Tochter der Schuld - Ricarda Martin - E-Book

Tochter der Schuld E-Book

Ricarda Martin

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Beschreibung

Ein Familiengeheimnis, das erst nach Jahrzehnten ans Licht kommt, vor der atemberaubenden Kulisse Cornwalls Als Alayne im Haus ihrer geliebten Großmutter Edith altmodische Kinderkleidung mit einem geheimnisvollen Wappen findet, ist ihre Neugierde geweckt. Sie beginnt zu recherchieren und stößt auf eine Spur, die nach Cornwall führt: Hier bringt im Jahr 1940 die junge Lady Sarah ihr erstes Kind zur Welt, das kurz darauf entführt und nie wieder gefunden wird. Doch was hat Alaynes Großmutter damit zu tun? Alayne steht vor einem Rätsel … Tochter der Schuld von Ricarda Martin: als eBook erhältlich!

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Ricarda Martin

Tochter der Schuld

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel
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Prolog

Gloucestershire, England, Februar 2007

Auf das langgestreckte, zweistöckige Haus fiel die fahle und kalte Morgensonne. Rauhreif überzog die Reste der Dachschindeln, während sich das Licht in den wenigen verbliebenen Fensterscheiben spiegelte.

»Eine Schande ist es, das Haus einzureißen.« Der ältere Mann fischte eine Zigarette aus der Jackentasche und zündete sie an. Tief inhalierte er den Rauch.

Ein etwas jüngerer Mann lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt, an dem großen Bagger und nickte zustimmend.

»Das Haus muss sehr alt sein, bestimmt schon über hundert Jahre, oder?«

Der Ältere nickte und inhalierte erneut den Rauch.

»Soviel ich weiß, war hier bereits Anfang des achtzehnten Jahrhunderts eine Poststation, die später zu einem Wirtshaus umgebaut wurde. Ich erinnere mich noch gut daran, dass mein Vater jeden Sonntag nach der Kirche im Crown Inn sein Bier getrunken hat. Manchmal musste ich ihn holen, und Mutter war verärgert, weil das Essen schon auf dem Tisch stand und kalt wurde.«

»Ja, und meine Großeltern haben im Crown Inn ihre goldene Hochzeit gefeiert. Damals war ich noch ein kleiner Junge, kann mich aber noch gut an die gemütliche Atmosphäre mit den zwei offenen Kaminen, in denen fast immer das Feuer brannte, erinnern.«

Der Ältere warf die Kippe auf den Boden und trat sie mit der Schuhspitze aus.

»Es geht mir gegen den Strich, das Wirtshaus abzureißen, aber das ist nun mal unser Job, und wir müssen tun, was man uns sagt. Ich verstehe die Behörden allerdings nicht. Als meine Frau und ich letztes Jahr einen Wintergarten anbauen wollten, mussten wir monatelang von einem Amt zum nächsten rennen und stapelweise Anträge ausfüllen, um die Genehmigung dafür zu bekommen. Das Amt für Denkmalschutz achtet streng darauf, dass an unserem Haus nichts umgebaut wird, was gegen die Bestimmungen verstößt. Sam, ich frage dich, wo ist hier der Denkmalschutz? Warum wird der Abbruch dieses historischen Gebäudes genehmigt?«

Sam zuckte mit den Schultern.

»Hier soll eine vierspurige Umgehungsstraße entstehen, und der Pub steht mitten auf der geplanten Fahrbahn. Da vergessen die Behörden recht schnell den historischen Wert von Gebäuden. Soviel ich weiß, steht das Haus seit zwanzig Jahren leer. In der letzten Zeit haben sich hier nur noch Gesindel und Landstreicher herumgetrieben. Das Haus ist mittlerweile in einem erbärmlichen Zustand. Abgesehen von dem Neubau der Straße, wäre eine Restaurierung des Pubs wahrscheinlich eh viel zu teuer.«

»Es ist trotzdem schade, aber Job ist Job.« Der Ältere sah zu dem Mann mit dem gelben Helm hinüber, der jetzt die Hand hob und damit das Zeichen gab. »Es geht los. Tun wir unsere Pflicht.«

Die beiden Männer schwangen sich auf die Bagger, starteten die Motoren und begannen mit ihrem zerstörerischen Werk.

