Im Tal der Lügen - Ricarda Martin - E-Book

Im Tal der Lügen E-Book

Ricarda Martin

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Beschreibung

Die große Frauensaga! Cornwall, 1856: Lorna und Cathy stammen aus armen Verhältnissen und sind seit frühester Kindheit beste Freundinnen. Nichts kann sie trennen – bis Cathy als Hausmädchen auf einen herrschaftlichen Besitz zieht und ihre Freundin mit der Nachricht überrascht, dass sie ihren Dienstherrn heiraten werde. Cathy überredet Lorna, als Gesellschafterin zu ihr zu kommen. Vier Tage vor der Hochzeit findet Lorna Cathy neben der Leiche ihres zukünftigen Schwagers. Doch nicht Cathy, sondern Lorna wird als Mörderin verurteilt und nach Tasmanien deportiert … Wird die Gerechtigkeit doch noch siegen? Süffig, üppig, abenteuerlich! Im Tal der Lügen von Ricarda Martin: im eBook erhältlich!

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Ricarda Martin

Im Tal der Lügen

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. KapitelEpilog
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Prolog

Tregenna Farm, Tasmanien, 24. Dezember 1888

Wie ein blutroter Ball ging die Sonne am wolkenlosen Horizont auf. Obwohl es erst sechs Uhr war, flimmerte die Luft bereits jetzt vor Hitze über den Wiesen, die sich meilenweit dem Betrachter darboten. Lorna Marshall lehnte am Fensterrahmen und starrte auf das Land. Auf ihrer Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet. Eine Tür klapperte, und Lorna sah ein Hausmädchen mit einer Kanne Milch über die hölzerne Veranda laufen.

»Komm wieder ins Bett, Liebes. Es ist noch früh.«

Lorna drehte sich um. Clark Marshall richtete sich aus den Kissen auf und gähnte ausgiebig. Seine Haare, die immer noch dicht und voll und nur von wenigen grauen Strähnen durchzogen waren, standen zerzaust in alle Richtungen von seinem markanten Schädel ab.

Lorna lächelte und sah ihn liebevoll an.

»Ich kann nicht mehr schlafen, Clark, und es gibt heute noch so viel zu tun.«

Clark grinste und streckte sich.

»Ja, du musst zum zehnten Mal kontrollieren, ob die Zimmer der Jungs ordentlich geputzt und die Geschenke verpackt worden sind und ob die Köchin auch wirklich ihre Lieblingsspeisen vorbereitet hat.«

Lorna griff nach einem Kissen auf dem Stuhl neben ihr und warf es Clark mitten ins Gesicht.

»Mach dich ruhig lustig über mich, Clark Marshall! Du hast die beiden doch genauso vermisst wie ich, das kannst du nicht leugnen.«

Statt einer Antwort streckte Clark beide Arme aus, und Lorna eilte zum Bett, kniete auf den Vorleger und schmiegte den Kopf an seine Brust. Clarks Hand streichelte zärtlich über ihr Haar.

»Du hast recht, Liebes, auch ich kann es nicht erwarten, bis die Jungs endlich wieder daheim sind.«

Das Herz war Lorna schwer geworden, als ihr älterer Sohn Seamus vor drei Jahren die Farm verließ, um in Hobart zur Schule zu gehen.

Richtig schlimm war es aber im letzten Jahr gewesen, als auch Gordon diesen Weg antrat. Es gab jedoch keine andere Möglichkeit, ihre Schulbildung zu vervollständigen, als das exklusive Internat in der Hauptstadt. Hier oben im Norden von Tasmanien in der Nähe von Launceston gab es keine vergleichbare Einrichtung, in der die Kinder der vermögenden Farmbesitzer unterrichtet und für das Leben ausgebildet werden konnten. Wegen der weiten Entfernung kamen die Söhne nur zweimal im Jahr nach Hause, und jedes Mal war das für Lorna und Clark ein großes Fest. Heute, an Weihnachten, würden beinahe alle Nachbarn aus der Umgebung am Abend auf die Farm kommen. Seit Jahren war es Brauch, dass die Marshalls von Tregenna zum Fest luden, denn die Farm war im Umkreis von hundert Meilen das prächtigste und reichste Anwesen. Und die Leute kamen gerne. Die Farmen lagen so weit auseinander, dass man sich während des Jahres selten sah, und Zeit für regelmäßige Festivitäten hatten nur wenige von ihnen. So nahm man gerne die Gelegenheit wahr, an Weihnachten den neuesten Klatsch und Tratsch, aber auch Geschäftliches auszutauschen.

»Seamus ist vor zwei Monaten achtzehn geworden und damit ein richtiger Mann«, sagte Lorna. »Es ist unglaublich, wie die Zeit vergeht. Mir scheint, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich ihn als Säugling in meinen Armen gewiegt habe.«

Clark lachte und drückte Lorna einen Kuss mitten auf die Lippen.

»Noch ein Jahr, dann wird Seamus auf der Farm mithelfen, während Gordon wohl die juristische Laufbahn einschlagen wird.« Der jüngere Sohn der Marshalls interessierte sich mit seinen fünfzehn Jahren schon sehr für alles, was mit Gesetz, Recht und Ordnung zu tun hatte. »Einen Anwalt oder Richter in der Familie zu haben, das kann nicht schaden.«

Lorna seufzte, aber ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Auch wenn mich Seamus um mehr als einen Kopf überragt und Gordon ein wandelndes Lexikon ist, für mich werden sie immer meine beiden kleinen Jungs bleiben.« Sie löste sich von ihrem Mann und erhob sich. »Jetzt muss ich mich aber sputen, sonst werde ich die beiden noch im Nachthemd empfangen.«

 

Die Zeit schien nicht vergehen zu wollen, bis endlich die Kutsche durch den großen hölzernen Torbogen mit der Aufschrift Tregenna Farm rollte. Die Räder waren noch nicht zum Stillstand gekommen, als der Schlag bereits aufgerissen wurde und ein großer, schlanker junger Mann heraussprang, gefolgt von einem etwas kleineren, dessen rötliche Haare unordentlich vom Kopf abstanden und der ein jüngeres Abbild seines Vaters war.

Lorna breitete beide Arme aus und schämte sich nicht ihrer Tränen, als sich die Söhne an ihre Brust schmiegten.

»Fröhliche Weihnachten, Mama«, ertönte es im Chor, und dann sagte Seamus: »Mensch, habe ich einen Hunger! Ich könnte ein ganzes Rind vertilgen.«

Lorna lachte.

»Ganz so viel hat Mrs. Carson nicht vorbereitet, aber ich glaube, sie hat vorhin Lammpasteten mit Minze in den Ofen geschoben …«

»Mein Leibgericht! Komm, Gordon, wir schauen, ob sie schon fertig sind.«

Die beiden Jungen stoben davon, und Lorna sah ihnen lächelnd nach. Auch wenn sie an der Schwelle zum Erwachsensein standen, benahmen sie sich oft genug wie zwei wilde Lausejungen.

Während des Lunchs erzählten Seamus und Gordon Erlebnisse aus dem Schulalltag, und Gordon erwähnte wie nebenbei seine hervorragenden Noten und die Auszeichnung, die er im letzten Monat für seine außergewöhnlichen Leistungen erhalten hatte.

Seamus verzog in gespielter Empörung das Gesicht.

»Mein kleiner Bruder ist ein Streber, da kann ich nicht mithalten«, sagte er neckend. »Wozu brauche ich Latein und Griechisch, um Schafe züchten zu können? Die verstehen nur Englisch, mir liegt das Lernen von trockenen Vokabeln einfach nicht.«

»Stell dein Licht nicht unter den Scheffel, Seamus«, warf Clark ein. »Du kannst vieles, bei dem dein Bruder sich etwas ungeschickt anstellt. Lateinische Sprachkenntnisse nützen nichts, wenn es gilt, einen Zaun zu reparieren, und im Gegensatz zu dir hat Gordon zwei linke Hände, wenn es um handwerkliche Tätigkeiten geht, nicht wahr, mein Sohn?«

Gordon grinste, nahm sich eine dritte Pastete von der Platte und biss statt einer Antwort herzhaft hinein.

Voller Stolz blickte Lorna auf ihre kleine Familie. Gerne hätte sie noch mehr Kinder gehabt, eine Tochter wäre schön gewesen, aber Gott hatte sie und Clark mit zwei prächtigen, gesunden und intelligenten Söhnen belohnt. Sie selbst war jetzt achtundvierzig Jahre alt, fühlte sich aber wesentlich jünger und agiler, ebenso wie Clark, der die Fünfzig bereits überschritten hatte. Die Farm und die Schafzucht warfen von Jahr zu Jahr höhere Erträge ab, und von Missernten, Bränden, Überschwemmungen oder sonstigen schweren Schicksalsschlägen waren sie weitgehend verschont geblieben. Heute war Weihnachten, das sie im Kreise von zahlreichen Freunden feiern würden, und in wenigen Tagen brach ein neues Jahr an …

Kurz glitt ein Schatten über Lornas Gesicht, denn für einen Moment stieg in ihr die Erinnerung an Weihnachtstage auf, an denen es draußen stürmte und regnete, manchmal sogar schneite. Weihnachtstage, an denen ein großes Feuer im Kamin prasselte und heißer Weinpunsch ausgeschenkt wurde. Weihnachtstage, an denen sie mit Menschen, die sie liebte, Hand in Hand in der Kirche gestanden und aus voller Kehle gesungen hatte …

»Mama, hast du nicht zugehört?«

Gordons Stimme riss Lorna aus ihren Erinnerungen.

