Im Schatten des Vulkans - Halldór Guðmundsson - E-Book

Im Schatten des Vulkans E-Book

Halldór Gudmundsson

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Beschreibung

Eine Reise durch die literarische Geschichte Islands - und eine Erkundung der menschlichen Seele, die in der rauen Schönheit des Nordens lebt.

Island, das Land der Geysire und Vulkane, birgt eine reiche Geschichte und eine einzigartige literarische Tradition. Im Schatten des Vulkans führt auf eine faszinierende Entdeckungsreise durch diese Welt der Literatur, die immer auch ein Spiegel der Lebensverhältnisse auf jener fernen, mythenumwobenen Insel war. Beginnend bei den alten Edda-Gedichten und Sagas, die die Grundlage der nationalen Identität bilden, spannt das Buch einen Bogen bis zur pulsierenden Gegenwart.

Halldór Gudmundsson - Autor, Verleger und Leiter der Gastlandauftritte Islands und Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse - zeigt anekdotenreich und sprachmächtig, wie dieses kleine, abgelegene Land eine bemerkenswerte Vielfalt an Stimmen und Geschichten hervorgebracht hat. »Im Schatten des Vulkans« wird so nicht nur zu einer Reise durch die literarische Geschichte Islands, sondern auch zu einer Erkundung der menschlichen Seele, die in der rauen Schönheit des Nordens lebt. Ein Muss für jeden Literatur- und Kulturliebhaber.

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Seitenzahl: 576

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Zum Buch

Island, das Land der Geysire und Vulkane, birgt eine reiche Geschichte und eine einzigartige literarische Tradition. »Im Schatten des Vulkans« führt auf eine faszinierende Entdeckungsreise durch diese Welt der Literatur, die immer auch ein Spiegel der Lebensverhältnisse auf jener fernen, mythenumwobenen Insel war. Beginnend bei den alten Edda-Gedichten und Sagas, die die Grundlage der nationalen Identität bilden, spannt das Buch einen Bogen bis zur pulsierenden Gegenwart.

Halldór Gudmundsson – Autor, Verleger und Leiter der Gastlandauftritte Islands und Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse – zeigt anekdotenreich und sprachmächtig, wie dieses kleine, abgelegene Land eine bemerkenswerte Vielfalt an Stimmen und Geschichten hervorgebracht hat. »Im Schatten des Vulkans« wird so nicht nur zu einer Reise durch die literarische Geschichte Islands, sondern auch zu einer Erkundung der menschlichen Seele, die in der rauen Schönheit des Nordens lebt. Ein Muss für jeden Literatur- und Kulturliebhaber.

Zum Autor

HALLDÓR GUDMUNDSSON wurde 1956 in Reykjavík, Island, geboren, wuchs zum Teil in Deutschland auf und studierte in Dänemark. Bekannt ist er als Verleger, Schriftsteller und Kulturmanager. Er war langjähriger Direktor von Mál og menning, damals Islands größtem Verlag, und später von Edda. Gudmundsson hat mehrere Bücher verfasst, darunter eine Biografie über den isländischen Nobelpreisträger Halldór Laxness, für die er den Isländischen Literaturpreis erhielt und die in fünf Sprachen übersetzt wurde. Eine besondere Rolle spielte Gudmundsson als Projektleiter für die Ehrengastländer auf der Frankfurter Buchmesse: 2011 für Island und 2019 für Norwegen. Darüber hinaus war er von 2012 bis 2017 Direktor von Harpa, dem international bekannten Konzerthaus und Konferenzzentrum in Reykjavík. Gudmundsson engagiert sich in verschiedenen kulturellen Gremien, unter anderem seit 1987 im Vorstand des IsländischenLiteraturfestivals und seit 2022 im Vorstand von Snorrastofa, dem Kultur- und Mittelalterzentrum in Reykholt, sowie als Aufsichtsratsvorsitzender des Isländischen Nationaltheaters. Er ist verheiratet mit Anna Vilborg Dyrset, die beiden haben fünf Kinder.

Halldór Gudmundsson

Im Schatten des Vulkans

Eine literarische Reise ins Herz Islands

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Copyright © 2024 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: Hverfjall, ein 2500 Jahre alter vulkanischer Krater bei Mývatn in Nordisland ©Getty Images/ilbusca; ©Shutterstock/Abstractor

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30373-0V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Übersetzungen von Gedichten und anderen literarischen Texten, die noch nicht auf Deutsch erschienen sind: Kristof Magnusson

Redaktion und deutsche Bearbeitung von Ursula Bergenthal

Anmerkung zur Schreibweise der isländischen Namen:

In diesem Buch werden alle isländischen Namen in ihrer originalen isländischen Form wiedergegeben, einschließlich der spezifischen Buchstaben Þ und ð. Diese werden ähnlich dem englischen »th« ausgesprochen. Eine Ausnahme bildet der Name des Autors, der als »Gudmundsson« statt »Guðmundsson« geschrieben wird. Dies folgt der bereits etablierten Schreibweise in seinen früheren Werken beim btb Verlag und bleibt aus Konsistenzgründen unverändert.

Aus Gründen der Lesbarkeit wurde auf das Gendern verzichtet. Die gewählten Formulierungen schließen alle Geschlechter ein.

Vorbemerkung:

Dieses Buch beansprucht keineswegs, eine vollständige isländische Literaturgeschichte zu sein. Vielmehr unternimmt es im ursprünglichen Sinne eines Essays den Erkundungsversuch, aus der persönlichen Sicht des Autors die Facetten der isländischen Literatur sowie die Geschichte Islands und der Menschen, die hier gelebt haben, zu beleuchten.

Wenn es dir gelingt, es ins Herz des Volkes zu dichten, dann ist es gut, sagte sie. Einen anderen Maßstab gibt es nicht.

Halldór Laxness: Weltlicht

Inhaltsverzeichnis

Das wortlose Land

Feuer in Kopenhagen

Die Bibel des Wulfila

Ein schwarzer Wikinger und seine Walrosse

Die Edda: Der Ruf stirbt niemals

Die Skalden am Hofe

Eine Geschichte aus Geschichten

Die Weltliteratur, von der keiner wusste

Eine Nacht unter dem Fell: Die Heiden lassen sich taufen

Literatur zum Export: Die Königssagas

Die Saga des Bürgerkrieges

Die Isländersagas, oder Bauern prügeln sich

Wenn ein literarischer Baum fällt, und niemand ist da …

Liebe in den Zeiten des Schwarzen Todes

Die Romanzen des Königs

Gereimte Religion

Der Tod und der Tanz

Reformation und Enthauptung, Buchdruck und Sprache

Blefken, diese Lügenpfütze

Piraten, Psalmen und die Entdeckung des Ichs

Menschenraub auf den Westmännerinseln

Der leprakranke Psalmendichter

Der Humanist und der Meineid

Die Entdeckung des Kindes

Männliche Hexen und ein Weltenbummler

Aufklärung in Katastrophenzeiten

Dichtung und Wahrheit

Das endlose Jahrhundert der Dichtung

Revolution in Reykjavík

Die Heilsamkeit von Vulkanausbrüchen

Ein Wunschkind des Unheils

Auf tritt ein Mädchen

Weltschmerz und Spätromantik

Die Nase von Matthías Jochumsson

Da sind sie wieder, die Geschichten

Der Schreck der bösen Pfarrer

Dich lieb’ ich, o Sturm

Bücherträume, Versgeschäume

Der Mythos von den kleinen Sprachen

Immer auf dem Weg nach Hause

Weg von zu Hause

Parallele Leben – Sieg und Niederlage auf dem Lande

Parallele Leben – Licht im Osten

Von einem, der auszog, um nach Hause zu kommen

Ein Esslöffel Erde

Der liebe Krieg

Ein Land aus Worten

Atomdichtung im Kalten Krieg

Traurig und unendlich schön

Außerhalb gängiger Pfade

Die Lust am Fabulieren

Dornröschen wacht auf

Postnummer 101

Die Literatur ist für alle da

Heimweh nach einer verschwundenen Welt, oder zurück aufs Land

Mord und Totschlag am Fjord

Banken, Bücher und Touristen

Ein Land der Frauen

Ein Land voller Worte

Nachwort

Anmerkungen

Quellen

Personenregister

Das wortlose Land

Feuer in Kopenhagen

Unsere Geschichte beginnt in Kopenhagen, der dänischen Stadt, die sich für fast fünfhundert Jahre als Hauptstadt Islands bezeichnen konnte. So lange war Island nämlich Teil des dänischen Königreichs. Reykjavík, die heutige Hauptstadt Islands, war bis weit ins 19. Jahrhundert hinein lediglich ein kleines Dorf. In Kopenhagen tobten zwei große Brände im 18. Jahrhundert, der erste im Jahre 1728, der zweite über ein halbes Jahrhundert später 1795. Zusammen mit dem Renovierungsfieber, das Mitte des 20. Jahrhunderts ausbrach, sind sie dafür verantwortlich, dass nur noch wenige Spuren des Mittelalters in der Stadt zu finden sind. Beim Brand von 1728 wäre beinahe auch ein Großteil des kulturellen Erbes des Nordens, das heißt Skandinaviens, der Färöischen Inseln und Islands, in Flammen aufgegangen.