Drei Stunden später war von dem einstigen Gasthaus nur noch ein Trümmerberg mit zerbröckelten Mauersteinen und zersplitterten Holzbalken übrig. Der Aufräumtrupp hatte bereits begonnen, den Schutt auf Lastwagen zu laden, als plötzlich Unruhe unter den Männern entstand, ein Mann entsetzt aufschrie und auf die Trümmer zeigte. Sam stoppte den Bagger, sein Kollege tat es ihm gleich. Als sie die Männer erreichten, die aufgeregt zusammenstanden und auf den Haufen Steine starrten, stellten sich Sam vor Grauen die Haare auf:

Eine skelettierte Hand ragte aus dem Schutt hervor. Unweit davon lag ein bleicher Totenschädel, der aus leeren Augenhöhlen die Männer anzustarren schien.

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1. Kapitel

Gloucestershire, England, März 2007

Bereits zum zweiten Mal klingelte es ungeduldig an der Tür.

»Carren, kannst du mal aufmachen!« Da keine Reaktion erfolgte, wischte sich Alayne Sanderson notdürftig die teigverschmierten Hände an einem Geschirrtuch ab und ging zur Tür. Mit dem Ellbogen drückte sie auf die Klinke. »Jaja, ich komme ja schon.«

Der Briefträger sah sie entschuldigend an, als er Alaynes klebrige Hände bemerkte.

»Guten Morgen, Mrs. Sanderson, und verzeihen Sie die Störung, aber ich habe ein Einschreiben für Carren Sanderson.«

»Für meine Tochter?« Alayne war erstaunt. Wer schickte der Neunzehnjährigen ein Einschreiben? »Einen Moment, bitte, Carren scheint noch zu schlafen.«

»Na, schließlich ist Samstag, und mein Sohn geht freitags auch immer auf die Piste, wie er es nennt. So sind die jungen Leute eben.« Er deutete auf Alaynes Schürze. »Sie sind beim Backen?«

Alayne nickte. »Die Ostertorte, wissen Sie? Irgendwie gehört sie ebenso zum Fest wie der Lammbraten.«

Der Briefträger lachte.

»Sprechen Sie ja nicht weiter, sonst läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Sie brauchen Ihre Tochter nicht zu wecken. Wenn Sie vielleicht unterschreiben würden, ich kenne Sie schließlich und weiß, dass Sie den Brief an Ihre Tochter weitergeben werden.«

»Hm … ja …« Alayne rieb die Hände an der Schürze, bis die rechte Hand so weit vom Teig befreit war, dass sie die erforderliche Unterschrift leisten konnte, ohne das Papier mit allzu vielen Fettflecken zu verzieren. Der Briefträger tippte an seine Mütze und sagte:

»Danke, und ein schönes Osterfest, Mrs. Sanderson.«

»Das wünsche ich Ihnen auch«, antwortete Alayne freundlich und warf dabei einen Blick auf den Brief. University of California, Los Angeles (UCLA) prangte als Absender oben links. Alayne stutzte. An dieser Universität studierte Bradley, der Freund ihrer Tochter, der letzten Herbst als Austauschstudent für ein Jahr nach England gekommen war. Aber warum schrieb die UCLA an Carren, und dann noch per Einschreiben? Alayne wagte nicht, die logische Schlussfolgerung, die sich daraus ergab, zu Ende zu denken.

Sie ging zur Treppe und rief nach oben:

»Carren, bist du schon wach? Komme bitte runter, ich muss mit dir reden.«

Ein leises Murren war zu hören, das entfernt an ein Ja erinnerte, und zwei Minuten später kam ein offensichtlich sehr müdes Mädchen mit zerzausten blonden Locken im Pyjama in die Küche.

»Musst du mitten in der Nacht einen solchen Krach machen, Mama?«

»Mitten in der Nacht? Es ist zehn Uhr vorbei, junge Dame. Selbst schuld, wenn man erst gegen Morgen nach Hause kommt.«

Carren tappte auf nackten Füßen zum Wasserkocher und schaltete ihn ein, um sich einen Kaffee zu machen.

»Ich habe schließlich Ferien«, murmelte sie, während sie gefriergetrocknetes Kaffeepulver in einen großen Becher füllte. »Was gibt es denn so Wichtiges?«

Alayne deutete auf den Tisch, auf den sie den Brief gelegt hatte.

»Es ist Post für dich gekommen. Ich habe für dich unterschrieben.«

Zuerst warf Carren nur beiläufig einen Blick auf den schlichten, weißen Umschlag, dann war sie plötzlich hellwach. Vor Aufregung errötete sie, und ihre Augen begannen zu leuchten. Verschwunden war jedes Anzeichen von Müdigkeit, und vergessen war das Kaffeewasser, das inzwischen sprudelnd kochte.