»Oh, verzeih, was hast du gesagt?«

»Ich fragte, ob ich in den nächsten Ferien einen Freund aus dem Internat zu uns einladen darf. Seine Eltern unternehmen eine Reise nach Europa, er müsste dann ganz allein in der Schule bleiben.«

Lorna lächelte, doch plötzlich fiel es ihr schwer, wieder unbeschwert glücklich zu sein.

»Aber sicher, mein Junge. Bring ihn ruhig mit.«

Clark beobachtete seine Frau und runzelte sorgenvoll die Stirn. Die Söhne hatten den Stimmungswandel nicht bemerkt, er aber kannte den Ausdruck in Lornas Augen, der sich wie ein trüber Nebel über ihre Pupillen legte, wenn sie an die Vergangenheit dachte. Als sie damals vor zwei Jahrzehnten einwilligte, seine Frau zu werden, hatte sie eine Bedingung gestellt.

»Clark, ich kann nur deine Frau werden, wenn du bereit bist, die Vergangenheit zu vergessen und niemals Fragen zu stellen. Du weißt, was ich getan habe, aber ich möchte … nein, ich muss alles hinter mir lassen.«

Clark hatte zugestimmt, denn er hatte Lorna begehrt wie keine Frau zuvor. Und er liebte sie noch heute unvermindert und hätte keinen Tag in den letzten zwanzig Jahren missen mögen. Aber es zerriss ihm beinahe das Herz, wenn er sah, wie Lorna grübelte und ihre Gedanken nicht aus der Vergangenheit lösen konnte. Wie oft hatte er versucht, sie zum Reden zu bewegen, in der Meinung, Lorna würde eine Last von den Schultern genommen, wenn sie über alles sprach. Aber Lorna hatte geschwiegen, so wie sie heute erneut schwieg. Seine Liebe war groß genug, ihren Wunsch zu respektieren, und stark genug, keine Fragen zu stellen. Clark wusste nicht viel über Lornas Kindheit und Jugend. Er wusste nur, dass sie vor vielen, vielen Jahren einen Menschen getötet hatte …

»Dad, wo bist du jetzt mit deinen Gedanken?«

Hastig fuhr er sich über die Augen und wandte die Aufmerksamkeit Seamus zu, der eine Frage zu einer neuen Kreuzung zweier Schafarten stellte, an der Clark seit einiger Zeit experimentierte.

 

Bewundernd glitt Clarks Blick über die anmutige und elegante Gestalt seiner Frau, die trotz der Jahre und der zwei Geburten noch rank und schlank war. Lorna war keine Schönheit im landläufigen Sinn, aber von einer Natürlichkeit und Herzlichkeit, die Clark vom Tag ihrer ersten Begegnung an fasziniert hatten. Von hinten beugte er sich über sie und hauchte einen Kuss auf ihre nackte Schulter.

»Du siehst bezaubernd aus!«

»Clark, was sollen denn die Leute denken?« Lorna drehte sich um und sah Clark liebevoll an.

Er lächelte verschmitzt.

»Lass sie reden. Von mir aus kann jeder sehen, wie sehr ich meine Frau liebe.«

Lorna lachte und hob in spielerischer Verlegenheit den Fächer vors Gesicht, dann reichte sie ihm den rechten Arm.

»Gehen wir ins Esszimmer, die Speisen werden gerade aufgetragen.«

Zwei Dutzend Gäste hatten bereits an der großen Tafel Platz genommen. Stimmengewirr und Gelächter erfüllten den Raum. Das alljährliche Weihnachtsdinner auf Tregenna war ein Ereignis, das sich kaum jemand, der eingeladen worden war, entgehen ließ. Man sprach über die nächste Ernte und die Schafe, über den geplanten Neubau eines größeren Theaters in Launceston, und manche Damen tratschten über nicht anwesende Nachbarn. Lorna hielt sich grundsätzlich aus Klatsch und Tratsch heraus. Doch die Schilderung von Mrs. Anderton, die mit ihrem Mann ein halbes Jahr England besucht hatte, erregte Lornas Aufmerksamkeit.

»Der Behauptung, Tasmanien wäre wie England, kann ich nicht zustimmen. Gut, unser Klima hier ist ähnlich, aber nichts auf der Welt lässt sich mit den saftig grünen Wiesen oder selbst dem feinen Nieselregen in England vergleichen«, sagte Mrs. Anderton mit einem schwärmerischen Gesichtsausdruck. Wie die meisten am Tisch war das Ehepaar Anderton vor Jahren ausgewandert, um sich in Tasmanien eine neue Existenz aufzubauen. Mr. Anderton war der vierte Sohn eines Lords, und sein Vater wollte ihn in die Armee schicken. Da Mr. Anderton jedoch wenig Neigung verspürte die Offizierslaufbahn einzuschlagen, hatte er England verlassen und war nach Tasmanien gekommen. Im Frühjahr war der alte Lord Anderton gestorben, und so war das Ehepaar zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren nach Europa gereist.

»Ja, England ist wohl das schönste Fleckchen auf Erden, wenn man sich auf dem Land aufhält«, ergänzte Mr. Anderton die Ausführungen seiner Gattin. »London hingegen …«

»Was ist mit der Stadt?«, fragte Lorna interessiert. »War es für Sie nicht faszinierend, all die Theater und Opern zu besuchen? Wir hier haben doch nur ein sehr beschränktes kulturelles Angebot.«

Mrs. Anderton nickte.

»Ohne Zweifel lässt es sich in London gut leben, wenn man das nötige Kleingeld hat und der privilegierten Klasse angehört, aber die Stadt ist vom Rauch tausender Fabriken überzogen, und in manchen Teilen herrscht eine Armut, die man sich kaum vorstellen kann. Dort sieht man schmutzige, in Lumpen gekleidete Kinder, die einen mit hungrigen Augen anstarren und bettelnd die Hände aufhalten. Obwohl ich diesen armen Kreaturen gerne etwas gebe, zerriss es mir beinahe das Herz, schließlich ist es unmöglich, allen zu helfen. Und dann noch diese Sache mit den grässlichen Morden …«

»Claire, das ist kaum ein Thema für ein Weihnachtsessen!«, unterbrach Mr. Anderton sie scharf.

»Ach nein, lassen Sie Ihre Frau nur erzählen«, bat Lorna. Das Leben hatte sie gelehrt, nicht allzu empfindlich zu sein. Mrs. Anderton senkte die Stimme, und alle, die in Hörweite saßen, beugten sich gespannt vor, um ihren Worten zu lauschen.

»Keiner weiß, wer es ist und warum er tötet. Man nennt ihn auch den Schlächter von London, weil er sich nicht damit begnügt, seinen Opfern die Kehle durchzuschneiden, sondern er weidet sie regelrecht aus …« Eine Dame wandte sich angewidert ab, aber Lorna hörte interessiert dem Bericht der Nachbarin zu. »Als mein Mann und ich England verließen, zählten vier Frauen zu den Opfern des Schlächters. Alle wurden sie im East End aufgefunden, und alle waren sie …« Nun errötete Mrs. Anderton und blickte hilfesuchend zu ihrem Mann.

»Es waren … leichte Frauenzimmer«, erklärte ihr Mann. Lorna wusste, was damit gemeint war: Prostituierte, Huren … »Die Polizei hat keine einzige Spur, und alle Frauen aus diesem Gewerbe leben in großer Angst, die Nächste zu sein.«

Mrs. Anderton schüttelte sich angeekelt.

»Sosehr ich England liebe und manchmal vermisse – ich war froh, als wir wieder abreisten. Man ist ja in London seines Lebens nicht mehr sicher.«

»Wobei ich bezweifle, dass Sie, meine liebe Mrs. Anderton, auf der Liste des Schlächters stehen würden«, mischte sich Reverend Olden mit einem Schmunzeln ein.

Die Dame zögerte kurz, bis sie den Sinn der Worte des Geistlichen verstanden hatte, dann errötete sie und rief entrüstet: »Nein, ganz bestimmt nicht!«

Lorna unterdrückte ein Kichern. Ihr Blick traf den von Clark, der ebenso bemüht war, den nötigen Ernst an den Tag zu legen. Dann wandte sich das allgemeine Gespräch den Feierlichkeiten zu, die anlässlich des neuen Jahres stattfinden sollten, und Lorna vergaß die Londoner Mordserie.