Das Feuer entzündete sich am 20. Oktober auf einem Dachboden in der Nähe des jetzigen Rathausplatzes, und konnte deshalb drei Tage ungehindert wüten, weil die Häuser in der Innenstadt zum einen dicht standen, zum anderen viele davon Holzbauten waren, und die Feuerwehr zu guter Letzt ziemlich primitiv ausgerüstet war. Einige Umstände erschwerten auch das Löschen, so verbot der Kommandant von Kopenhagen, die lange eine Festungsstadt war, beispielsweise das Öffnen des Stadttores Vesterport, wodurch man Wasser aus dem Stadtgraben hätte holen können, weil er Angst davor hatte, dass seine Männer dann desertieren würden. Fast ein Drittel der Stadt wurde schließlich zerstört. Ungefähr fünfzehntausend Menschen verloren ihre Bleibe, das heißt, mehr als ein Fünftel der damaligen Einwohnerschaft.[1]

Man muss sich das vorstellen: Die hohen schönen Häuser der Kopenhagener Oberschicht brannten eins nach dem anderen ab, während ihre Bewohner mehr oder weniger tatenlos zusehen mussten. Oft eilten alle zu einer bestimmten Stelle, um das Feuer aufzuhalten, und dann breitete es sich an einer anderen aus. Soldaten versuchten verzweifelt, halbverbrannte Häuser mit Kanonen zu beschießen, aber die Explosionen machten alles nur noch schlimmer, und ein frischer Südwestwind sorgte dafür, dass dem Feuer nicht die Nahrung ausging.

Das Universitätsgelände war besonders betroffen. Zu diesem gehörten stattliche Häuser an der Store Kannikestræde, wo viele Professoren ihren Wohnsitz hatten. Einer von ihnen war der Isländer Árni Magnússon, Professor für Erdkunde und Geschichte an der Universität von Kopenhagen, dazu Archivar und Bibliothekar an der Universitätsbibliothek, deren Bücher auf dem Dachboden der Trinitatis-Kirche lagerten. Seit vierzig Jahren hatte Árni es zu seiner Lebensaufgabe gemacht, isländische Manuskripte, Dokumente und Bücher zu sammeln und sie nach Kopenhagen zu verfrachten, um sie dort wissenschaftlich zu analysieren und zu klassifizieren.

Das 18. Jahrhundert in Island war ein Jahrhundert der Armut und des Elends, wozu auch Pandemien und Naturkatastrophen beitrugen. Den Zustand des Landes zu Beginn des Jahrhunderts kannte Árni Magnússon gut, denn im Auftrag des dänischen Königs hatte er damals das ganze Land bereist, um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu erfassen, zu beschreiben und Vorschläge zur Verbesserung der Lage zu machen. Die wenigsten Isländer scherten sich um alte Manuskripte, und ordentlich aufbewahrt, geschweige denn wissenschaftlich untersucht, wurden sie nirgends im Lande. Unter dem Einfluss des europäischen Humanismus war einigen Bischöfen, Beamten und Gelehrten wie Árni Magnússon allerdings klar geworden, dass ein großer Teil der Geschichte, Mythologie und Literatur des Nordens, in nordischer Sprache verfasst, nur in Pergamenthandschriften aus dem 13. und 14. Jahrhundert in Island aufbewahrt worden war. Viele der ältesten und auf Kalbsfell geschriebenen Bücher sind wahrscheinlich verschollen, aber glücklicherweise gab es Abschriften von ihnen; die ersten Abschriften wurden auf Fell gemacht, waren also auch Pergamente, später dann schrieb man sie auf Papier ab.

Árni Magnússon war der eifrigste Sammler isländischer Handschriften, den es je gegeben hat, und er war davon überzeugt, dass die Aussichten auf ihre ordentliche Aufbewahrung in Island nicht eben gut waren; dazu kam, dass er für den dänischen König unterwegs in Island war. Einige der Handschriften hat er damals sicherlich vor der unmittelbaren Zerstörung bewahrt, denn es lag seinen Landsleuten nicht fern, das Kalbsfell für Schuhe oder andere praktische Zwecke zu verwenden oder die Pergamente ins Ausland zu verkaufen. Aber während des Brandes in Kopenhagen fühlte er sich zunächst sicher und war überzeugt, dass die Feuerwehr die Flammen schon löschen würde, bevor sie sein Haus erreichten, obwohl seine Freunde und Mitarbeiter alles versuchten, um ihn davon zu überzeugen, die Sammlung in Sicherheit zu bringen. Als er endlich sah, dass sein Wohnsitz nicht mehr zu retten war, dass keine menschliche Kraft das Feuer aufhalten würde, trugen er und ein paar getreue Freunde stundenlang Stapel von Manuskripten aus dem Haus und schafften sie mit seiner alten Pferdekarre, die wegen der holprigen Straßenverhältnisse in Dauerreparatur war – auch während dieser Rettungsaktion fiel ihr ein Rad ab –, in Sicherheit.

Über vierhundert Handschriften und Bücher konnten so gerettet werden, tausende gingen in Flammen auf. Kurz danach brannte auch die Universitätsbibliothek auf dem Dachboden der Trinitatiskirche, darunter mehrere isländische Pergamentmanuskripte. Von Árni, vor den Ruinen seines Lebenswerkes stehend, ist der Satz überliefert, den auch Halldór Laxness in seinem historischen Roman über diese Zeit, Die Islandglocke, verwendet: »Dort sind Bücher, die man bis zum Jüngsten Tag nie und nirgends mehr bekommt.«[2]

Árni Magnússon erholte sich nicht von diesem Schicksalsschlag und starb nur zwei Jahre später, gerade einmal 66 Jahre alt. Seine Professur für Erdkunde und Geschichte übernahm nach seinem Tod der Dramatiker Ludvig Holberg, auch er ein großer Literat.[3]

Im Nachhinein weiß man, dass der Verlust nicht ganz so katastrophal war, wie Árni es gefürchtet hatte. Viele der wichtigsten Manuskripte, darunter die besten Handschriften der Njáls Saga und der Grettis Saga, zwei der bekanntesten Isländersagas, wurden gerettet, von anderen gibt es jüngere Abschriften, aber einiges ist in der Tat ganz und gar verloren gegangen, darunter viele seiner persönlichen Dokumente. Es bleibt der Gedanke, wie nahe wir daran waren, den zentralen Beitrag des nordischen Mittelalters zur Weltliteratur – die Bücher, die im 13. Jahrhundert auf Island zusammengestellt wurden – zu verlieren.

Heute ist die sogenannte Arnamagnäanische Sammlung auf zwei nach Árni benannte Institute verteilt, in Kopenhagen und Reykjavík. Außerhalb Islands und philologischer Kreise in den skandinavischen Ländern kennen nicht viele den Namen von Árni Magnússon. Mit Sicherheit muss jedoch der französische Autor Jules Verne von ihm gehört haben, denn sein Buch Die Reise zum Mittelpunkt der Erde (1864) fängt damit an, dass der deutsche Professor Otto Lidenbrock und sein Neffe Axel eine mit Runen auf Kalbfell geschriebene, verschlüsselte Botschaft des berühmten isländischen Alchemisten Arne Saknussem entziffern, und so ihre gefährliche Expedition in die Tiefe der Erde antreten können.

In gewissem Sinne war Árni Magnússon ein Alchemist der Kultur: Seine Sammelwut rettete wichtige Teile der altisländischen Literatur. Dabei mochte er keine »Lügengeschichten«, er war ein eher trockener Wissenschaftler.

Die Bibel des Wulfila

Um 800 fing alles an, um 1400 war es zu Ende, teils schon vorher. Das Zeitalter der Wikinger, die gemeinsame westnordische Sprache, die Landnahme Islands, die Ereignisse, die den Stoff der Sagas ausmachten, die nordische Besiedlung von Grönland (das heißt Teile von Südgrönland wohin die Inuit erst später kamen), die königsfreie Gesellschaft der Bauernhäuptlinge, die sich zum Thing trafen, der isländische Freistaat, die unglaubliche literarische Arbeit in Island, wo im 13., 14. und 15. Jahrhundert das gesamte Korpus der Eddas und Sagas aufgeschrieben und zum großen Teil sicher auch verfasst wurde.

Sprachgeschichtliche Forschungen, ganz besonders bei Sprachen, die jahrhundertelang nicht schriftlich dokumentiert wurden, bewegen sich zwischen intelligenter Rekonstruktionsarbeit bis hin zum Bereich reiner Vermutungen. Die älteste Überlieferung eines längeren germanischen Textes ist die sogenannte Wulfilabibel, benannt nach dem Bischof Wulfila, der im 4. Jahrhundert die Bibel aus dem Griechischen ins Gotische übersetzen ließ; nur ein Teil der Übersetzung ist erhalten. Dabei erfand Wulfila sogar das gotische Alphabet. (Die Goten lebten damals in den heutigen Regionen von Bulgarien, Rumänien und der Ukraine.) Andere schriftliche Dokumente der germanischen Sprachen aus dem frühen Mittelalter sind meistens kurze Runeninschriften. Unser Studium der Sprachgeschichte an der Universität Reykjavík fing deshalb für uns Studenten immer mit dem Lesen einiger Kapitel aus der gotischen Bibel an; Wulfilaorchester nannten meine musikalischen Mitstudierenden ihre Rockband in diesen Jahren. Pech nur, dass Gotisch längst keine lebendige Sprache mehr ist und außerdem zu den ostgermanischen Sprachen gehört, die es auch nicht mehr gibt. Es ist daher sicher diskutabel, wie viel uns diese Bibel über den Ursprung des Isländischen sagen kann.

Bei den Runen sieht es nicht besser aus, jedenfalls was die isländische Sprachgeschichte betrifft, denn die meistens auf Stein oder Holz geritzten Inschriften, die man hier gefunden hat, sind relativ jung. Mag sein, dass die ersten Siedler, die nach Island kamen, sich fleißig Runenbotschaften auf Holztelegrammen zuschickten, aber nur eine davon ist uns überliefert. Sie kommt aus dem 10. oder 11. Jahrhundert, genauer lässt es sich nicht sagen, und ist beschädigt, und das einzige Wort, das man mit Sicherheit hat entziffern können, ist ást, Liebe, somit das erste isländische Wort, das uns schriftlich überliefert ist.