»Endlich!«, rief sie, griff nach dem Brief und rannte aus der Küche. Noch im Laufen riss sie den Umschlag auf. Alayne eilte ihr nach und sah, wie sie auf dem Treppenabsatz die Zeilen überflog. »Ja! Ja!« Dann hörte sie, wie Carren eine Nummer auf ihrem Handy wählte und kurz darauf regelrecht in das Telefon brüllte: »Bradley, hör zu … Ja, wünsch ich dir auch. Ich weiß, es ist noch früh, aber ich muss dir unbedingt etwas sagen …«

Rums! Die Tür zu Carrens Zimmer flog hinter dem Mädchen zu, und Alayne stand verwirrt am Fuß der Treppe. Natürlich würde sie nicht hingehen und heimlich an der Tür lauschen. Vertrauen wurde in ihrer Familie großgeschrieben, und bisher war Carren auch immer mit ihren großen und kleinen Sorgen und Nöten zu ihr gekommen. Sogar, als sie sich im letzten Oktober in den zwei Jahre älteren Bradley Winston verliebt und ihn schon nach kurzer Zeit den Eltern vorgestellt hatte. Zuerst war Alayne skeptisch gewesen gegenüber dem gutaussehenden, braungebrannten Jungen aus Kalifornien, der wie ein Surfermodel aussah. Sie musste aber bald erkennen, dass Bradley ein gewissenhafter junger Mann war, der sein Studium sehr ernst nahm.

»Oxford gehört zu den Eliteuniversitäten der Welt«, hatte er gesagt. »Wo kann man mittelalterliche Geschichte besser studieren als in England? Und Oxford ist schließlich die älteste Uni des Landes und zudem die drittälteste der ganzen Welt. Hier wird Geschichte nicht nur gelehrt, sondern regelrecht gelebt.«

Alayne konnte von solchen Worten nicht unbeeindruckt bleiben, und seitdem war Bradley ein gerngesehener Gast im Hause der Sandersons. Carren studierte im zweiten Semester in Oxford Kunst und Architektur. Genau wie ihre Mutter, denn Alayne war früher ebenfalls in Oxford für Kunstgeschichte eingeschrieben gewesen, aber als sie nach drei Semestern schwanger wurde, musste sie ihr Studium abbrechen. Alayne hatte es nie bereut, zugunsten der Familie auf eine eigene berufliche Karriere verzichtet zu haben. Sie war gerne Hausfrau und Mutter. Seit Carren eigene Wege ging, arbeitete Alayne zwei-, dreimal die Woche in einem Antiquitätengeschäft in der Innenstadt, was ihr viel Freude machte.

Sie seufzte und widmete sich wieder dem Teig, den sie ein letztes Mal durchknetete und dann in die bereits gefettete Springform drückte. Von Anfang an hatte sie sich davor gefürchtet, was geschehen würde, wenn Bradleys Semester vorbei sein würde und er wieder in die Staaten zurückkehren musste. Konnte eine so junge Liebe diese Distanz wirklich überstehen? Nie im Leben wäre Alayne auf den Gedanken gekommen, dass Carren nicht bereit war, ihren Freund allein über den großen Ozean ziehen zu lassen.

Als die Backform im Ofen war und Alayne sich die Hände gewaschen hatte, griff sie zum Telefon und drückte die Taste, unter der die Handynummer ihres Mannes gespeichert war. Er meldete sich nach dem zweiten Klingeln.

»Michael, weißt du schon, dass Carren nach L. A. gehen will?«, platzte Alayne heraus. »Das vermute ich jedenfalls, denn heute ist da ein Brief gekommen, der …«

»Nein … ja … also … das ist jetzt ganz schlecht.« Michaels Stimme klang gehetzt. »Ich habe gerade einen Termin mit einem Kunden …«

»Du hast es also gewusst?«, rief Alayne. »Und warum hat mir niemand etwas gesagt …«

»Bitte, Alayne, lass uns heute Abend darüber sprechen. Es geht jetzt wirklich nicht.«