Das Jahr 1889 war bereits drei Wochen alt, als Lorna im Salon saß und an einem abgekühlten Tee nippte. Ihre täglichen Arbeiten hatte sie erledigt und wartete auf Clark und die Söhne, die seit dem Morgen auf den ausgedehnten Ländereien unterwegs waren. In der vergangenen Woche war Clark für einige Tage geschäftlich in George Town an der Nordküste gewesen, jetzt wollte er jede Stunde mit Seamus und Gordon nutzen, bis diese in einer Woche wieder ins Internat zurückkehren mussten. Mehr aus Langeweile als aus Interesse blätterte Lorna in der Times. Wenn Clark in die Stadt fuhr, brachte er immer Zeitungen aus England mit. Meistens las Lorna sie nur oberflächlich, denn die Zeitungen waren alt und die Meldungen meist überholt. Es interessierte sie nicht sonderlich, was vor Wochen in England geschehen und längst wieder von neuen Ereignissen abgelöst worden war. Als Lorna die Schlagzeile

Schlächter von London schlägt erneut zu

ins Auge sprang, erinnerte sie sich wieder an die Worte der Andertons. Die Zeitung trug das Datum von Ende November 1888, und der Herausgeber scheute sich nicht, Fotografien der Toten abzubilden. Lorna schauderte, wandte den Blick aber nicht ab. Sie hatte in ihrem Leben schon so viele Tote gesehen, dass der Anblick sie nicht schreckte.

Mary Ann Nichols, bekannt auch unter dem Namen Polly Nichols, ermordet am 31. August 1888 in der Buk’s Row

Annie Chapman, ermordet am 8. September 1888 in der Hanbury Street

Elisabeth Stride und Catharine Eddowas, beide ermordet am 30. September 1888 in der Berner Street und im Mitre Square

Lorna hörte, wie Clark und die Jungs in den Hof galoppierten und wollte gerade die Zeitung zur Seite legen, als ihr Blick auf das letzte Bild einer Ermordeten auf dieser Seite fiel:

Cathy Bell, ermordet am 28. Oktober 1888 in der Heneage Street.

Besonderheit: Cathy Bell war eine ältere Hure, während der Schlächter bisher nur junge und hübsche Mädchen als Opfer ausersehen hatte …

Alles in Lorna gefror zu Eis. Unfähig, sich zu rühren, starrte sie auf die etwas unscharfe Fotografie, die eine ältere, verlebte Frau mit schwarzen Haaren zeigte. Ihre Augen waren geschlossen, der Mund im Todeskampf verzogen. Es hätte nicht der Angabe des Namens bedurft, damit Lorna die Frau erkannte. Auch wenn zwanzig Jahre vergangen waren, dieses Gesicht würde sie niemals vergessen, tauchte es doch beinahe jede Nacht in ihren Träumen auf.

So fand Clark seine Frau vor.

»Liebes, was ist mit dir?« Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, aber Lorna reagierte nicht. »Lorna, was ist geschehen? Du bist bleich wie der Tod!« Clarks Blick fiel auf die aufgeschlagene Zeitung. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich neben seine Frau. »Ach ja, die Meldungen über die schrecklichen Londoner Morde. Ich habe es gelesen. Liebes, wenn ich gewusst hätte, wie sehr dich das aufregt, hätte ich die Zeitung längst verbrannt. Aber an Weihnachten, als die Andertons davon erzählten, schien es mir, als würde es dich interessieren.«

Langsam erwachte Lorna aus ihrer Erstarrung. Ihre Hand zitterte, als sie auf das Foto der dunkelhaarigen älteren Frau zeigte.

»Cathy …« Ihre Stimme klang blechern. »Es ist Cathy … Cathy Bell.«

Cathy Bell? Clark runzelte die Stirn, dann erinnerte er sich. »Hieß nicht die Frau, mit der du damals das Geschäft hattest, Cathy?«

Lorna nickte und wischte sich die Tränen von den Wangen.

»Sie war meine Freundin.«

Clark legte einen Arm um Lornas Schultern und zog seine Frau näher zu sich heran.

»Ich glaubte, du hättest sie vergessen. Es ist so viel Zeit vergangen, und du hast nie wieder ihren Namen erwähnt.«

Lorna schluckte, erneut stiegen Tränen in ihre Augen. Ein scharfer Schmerz bohrte sich in ihren Brustkorb, weitete sich aus und drohte, ihr Herz in zwei Stücke zu zerreißen. Nach den vielen Jahren mit der Todesnachricht ihrer einstigen liebsten Freundin konfrontiert zu werden, schmerzte mehr, als Lorna es sich je vorgestellt hatte. Trotz allem, was geschehen war.

»Ich habe Cathy nie vergessen. In den vergangenen zwanzig Jahren ist kaum ein Tag vergangen, an dem ich nicht an sie dachte.« Durch Lorna ging ein Ruck. Sie löste sich von Clark und stand auf. »Ich muss nach England, so schnell wie möglich, am besten mit dem nächsten Schiff.«

»Lorna!« Clark war überrascht. In der Zeit ihrer Ehe hatte er viele Seiten Lornas kennengelernt, sie aber selten so entschlossen gesehen.

»Bitte, Clark, es ist wichtig. Für mich wichtig … und für uns. Ich muss herausfinden, was in den letzten zwanzig Jahren geschehen ist. Was mit Cathy geschehen ist, dass sie auf diese Art und Weise hat enden müssen. Wenn du mich nicht begleiten möchtest, verstehe ich das. Ich aber muss fahren, wenn es sein muss auch allein.«

Gordon stolperte mit geröteten Wangen in den Salon.

»Mama, hat Dad schon erzählt, dass mir ein Tasmanischer Teufel vors Pferd gelaufen ist? Der Hengst hat zwar gescheut, aber ich konnte ihn halten und wieder beruhigen …« Er stutzte, als er das verweinte Gesicht der Mutter sah. »Was ist geschehen?«

Clark sah seinen Sohn ernst an.

»Bitte lass uns allein, Gordon, und sag Seamus, dass wir nicht gestört werden möchten.«

Gordon nickte verwundert, verließ dann aber das Zimmer. Lorna hatte die Anwesenheit ihres Sohnes nicht einmal bemerkt, zu sehr waren ihre Gedanken in die Vergangenheit geglitten.

 

Die sanfte Meeresbrise machte die stickige Luft erträglich. Lorna, Clark und die Söhne standen an der Reling und sahen zu, wie die Leinen gelöst wurden. Gleich würde der Dampfer George Town verlassen und sich auf die lange Reise über die Ozeane begeben.

»Wir fahren nach England!« Gordon hüpfte vor Freude von einem Bein aufs andere.

Als Lorna und Clark den Jungen mitgeteilt hatten, dass sie einige Monate an der Schule aussetzen und stattdessen auf einem Schiff nach England reisen würden, kannte ihre Begeisterung keine Grenzen. Auch der sonst so lernbegierige Gordon würde es verschmerzen, für mehrere Monate seine Nase nicht in die Schulbücher zu stecken.

Clark spürte, wie wichtig Lorna diese Reise war. In ihrer Ehe hatte sie ihn kaum jemals um etwas gebeten, war in der Anfangszeit, als sie Tregenna aufbauten, genügsam und mit kleinen Dingen zufrieden gewesen und stellte auch jetzt, als es ihnen finanziell sehr gutging, kaum Ansprüche. Sicher, eine derart lange Abwesenheit war nichts, was man übers Knie brechen konnte, aber bereits fünf Tage, nachdem Lorna die Zeitung gelesen hatte, sollte ein Passagierdampfer George Town in Richtung England verlassen, und Clark war es gelungen, vier Passagen zu erhalten. Tregenna war bei dem Verwalter in guten Händen, um die Farm brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Viel mehr sorgte er sich um Lorna, die seit Tagen kaum etwas gegessen und nur das Nötigste gesprochen hatte. In der Nacht wälzte sie sich unruhig im Bett, oft stand sie auf und lief wie ein Tiger im Käfig auf und ab. Auf seine Fragen hatte sie bisher geschwiegen, und Clark kannte seine Frau gut genug, um zu wissen, dass er nicht in sie dringen durfte, denn dann würde sie sich nur noch mehr vor ihm verschließen.

 

Als das letzte Stück von Tasmanien am Horizont verschwunden war und nur noch das offene Meer vor ihnen lag, wandte Lorna sich an ihren Mann und die Söhne.

»Bitte setzt euch zu mir. Ich habe euch etwas zu erzählen.«

Clark drückte ihre Hand und rückte die Stühle zurecht. Mit einer Handbewegung orderte er bei einem Stewart Tee. Lornas Blick ging von einem zum anderen. Sie sah Clark an – seit zwanzig Jahren ihr Ehemann und der Mensch, der sie aus tiefster Not gerettet hatte, Seamus – ihr großer, kräftiger Sohn, der schon jetzt auf dem besten Weg war, ein erfolgreicher Farmer zu werden, und schließlich Gordon – der ruhigere der beiden Brüder, dem eine juristische Laufbahn bevorstand.