Im 13. Jahrhundert hatte man längst das lateinische Alphabet in Gebrauch genommen. Runen sind für die isländische Literaturgeschichte deshalb von keinerlei Bedeutung, was auch immer man sich vorgestellt haben mag. (Jules Verne ging zum Beispiel davon aus, dass Snorri Sturluson seine Geschichte der norwegischen Könige, Heimskringla, mit Runen geschrieben habe, was ihm nie eingefallen wäre, obwohl er das Runenalphabet, Futhark, sicher beherrschte.)

So mangelhaft die schriftlichen Zeugnisse auch sind, geht man doch gemeinhin davon aus, dass die nordgermanischen Sprachen im 5. Jahrhundert ihre eigenständige Entwicklung begannen und dass man – trotz naher Verwandtschaft – ab 800 zwischen westnordischen (Norwegisch, Färöisch und Isländisch) und ostnordischen (Dänisch, Schwedisch) Sprachen unterscheiden konnte. Man sprach also in Island von Anfang an Norwegisch, manchmal Altnordisch genannt, oder einfach Isländisch, das ist damals alles die gleiche Sprache. Es war die Sprache der Häuptlinge, nicht der Sklaven und bei weitem auch nicht aller Frauen.

Zum Altisländischen gibt es ein wichtiges historisches Dokument, den sogenannten »ersten grammatikalischen Aufsatz« aus dem 12. Jahrhundert. Mit dessen Hilfe kann man sogar die Aussprache der ersten Bewohner des Landes rekonstruieren, denn der anonyme Autor wollte zeigen, wie man Isländisch am besten mit dem lateinischen Alphabet schreiben konnte. Doch in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts begann die Auflösung der norwegisch-isländischen Sprachgemeinschaft, die so wichtig für die isländische Literatur war; ab 1400 kann man von zwei verschiedenen Sprachen, und nicht nur Dialekten, ausgehen, und ab 1500 haben die Menschen in Norwegen und Island wahrscheinlich einander nur mit Mühe verstehen können.[4] Dänisch wurde zur Schriftsprache in Norwegen, und das Altnordische lebte als Isländisch weiter. Teile der Edda und der sogenannten Skaldendichtung stammen ursprünglich aus dem 9. Jahrhundert, die Isländersagas spielen sich hauptsächlich in den Jahren 900–1050 ab, fast der gesamte Korpus der Eddas und Sagas wurde in Island im 13. und 14. Jahrhundert aufgeschrieben, und ab 1400 verstand sie keiner außerhalb der Insel mehr. Erst im 17. Jahrhundert fing man an, diese Literatur zu übersetzen, und zwar in die nordischen Sprachen und Latein.

Das Zeitalter der Wikinger fing um 800 an, genauer gesagt markiert der Überfall auf die Insel Lindisfarne an der nordöstlichen Küste Englands, auch Heilige Insel genannt, im Jahre 793, in vielen Geschichtsbüchern den Anfang der Wikingerzeit, wobei die ersten Raubzüge in England sicher noch weiter zurückgehen. 150 Jahre zuvor hatte auf Lindisfarne ein irischer Mönch ein Kloster gegründet, und der Überfall wurde ein Symbol des Angriffs der nordischen Heiden auf die christliche Welt. In der sogenannten Angelsächsischen Chronik steht zu lesen: »In diesem Jahr erschienen schlimme Vorzeichen über Northumbria und versetzten die Menschen in Schrecken. Sie bestanden aus starken Wirbelwinden und Blitzen, und feuerspeiende Drachen sah man durch die Luft fliegen. Diesen Vorzeichen folgte eine große Hungersnot und ein wenig später im selben Jahr, am 8. Juni, verheerten die Überfälle der Heiden Gottes Kirche in Lindisfarne durch Plünderung und Mord.«[5] Zwei Jahre später folgte der erste Raubzug der Wikinger – die hauptsächlich aus den westnorwegischen Fjorden kamen – nach Irland, und um 850 hatten sie in einem Teil des Landes ihr eigenes Reich, das Königreich Dublin, gegründet.

Es gibt schriftliche Belege, die mit ziemlicher Sicherheit darauf hindeuten, dass Menschen um 795 nach Island kamen; ganz sicher werden wir indes wohl nie sein, und die Historiker streiten noch immer darüber, ob in den besagten Quellen eventuell andere Inseln nördlich von Schottland und Irland gemeint sind. Der irische Mönch Dicuil, der Gelehrter am Hofe Karls des Großen war, verfasste 825 ein Werk über die Vermessung der Erde, De mensura orbis terrae. Darin schreibt er, dass ihm dreißig Jahre zuvor irische Mönche von ihrem Besuch auf die nordische Insel Thule erzählt hätten, wo sie sich vom Frühjahr bis zum Herbst aufhielten. Die Beschreibung des Klimas, Sonnengangs und des Eises nördlich von der Insel passt gut zu Island. Dicuil erfuhr unter anderem, dass es um Mitternacht noch so hell war, dass die Menschen ihren alltäglichen Tätigkeiten nachgehen konnten, wie zum Beispiel sich gegenseitig die Läuse aus den Hemden zu fangen.[6]

Der sagenumwobene Name Thule stammt von dem griechischen Entdecker Pytheas aus Massilia, dem heutigen Marseille, der die Insel auf seinen Reisen nach Nordeuropa um 325 vor Christus fand und in einem Werk beschrieb. Bloß stoßen wir hier auf ein typisch isländisches Problem, das heißt, sein Werk ist nicht originalgetreu überliefert, und es gibt es nur in der Wiedergabe von späteren Autoren, die ihm teilweise sehr kritisch gegenüberstanden. Noch immer sind die Forscher sich nicht einig, ob Pytheas wirklich nach Island kam oder ob es sich bei Thule um Shetland, die Färöer oder sogar Norwegen handelt. Pytheas, so wie Plinius der Ältere es in seinen Schriften zur Naturgeschichte aus dem ersten Jahrhundert berichtet, fand Island nach sechs Tage langem Segeln von Britannien aus, und es war das äußerste Land der Welt (daher auch die Bezeichnung Ultima Thule), wo es mitten im Sommer keine Nächte gab und mitten im Winter keine Tage, und nördlich von der Insel war nur das gefrorene Meer.[7]

Aber die Beschreibungen von Thule in späteren Quellen, darunter auch arabischen, sind verworren und manchmal auch sehr abenteuerlich, und vielleicht gehört Thule in das Reich des Imaginären, wie der deutsche Philologe und Historiker Klaus von See es formuliert hat.[8] Auf jeden Fall hat die Mythologie ganz übernommen, als Goethe ein Gedicht über den König in Thule verfasste (»Es war ein König in Thule/ Getreu bis in das Grab«), denn darin ist die Insel bereits ein Reich mit Städten und Rittern; Goethe ging es im Gedicht wohl nicht um Geografie, sondern um die Liebe, und er fand vielleicht deswegen später Verwendung für diese Strophen im Faust.

Die ersten Siedler aus Norwegen im letzten Drittel des 9. Jahrhunderts fanden ein unbewohntes Land vor, ein wortloses Land, und wähnten sich wahrscheinlich am Ende der Welt. Nun, ganz leer war es vielleicht nicht, denn es hielten sich in Island möglicherweise bereits Einsiedler auf. Das waren die schon erwähnten irischen Mönche, auf Isländisch Papar, Papen, genannt. In der zuverlässigsten Quelle zur Landnahme Islands, dem Buch der Isländer (Íslendingabók) von Ari dem Gelehrten, um 1130 verfasst, steht: »Da lebten hier Christen, von den Norwegern ›Papen‹ genannt; sie verließen jedoch nachher die Insel, weil sie nicht mit den Heiden hier leben wollten, und hinterließen irische Bücher und Glocken und Krummstäbe, woraus man ersehen konnte, dass es Irländer waren.«[9]

Einige Ortsnamen in Island deuten darauf hin, dass die Papen hier waren, und es gibt auch mündlich überlieferte Geschichten von ihren Tätigkeiten, aber bisher konnte die Archäologie keinen einzigen handfesten Beweis von den Einsiedlern auf Island liefern – wie sollte sie auch? Große Bauten haben sie bestimmt nicht errichtet, und ihre Boote waren viel primitiver als die Knorr der Wikinger; auch in der Segelkunde waren sie längst nicht so weit wie die nordischen Seeräuber.

Es hat eine gewisse Schönheit, dass Ari der Gelehrte in dem kurzen Abschnitt über sie ihre Bücher erwähnt. Sicher hatten diese gläubigen Einsiedler christliche Literatur dabei, aber man sollte auch nicht vergessen, dass die Iren schon vom 7. Jahrhundert an mythologische Erzählungen und Gedichte in ihrer keltischen Muttersprache aufschrieben. Manche Forscher sind der Meinung, dass diese irische Tradition zur Entstehung der isländischen Literatur beigetragen hat; dazu später mehr.