Das Knacken in der Leitung signalisierte Alayne, dass Michael einfach aufgelegt hatte. Obwohl es Ostersamstag war, arbeitete er. Alayne konnte zwar verstehen, dass man sich als Immobilienmakler nach den Terminwünschen der Kunden richten musste, aber seit Monaten war Michael ständig unterwegs, wenn sie ihn einmal brauchte. Auch an Sonn- und Feiertagen hatte er oft Kundentermine, oder er zog sich zu Hause in sein Arbeitszimmer zurück und wollte nicht gestört werden. Gut, nach zwanzig Jahren Ehe musste man nicht mehr jede freie Minute miteinander verbringen, aber manchmal wünschte sich Alayne doch mehr Zweisamkeit. Aus ihrer Ehe war schon länger die Luft raus, wie man so schön sagt. Michael arbeitete beinahe Tag und Nacht, und Carren war fast auch nur noch zum Schlafen zu Hause und brauchte die Mutter immer weniger. Beim Gedanken an ihre Tochter zog es Alayne das Herz zusammen. Vielleicht interpretierte sie das Einschreiben ja doch falsch? Gerade als sie nach oben gehen wollte, um mit Carren zu sprechen, kam diese die Treppe herunter. Sie hatte inzwischen geduscht und sich angezogen, und ihre Augen strahlten. Alayne sah sie schweigend, aber fragend an.

»Ich wollte es dir erst sagen, wenn es geklappt hat.« Sofort ging Carren in die Offensive. »Ab dem nächsten Semester werde ich in Kalifornien studieren. Der Brief war die Zusage, und bevor du mir jetzt mit Kosten und so kommst … da kann ich dich beruhigen. Ich habe für ein Jahr ein Stipendium bekommen. Wohnen kann ich bei Bradley und seinen Eltern, die sind nämlich nicht so spießig wie du. Du erlaubst ja nicht mal, dass Bradley hier übernachtet.«

Beinahe trotzig verschränkte Carren die Arme vor der Brust und stand ihrer Mutter herausfordernd gegenüber. Alaynes schlimmste Befürchtungen bewahrheiteten sich in diesem Augenblick. Sie hatte zwar immer gewusst, dass Mütter ihre Kinder irgendwann einmal ziehen lassen müssen, aber gleich bis nach Amerika?

»Du willst also hier wirklich alles aufgeben wegen einem jungen Mann, den du kaum kennst? Ihr seid doch noch …«

»Sag jetzt nicht, dass ich zu jung für eine solche Entscheidung bin!«, unterbrach Carren ihre Mutter. »Darf ich dich daran erinnern, wie alt du warst, als du Dad geheiratet hast? Und damals warst du sogar schon mit mir schwanger.« Lachend warf sie ihre noch feuchten Locken zurück. »Keine Sorge, Ma, Bradley und ich haben so schnell nicht vor, dich zur Großmutter zu machen oder zu heiraten. Aber du musst verstehen, dass Bradley und ich uns nicht trennen möchten.«

Wie sie sich so mit blitzenden Augen und roten Wangen ereiferte und ihre Argumente vorbrachte, erinnerte sie Alayne an ihre Mutter, Blanche. Leider lebte Carrens Großmutter seit vielen Jahren in Frankreich, und sie sahen sich nur selten.

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du dich in L. A. beworben hast?« Alayne versuchte, nicht verletzt zu klingen, aber ein leichter Tadel schwang in ihren Worten mit.

»Ach, Ma, ich weiß doch, wie sehr du dich dann aufgeregt hättest. Vielleicht hätte es ja nicht geklappt. Ich wollte dich damit nicht unnötig belasten.« Sie trat zu ihrer Mutter und umarmte sie. »Es fällt mir ja auch schwer, euch und England zu verlassen, aber mein Platz ist an der Seite von Bradley. Ich verspreche euch, in allen Ferien nach Hause zu kommen, und du und Dad, ihr könnt uns ja im Sommer besuchen.«

Alayne verdrängte ihre Traurigkeit. Sie liebte ihre Tochter, und gerade deswegen musste sie sie ihren Weg gehen lassen.

»Wann fliegt ihr?«, fragte sie.

Carren zögerte, dann sagte sie schnell: »In drei Wochen.«

Alayne löste sich aus ihren Armen und bemühte sich um ein Lächeln.

»Nun, dann gibt es ja noch viel zu tun, nicht wahr? Aber zuerst muss ich mich um den Kuchen kümmern, sonst können wir morgen nur verbrannte Krümel essen. Hilfst du mir bei der Füllung?«

»Äh … sorry, aber ich treffe mich gleich mit Bradley. Du verstehst doch, dass wir feiern wollen, nicht wahr?«

Ja, Alayne sah das ein, aber sie stand trotzdem am Fenster und sah ihr nach, als Carren das Haus verließ und die Auffahrt regelrecht hinunterhüpfte. Sie setzte sich in ihr kleines Auto, das ihr die Eltern zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatten, und brauste davon. Nun löste sich doch eine Träne aus Alaynes Augenwinkel. Warum mussten Kinder bloß erwachsen werden? Bevor sie jedoch weiter in Selbstmitleid zerfließen konnte, lief sie rasch zum Backofen, um ihn abzuschalten. Gerade noch rechtzeitig, aber die obere Schicht des Kuchens war bereits etwas dunkler als beabsichtigt. Alayne nahm die Form aus dem Ofen und stürzte den Kuchen zum Abkühlen auf das Gitter. In diesem Augenblick klingelte das Telefon.