»Ich habe lange überlegt, ob ich euch alles erzählen soll. Clark, dir gegenüber habe ich zwei Jahrzehnte geschwiegen und dich mit Bruchstücken, die du von meinem Leben weißt, abgespeist. Aber du bist mein Mann, und ihr, Seamus und Gordon, seid keine Kinder mehr. Ihr habt ein Recht, die Wahrheit zu erfahren.«

Gespannt beugte sich Seamus vor, während Gordon einen imaginären Fussel von seiner Jacke zupfte. »Ihr habt von den Morden an Prostituierten in London gehört.« Lorna sah ihren Söhnen fest in die Augen. »Nun, eine der Toten war einmal meine Freundin, meine beste Freundin, so etwas wie meine zweite Hälfte, beinahe schon eine Schwester.«

»Eine Hure? Mama!« Entrüstet fuhr Seamus auf.

»Als wir uns kannten, war sie keine … war sie kein leichtes Mädchen. Sie war ein liebenswerter Mensch. Natürlich mit Fehlern, doch wer von uns macht schon immer alles richtig?« Lornas Blick wanderte zu Clark. »Nun zu dir, mein geliebter Mann. Du hast mich zu deiner Frau gemacht, mir all deine Liebe und dein Vertrauen geschenkt, obwohl du bis heute davon ausgehen musst, dass ich einen Menschen getötet habe.«

Gordon und Seamus schossen gleichzeitig aus ihren Stühlen in die Höhe, während Clark ruhig sitzen blieb.

»Setzt euch und haltet den Mund«, wies er die Jungs an, bevor diese etwas sagen konnten, »und verurteilt eure Mutter nicht, bevor ihr die wahre Geschichte kennt.«

Lorna lächelte wehmütig.

»Danke, Clark, so bist du immer gewesen, voller Verständnis, und nie hast du Fragen gestellt. Ich habe damals über die Wahrheit geschwiegen und von dir verlangt, die Vergangenheit ruhen zu lassen, weil ich alles hinter mir lassen und vergessen wollte. Ich wusste, du könntest etwas Unüberlegtes tun, was unser beider Glück zerstört hätte, doch dazu war in meinem Leben bereits zu viel kaputtgegangen. Ich sehnte mich nach Ruhe und Frieden, denn an den Geschehnissen hätte niemand mehr etwas ändern können. Ich wollte nur noch weg. Fort aus dem Land, das meine Heimat war, fort von den Menschen, die mir Leid zugefügt hatten. Darum habe ich geschwiegen und geglaubt, ich könnte die Vergangenheit ungeschehen machen, wenn ich sie ignoriere. Es war ein Irrglauben, das ist mir heute bewusst. Zwanzig Jahre haben mich die Schatten der Vergangenheit begleitet, legten sich wie Flügel schwarzer Vögel Nacht für Nacht über mein Gesicht und streckten auch am Tag ihre Krallen nach mir aus. Die Vergangenheit war immer gegenwärtig, nie verblasste in meiner Erinnerung auch nur ein einziger Tag.«

Erschöpft hielt Lorna inne und griff nach ihrer Tasse, um einen Schluck zu trinken. Warm legte sich Clarks Hand auf die ihre.

»Du brauchst nicht weiterzusprechen, wenn es dich zu sehr aufwühlt.«

Ihr Lächeln war gequält, aber ihr Blick entschlossen.

»Clark, ich bin keine senile Greisin, die ihre letzte Lebensbeichte ablegt. Ich hoffe auf noch viele wunderbare Jahre im Kreise meiner Familie, einer Familie, wie sie sich jeder Mensch nur wünschen kann, mit zwei wunderbaren Söhnen, auf die jede Mutter stolz wäre.«

Verlegen blickte Gordon zur Seite, ihm waren Komplimente peinlich, während Seamus ernst nickte und sagte:

»Ich stimme Mama zu und glaube, wir haben ein Recht darauf, zu erfahren, warum Mama eine Hure kannte und über deren Tod derart erschüttert ist, dass wir nach England reisen.«

Lorna nickte ihrem ältesten Sohn dankbar zu. Seamus war wie Clark – praktisch und unsentimental, er nannte die Dinge immer beim Namen. Sie atmete tief durch und lehnte sich bequem zurück. Jetzt, da sie sich entschlossen hatte, ihre Geschichte zu erzählen, fiel bereits ein Stück der Last, die zwei Jahrzehnte auf ihren Schultern gelegen hatte, ab.

»Vor uns liegen mehrere Wochen einer langen Seereise, Zeit genug, ganz vorn zu beginnen. Damals lebte ich mit meinem Vater und zwei Brüdern in einem kleinen Haus in Cornwall. Wir waren nicht reich, manchmal sogar arm, aber wir hielten fest zusammen. Es war ein einfaches, aber ein glückliches Leben. Eigentlich änderte sich alles an einem Apriltag vor über dreißig Jahren, an dem nach wochenlangem Regen zum ersten Mal wieder die Sonne schien. Es war ein Sonntag, das weiß ich bis heute, und ich freute mich auf einen ruhigen Tag im Kreise der Menschen, die mir lieb und teuer waren. Als ich an jenem Morgen erwachte, konnte ich nicht ahnen, wie schnell sich das Schicksal gegen einen wenden kann …«

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1. Kapitel

Lostwithiel, Cornwall, April 1856

Leise, um niemanden zu wecken, öffnete Lorna die Hintertür und trat in den gepflasterten Hof. Das erste Morgenlicht zeigte sich am Horizont. Tief sog sie die frische Luft ein, in der schon ein Hauch von Frühling spürbar war. Seit Wochen hatte es beinahe andauernd geregnet, aber jetzt war der Himmel wolkenlos. Lorna fröstelte, als sie den Hof überquerte und die Tür zum Hühnerstall öffnete. Sie wurde von lautem Gegacker empfangen, das sich erst legte, als sie den Hennen Futter ausstreute. Dann nahm sie den Korb vom Haken und sammelte die Eier ein, die teilweise noch warm in den Nestern lagen. Es waren elf Stück heute Morgen, das würde ein schönes Frühstück für die Familie geben. Sie kehrte in die Küche zurück und entzündete das Feuer, dabei versuchte sie, keinen unnötigen Lärm zu machen. Heute war Sonntag, der einzige Tag der Woche, an dem der Vater und die Brüder ausschlafen konnten. Eigentlich auch der einzige Tag, an dem sie selbst nicht schon um fünf Uhr in der Früh aus den Federn musste, doch Lorna liebte es, den Tag beim Morgengrauen zu beginnen. Dann war die Luft noch rein und klar, kein Poltern von rumpelnden Wagen auf den Straßen und kein Geschrei von Händlern durchbrachen die Stille, die friedvoll über der kleinen Stadt im Osten Cornwalls lag.

Als das Feuer brannte, erhitzte Lorna Wasser und wusch sich in dem Anbau, den ihr Vater im letzten Jahr angefertigt hatte. Immer mehr Häuser in der Stadt hatten solche Verschläge, die direkt vom Haus zugänglich waren und in denen sich auch der Abtritt befand. Es war eine große Erleichterung, nicht mehr allmorgendlich die Nachttöpfe leeren zu müssen, auch wenn die Grube unter dem Abtritt regelmäßig gereinigt werden musste. Eine Aufgabe, die Lorna oblag, ebenso wie eigentlich alles, was den Haushalt betraf. Aber sie beklagte sich nicht. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben, und der Vater und die Brüder arbeiteten sechs Tage in der Woche in den nahen Abraumhalden der Kaolinerde, die von den Einheimischen schlicht Pit genannt wurden. Es war eine harte und anstrengende Arbeit, die die Männer in Zwölfstundenschichten bewältigen mussten. Auch Lorna arbeitete seit Jahresbeginn für Mr. Carpenter in der Lehmgrube, wenngleich sie im Gegensatz zu den Männern nicht in den Schlamm und Dreck der Gruben absteigen musste. Trotzdem war sie am Ende eines Arbeitstages optisch kaum von den Männern zu unterscheiden – über und über bedeckt mit weißer Erde, die sich in die Nasen- und Ohrenlöcher ebenso wie in jede Pore der Haut setzte.

»Hm … Omelett und Speck zum Frühstück!«

Lornas Gedanken wurden durch das Eintreten ihres ältesten Bruders James unterbrochen, und sie hielt beim Schneiden der Schweineschwarte inne. James gähnte ausgiebig und sah alles andere als munter aus.

»Warum bist du schon wach? Es sind noch drei Stunden bis zum Kirchgang.«

James seufzte, setzte sich auf einen Hocker, griff nach der eisernen Kanne, in der Lorna bereits heißen Tee aufgebrüht hatte, und schenkte sich eine Tasse ein.

»Ernie schnarcht mal wieder, als würde er dafür bezahlt werden. Offenbar hat er sich zum Ziel gesetzt, die gesamten Wälder von Cardingham abzuholzen.«

Lorna lächelte und schlug die ersten Eier in die Pfanne.

»Ich mache dir schon mal Frühstück, damit du wach wirst.«

James und Ernie teilten sich eine der zwei Dachkammern, in der anderen Kammer schlief Lorna, während ihr Vater das größere Zimmer im ersten Stock bewohnte. Außer der Küche gab es im Erdgeschoss nur noch einen kleinen Raum, der hauptsächlich als Abstellkammer genutzt wurde und nicht beheizbar war. Somit hatten die beiden Brüder keine Möglichkeit, getrennt zu schlafen.