Ari schreibt in seinem Buch auch: »Island wurde zuerst von Norwegen aus besiedelt in den Tagen Harald des Haarschönen«. Er war der erste norwegische König und herrschte von ungefähr 872 bis 930. Man geht deswegen schon lange davon aus, dass die Besiedlung in den Jahren nach 870 stattfand. Auch im Buch der Landnahme (Landnámabók), wie das Buch der Isländer wahrscheinlich ursprünglich im frühen 12. Jahrhundert geschrieben (das Original ist natürlich verschollen), wird die Tyrannei von Harald Schönhaar, wie er auch genannt wird, als eine der Hauptursachen für die Auswanderung so vieler westnorwegischer Familien nach Island genannt. In diesem Buch, oder genauer gesagt den späteren Abschriften, die uns zugänglich sind, wird die Landnahme auch katalogisiert. 3500 Namen sind dort zu finden und 1400 Ortsnamen, denn man wollte mit Sicherheit festhalten, wem was gehörte. Weswegen man auch dem Buch der Landnahme inzwischen mit mehr Skepsis begegnet: Hier listet die Oberschicht ihre Besitztümer und Rechte auf. Genannt werden zum Beispiel etwa 450 der ursprünglichen Siedler, aber nur vierundfünfzig Frauen.[10]

Für die Ursprungsmythologie der Isländer, nicht zuletzt, während sie sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert um Unabhängigkeit bemühten, ist diese Erzählung grundlegend. Meine Generation musste sich in der Schule noch immer freiheitsliebende Helden aus Norwegen vorstellen, die einem Leben als Knechte des Königs entkommen wollten und deswegen nach Island segelten, um dort ihren eigenen Staat zu gründen. Da gilt es nur zu bedenken, dass die Expansion der Wikingerzeit die nordischen Seefahrer schon seit Jahrzehnten in Richtung Westen führte, dass sie den Schiffbau und die Segelkunde unglaublich gut beherrschten und dass der Siedlungsraum in Westnorwegen, wegen der stetig wachsenden Bevölkerungsanzahl, immer knapper wurde.[11] Wie bei allen Migrationen waren unter den Auswanderern nicht nur heldenhafte Rebellen, sondern auch viele friedfertige Familien, die einfach auf der Suche nach einem besseren Leben waren.

Die wichtigste Periode der Wikingerzeit, von ungefähr 800 bis 1050, war auch von einer Transformation vom Häuptlinge- oder Godenregime zum Königreich gekennzeichnet. Schon im 9. Jahrhundert gab es einen endlosen Machtkampf norwegischer Kleinkönige, und erst im 11. Jahrhundert entstand auf norwegischem Boden eine gefestigte Königsmacht, obwohl die Bürgerkriege noch bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts andauerten.

Die Bauernhäuptlinge, die Island besiedelten, führten dort von Anfang an die Tradition der germanischen Versammlung, das Thing, ein, und um 930 gründeten sie das Al-thing, eine Versammlung für das ganze Land und damit eine einzigartige Institution im nordischen, ja zu der Zeit ganzen europäischen Raum. (Abgesehen von den Färöischen Inseln, die auch ein Althing hatten.) Um das Jahr 1000 wurde auf dem Althing der friedliche Übergang zum Christentum beschlossen, und bis ins späte 13. Jahrhundert war Island ein Land ohne König, auch das einzigartig für den Norden. Aber es war auch ein Land ohne ausübende Staatsmacht, und zwischen 1262 und 1264 beendete man einen vierzig Jahre währenden Bürgerkrieg, in dem man den norwegischen König als den seinigen anerkannte und mit ihm den sogenannten »alten Vertrag« schloss. Der Vertrag verpflichtete Norwegen, den Isländern jedes Jahr sechs Schiffe mit Waren zu schicken, denn zum Schiffbau fehlte den Isländern das Holz. Aber es war auch der erste Schritt dazu, die oberste Macht im Lande ins Ausland zu verlagern. »Der alte Vertrag« war zu meiner Schulzeit ein Eckpfeiler der isländischen Geschichte und wurde schon im Unabhängigkeitskampf vom 19. Jahrhundert fleißig zitiert, aber inzwischen wird seine Existenz ernsthaft bezweifelt. Die Historikerin Patricia Pires Boulhosa ist der Meinung, dass der Text des Vertrags aus dem 15. Jahrhundert stammt und von isländischen Häuptlingen im Streit mit dem König über Handelsinteressen ausgehandelt wurde.[12]

Unumstritten ist, dass die Isländer zu dieser Zeit den norwegischen König als ihr Oberhaupt anerkannten. Richtig zu spüren bekamen die Isländer die Königsmacht jedoch erst mit der Kalmarer Union gegen Ende des 14. Jahrhunderts. Margarethe I. von Dänemark wurde Königin von Norwegen und vereinte dann mit dieser Union, zu der auch Schweden gehörte, de facto ganz Skandinavien. Wieder sind wir bei der Jahrhundertwende 1400 angelangt; eine Zeit großen Wandels im Norden.

Um das Jahr 1000 war der Drang der Wikinger nach Westen bei weitem nicht befriedigt, und sie segelten, von Island aus, weiter, nach Grönland und sogar nach Amerika. In Grönland wurden sie sesshaft, gründeten dort zwei Siedlungen und trieben fleißig Handel mit sowohl Island als auch Norwegen. Bis sie im 15. Jahrhundert verschwanden. Wohin oder wie, ist eines der Rätsel der nordischen Geschichte. Die Verbindung Islands mit Grönland ging, wie so vieles, um 1400 verloren. Zum letzten Mal sah man sich, als ein Schiff von Norwegen unterwegs Richtung Island nach Grönland abtrieb, und die Passagiere deswegen bei einer Hochzeit in Hvalsey, in Südgrönland in der Nähe des heutigen Qaqortoq, zugegen waren. Das Fest fand 1408 statt, und die Augenzeugenberichte dieser Reisenden sind die letzte schriftliche Dokumentation eines Kontaktes zwischen den Isländern und ihren Landsleuten auf Grönland. Bedeutend war diese Verbindung vor allem wegen der Walrosse gewesen, wie wir sehen werden.

Als ob dies alles nicht genug wäre, kam 1402 mit einer Verspätung von einem halben Jahrhundert die schreckliche Pest, die man den Schwarzen Tod nennt, von Europa nach Island. Man weiß es nicht mit Sicherheit, aber fast die Hälfte der isländischen Bevölkerung, die damals vielleicht fünfzig- bis sechzigtausend zählte, starb in dieser Pandemie. Besonders hart traf es die Priester und Mönche – wahrscheinlich, weil sie die Toten bestatten mussten und sich dabei ansteckten –, die Gelehrten also, die Schreibenden. Und tatsächlich sind aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts nur ganz wenige Manuskripte überliefert, in diesem schreibwütigen Land. Was im 9. Jahrhundert anfing, war um 1400 zu Ende.[13]

Ungefähr gleichzeitig setzte die kühle Periode, die man in Europa »Kleine Eiszeit« nennt, ein und währte bis ins 19. Jahrhundert.

Ein schwarzer Wikinger und seine Walrosse

Der einflussreichste Politiker Islands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Jónas Jónsson (1885–1968), meistens Jónas von Hrifla genannt nach seinem Geburtsort im Norden des Landes, gründete 1916 nicht nur den isländischen Gewerkschaftsbund und die Sozialdemokratische Partei Islands und die Progressive Bauernpartei, sondern schrieb auch eine Geschichte Islands für Kinder, das wohl einflussreichste und am längsten im Unterricht verwendete isländische Schulbuch. Es ist spannend und lebendig geschrieben, bildreich und voller Rhetorik und prägte das geschichtliche Selbstverständnis mehrerer Generationen. Das Buch ist nationalistisch gefärbt und sollte die jungen Menschen für den weiteren Unabhängigkeitskampf motivieren. Den Mythos der isländischen Landnahme findet man in Reinform in diesem Buch. Wieder ist der machtgierige König Harald Schönhaar an allem schuld, wie er versucht, die Häuptlinge in Westen Norwegens unter seiner Herrschaft zu versammeln. Jónas schreibt: »Diese Ereignisse führten dazu, dass viele der kernigsten Menschen, die es im Lande gab, nach Island auswanderten. Das war aber gleichzeitig auch der Teil, der am wenigsten kompromissbereit war und am schwersten zu regieren.«[14]

So sah man sie in der Schule also vor sich, die trotzigen Wikinger, die sich, um der Steuerlast und der Tyrannei zu entkommen, mit ihren Familien und ihrem Vieh, mit Pferden, Schafen und Kühen, nach einer zweiwöchigen Seefahrt schließlich in Island niederließen. Archäologische Funde bestätigen die Landnahme nach 870. Das Alter isländischer Ausgrabungen wird nicht nur mit der C14-Methode ermittelt, sondern, und in vielen Fällen präziser, auch durch die Geologie. So fand im Süden Islands um 877 ein heftiger Vulkanausbruch statt, der einen großen Teil des Landes mit Asche bedeckte. Fast alle der ältesten archäologischen Funde in Island, die von Häusern und Siedlungen zeugen, kann man auf die Zeit nach dieser sogenannten Landnahme-Asche-Schicht datieren, das heißt, sie sind später errichtet worden, stehen auf ihr drauf. Daher ist sich die Forschung, was die zügige Besiedlung des ganzen Landes in den Jahrzehnten danach betrifft, einig. Neue Ausgrabungen haben auch Reste von Winterlagern und ähnlichen Bauten zu Tage gefördert, und es ist möglich, dass Island vor der Landnahme als Fangstation für Fisch und Walrosse bekannt war, wissenschaftlich bewiesen ist es noch nicht.

Was man jetzt auch viel besser als vor hundert Jahren weiß, ist, dass die Isländer keineswegs ein homogenes Volk waren, das geschlossen aus Norwegen auswanderte. Um 870 hatten die Nordmänner sich schon in größeren Scharen in Schottland, auf den Orkney-Inseln, auf den Hebriden und in Irland niedergelassen. Wahrscheinlich haben sie zuerst Winterlager errichtet, später feste Siedlungen.