»Sanderson«, meldete sie sich, noch einen Topflappen in der Hand.

»Alayne, Gott sei Dank, du bist zu Hause!«

»Diana, ist was passiert?«

Alaynes Herz begann zu rasen. Diana war eine Nachbarin ihrer Großmutter Edith, die einige Meilen nördlich von Cheltenham in einem kleinen Dorf lebte und dreimal in der Woche bei der Achtundachtzigjährigen nach dem Rechten schaute und die Wohnung sauber hielt.

»Edith … als ich heute Morgen kam … zum Glück hab ich einen Schlüssel … Sie lag im Bett und rührte sich nicht. Wahrscheinlich ein Schlaganfall, hat der Notarzt gesagt. Sie haben Edith ins Krankenhaus nach Cheltenham gebracht.«

Alayne durchfuhr ein kalter Schauer, ihre Stimme zitterte.

»Ich fahr sofort los. Danke, Diana, ich ruf dich an, sobald ich etwas weiß, ja?«

Binnen einer Minute hatte sich Alayne umgezogen. Kurz überlegte sie, Michael zu informieren, verwarf den Gedanken aber wieder. Er hatte ohnehin keine Zeit, ins Krankenhaus zu kommen, denn er würde niemals einen Kunden wegen Alaynes Großmutter stehenlassen und riskieren, ein gutes Geschäft zu verlieren.

»Bitte, Gott, wenn es dich gibt, nimm mir nicht auch noch Edith!«, betete Alayne im Stillen, während sie ihren Wagen durch den Verkehr lenkte. Erst teilte ihr Carren mit, dass sie in drei Wochen Tausende von Meilen fortgehen würde, und jetzt war ihre Großmutter im Krankenhaus. Alayne machte sich keine Illusionen, was ein Schlaganfall – wenn es tatsächlich einer war – bei einer so alten Frau bedeutete. Sie hoffte nur, wenigstens noch ein Mal mit Edith sprechen und ihre Hand halten zu können.

 

Alayne hasste Krankenhäuser. Sie hatte sich in dieser sterilen Atmosphäre schon immer unwohl gefühlt, aber seit ihr Vater vor zehn Jahren an Prostatakrebs erkrankt und zwei Jahre später gestorben war, wurde ihr beinahe übel, wenn ihr der Geruch, der allen Krankenhäusern anhaftete, in die Nase stieg. Zwar waren hier die Wände nicht in einem sterilen Weiß, sondern in hellen Pastellfarbtönen gestrichen und mit bunten Kunstdrucken geschmückt, dennoch hatte Alayne das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, als sie durch die Glastür die Intensivstation betrat. Die freundliche Schwester vom Empfang hatte sie bereits telefonisch angemeldet, und so schlüpfte Alayne in einen Kittel und legte den Mundschutz an, bevor sie in das Zimmer ging, in dem ihre Großmutter lag. Edith war nicht bei Bewusstsein, einzig die zahlreichen Apparate am Kopfende des Bettes zeigten mit ihrem Piepsen und Blinken von Kontrolllämpchen an, dass sie noch am Leben war. Ein Arzt trat neben Alayne. Sie konnte nur seine Augen erkennen, da er ebenfalls einen Mundschutz trug, aber sein Blick war aufmunternd.

»Mrs. Gordon ist Ihre Großmutter, nicht wahr? Und Sie sind ihre einzige Verwandte?«

Alayne nickte und antwortete: »Meine Mutter, ihre Tochter, lebt in Frankreich. Ich muss sie noch anrufen.«

Mit leichtem Druck legte der Arzt eine Hand auf Alaynes Schulter.

»Ich bin Doktor Caine und habe Mrs. Gordon eingehend untersucht. Sie brauchen Ihre Mutter nicht zu beunruhigen. Es besteht keine Lebensgefahr für Mrs. Gordon. Natürlich können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen, welche Teile des Gehirns durch die Apoplexie geschädigt wurden und welche Beeinträchtigungen daraus entstehen können, aber Ihre Großmutter hat erstaunliches Glück gehabt. Beinahe ein Wunder bei einer Frau in einem solch hohen Alter.«

Erleichtert schloss Alayne die Augen und atmete tief durch.