»Du könntest heiraten und einen eigenen Hausstand gründen, dann musst du das Schnarchen von Ernie nicht mehr ertragen«, schlug Lorna mehr aus Spaß vor. »Es gibt genügend Mädchen in der Stadt, die gerne Mrs. James Dowling werden würden. Mit fünfundzwanzig Jahren wird es so langsam Zeit, findest du nicht?«

James lachte und kratzte sich verlegen am Kopf.

»Ach, Schwesterchen, du weißt doch, mein Herz gehört nur einer, und die ist leider noch etwas zu jung für mich …«

»Auch wenn Cathy älter wäre – und obwohl ich sie wie eine eigene Schwester liebe –, glaube ich nicht, dass ihr beide zusammenpasst.«

Cathy Bell wohnte nicht nur im Nebenhaus, sondern sie war auch die beste Freundin von Lorna. Die Mädchen waren nur wenige Wochen nacheinander geboren worden und seitdem unzertrennlich gewesen. Keine tat etwas, ohne die andere dabeizuhaben, und man sah sie eigentlich nur untergehakt durch die Straßen gehen. Obwohl sie ihrem Bruder alles Glück der Welt wünschte, wusste sie, dass der stille, ernsthafte James mit der lebenslustigen Cathy nie glücklich werden würde.

»Nun, ich werde noch zwei, drei Jahre warten«, sagte James und schielte auf die Pfanne, in der sich der Speck zu bräunen begann. »Du musst aber zugeben, dass Cathy weit und breit das hübscheste Mädchen ist.«

Lorna nickte zustimmend. Tatsächlich gab es in Lostwithiel und Umgebung kein Mädchen, das sich mit Cathys Schönheit messen konnte. Das gestand Lorna neidlos ein.

Für sie war es nie ein Thema gewesen, dass Cathy mit ihren schwarzen Haaren und hellblauen Augen sofort alle Blicke auf sich zog. Neben der Freundin wirkte Lorna mit ihrem mausbraunen, glatten Haar und der etwas zu groß geratenen Nase über einem volllippigen Mund und den grüngrauen Augen fast unscheinbar.

»Schönheit ist nicht alles, James«, mahnte sie und fühlte sich wie eine Mutter, die zu ihrem halbwüchsigen Sohn sprach. Dabei war er zehn Jahre älter als sie, doch trotz seines Alters unselbstständig wie ein kleiner Junge.

Trotzdem oder gerade deswegen liebte sie ihn zärtlich, ebenso Ernie. Dieser war das genaue Gegenteil von James – aufbrausend und leicht aus der Ruhe zu bringen. Leider wurde er oft ein Opfer seines Temperaments und kam nicht selten mit einem blauen Auge und mit blutender Nase nach Hause. Glücklicherweise war er aber wegen seiner aufbrausenden Art noch nie in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.

James schaufelte sich gerade die erste Gabel mit Eiern und Speck in den Mund, als erst Ernie und gleich danach Jago Dowling die warme Küche betraten.

»Ist das Frühstück fertig?« Lornas Vater würdigte sie keines Blickes, und Lorna hatte auch keinen Morgengruß erwartet. Stattdessen lächelte ihr Ernie zu und drückte ihren Arm.

Das Gespräch zwischen den Geschwistern verstummte, während sich alle um den Holztisch setzten und frühstückten. Danach wuschen sich die Männer und kleideten sich zum Kirchgang an, während Lorna das Geschirr spülte und die Küche aufräumte. Seit Jahren machte sie Tag für Tag dieselben Handgriffe. Nachdem ihre Mutter gestorben war, kam Vaters Schwester in die Stadt, um sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern. Schon früh wurde Lorna in die Pflichten einer Hausfrau eingeführt, denn die Tante starb, als Lorna zehn Jahre alt war, und danach gingen deren Aufgaben nahtlos an Lorna über. Sie kannte kein anderes Leben, und sie erwartete keinen Dank, zumindest nicht von ihrem Vater. Jago Dowling hatte es zwar niemals ausgesprochen, doch Lorna hatte immer gespürt, dass er sie für den Tod seiner Frau verantwortlich machte. Lorna kannte ihre Mutter nur aus Erzählungen der Brüder. Rose Dowling war eine willensstarke und robuste Frau gewesen und die große Liebe von Jago. Als sie am Kindbettfieber gestorben war, hatte er sich tagelang in die Wälder verkrochen, und seitdem sah man ihn nur noch selten lachen. Seiner Tochter hatte er nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. In all den Jahren hatte es Jago auch keiner anderen Frau erlaubt, sein Herz zu erobern. Lorna hätte ihm gern eine neue Liebe gegönnt, nicht nur um Entlastung im Haushalt zu haben, sondern weil sie den Vater glücklich sehen wollte. Es war nicht so, dass Jago Dowling seine Tochter schlecht behandelte, im Gegenteil, er hatte dafür gesorgt und darauf bestanden, dass sie sieben Jahre lang die Schule besuchte. Normalerweise gingen Kinder von Arbeitern nur vier, maximal fünf Jahre in die Schule, wenn sie überhaupt schreiben und lesen lernten.

»Vielleicht hast du eines Tages die Möglichkeit, etwas anderes zu machen, als dein Leben lang in der Grube zu arbeiten«, hatte Jago gebrummt. Und Lorna war ihm dankbar gewesen und hatte diese Dankbarkeit durch Lerneifer und Fleiß gezeigt. Dass sie jetzt trotzdem bei John Carpenter im Pit war, wo sie weder Mathematik noch Grammatik brauchte, sah Lorna nur als Übergang. Sie wollte Lehrerin werden und anderen Kindern all das beibringen, was in dicken Büchern verborgen war, aber mit fünfzehn Jahren – sie würde erst in drei Monaten sechzehn werden – war sie für eine entsprechende Ausbildung noch zu jung. Und die Familie konnte die zusätzlichen Pennys, die sie bei Carpenter verdiente, gut gebrauchen, denn die Lebensmittelpreise stiegen von Jahr zu Jahr, während die Löhne sanken. Im Hause Dowling herrschte zwar keine Not, aber Lorna musste jede Geldausgabe genau überlegen und kalkulieren. Nur selten blieb ihr dabei etwas für eigene Bedürfnisse, zum Beispiel ein neues Kleid oder ein buntes Haarband, übrig.

 

Der Vormittag hielt, was der Morgen versprochen hatte – zum ersten Mal seit vier Wochen schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Als Lorna aus dem Haus trat und die Hutbänder unter dem Kinn band, schaute sie zum Nachbarhaus hinüber. Dort war noch alles ruhig, dabei begann in einer halben Stunde die Kirche. Sie lächelte, denn sie kannte ihre Freundin Cathy. Sie war ebenso wie ihre Mutter eine Langschläferin und morgens nur schwer aus dem Bett zu bekommen. Cathy würde erst wieder in letzter Minute aufstehen, sich hastig ankleiden und ohne Frühstück in der Kirche erscheinen. Marsha Bell hatte man lange nicht mehr in der Kirche gesehen, denn sie war leidend. Es war keine schlimme körperliche Krankheit, vielmehr ein Erschöpfungszustand, der schon so lange bestand, wie Lorna denken konnte. An Cathys Vater konnte sich Lorna kaum erinnern. Er hatte die Familie bereits vor vielen Jahren verlassen, hatte einfach eines Tages seine Sachen gepackt und war ohne ein Wort gegangen. Seitdem hielten sich die beiden Frauen mit Näharbeiten über Wasser, für die auch Cathy ein gewisses Geschick besaß.

»Guten Morgen, Lorna, scheint ein schöner Tag heute zu werden.«

»Wurde auch Zeit nach dem vielen Regen.«

»Grüß dich, Lorna, was macht die Arbeit?«

Von allen Seiten schwirrten Lorna freundliche Worte um die Ohren, die sie ebenso freundlich erwiderte. Lostwithiel war ein kleines Städtchen, hier kannte jeder jeden, und die zurückhaltende und hilfsbereite Lorna war bei allen Einwohnern beliebt. Die Glocken von St. Bartholomew verstummten in dem Moment, als Cathy durch die bereits geschlossene Tür huschte und sich neben Lorna in die Bank drückte.

»Hallo, Langschläferin, hast es mal wieder nicht früher aus dem Bett geschafft?«, flüsterte Lorna und gab Cathy schnell einen Kuss auf die Wange.

Die Freundin lächelte etwas gezwungen, wurde aber durch die ersten Orgeltöne einer Antwort enthoben. Lorna merkte, dass Cathy etwas beunruhigte. Nervös rutschte sie auf der Bank umher, und unter ihren sonst strahlenden Augen lagen Schatten. Auch hatte sie ihr Haar nicht ausgiebig gebürstet, was ungewöhnlich war, denn Cathy legte viel Wert auf ihr Äußeres. Ihr Hütchen saß heute etwas schief auf dem Scheitel. Lorna musste an James’ Worte über Cathys Schönheit denken, als sie die Freundin von der Seite betrachtete. Cathys Gesicht war schmal, die Nase klein und die Lippen wohlproportioniert. Sie erzählte jedem, der es hören wollte oder auch nicht, dass ein Vorfahr vor knapp dreihundert Jahren aus Spanien gekommen und mit der Armada an Cornwalls Küste gestrandet war.