»Die Wikinger waren primitive Wilde und grausame Seeräuber, für die wir uns schämen sollten«, sagte mein Großvater immer zu mir. Er stammte aus der gleichen Generation wie Jónas von Hrifla, aber er mochte dessen Ursprungsmythos und Verherrlichung der Wikinger nicht. Grausame Seeräuber, das waren sie, aber sie waren noch viel mehr. Fischer und Bauern, Jäger und Kaufleute, zudem äußerst kundige Schiffbauer, die die Navigation auf hoher See besser als andere beherrschten, und Handelsleute, die von Kiew in der Ukraine und vom tiefen Russland bis nach Grönland, von Irland bis nach Konstantinopel Handel trieben. Sie verkauften Fisch und Wollstoff, aber auch die teuren Erzeugnisse des Walrossfangs, hauptsächlich die Zähne und den Lebertran. Walrosse sind große, aber friedfertige Tiere und waren früher im hohen Norden leicht zu fangen, zum Beispiel an Islands und Grönlands Küsten. Schon vor einem Vierteljahrhundert entwickelte der Wissenschaftler Helgi Guðmundsson die These, dass der Handel mit den nordischen Siedlungen in Grönland und mit Erzeugnissen aus Grönland für die Isländer von großer Bedeutung war und ihren relativen Wohlstand im 12. und 13. Jahrhundert zumindest teilweise erklärt. Die Zähne der Walrosse waren das Elfenbein des Nordens.[15]

Der Isländer Bergsveinn Birgisson (geb. 1971), Autor mehrerer Romane und eine Zeit lang Dozent an der Universität Bergen für altnordische Geschichte und Literatur, schrieb vor etwa zehn Jahren ein spannendes Werk, das auf Isländisch den treffenden Titel Leitin að svarta víkingnum (Die Suche nach dem schwarzen Wikinger) trägt. Im Grunde basiert das Buch auf Hypothesen. Von eigenen Erkenntnissen und dem neuesten Stand der Forschung ausgehend versucht er, das Leben des Landnehmers Geirmundur Heljarskinn – Geirmundur der Schwarzhäutige – zu rekonstruieren. Er wird im Buch der Landnahme erwähnt als einer der nobelsten Siedler, weil sein Vater ein norwegischer König von Hördaland war, der auf einer Raubfahrt nach Sibirien die Tochter eines indigenen Häuptlings entführt und mit ihr zwei Söhne bekommen hatte.

Geirmundur, der schwarze Wikinger, nahm sich Land am Breiðafjörður, einem breiten Fjord im Westen des Landes, aber das wurde ihm zu eng, und mit seinem Gefolge von achtzig freien Männern zog er deshalb in die Westfjorde in Nordisland und errichtete dort vier Höfe. Trotzdem ist über ihn keine Isländersaga überliefert, nur eine kurze Erzählung (þáttur), weshalb Bergsveinn sich daranmachte, sein Leben zu rekonstruieren. Dabei geht er von historischen Fakten aus, soweit sie überliefert sind, und füllt selbst die Leerstellen aus, erzählt uns, wie es hätte sein können. Ein paar Jahre später veröffentlichte er sogar eine »neue Saga«, in der er das Leben des Geirmundur als Roman im Stil der alten Sagas erzählte.[16] Bergsveinn hat hiermit zwei sehr interessante Werke vorgelegt, wobei ich dem historischen Buch mehr zuspreche als dem Roman. Nun kann man sich jedoch fragen, weshalb das für die Literaturgeschichte von Interesse ist.

Es geht um die Verbindungen zum keltischen Raum, aber auch darum, wie die isländische Gesellschaft in den ersten Jahrzehnten nach der Landnahme aufgebaut wurde, wovon die Menschen lebten. Bergsveinn und andere vertreten die Hypothese, dass die Landwirtschaft in Island, die anfangs aus Viehzucht bestand, sich nicht so schnell entwickeln konnte, dass sie die Bevölkerung, die um 930 ungefähr sechzigtausend Menschen zählte, hätte versorgen können. So viel Vieh, Rinder, Schweine, Pferde, Ziegen und natürlich Schafe konnten die ersten Siedler auf ihren Knorren gar nicht mitnehmen. Fischfang, Jagd und Handel waren weiterhin wichtige Erwerbszweige für die Nachkommen der Wikinger, es bildete sich nicht sogleich die friedfertige Gesellschaft freier Bauern, wie die Schulbücher es uns nahelegten. Geirmundur Heljarskinn war ein umtriebiger Häuptling, ein Seefahrer, Jäger und Kaufmann, der Reisen unternahm entlang der Küste Norwegens (der Name bedeutet ja Nord-Weg) bis nach Sibirien, und der danach nach Irland und Island und zu anderen Inseln im Atlantik segelte.

Die Nordmänner der Wikingerzeit, die im 9. Jahrhundert im keltischen Raum sesshaft wurden, wussten eventuell schon ein paar Jahrzehnte vor der eigentlichen Landnahme von Island – möglicherweise von den Papen – und könnten es als Station auf ihren Fahrten zum Fischfang oder zur Walrossjagd genutzt haben, ohne sich dort anzusiedeln. Die neueste Forschung hat gerade belegt, dass es auf Island seit Ende der Eiszeit einen eigenen Walrossstamm gab – unabhängig von anderen Stämmen am Nordatlantik –, der erst im 13. Jahrhundert ausstarb, woran wahrscheinlich der Mensch schuld war.[17] Für Seefahrer und Handelsleute wie Geirmundur den Schwarzen waren die Zähne der Walrosse ein wertvolles Gut, und die Walrosse an Islands Küsten in den ersten Jahrzehnten eine leichte Beute. Dann flohen sie vor den Jägern in den Norden, und deswegen hatte Geirmundur wohl auch im nördlichsten Teil der Westfjorde Höfe und Lager errichtet. Zudem weiß man, dass Island, solange die Schiffsverbindung zu den nordischen Siedlungen bestand, ein wichtiger Umschlagplatz für Waren aus Grönland war. Das konnten Falken sein, aber eben auch Walrosszähne oder die noch exotischeren Stoßzähne von Narwalen, die kluge Kaufleute europäischen Fürsten als Hörner von Einhörnern feilboten. Einen solchen Zahn, zwar aus Russland stammend, sieht man beispielsweise auf alten Abbildungen im Zepter der Königin Elisabeth I. von England.

Zu diesem vermutlich wertvollsten Exportgut des nordischen Mittelalters gibt es eine Szene im Roman Das Gleißen der Nacht (2008)von Sjón, in der er den Aufenthalt des isländischen Gelehrten Jónas Pálmason, dessen historisches Vorbild Jón Guðmundsson hieß, beim großen Naturwissenschaftler Ole Worm in Kopenhagen schildert. Ole Worm, auch im realen Leben einer der bekanntesten Gelehrten des 17. Jahrhunderts, hatte ein Naturalien- und Kuriositätenkabinett, Museum Wormianum genannt, das Jónas sehr interessierte. Eines Tages will man ihm ein besonders wertvolles Exponat zeigen:

Die Studenten drängten sich um den langen schmalen Untersuchungstisch und sahen zu, wie Oles behandschuhte Finger über den Stoff glitten und schließlich mit geschickten Handgriffen das stattliche Horn eines Einhorns enthüllten. Doch was da zum Vorschein kam war kein gewöhnliches Exemplar vom Kopfschmuck dieses scheuen Tieres, denn das Horn saß noch auf einem Bruchstück aus der Schädeldecke. Den Anwesenden stockte der Atem. Nur selten war von einem Einhorn etwas anderes als das prächtig gedrechselte Horn zu finden, anderes Gebein war äußerst rar, und die Wissenschaft vertrat mehr oder weniger einhellig die Meinung, dass das, was man in Museen zu sehen bekam, Fälschung sein musste. Hier aber hatten wir nun ein Fragment aus Stirn und Hinterkopf eines solchen Tieres, was es ermöglichte, Vergleiche mit dem Schädel anderer Paarhufer anzustellen, wobei das Einhorn am engsten mit dem Steinbock verwandt zu sein schien.

Da brach Jónas Pálmason in Gelächter aus, er lachte und lachte und konnte sich kaum beherrschen. Die kurzen Beine gaben nach, der wackelnde Leib sackte zu Boden, und dort lag er und lachte und lachte, bis es schien, als ob er weinte. Die Studenten blickten einander an, sie waren von Jónas so manches gewohnt, oft grunzte er halblaut vor sich hin oder rief unverständliche Satzfetzen in den Raum, doch dieses übertriebene Gebaren war nicht nur unheimlich, es war in Gegenwart des Rektors und des königlichen Privateigentums auch ganz und gar fehl am Platz.[18]

Der Isländer Jónas, der sich bestens auskannte mit Walen, hatte im Einhorn den Zahn eines Narwals wiedererkannt.

In den Zeiten um die Landnahme Islands war Dublin nicht nur Sitz eines nordischen Königreichs, sondern auch einer der wichtigsten Marktplätze in Europa für den Sklavenhandel. Sklaverei gab es in Irland schon vor der Zeit der Wikinger, aber infolge der Raubzüge der Nordmänner in Irland und Schottland wurden mehr und mehr Männer und Frauen keltischen Ursprungs am Hafen von Dublin in die Sklaverei verkauft. Im 9. Jahrhundert blühte der Markt, und ein Sklave kostete umgerechnet etwa 5000 – 10000 Euro. Viele der Häuptlinge oder Goden, die Island unter sich aufteilten, hatten Sklaven, und die weitaus meisten davon waren Kelten.