»Wann kann ich mit ihr sprechen, Doktor?«

Er zuckte kurz mit den Schultern.

»Heute nicht mehr, Mrs. Sanderson, wir sollten sie schlafen lassen. Kommen Sie morgen Vormittag wieder, ich denke, dann wird sie wach sein, und wir haben dann auch die Ergebnisse weiterer Untersuchungen vorliegen. Wir werden heute Abend auf jeden Fall noch eine Kernspintomographie machen.« Er sah sie erneut eindringlich an. »Machen Sie sich keine Sorgen, Ihre Großmutter ist bei uns in den besten Händen.«

»Danke, Doktor.«

Alayne trat näher ans Bett, griff die schmale, knochige Hand Ediths und drückte sie leicht. Erfreut bemerkte sie, dass diese warm und voller Leben war. Natürlich musste sie jederzeit bei einer Frau in Ediths Alter mit deren Tod rechnen, aber diesen Gedanken schob Alayne weit von sich. Vor vier Jahren bereits hatte sie Edith vorgeschlagen, zu ihr und Michael zu ziehen. Sie hatten in ihrem Haus ein Zimmer frei, aber Edith hatte lachend abgelehnt.

»Nein, nein, meine Kleine, das würde nicht gutgehen. Mir ist es lieber, du besuchst mich hin und wieder. Dann verstehen wir uns besser, als wenn ich dir den ganzen Tag im Weg bin und du mich mit der Zeit ans Ende der Welt wünschst. Alt und Jung unter einem Dach – das tut nicht gut.«

Edith Gordon ließ sich nicht überzeugen, ihr kleines Haus in Bishop’s Cleeve, vier Meilen nördlich von Cheltenham, aufzugeben. Zum Glück wohnte die praktisch veranlagte und zupackende Diana in der Nachbarschaft und schaute bei Edith nach dem Rechten. Zudem erledigte Diana die Arbeiten, zu denen Edith nicht mehr in der Lage war. Auch wenn es Edith niemals zugeben würde, aber Tätigkeiten wie Fensterputzen, Böden schrubben oder Wäsche aufhängen gingen ihr nur noch schwer von der Hand. Edith Gordon hatte ihren Mann im Zweiten Weltkrieg verloren und ihre damals erst wenige Monate alte Tochter Blanche allein großgezogen. Einen zweiten Mann hatte es nie gegeben, ihr Leben hatte immer nur aus Blanche und harter Arbeit bestanden.

Während Alayne am Krankenbett ihrer schlafenden Großmutter saß und sie liebevoll betrachtete, erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung mit der zierlichen und dennoch kräftigen Frau. Erst mit neun Jahren hatte sie von der Existenz ihrer Großmutter erfahren. Als Tochter eines Diplomaten war Alayne auf Malta zur Welt gekommen. Ein Jahr später waren die Eltern mit ihr erst nach Zypern, dann nach Spanien, Portugal und schließlich nach Frankreich gezogen. Als Kind hatte sie ihre Eltern wenig gesehen und wurde hauptsächlich von Kindermädchen erzogen, die natürlich bei jedem Umzug in ein anderes Land wechselten. Ein Hauslehrer war für ihre Schuldbildung verantwortlich gewesen, der Alayne alles Notwendige lehrte, aber Freundinnen hatte sie nie gehabt. Es hatte zwar hin und wieder Kontakte zu den Kindern anderer Diplomaten gegeben, was aber eher selten war, da diese Kinder meistens auf Internate gingen. Alayne hatte sich davor gefürchtet, auch eines Tages in ein Internat geschickt zu werden, denn sie war eher eine Einzelgängerin und wollte in der Nähe ihrer Eltern bleiben. Als Alayne acht Jahre alt gewesen war, hatte sie unbeabsichtigt ein Gespräch zwischen ihren Eltern belauscht, in dem ihre Mutter Blanche ihren Unwillen darüber geäußert hatte, dass sie ständig in Europa wären.

»Vince, du solltest dich wirklich um einen Posten in Kanada oder Australien bemühen! Von mir aus auch Südafrika, aber es wird langsam Zeit, dass du eine bessere Position erhältst.«

Immer wenn Alayne an ihre Mutter dachte, dann sah sie eine elegante, stets perfekt gekleidete und geschminkte, aber kühle Frau vor sich. Nie löste sich ein Haar aus ihrer Frisur, nie war eine Falte in ihrer Bluse, die dort nicht hingehörte. Schon früh hatte Alayne gelernt, nicht auf ihre Mutter zuzustürmen und sie zu umarmen, sondern darauf zu warten, dass sie ihr ihre kühle Wange hinhielt, auf die sie dann einen Kuss hauchen durfte. Natürlich nur mit trockenen Lippen, um das Make-up nicht zu ruinieren.