»Von ihm haben alle Frauen in unserer Familie die schwarzen Haare. Die blauen Augen kamen durch die Vermischung mit einer Einheimischen zustande.«

Es gab keinen Beweis für diese Theorie, aber Lorna mochte die Geschichte und glaubte daran, denn nicht nur Cathys Aussehen, sondern auch ihr Temperament hatten etwas Südländisches.

Immer wieder beobachtete Lorna, wie der Blick der Freundin unruhig flackerte und sie kaum das Ende des Gottesdienstes erwarten konnte. Als der Pfarrer das Amen gesprochen hatte, sprang sie auch schon auf. Lorna erwischte sie gerade noch am Ärmel und hielt sie fest.

»Du hast es aber eilig! Was ist denn heute mit dir los?«

Normalerweise nutzten die Mädchen die Zeit nach der Kirche für ein Schwätzchen, und die Männer gingen ins Wirtshaus, bevor Lorna das Mittagessen zubereitete.

»Es tut mir leid, ich kann jetzt nicht sprechen.« In Cathys Augen trat ein gehetzter Ausdruck. »Mutter … sie hat wieder ihre Zustände.« Lorna nickte verständnisvoll. Mrs. Bell hatte oft Zustände, was nichts anderes hieß, als dass sie wohl wieder zu viel Gin getrunken hatte. Etwas, das sie gerne und regelmäßig tat, seit ihr Mann sie verlassen hatte. Dass sie eine Tochter hatte, die sie brauchte, vergaß Mrs. Bell dabei, und Lorna beneidete die Freundin nicht um ihr Leben an der Seite der trunksüchtigen Mutter. »Ich komme heute Nachmittag zu dir, ist dir das recht? Wir könnten bei dem schönen Wetter einen Spaziergang machen.«

Lorna zögerte kurz. Sie dachte an den Berg von Flickwäsche, dessen Ausbesserung sie sich für den Nachmittag vorgenommen hatte.

»Komm, sobald es möglich ist, ja? Ich warte auf dich.«

Sie sah der Freundin nach, wie sie mit schnellen Schritten den Kirchhof überquerte und in der Fore Street verschwand. Etwas Gravierendes musste geschehen sein, denn Lorna hatte Cathy nie zuvor derart nervös gesehen.

 

Das Essen stand bereits auf dem Tisch, als die Männer heimkehrten. Lorna stieß einen leisen Schrei aus, als sie Ernies blutende Nase und die bläuliche, faustgroße Schwellung an seiner Schläfe sah.

»Was hast du jetzt wieder angestellt?«, schimpfte sie, stemmte beide Hände in die Hüften und sah von ihrem Vater zu James. »Seid ihr denn nicht in der Lage, auf Ernie aufzupassen?«

Der jüngere Bruder grinste verlegen und tupfte sich mit einem Tuch an der Nase herum.

»Ich konnte doch nicht zulassen, dass der dumme Dick den Prinzgemahl beleidigt.«

»Das stimmt.« James nahm seinen Bruder in Schutz. »Dick hatte wieder einmal ein paar Biere über den Durst getrunken und verkündete lautstark, dass der Prinz nichts weiter als eine Marionette wäre, die willenlos an den Fäden der Königin tanzt.«

Lorna hatte dafür kein Verständnis.

»Ihr wisst, dass Dick immer große Töne spuckt, wenn er betrunken ist. Ihr hättet einfach nicht zuhören sollen, anstatt eine Prügelei anzufangen.«

»Aber ich habe nicht angefangen!«, rief Ernie. »Ich sagte nur, er möge aufhören, die Königin zu beleidigen, da wurde ich schon von Dick am Kragen gepackt, und er schrie, er ließe sich von niemandem den Mund verbieten.«

»Natürlich wollte ich die Streithähne trennen, aber da ging Dick auch auf mich los«, fuhr James fort und deutete auf seinen Kragen, der über der rechten Schulter ein Stück ausgerissen war. »Es war mein bestes Sonntagshemd.«

»Ich werde es flicken«, sagte Lorna und seufzte resigniert. »Jetzt möchte ich nichts mehr davon hören. Setzt euch, sonst wird das Essen kalt. Nachher werde ich deine Verletzungen versorgen, Ernie. Manchmal benehmt ihr euch wie kleine Kinder.«

Es wunderte Lorna nicht, dass ihr Vater die ganze Zeit nichts gesagt hatte. Während des Streits hatte er bestimmt in aller Ruhe sein Bier ausgetrunken und keine Anstalten gemacht, seine Söhne aus der Schlägerei herauszuhalten. Als Ernie grinsend bemerkte: »Kaum zu glauben, dass du unsere kleine Schwester bist, Lorna, du wäschst uns den Kopf wie eine strenge Mutter«, flackerte es unruhig in Jagos Augen. Er senkte schnell den Kopf, dennoch hatte Lorna Traurigkeit in ihnen erkennen können. Sie war versucht, tröstend eine Hand auf seine Schulter zu legen, unterließ es jedoch. Der Vater mochte solche Vertraulichkeiten nicht. Er machte alles mit sich allein aus und ließ niemanden in sein Herz schauen. Trotzdem wollte Lorna sich nicht beklagen, denn er ging regelmäßig zur Arbeit, trank nicht, außer am Sonntag ein oder zwei Bierchen, und kümmerte sich um alle Belange, die das kleine Haus betrafen. Jedoch die Menschen, die in dem Haus lebten, schienen Jago Dowling gleichgültig zu sein.

 

Die Sonne trog, denn ein kalter Nordwind bewies, dass der Frühling noch nicht Einzug gehalten hatte. Das störte die beiden Mädchen jedoch nicht. In warme Mäntel gehüllt, die Schals vors Gesicht gezogen, gingen sie nebeneinander den steilen Hügel zu den alten Ruinen hinauf. Cathy war vor wenigen Minuten gekommen und hatte darum gebeten, Lorna allein sprechen zu können. Jago hatte sich hingelegt, und Ernie war zum Fischen an den Fluss hinuntergegangen, aber in James’ Augen war ein Leuchten gewesen, als Cathy durch die Hintertür die Küche betreten hatte. Während Lorna nach dem Essen den Abwasch erledigt und auf die Freundin gewartet hatte, waren ihr tausend Gedanken durch den Kopf geschossen, was Cathy wohl bedrücken konnte. Ein Gedanke war so unfassbar, dass es Lorna beinahe das Herz abschnürte. Hoffentlich war sie nicht in Schwierigkeiten! Mit fünfzehn Jahren hatte Cathy bereits eine voll entwickelte und sehr weibliche Figur. Und Lorna wusste auch, dass Thomas, der Sohn des Hufschmieds, sich mit der Freundin seit einiger Zeit regelmäßig traf. Für Lorna war die Vorstellung, einen Mann zu küssen, noch weit entfernt, aber es war erst drei Wochen her, seit sie Cathy und Thomas in inniger Umarmung bei den Schuppen am Kai erwischt hatte. Auch wenn Lorna keine Mutter hatte, die mit ihr über typisch weibliche Dinge sprach, war sie weder dumm noch taub oder blind. Sie wusste über gewisse Vorgänge zwischen Mann und Frau Bescheid, doch der Gedanke, Cathy könnte mit Thomas bereits …

Lorna weigerte sich, an diese Möglichkeit auch nur zu denken, darum ging sie stumm neben der Freundin her. Sie wartete, bis Cathy das Gespräch eröffnen würde. Die Mädchen hatten inzwischen die äußere Ringmauer von Restormel Castle erreicht, und Cathy setzte sich auf einen Baumstumpf. Die einst große Befestigungsanlage war zu normannischer Zeit ein Bollwerk im östlichen Cornwall gewesen, wurde aber im Bürgerkrieg niedergebrannt und zerstört. Seitdem kümmerte sich niemand mehr um Restormel, die Mauerreste verfielen zusehends, und es war gefährlich, sich ins Innere der Ruine zu wagen. Dennoch war hier oben einer der Lieblingsplätze der Mädchen, denn nach dem steilen Anstieg hatte man einen herrlichen Blick auf das Städtchen und das Flusstal. Rund um den spitzen Kirchturm von St. Bartholomew drängten sich die kleinen Häuser, in denen auch Lorna und Cathy wohnten, bis zum Fluss Fowey hinab. Aus einigen Kaminen stieg Rauch auf, hier und da sah man jemanden durch die Straßen gehen. Südlich vom Fluss erstreckten sich, so weit das Auge reichte, Felder und Wiesen, auf denen das erste Grün zu sprießen begann. Über Lostwithiel schien ein ganz besonderer Zauber zu liegen, und jedes Mal, wenn Lorna hier saß und auf ihre Heimat hinabblickte, ging ihr das Herz auf. Nirgends anders als hier wollte sie leben.