Die Sklaven werden im Buch der Landnahme nicht ganz übergangen, und sie werden auch in den Sagas oft erwähnt, aber den allerwenigsten wird eine wichtige Rolle zuteil; die christlichen Autoren des 13. Jahrhunderts waren nicht unbedingt stolz auf diese Tradition, die damals größtenteils abgeschafft worden war. Isländische Historiker haben lange darüber gestritten, wie groß der Anteil der Kelten an der ursprünglichen Bevölkerung Islands war und welchen Einfluss sie hatten. In letzter Zeit hat die genealogische Forschung jedoch so große Fortschritte gemacht, dass man berechnen kann, wie die erste Bevölkerung des isländischen Freistaats, unmittelbar nach der Landnahme, zusammengesetzt war. Ungefähr 80 Prozent der Männer waren norwegischer Abstammung und nur ein Fünftel keltisch, aber bei den Frauen war es fast umgekehrt, 60 Prozent von ihnen waren keltischer Abstammung. Dies kann man sich eigentlich nur damit erklären, dass sich einige norwegische Häuptlinge allein auf ihre Expedition nach Island begaben und sich unterwegs, in Irland oder auf den Britischen Inseln, Frauen holten.

Forscher, die seit Langem den keltischen Einfluss als ausschlaggebend für die Entwicklung der isländischen Literatur betrachten und die gelegentlich von der traditionellen nordischen Forschung als Querulanten abgetan werden, können dank der modernen Ergebnisse der Genealogieforschung nun ein wichtiges Faktum zu ihren Argumenten hinzufügen. Denn alle müssen das gleiche Rätsel lösen: Wieso wurde ausgerechnet auf Island im 13. Jahrhundert der weitaus größte Teil der altnordischen Literatur aufgezeichnet, und nicht in Norwegen, Dänemark oder Schweden? Wie erwähnt, gilt es da zu bedenken, dass es die Iren waren, die schon vor dem Zeitalter der Wikinger ihre epischen Mythen und ihre Lyrik schriftlich in ihrer Muttersprache festhielten.

Die Edda: Der Ruf stirbt niemals

Sól tér sortna

Die Sonne verdunkelt sich,

sígr fold í mar,

das Land versinkt im Meer,

hverfa af himni

vom Himmel stürzen

heiðar stjörnur;

die hellen Sterne;

geisar eimi

es wüten Feuer

við aldrnara

und Rauch,

leikr hár hiti

große Hitze steigt

við himin sjálfan.

selbst bis zum Himmel empor.[**]

So wird in dem vielleicht bekanntesten Edda-Lied, die Völuspá, der Weltuntergang, Ragnarök, beschrieben. Völuspá bedeutet so viel wie die Weissagung oder Prophezeiung der Hellseherin, und dieses Gedicht, im stabreimenden Versmaß und, je nach Quelle, in 63 oder 57 Strophen, wird allgemein als einer der Höhepunkte der Dichtung des nordischen Mittelalters bezeichnet. Es ist packend, selbst tausend Jahre später, mit einfachen, klaren Bildern, ohne Endreim, aber verbunden durch den Stabreim, den die Leser in der isländischen Version unschwer erkennen können (Sól tér sortna/sígr fold í mar). Die Völuspá stellt ein umfassendes Bild der Welt dar. Selbstverständlich benötigen moderne isländische Leser manchmal Erläuterungen, die auf die altnordische Mythologie Bezug nehmen, um das Werk zu verstehen. Die meisten poetischen Bilder sind jedoch zugänglich (und werden in einigen der deutschen Übersetzungen archaischer, weil die Übersetzer sich einem rekonstruierten Altgermanentum annähern wollten).

Aber was wissen wir über die Völuspá? Wir wissen nicht, wer dieses Lied verfasst hat oder wann es entstand, auch nicht, wann es zum ersten Mal niedergeschrieben wurde, wie lange es – wenn überhaupt – mündlich überliefert wurde. Aus sogenannten Göttergedichten wie der Völuspá haben Forscher einen großen Teil der nordischen Mythologie rekonstruiert; das Weltbild der Wikinger, so wie wir es uns vorstellen, glaubt man in den Edda-Liedern finden zu können. Zugegeben, die Überlieferung des Edda-Stoffes wirkt wie reiner Zufall. Die Völuspá gibt es immerhin in zwei alten Abschriften, einige der Edda-Lieder werden zusätzlich von Snorri Sturluson in seiner Edda zitiert oder teilweise wiedergegeben, einige andere Edda-Lieder stehen in den sogenannten Legenden-Sagas. Aber der größte Teil der Edda-Lieder, darunter zum Beispiel das nach der Völuspá am meisten zitierte »Lied des Hohen«, Hávamál, wurde nur durch ein einziges Manuskript gerettet.

Diese Handschrift ist das sogenannte »Königsbuch« der Edda, der Codex Regius, der um 1270 aufgezeichnet wurde. Wahrscheinlich, und ein anderes Wort als das bleibt uns hier nicht übrig, übernahm der Schreiber Teile aus älteren Manuskripten, die alle verschollen sind. Das Königsbuch ist, dem Namen zum Trotz, in einem kleinen Format, mit klarer Schrift geschrieben, ohne Ausschmückungen oder Zeichnungen, bräunlich und an den Rändern beschädigt, acht Seiten fehlen, und es sieht ein bisschen so aus, als hätte jemand es in eine Kneipe mitgenommen, versehentlich sein Bier darüber geschüttet – und es dann vergessen. Wir wissen nichts über die Geschichte dieses unschätzbar wertvollen Buchs, bis es 1643 dem Bischof Brynjólfur Sveinsson in die Hände fiel, der es dann zwanzig Jahre später dem dänischen König Frederik III. schenkte.[19] Einen Großteil des vielleicht wichtigsten Schatzes der altnordischen Kultur findet man nur im Königsbuch.

Im 17. Jahrhundert begann das Ausland erstes Interesse für die Edda-Dichtung zu entwickeln. Ein breiteres europäisches Interesse, insbesondere in Deutschland, kam erst im 19. Jahrhundert auf. Jacob und Wilhelm Grimm übersetzten »Lieder der alten Edda« und ließen sie 1815 drucken. Inzwischen ist auch bewiesen, dass Richard Wagner sich in seinem Ring des Nibelungen nicht nur vom Nibelungenlied beeinflussen ließ, sondern in einem nicht minderen Maße die altisländische Dichtung verwandte.[20] Es ist wichtig, sich diese Rezeptionsgeschichte vor Augen zu halten. Denn vieles von dem, was man über die Edda zu wissen glaubt, sind Thesen aus dem 19. oder frühen 20. Jahrhundert, die unter anderem von der Nationalromantik oder der isländischen Unabhängigkeitsbewegung beeinflusst waren. Womit nicht gesagt ist, dass sie falsch sind, sondern eher, dass man sich ihnen kritisch nähern sollte. Hinzu kommt, dass die Isländer manches sicherlich wussten, aber es brauchte ausländische Forscher, um es zu kategorisieren und ihnen zu erklären. So zum Beispiel die Regeln des Stabreims, kennzeichnend für die isländische Dichtung von den Anfängen bis weit ins 20. Jahrhundert, aber zum ersten Mal 1887 in einem Artikel von einem deutschen Wissenschaftler Namens Philipp Schweitzer beschrieben.[21]

Was für eine Dichtung ist die Edda? Früher sprach man von der Sæmundar-Edda auf der einen Seite und der Edda von Snorri auf der anderen, weil man glaubte, dass der Gelehrte Sæmundur Sigfússon die alten Edda-Lieder gesammelt und schon 150 Jahre vor dem Codex Regius aufgeschrieben habe. Dafür gibt es keine Belege, und der Begriff »Sæmundar-Edda« wird nicht mehr verwandt. Jetzt spricht man eher von der Lieder-Edda im Gegensatz zur Edda von Snorri. Das ist zugegebenermaßen alles eher verwirrend, und im Grunde genommen sollte man nur von einer Edda-Dichtung sprechen. Denn das Buch Edda von Snorri Sturluson, ungefähr 1220 verfasst, ist ein Sachbuch. Es gibt einige der grundlegenden Erzählungen der nordischen Mythologie wieder, aus der Sicht eines gelehrten, christlichen Autors, und enthält eine Poetik, die die verschiedenen Versformen und Eigenarten der isländischen Dichtung erklärt, und beides wird mit Beispielen aus der Edda Dichtung erläutert. Aber es ist keine eigene Form der Edda-Dichtung.

Die Edda-Lieder sind auf jeden Fall älter als das Werk von Snorri, obwohl die wichtigste erhaltene Quelle jünger ist. Traditionell werden sie je nach ihrem Stoff in zwei Kategorien eingeteilt: die Götterlieder, die sich mit den Göttern der nordischen Mythologie befassen, und die Heldenlieder, welche die Themen der Völkerwanderungszeit und die Nibelungensage aus einer nordischen Perspektive behandeln. Es ist unwahrscheinlich, dass alle diese Lieder gleich alt sind, und viele Forscher meinen, dass die schriftliche Fassung erst um 1200 Form annahm. Aber dem Stoff nach zu urteilen und auch aus sprachgeschichtlicher Sicht sind viele der Lieder aus einer älteren Zeit, könnten aus dem 10., teilweise sogar 9. Jahrhundert stammen. Das heißt im Grunde, dass sie vor der Christianisierung des Nordens entstanden sind. Die Sicht auf die nordischen Götter ist zwar stellenweise ironisch oder karnevalistisch, aber fast nie christlich. Wenn Snorri Sturluson in seiner Edda einige der bekanntesten heidnischen nordischen Mythen nacherzählt, muss er als christlicher Autor einen Vorbehalt machen: »Die hier erzählten Sagen dürfen nicht vergessen oder Lügen gestraft werden, indem man aus der Dichtkunst die alten Umschreibungen verbannt, an welchen die Klassiker Gefallen gefunden haben. Doch sollen Christenmenschen nicht an die heidnischen Götter und nicht an die Wahrheit dieser Sagen auf andere Weise glauben, als so, wie es im Anfang dieses Buches zu lesen ist.«[22]

Die Umschreibungen, die Snorri hier erwähnt, sind die sogenannten kenningar (von kenna, kennzeichnen), das wohl bekannteste Stilmittel der altnordischen Dichtung, die poetische Paraphrase eines Begriffs: Feuer des Rheins etwa ist kenning für Gold, das Ross der Wellen ist ein Schiff, und das Meer der Schwerter bedeutet Blut.