Ihr Vater Vince war anders gewesen. Alayne durfte auf seinen Knien reiten und mit ihm durch das Haus toben. Aber leider war er selten zu Hause und wenn, dann musste er arbeiten. Wenige Wochen nach dem Gespräch ihrer Eltern wurde Vince Lyneham tatsächlich ein Posten in der britischen Vertretung in Canberra in Australien in Aussicht gestellt. Die Eltern wurden sich schnell einig, ihre Tochter nicht mitzunehmen, sondern sie in einem Internat in der Schweiz unterzubringen, und Alaynes schlimmsten Befürchtungen wurden wahr. Obwohl es äußerst exklusiv und teuer war, war Alayne unglücklich und erkrankte so ernsthaft, dass ihre Mutter vom anderen Ende der Welt anreisen und sie aus der Schule nehmen musste. Damals hörte Alayne zum ersten Mal den Namen Edith Gordon und dass es sich bei der Frau um ihre Großmutter, die in England lebte, handelte.

»Ich kann unsere Tochter doch nicht bei einer Kneipenwirtin lassen!«, hatte Blanche gesagt, aber Alaynes Vater hatte sie beschwichtigt.

»Wenn sich das Kind dort wohler als im Internat fühlt, sollten wir es zumindest versuchen. Außerdem ist Alayne Britin, und es wird langsam Zeit, dass sie ihr Heimatland kennenlernt.«

So kam Alayne zu ihrer Großmutter Edith Gordon. Als sie sich zum ersten Mal in die Augen sahen, spürten beide eine starke Verbundenheit, und Alayne war sofort klar, dass sie sich in dem alten, verwinkelten Gasthaus in der lieblichen Landschaft der Cotwolds heimisch fühlen würde. Edith bestand darauf, dass Alayne sie beim Vornamen nannte.

»Großmutter klingt so alt«, hatte sie mit ihrem typischen kehligen Lachen gesagt. »Außerdem hatte ich nicht wie andere Frauen in meinem Alter die Zeit, mich daran zu gewöhnen, Oma zu sein. Schade, dass wir uns erst jetzt kennenlernen, aber besser spät als nie, nicht wahr?«

Es war Edith Gordon zu verdanken, dass Alayne lernte, geliebt zu werden und Liebe zu geben, denn in den folgenden Jahren war Edith mehr eine Mutter für sie, als es Blanche je gewesen war. Bei den gelegentlichen Besuchen der Eltern und den zwei Reisen Alaynes nach Australien merkte Alayne, dass sie sich nicht viel zu sagen hatten. Das änderte sich erst, als ihr Vater an Krebs erkrankte und zum Sterben nach England kam. In seinen letzten Monaten war Alayne ihm näher als in den ganzen Jahren zuvor.

 

Ediths Hand zuckte in der ihren, und Alayne schreckte aus den Gedanken an die Vergangenheit auf. Sie beugte sich über das faltige Gesicht Ediths und küsste sie auf die Wange.

»Schlaf dich gesund, ich komme morgen wieder.«

Auf dem Flur wechselte Alayne noch ein paar Worte mit der Schwester, die die Aussage des Arztes bestätigte und versicherte, es bestünde keine Lebensgefahr für Edith.

 

Es war bereits nach dreiundzwanzig Uhr, als Michael Sanderson das gepflegte Einfamilienhaus am Rande Cheltenhams betrat und seine Frau dösend im Sessel vor dem Fernseher vorfand. Als er das Licht anknipste, fuhr sie in die Höhe.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken«, murmelte Michael und warf sein Jackett achtlos über eine Stuhllehne. »Warum bist du nicht im Bett?«

»Wir müssen unbedingt miteinander reden, Michael.« Ernst sah Alayne ihren Mann an. Er sah müde aus. Kein Wunder, hatte er doch über zwölf Stunden gearbeitet. »Ich hoffe, dein Termin war erfolgreich?«

Er nickte und unterdrückte ein Gähnen.

»Ich denke, es wird zum Kaufabschluss kommen. Bitte, lass uns morgen über alles reden, ich sehne mich nach einer heißen Dusche und dann nach meinem Bett. Ich bedauere es ebenfalls, dass Carren ins Ausland gehen wird, aber das Mädchen ist erwachsen …«

»Edith hatte einen Schlaganfall«, fiel ihm Alayne ins Wort. Als sie sah, dass Michael ehrlich erschrocken war, fuhr sie schnell fort: »Es geht ihr den Umständen entsprechend gut, sie wird es überleben. Allerdings wissen die Ärzte noch nicht, ob und welche Schäden zurückbleiben werden.«

Michael trat zu ihr und zog sie an seine Brust.