»Es ist wunderschön.« Cathy lehnte den Kopf an ihre Schulter, und Lorna schlang einen Arm um die Freundin. Wie immer hatten die Freundinnen im selben Moment die gleichen Gedanken.

»Wie geht es deiner Mutter?«, fragte Lorna in banger Erwartung, was Cathy wohl bedrückte.

Die Freundin zuckte mit den Schultern.

»Wir haben uns gestritten.« Das war nichts Besonderes, denn Marsha Bell und Cathy waren sich zu ähnlich, um in völliger Harmonie miteinander auszukommen. Beide hatten einen Dickkopf, und bei Meinungsverschiedenheiten wollte jede recht behalten. Wenn Mrs. Bell getrunken hatte, wurde sie häufig aggressiv und beschimpfte Cathy ungerechtfertigt.

Cathy rückte ein Stück von Lorna ab, sah der Freundin fest in die Augen und holte tief Luft.

»Lorna, ich gehe fort.«

»Mit Thomas?« Automatisch entfuhr Lorna die Frage.

Cathy runzelte die Stirn.

»Thomas? Wie kommst du darauf, dass ich mit Thomas fortgehen würde?«

»Ach, Cathy, ich dachte nur … Na, ich weiß, dass du und Thomas … und da könnte es doch sein …« Es kam selten vor, dass Lorna ins Stottern geriet, aber die Erleichterung, dass Cathys verändertes Verhalten nichts mit dem zu tun hatte, an das sie gedacht hatte, war eine große Erleichterung.

Cathy lachte laut auf und warf mit einem Schwung ihr Haar, das ihr offen und ohne Hut über die Schultern fiel, zurück.

»Lornchen, du hast doch nicht geglaubt, dass Thomas und ich …« Sie beugte sich vor und sah der Freundin ins Gesicht. »Nein, es hat nichts mit Thomas zu tun, ganz und gar nicht. Erinnerst du dich an die Cousine meiner Mutter, die uns vor drei Wochen besucht hat?«

Lorna nickte.

»Sie arbeitet bei einer Kaufmannsfamilie im Westen. Penzance, nicht wahr?«

»Richtig, und da sie die Familie während einer Reise nach Plymouth begleitete, stattete sie uns einen kurzen Besuch ab. Dabei erwähnte sie, dass ein herrschaftlicher Besitz in der Nähe von Penzance ein Hausmädchen sucht.«

Ein Verdacht regte sich in Lorna, sie drückte Cathys Hand.

»Und?«

»Ich habe die Tante gebeten, in meinem Namen auf Darrenhall – so heißt das Herrenhaus – vorstellig zu werden und um die Anstellung zu bitten. Gestern kam die briefliche Zusage.«

Nach dieser Eröffnung schwieg Lorna minutenlang und starrte ins Tal. In den letzten Minuten hatte sich da unten nichts verändert, dennoch schien es Lorna, als wäre ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt worden. Nie hatte sie daran gedacht, sich eines Tages von ihrer Freundin trennen zu müssen.

»Ich verstehe nicht, warum du eine solche Anstellung möchtest«, sagte Lorna schließlich. »Du und deine Mutter, ihr habt doch mit den Näharbeiten euer Auskommen.«

»Ach, Lorna, wer lässt denn schon bei uns nähen? Die Witwe Truran ab und zu ein einfaches Kleid oder eine Bluse, oder Mrs. Ethan bringt uns die Flickarbeiten ihrer neun Kinder, wenn sie selbst nicht mehr damit fertig wird. Geld erhalten wir von den wenigsten, die meisten bezahlen mit Naturalien: Eier, mal ein Hühnchen, eine Schweinehälfte oder ein Sack Kartoffeln. Nein, Lorna, das ist nicht das Leben, das ich mir erträume.«

»Cathy, das Leben hat nichts mit Träumen zu tun«, mahnte Lorna. Wie oft hatten sie hier oben gesessen und sich ausgemalt, wie sie später einmal leben würden. Während sich Lorna einen netten Mann und viele Kinder wünschte und die Gegend nicht verlassen wollte, hatte Cathy bereits als Kind nach Höherem gestrebt.

»Das Leben ist ein großer Kuchen, von dem man sich seinen Teil abschneiden muss.« Lorna hatte keine Ahnung, woher Cathy solch hochtrabende Worte hatte. »Manche bekommen ein großes, saftiges Stück, manche nur die Krümel. Ich aber werde mich nicht mit Krümeln zufriedengeben, ich will ein großes Stück. Ein ganz großes.«

Lorna verstand, was die Freundin meinte.

»Du glaubst, als Hausmädchen dem Kuchen näher zu sein als in deiner Heimatstadt?«

»Darrenhall gehört einem stinkreichen Lord. Lanyon oder so ähnlich. Er ist Witwer, hat zwei Kinder und so viel Geld, dass er gar nicht weiß, wohin damit. Bestimmt wird es auf Darrenhall viele Feste geben, bei denen sich eine elegante Gesellschaft trifft.« Sie schmiegte ihren Kopf erneut an Lornas Schulter. »Was haben wir hier schon zu erwarten? Außer auf den Jahrmarkt nach Bodmin oder zu einer Hinrichtung kommen wir doch kaum von Lostwithiel fort. Hier treffen wir immer dieselben Leute, nichts hat sich seit Jahren verändert und nichts wird sich hier jemals verändern.«

Gerade deswegen liebe ich die Stadt, dachte Lorna und sagte: »Wenn du in einem Haushalt arbeiten möchtest, warum hast du dich dann nicht in Tremble Manor beworben? Der Besitz der Trembles ist auch nicht gerade klein, da gibt es bestimmt immer Bedarf an Angestellten. Und es wäre nicht so furchtbar weit fort.«

»Das ist es ja, es ist zu nahe! Wenn ich in Tremble Manor arbeiten würde, könnte ich binnen einer Stunde bei meiner Mutter sein. Ich würde nie lernen, mich von ihr zu lösen, aber ich kann nicht länger für ihr Leben verantwortlich sein.«

In den langen Jahren ihrer Freundschaft war es selten vorgekommen, dass Cathy so ernst und besonnen gesprochen hatte. Lorna wusste Bescheid. Marsha Bell hatte, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, Trost im Alkohol gefunden – eine belastende Situation für ein Kind. So wie Lorna versuchte, ihren Brüdern die Mutter zu ersetzen, so musste sich Cathy um ihre lebensunfähige Mutter kümmern, die ihr diese Aufgabe gewiss nicht leicht machte.

»Was wird aus deiner Mutter, wenn du gehst?«

Cathy seufzte.

»Wir haben gestern so heftig wie nie zuvor gestritten, und dann hat sie wieder … getrunken. Sie hat mir vorgeworfen, egoistisch zu sein und sie im Stich zu lassen.«

»Was du im Grunde auch tust«, unterbrach Lorna. Ihre Freundschaft war so tief, dass sie so offene Worte vertrug.

Cathy sprang auf.

»Jetzt macht mir meine beste Freundin auch noch ein schlechtes Gewissen! Du weißt, ich kann nicht wie du im Pit arbeiten. Dieser Schlamm und Schmutz …« Sie schüttelte angewidert den Kopf. »Versteh mich nicht falsch, ich bewundere dich für das, was du tust, aber es ist nichts für mich, ebenso wenig, wie den Rest meiner Tage als Näherin und Tochter einer Alkoholikerin zu fristen.« Sie setzte sich wieder neben Lorna. »Was ist mit deinen Träumen? Du willst doch Lehrerin werden, und ich weiß, du wärst eine ganz hervorragende Lehrerin. Sag jetzt nicht, du kannst deine Familie nicht verlassen. Deine Brüder sind erwachsen, und dein Vater hat dich noch nie gebraucht.«

»Du weißt, dass ich frühestens in zwei Jahren mit der Ausbildung beginnen kann«, erinnerte Lorna.

»Das bedeutet zwei weitere Jahre im Pit, in denen du dich an das Geld, das du dort verdienst, gewöhnst. Und nicht nur du, sondern auch deine Familie. Bald wirst du dann einen Mann aus der Gegend heiraten, jedes Jahr ein Kind bekommen, und von deinen Träumen wird nicht mehr als eine blasse Erinnerung bleiben. Das kann doch unmöglich die Erfüllung deines Lebens sein.« Cathy sah die Freundin eindringlich an. »Lorna, manchmal ist eine Portion Egoismus nicht nur wichtig, sondern lebensnotwendig.«

Gerade diese Worte Cathys machten Lorna bewusst, wie leer künftig ihr Leben sein würde. Nie nahmen die Mädchen ein Blatt vor den Mund, und es gab keine Heimlichkeiten zwischen ihnen. Cathy war für Lorna wie eine kleine Schwester, obwohl sie nur wenige Wochen jünger war.

»Lach mich jetzt ruhig aus, Cathy«, sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns, »aber ich mache mir Sorgen um dich, wenn du hundert Meilen fort bist. Und ich bin durchaus egoistisch, denn ich möchte nicht, dass du gehst!«

Selten sah Cathy so ernst aus wie in diesem Augenblick, als sie Lornas Hände in die ihren nahm.