Viele der Umschreibungen beziehen sich auf Eigenschaften oder Namen der heidnischen Götter und setzen daher eine Kenntnis der nordischen Mythologie beim Leser oder Zuhörer voraus; Snorri wollte sie in seiner Poetik erklären, musste aber seine Leser vor dem Heidentum warnen, oder wenigstens so tun, als ob er sie warnte. Solcherlei Bedenken findet man nicht in den alten Edda-Liedern, und viele von ihnen scheinen ihren Resonanzboden im heidnischen Glauben zu haben, wobei man nicht vergessen darf, dass die nordische Mythologie, manchmal Asenglaube genannt, keine Institution war, keine Kirche etablierte, wie das Christentum sie kennt, und auch keine theologische Lehre hervorbrachte.

Sprachgeschichtlich geht man davon aus, dass die Lieder nach 800 entstanden sind, und viele von ihnen sind offensichtlich von Generation zu Generation mündlich überliefert worden. Der Stoff ist alt, und man konnte auch schriftliche Belege eines gemeinsamen germanischen Erbes finden. So finden sich zum Beispiel in der Völuspá die Zeilen: »Jörð fannst æva / né upphiminn«, die diesen Zeilen aus dem Wessobrunner Gebet, auch Schöpfungsgedicht genannt, sehr ähnlich sind: »Ero ni aus / noh ufhimil« (Erde war nicht / noch ›Aufhimmel‹); dasselbe gilt für mehrere weitere Zeilen aus diesem Teil des Gedichtes.[23] Das Wessobrunner Gebet ist als Pergamenthandschrift vom Anfang des 9. Jahrhunderts erhalten und gilt als eines der ältesten überlieferten Gedichte auf Althochdeutsch überhaupt. Obwohl es christlich ist, scheint sowohl dem Gebet wie der Völuspá eine gemeinsame altgermanische Schöpfungsgeschichte zu Grunde zu liegen.

Ein gemeinsames germanisches Erbe – noch immer haben solche Worte einen faden Beigeschmack – liegt auch den Heldenliedern zugrunde. Sie haben ihren Ausgangspunkt im Tod von Attila – isländische Form Atli –, dem Hunnenkönig (gestorben im Jahre 453) und in der Völkerwanderungszeit. Es treten viele Protagonisten auf, die deutschen Lesern aus dem Nibelungenlied bekannt sind, bloß unter altnordischen Namen: Atli für Etzel, Gunnar für Gunther, König der Burgunden, Guðrún für Krimhild und natürlich Sigurður für Siegfried; der Drache trägt den Namen Fáfnir, Fafner im Ring des Nibelungen. Vieles in den Heldenliedern stammt aus der Nibelungensage. Während das Nibelungenlied, ungefähr 1200 verfasst, einen höfischen Ton hat, sind die Heldenlieder der Edda archaischer. Obwohl sie epische, erzählende Zyklen sind, die von den Hunnen und dem Untergang germanischer Reiche handeln, wirken sie manchmal wie ein Stubendrama mit wenigen Personen, die alle untereinander verwandt sind: Sigurður hat ein Verhältnis mit Brynhildur, der Schwester von Atli, aber heiratet dann Guðrún, die Schwester von Gunnar und so weiter.[24] Ein großer Teil der jeweils einzelnen Lieder besteht dann aus den Repliken dieser Personen.

Alle treten sie in der Atlakviða auf, auf Deutsch das Ältere Atlilied, dem wahrscheinlich ältesten Lied der Edda. Forscher datieren es um 900, obwohl die älteste Überlieferung erst im Königsbuch zu finden ist. Viele Strophen sind in der direkten Rede verfasst, die Personen tragen einander Gedichte vor, die von grausamen Ereignissen handeln. Über allem schwebt der Tod, denn die Themen sind Mord und Rache, Liebe und Tapferkeit; erst in seiner Niederlage wird Gunnar zum Helden. Es gibt sehr eindrucksvolle Strophen mit starken Bildern, zum Beispiel die 16. Strophe, in der Guðrún zu ihrem Bruder Gunnar spricht:

Besser hättst du’s, Bruder,

Wenn du in der Brünne kämst,

Als mit ringgeschmückten Helmen,

Atlis Heim zu besuchen;

du säßest im Sattel

an sonnenhellen Tagen

ließest Nornen bleiche

Leichen beweinen,

der Hunnen Schildmaide

die Egge kennen,

Atli selbst

ließest du in den Schlangenhof werfen;

nun ist dieser Schlangenhof

dir bestimmt.[25]

Möchte man nur ein Heldenlied der Edda und ein Götterlied kennenlernen, dann wären das am besten die Atlakviða und die Völuspá.Aber fast genauso bekannt und vielleicht noch mehr zitiert sind die Hávamál, des Hohen Lied, das zu den Götterliedern gezählt wird und im Königsbuch – der einzigen alten Quelle dieses Lieds von 164 Strophen – an zweiter Stelle auf die Völuspá folgt. Hoch oder der Hohe ist der nordische Gott Odin, der in den ersten 76 Strophen alle möglichen Weisheiten und Verhaltensregeln von sich gibt; am bekanntesten davon ist wohl der letzte Vers:

Vieh stirbt,

Verwandte sterben,

man selbst stirbt ebenso;

aber der Ruf

stirbt niemals dem,

der sich guten erwirbt.[26]

Der Ruf eines Menschen, isländisch orðstír, ist ein wiederkehrendes Thema in den Hávamál, und genauer betrachtet in der gesamten altisländischen Literatur. Darum geht es auch in den Sagas: die Ehre, den Ruf, sowohl des Einzelnen als auch der Familie und der Sippe, und daher auch um den Leumund und die Rache. Man könnte diesen ersten und berühmtesten Teil der Hávamál auch Weisheitsgedicht nennen, und sicherlich enthält er viel von der altnordischen Sittenlehre; in den letzten Jahren waren Ausgaben davon unter dem Titel The Sayings of The Vikings, auf Deutsch So sprachen die Wikinger, sehr erfolgreich. Wie immer in solchen Werken sind viele der Weisheiten selbstverständlich, ja banal. So zum Beispiel, dass der Mensch weise oder klug sein muss, der viel reist, während der dumm ist, der immer zu Hause bleibt. Dazu passt, dass das isländische Wort für dumm, heimskur, von dem Wort heima, zu Hause oder Heim, abgeleitet ist. (Auf Deutsch findet sich der Wortstamm im Adjektiv »heimlich«, und abgeleitet davon »unheimlich«, was auch wieder bemerkenswert ist.)

Die Skalden am Hofe

Es gab auf Isländisch auch eine ganz andere Gattung der Dichtung, genauso alt wie die Edda, die sogenannten »Dróttkvæði«. Auf Deutsch wird diese Gattung Skaldendichtung genannt oder mit dem etwas kantigen Begriff, wie ihn sich nur Akademiker einfallen lassen können, Skaldik erfasst. Skáld ist das isländische Wort für Dichter, also bedeutet Skaldendichtung einfach Dichterdichtung, kein besonders erklärender Terminus. Dabei bedeutet Dróttkvæði auf Isländisch so viel wie Hof-Dichtung, ein Begriff, der bei deutschen Lesern andere Konnotationen hat.

Die Dróttkvæði haben außer dem Stabreim nicht viel gemeinsam mit den Edda-Liedern. Die Versform ist viel strenger. Jede Strophe besteht aus acht Zeilen mit komplizierten metrischen Strukturen. Es gibt kaum einfache oder klare Bilder, und die Gedichte sind gespickt mit kenningar und heiti, Umschreibungen und Metaphern, die nur mithilfe einer umfassenden Kenntnis der nordischen Mythologie verständlich sind. Man weiß mit Sicherheit, dass es diese poetische Gattung im westnordischen Raum schon vor Islands Besiedlung gab. So wird dem Norweger Bragi Boddason ein solches Gedicht vom Anfang des 9. Jahrhunderts zugeschrieben, obwohl die Dróttkvæði zum weitaus größten Teil in Island im 13. und 14. Jahrhundert aufgezeichnet wurden. Dazu kommt ein wichtiger Unterschied zu den Edda-Liedern: Die Autorschaft der meisten Skaldendichtungen ist bekannt – wir wissen tatsächlich die Namen der Skalden, die diese Werke verfasst haben oder denen sie zugeschrieben sind.

Die Skaldendichtung erzählt oft kurze Geschichten, meistens zum Lob einzelner Häuptlinge oder Fürsten; sie wurde vorgetragen am Hofe, wenn man diesem Haufen Krieger, die sich in den Langhäusern streitlustiger Kleinkönige zusammenrauften, einen so würdevollen Namen geben kann. Die Skalden bezeichneten ihre Dichtung als »íþrótt«, was so viel wie Können oder Handwerk bedeutet. Das trifft zu, denn es geht viel eher darum, den komplizierten Regeln perfekt zu folgen, als Gedanken, geschweige denn neue Ideen, zu vermitteln. Die Bedeutung einer Strophe kann oft in einem einfachen Satz zusammengefasst werden (»Der König war tapfer«), während die Erklärung der Umschreibungen viermal länger als die Strophe ist, wie ich schon in der Schule auf schmerzhafte Weise erfahren musste. Daher gibt es Leser, die die Dróttkvæði mit den Lautgedichten von Kurt Schwitters oder der Dichtung der Surrealisten vergleichen.[27] Es ist eine Dichtung, die von der Form, von den Lauten und Bildern lebt und nicht von der Nähe zur Wirklichkeit. Die Gedichte waren dazu verfasst, anderen vorgetragen zu werden, und viele von ihnen haben eine Jahrhunderte währende mündliche Überlieferung überstanden, wohl nicht zuletzt dank der strengen Versform mit ihrem Binnenreim.

