Idiot sich nicht ein anderes Hotel aussuchen können? Jetzt war Diplomatie gefragt. „Lass uns gehen!“, befahl er wenig begeistert.

Dieses Mal ließ er sich von einem uniformierten Polizisten in seinem Dienstfahrzeug durch die Stadt kutschieren, wie es einem Commissario eigentlich zustand. Dass er manchmal alleine fuhr, war reine Extravaganz und wurde von seinem Chef nicht gern gesehen. Sie fuhren an dem alten Stadttor, der Porta Camollia, vorbei, und gelangten in den Stadtteil von Istrice, dem Stachelschwein. Das Hotel Garden war ein alter herrschaftlicher Palast aus dem siebzehnten Jahrhundert, umgeben von einer mannshohen Mauer aus Natursteinen und mitten in einem wunderschönen Park gelegen. Jahrhunderte alte Steineichen säumten den Weg zu dem Hotel. Mehrere weitere, ausgedehnte Gebäude mit großen modernen Zimmern und in der Nähe des gut gepflegten Pools ergänzten das Anwesen.

Das Haupthaus allein beherbergte 25 Zimmer, und in ihm befanden sich zusätzlich die Rezeption, eine Bar und das Restaurant. Nicht nur Hotelgäste dinierten hier, das Restaurant wurde außerdem häufig für große Familienfeiern gebucht. Regelmäßig versammelte sich hier der Fußballclub vor einem Spiel, denn Lisa Bari galt als „Mama“ sowohl des AC Siena als auch der Basketballmannschaft.

Von der mit wildem Wein überrankten großzügigen Terrasse des Hotels Garden hatte man einen herrlichen Blick über Siena, und Luca Marcetti nutzte die romantische Stimmung regelmäßig, um der einen oder anderen Schönheit zu imponieren.

Balloni parkte direkt vor dem Eingang, und Marcetti gab in kurzen Worten einige Verhaltensregeln: „Ganz unauffällig. Lass mich nur machen.“

Balloni schürzte überrascht die Lippen: Diese Taktik war ihm bei seinem Vorgesetzten neu. Sonst ließ er den Commissario ganz gern heraushängen.

Harmlos, als wären sie Touristen auf der Suche nach einem Hotel, betraten sie die ehrwürdigen Hallen. Die gewölbten Stuckdecken waren mit Putten bemalt und kunstvoll restauriert worden. Das Hotel befand sich seit Jahrzehnten in Familienbesitz, seitdem Signore Bari den Palast einem verarmten Grafen abgekauft hatte. Jetzt hatte seine Tochter Lisa das Hotel übernommen, aber noch immer standen die Angestellten stramm, wenn der alte Herr mit Grandessa durch die Hallen schritt.

Alberto, der Geschäftsführer des Hotels, begrüßte Marcetti überschwänglich, wusste er doch, dass der Commissario ein Freund von Lisa war. „Ah, Dottore! Kommen Sie auf einen Café vorbei?“ Er stand hinter der Rezeption aus dunkel gebeiztem Holz, hinter der sich eine rustikale Regalwand aufbaute, in der die Fächer samt Haken für die Schlüssel der Gäste untergebracht waren. Alles wirkte edel und gediegen, passte zu dem herrschaftlichen Ambiente.

„Ma si!“ Marcetti lächelte freundlich, dann sah er sich unauffällig um, ob jemand in der Nähe war. Seine Stimme wurde vertraulich: „Kann ich dich mal privat sprechen? Ich habe ein kleines Problem.“