»Wir bleiben Freundinnen, Lorna. Gleichgültig, was geschieht und wohin uns das Leben treibt. Nichts und niemand wird das Band zwischen uns trennen können. Du wirst immer in meinem Herzen sein, ebenso wie ich in deinem.«

Sie sprang auf, sah sich suchend auf der Wiese um und hob einen handtellergroßen flachen Stein mit scharfen Kanten auf. Dann schloss sie kurz die Augen, presste die Lippen aufeinander und zog die Kante über die Kuppe ihres Zeigefingers. Sofort trat ein kleiner Blutstropfen hervor.

»Was tust du?«, fragte Lorna verwundert. Anstelle einer Antwort griff Cathy nach ihrer Hand und ritzte, bevor Lorna sie fortziehen konnte, den Finger der Freundin und drückte auf das Fleisch, bis auch hier Blut austrat. Dann presste sie ihre kleine Wunde auf die Lornas.

»Erinnerst du dich, als wir in der Schule von Captain John Smith hörten, der die indianische Prinzessin nach England gebracht hatte?«

Lorna nickte.

»Ihr Name war Pocahontas, aber was …?«

»Die Lehrerin erzählte, bei den Indianerstämmen in Amerika sei es üblich, durch Blut eine gegenseitige Freundschaft zu besiegeln.«

Lorna begann zu verstehen, und sie war über Cathys Tun gerührt.

»Ich erinnere mich. Nach dem Unterricht haben Bob und Will sich gegenseitig die Hände aufgeritzt, weil sie diese Blutsbrüderschaft ausprobieren wollten.«

Cathy lachte.

»Ja, und dafür haben die beiden Jungs jeweils eine Ohrfeige von der Lehrerin erhalten.« Ihr Lachen verschwand, erneut presste sie ihrer beider Finger fest aneinander und wurde wieder sehr ernst. »Lorna, wiederhole bitte: Jetzt …«

»Jetzt …?«

»… und für immer.«

» … und für immer«, flüsterte Lorna.

»Wir bleiben die besten Freundinnen, die es jemals auf dieser Welt gegeben hat und geben wird.« Cathy schlang beide Arme um Lornas Körper. »Jetzt und für immer.«

»Jetzt und für immer«, wiederholte Lorna und schämte sich nicht ihrer Tränen. »Wann musst du fort?«

Cathy zögerte, dann stieß sie hervor:

»Morgen.«

»Morgen!«

»Man hat mir das Geld für die Reise geschickt, ich soll meine neue Arbeit so bald wie möglich antreten. Ich fahre morgen früh mit dem alten Baker nach Bodmin, und von dort mit der Postkutsche nach Westen.«

Lorna fiel noch etwas ein.

»Was ist mit Thomas? Hast du es ihm schon gesagt?«

Cathy schüttelte den Kopf.

»Was soll mit ihm sein? Ich bin Thomas keine Rechenschaft darüber schuldig, was ich tue und wohin ich gehe.«

»Aber ich dachte …«

»… ich hätte ein Liebesverhältnis mit ihm und würde ihn heiraten?«, unterbrach Cathy und brach in lautes Lachen aus. »Ach, liebe, liebe Lorna, nur weil ich ein paarmal mit ihm ausgegangen bin und mich von ihm hab küssen lassen, bedeutet das doch nicht, dass ich ihm versprochen bin. Ich habe noch nicht vor zu heiraten und wenn, dann ganz gewiss nicht den Sohn eines Hufschmieds.«

»Nein, unter einem Lord oder sogar Earl kommt natürlich niemand in Frage«, scherzte Lorna. Cathy hatte mit ihren Worten ihre trübe Stimmung verscheucht.

»Natürlich nicht!«, bestätigte Cathy. »Man sollte stets versuchen, nach den Sternen zu greifen. Den Dreck auf der Straße bekommt man von ganz allein.«

 

Müde fuhr Lorna sich über die Augen, die zu brennen begannen.

»Du solltest Schluss machen und zu Bett gehen«, mahnte James und faltete die Zeitung, in der er bis eben gelesen hatte, zusammen. »Es ist nicht gut, bei Lampenlicht zu nähen.«

Lorna seufzte und sah auf den Berg Flickwäsche und das Herrenhemd in ihren Händen.

»Wenn ihr euch heute nicht geprügelt hättet, müsste ich jetzt nicht bis mitten in der Nacht dein bestes Sonntagshemd wieder in Ordnung bringen.«

»Wenn du die Arbeit heute Nachmittag erledigt hättest, würden dir jetzt nicht die Augen schmerzen.« Das kam von Jago, der sich müde aus dem Lehnstuhl erhob. »Ich gehe zu Bett, morgen beginnt wieder eine anstrengende Arbeitswoche. Hoffentlich kommt Ernie nicht zu spät nach Hause.«

Lorna und James tauschten einen wissenden Blick. Nach dem Abendessen hatte Ernie gesagt, er würde noch ein wenig spazieren gehen, aber die Geschwister wussten, dass er sich seit sechs Wochen mit Patsy Cringle traf. Die jüngere Tochter des Fleischers war ein nettes Mädchen, und Lorna würde sich freuen, Patsy zur Schwägerin zu bekommen. Aber so weit war Ernie noch nicht. Lorna hoffte nur, der Bruder würde das Mädchen nicht in Schwierigkeiten bringen, aber als sie ihn darauf ansprach, war sie bei ihm nur auf taube Ohren gestoßen.

Ernie hatte auch keine Reaktion gezeigt, als Lorna beim Abendessen von Cathys neuer Stellung berichtet hatte. Die Freundin war dem Bruder gleichgültig, aber James hatte erstaunt eine Augenbraue in die Höhe gezogen. Überraschend war die Reaktion von ihrem Vater gewesen.

»So, die Schwarze geht endlich fort? Gut, es ist nur schade, dass sie ihre Mutter nicht gleich mitnimmt.« Damit war das Thema für Jago Dowling erledigt, und Lorna wusste, sie würde auf Fragen, warum er die Nachbarsfrau nicht mochte, keine Antwort erhalten.

»Ich hoffe, Cathy wird so weit im Westen glücklich.« Mit dieser Bemerkung wurde sie von James aus ihren Gedanken gerissen. Lorna sah den Bruder fragend an.

»Du wirst es überleben, dass Cathy uns verlässt. Oder bist du tatsächlich ernsthaft in sie verliebt?«

James lachte und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr.

»Ach, Schwesterchen, du sprichst wieder wie eine Mutter. Ja, ich mag Cathy, und sie ist hübsch, aber du hast schon recht: Sie ist noch nicht einmal sechzehn. Weißt du, Lorna, wegen der Art und Weise, wie du den Haushalt beherrschst und Ernie und mich manchmal abkanzelst, vergesse ich einfach dein Alter. Cathys Fortgehen tut mir in erster Linie wegen dir leid, ich weiß doch, wie sehr ihr beide aneinander hängt.«

Lorna legte das Hemd endgültig zur Seite. Sie war müde, ihre Augen brannten, und heute würde sie keinen geraden und sauberen Stich mehr zustande bringen.

»Warum mag Vater die Bells eigentlich nicht leiden? Gut, Mrs. Bell spricht dem Alkohol etwas mehr zu, als gut ist, aber sonst ist sie eine ruhige Frau, die nie jemandem etwas getan hat.«

»Ach, ich weiß auch nicht …« James erhob sich, aber Lorna hatte einen Moment lang ein unsicheres Flackern in seinen Augen gesehen. »Ich glaube, ich haue mich jetzt auch aufs Ohr.«

»James, bitte!« Mit einem großen Schritt war sie neben ihm und legte eine Hand auf seinen Arm. »Irgendwann ist etwas vorgefallen, nicht wahr? Haben sie sich gestritten?«

James zögerte und sah in Lornas grüngraue Augen, das Schönste an ihrem sonst eher herben Gesicht.

»Es ist lange her … und es wäre Vater nicht recht …«

»Du hast vorhin selbst gesagt, dass ich kein Kind mehr bin«, unterbrach Lorna ihn. »Habe ich nicht das Recht zu erfahren, warum Vater meine liebste Freundin und deren Mutter so vehement ablehnt?«

James gab nach und setzte sich wieder. Lorna zog einen Stuhl neben seinen und sah ihn erwartungsvoll an.

»Es wird dir nicht gefallen, Lorna«, warnte James. »Vielleicht sollten wir das, was geschehen und nicht mehr zu ändern ist, ruhen lassen.«

»Bitte, James!«

»Nun gut. Also, Vater macht Marsha Bell für Mutters Tod verantwortlich.«

Überrascht schnappte Lorna nach Luft.

»Ich denke, diese Schuld trägt er mir nach, schließlich ist Mutter bei meiner Geburt gestorben.«

James lächelte bitter.

»Jetzt, da ich damit angefangen habe, erzähle ich es dir am besten von Anfang an. Aber sag Vater nichts davon, Ernie auch nicht. Versprichst du mir das?« Lorna nickte eifrig. Sie war gespannt, was James zu erzählen hatte.