Die Wikingerkönige und ihre Nachfahren sahen bis ins 14. Jahrhundert sehr gerne Dichter an ihrem Hofe, die ihnen mit dieser Form von Dichtung ein Lob singen konnten, wobei selbstverständlich die kriegerischen Fähigkeiten und die Tapferkeit des Häuptlings im Mittelpunkt standen. Nach der Jahrtausendwende, also nach 1000, waren fast alle der namentlich erwähnten Dichter der Dróttkvæði Isländer, vorher konnten es zum Beispiel auch Norweger sein. Isländische Häuptlinge, die im 13. Jahrhundert aus machtpolitischen Gründen norwegische Könige oder Königsanwärter aufsuchten, mussten ihren Gastgebern solche Gedichte vortragen können.

Manche der Isländersagas, sowohl der langen als auch der kürzeren, erzählen die Geschichte eines Skalden oder Barden, der sich am Königshofe einen Namen gemacht hatte. Diese Dichter genossen großen Respekt, was bemerkenswert ist, weil die Namen der Verfasser der Sagas oder der Edda-Lieder gar nicht erst überliefert sind. In fast allen Sagas werden Dróttkvæði zitiert, und die meisten Forscher gehen davon aus, dass viele – nicht alle – davon älter sind als die Prosawerke, in denen man sie findet. Manche Erzählungen wurden eventuell um sie herum verfasst oder um ihren Hintergrund zu erklären.

Dróttkvæði sind Lesern aus anderen Ländern nicht leicht zu vermitteln. Sie zu übersetzen unter Beibehaltung der Form und ohne ausführliche Erklärungen ist schier unmöglich, und auch den isländischen Lesern sind sie inzwischen unverständlich. Sie werden sicher für Historiker und Literaturwissenschaftler weiterhin ein interessantes Gebiet sein, aber sonstigen Lesern verschlossen bleiben. Die Beschreibung »Handwerk« trifft zu; man kann die Skaldendichtung bewundern, aber sie weckt kaum ein lyrisches Gefühl wie heutige Leser es kennen. Es ist eine strenge Form mit einem begrenzten Raum für einen persönlichen Ausdruck.

Mit einer großartigen Ausnahme: Dem Dichter und Wikinger Egill Skallagrímsson, ca. 910 – 990. Von ihm handelt eine der bekanntesten Isländersagas, die Egills Saga, die Snorri Sturluson wahrscheinlich um 1230 verfasst hat.[28] Sie ist eine abenteuerliche Geschichte von einem sturen, kämpferischen isländischen Skald, der sich schon in sehr jungen Jahren dazu entschließt, in die Welt zu ziehen mit Schiff und Schwert. Er legt sich mit Königen und Fürsten an und stirbt im hohen Alter eines natürlichen Todes auf Island. Was immer von dieser Geschichte wahr sein mag, die Saga hat ihre literarische Bedeutung nicht zuletzt der Dichtung von Egill zu verdanken. Eine Dichtung im Stil der Dróttkvæði, bestehend sowohl aus Einzelstrophen als auch aus drei längeren Gedichten, von denen jedes über zwanzig Strophen umfasst. Diese Dichtung war sicherlich der wichtigste Zugang des Autors zu Egills Lebenslauf, als er die Saga über zweihundert Jahre nach dem Tod ihres dunklen Helden verfasste. Die Dichtung hat klare heidnische Merkmale, die Umschreibungen und Gleichnisse zeugen von der engen Nähe des Dichters zu den nordischen Göttern, und obwohl sicher nicht alle Strophen von Egill selbst stammen, gehört ihr Weltbild zum nordischen Heidentum. Die Saga wiederum, gewiss von einem christlichen Autor, wahrscheinlich Snorri, verfasst, wird von Forschern als die älteste Saga überhaupt betrachtet und hat viele archaische Elemente; so ist zum Beispiel Egills Großvater in Norwegen ein Werwolf, der abends die Gestalt wechselt.

Das bekannteste Gedicht der Egills Saga und des nordischen Heidentums überhaupt heißt Sonatorrek, der Verlust der Söhne, und Egill dichtete es, nachdem er zwei Söhne verloren hatte; der eine fiel einem Fieber zum Opfer, der andere ertrank. Egill fällt in eine tiefe Depression und beschließt, sich zu Tode zu hungern. Man lässt seine Tochter Þórgerð holen, und sie legt sich zu ihm, in ein zweites Bett in dem Alkoven, wo er sich eingeigelt hat, um mit ihm zu verhungern.

Da sagte Egill: »Gut hast du daran getan, Tochter, dass du deinen Vater begleiten willst; große Liebe hast du mir gezeigt. Wie kann man erwarten, dass ich mit einem solchen Schmerz noch leben will?« Dann schwiegen sie eine Weile. Da sagte Egill: »Was ist mit dir, Tochter, kaust du jetzt etwas?« »Ich kaue Seetang«, sagt sie, »denn ich glaube, dass es mir davon schlechter geht als vorher; sonst, glaube ich, würde ich zu lange leben.« »Ist das schlecht für den Menschen?«, sagt Egill. »Sehr schlecht«, sagt sie, »willst du davon essen?« »Was macht das schon aus«, sagt er.[29]

Vom Seetang wird man sehr durstig, und so narrt die Tochter Egill und bringt ihn dazu, sowohl zu essen als auch zu trinken, und sagt ihm dann, er solle jetzt über seine Söhne ein Gedicht verfassen, so es mit dem Verhungern doch nichts werde. Das tut Egill, und mit diesen Zeilen fängt Sonatorrek an:

Schwer ist’s mir

die Zunge zu rühren

oder emporzuheben

Liedes Waagarm;[30]

Der Dichter setzt fort, um zu erzählen, wie schwer es ihm falle, Wörter zu finden für seinen Verlust, und erinnert sich an den Tod seiner Eltern, seines Bruders und seiner Söhne. Die Fassungen, in denen das Gedicht überliefert ist, sind nicht lückenlos, nicht alles ist verständlich, und manche Strophen sind von Forschern rekonstruiert worden, aber die Subjektivität und das Selbstbild des Dichters sind einzigartig. Zum Schluss spricht er über seinen Gott Odin, und wie der ihrer Freundschaft ein Ende bereitet habe. Doch gibt er zu, Odin habe ihm zum Trost das Geschenk der Dichtung gemacht, und schließlich versöhnt er sich mit dem Tod:

Dennoch will ich froh

gutwillig

und ohne Trauer

auf den Tod warten.[31]

Der Literaturwissenschaftler Peter Hallberg nannte Sonatorrek »das erste rein subjektive Gedicht des Nordens«[32], und es ist in der Tat einzigartig, wie der Dichter seine Wut auf die Götter zum Ausdruck bringt und seine persönliche Trauer beschreibt. Ich will nun nicht, wie manche Autoren früher, behaupten, dass Sonatorrek die Geburt des Individuums in der nordischen Dichtung markiert. Die Tradition der Skaldendichtung wird auch von einer Rhetorik des Vortragens bestimmt, und es ist aus heutiger Sicht schwer zu sagen, wie die Menschen des 10. Jahrhunderts ihre Individualität erlebten. Aber vielleicht hatte Jean-Paul Sartre nicht ganz unrecht, als er bei seinem einzigen Islandbesuch in einem Interview sagte, aus seiner Sicht sei Egill Skallagrímsson der erste Existenzialist gewesen.[33]

Die Gattung der Skaldendichtung lebte weiter in Island. Noch bis ins 14. Jahrhundert besuchten isländische Dichter die norwegischen Könige, um ihnen Lobgedichte vorzutragen, und die Versform der Dróttkvæði wurde bereits ab dem 12. Jahrhundert verwendet, um dem neuen König, Christus, Lob zu singen. So fing die religiöse Dichtung auf Island an, bloß wurde die Bildsprache mehr und mehr christlich, anstatt ihre Nahrung aus der heidnischen Götterwelt zu nehmen.

Die Skaldendichtung, die hauptsächlich in Prosawerken überliefert ist, in den Isländer- wie Königssagas und in der Edda von Snorri Sturluson, ist umfangreich, insgesamt umfasst sie etwa 16000 Zeilen in Einzelstrophen sowie längeren Gedichten; über 250 Namen von Dichtern und einigen ganz wenigen Dichterinnen sind bekannt.[34] Im Gegensatz dazu gibt es nur fünfzig Edda-Lieder, und alle sind anonym verfasst. Aber für beide Gattungen gilt, dass ein Großteil mündlich überliefert wurde und dass ungefähr dreihundert Jahre zwischen ihrer Entstehung und ihrer Niederschrift vergehen konnten – und dass die Niederschrift in Island und auf Isländisch stattfand.

Die Wurzeln der Edda-Lieder liegen tiefer, in Sagen und Mythen aus germanischen Völkerwanderungszeiten, aber wichtige Teile des Stoffes finden sich eben nur im Königsbuch und in anderen isländischen Manuskripten aus dem 13. und 14. Jahrhundert. So wurden diese Handschriften zu einem nordeuropäischen Kulturgedächtnis.

Eine Geschichte aus Geschichten

Bleibt die Frage: Warum? In den anderen nordischen Ländern fehlte es nicht an Geschichtsschreibern, Geistlichen und Gelehrten. Der Däne Saxo grammaticus schrieb sein Gesta Danorum