»Das tut mir so leid.« Er wusste, wie sehr seine Frau an ihrer Großmutter hing, auch wenn er mit Edith nie richtig warmgeworden war. »Warum hast du mich nicht angerufen?«

»Ich wollte dich nicht stören.«

Michael erwiderte nichts, aber sein schlechtes Gewissen regte sich.

»Wir werden Edith zusammen besuchen, ja? Ich bin morgen und am Montag den ganzen Tag zu Hause.«

Alayne unterdrückte die Bemerkung, dass es ja noch schöner wäre, wenn er an den Osterfeiertagen arbeiten müsste. Doch es war sinnlos, mit Michael über seine Arbeitszeiten zu diskutieren. Er lebte, um zu arbeiten, aber sie machte sich allmählich Sorgen um ihn, schließlich musste er auch mal ausspannen. Seit einem halben Jahr hatte er kaum noch Freizeit und wirkte oft abgespannt und gestresst. Doch heute war es tatsächlich zu spät zum Reden, vor ihnen lag ja ein langes Osterwochenende.

 

Bereits am Montag konnte Edith die ersten Worte sprechen, und die Ärzte waren zuversichtlich.

»Wir werden Mrs. Gordon noch zwei, drei Wochen hierbehalten, um sie gründlich durchzuchecken, aber es ist beinahe unfassbar, welche Konstitution diese Frau in ihrem Alter hat.«

»Sie war schon immer eine Kämpferin«, erwiderte Alayne mit einem Lächeln. »So leicht lässt sie sich nicht unterkriegen.«

Alayne telefonierte mir ihrer Mutter Blanche, die sichtlich erleichtert war, dass es Edith gutging und sie nicht nach England kommen musste. Sie bereitete gerade eine dreimonatige Mittelmeerkreuzfahrt vor, die Ende der Woche beginnen sollte. Als Alaynes Vater starb, hatten sich ihre Eltern schon längst auseinandergelebt und waren nur noch auf dem Papier verheiratet. Blanche zeigte sich zwar über die Krebserkrankung betroffen und war bei Vince’ Tod erschüttert, aber nach knapp zwei Jahren heiratete sie einen sehr vermögenden französischen Geschäftsmann, der neben einer eleganten Pariser Wohnung nicht nur ein weitläufiges Landhaus an der Côte d’Azur, sondern auch eine mit allen Schikanen ausgestattete Jacht besaß.

»Ich weiß, dass Edith bei dir in den besten Händen ist«, hatte Blanche in den Hörer geflötet. »Im Herbst werden wir nach England kommen und euch besuchen.«

Alayne war über das Verhalten der Mutter nicht enttäuscht, denn sie kannte es nicht anders. Blanche war immer noch eine sehr schöne und attraktive Frau, der man das Alter nicht ansah. Sie selbst hatte zwar das dichte dunkelbraune Haar der Mutter geerbt, aber während Blanche sanfte Wellen hatte, war Alaynes glatt wie Spaghetti, und mit den blaugrauen Augen, den hohen Wangenknochen und dem etwas spitzen Kinn schlug sie eher ihrem Vater nach. Da Alayne es nicht nur liebte, zu kochen und zu backen, sondern auch zu essen, und für Sport noch nie zu begeistern war, war sie zwar nicht dick, hatte aber auch nicht die grazile Gestalt ihrer Mutter. Wahre Schönheit kam sowieso von innen – das war Alaynes Devise, zudem führte sie eine glückliche Ehe und hatte eine wunderbare Tochter. Nun ja, sah man von Michaels Arbeit und der Tatsache, dass Carren in drei Wochen England verlassen würde, mal ab.

Montags, mittwochs und donnerstags arbeitete sie in einem Antiquitätengeschäft in Cheltenham, und die Besitzerin, Marilyn Preston, war längst mehr als eine Chefin, sie und Alayne waren Freundinnen. Marilyn hatte den Laden von ihren Eltern geerbt und führte ihn gewissenhaft und mit großem Kunstverstand. Oft trafen sich die beiden Frauen auch privat und plauderten dann bei einer, oder manchmal auch zwei Flaschen Wein über Gott und die Welt.

Als Alayne an diesem Donnerstag von der Arbeit nach Hause kam, stiegen zwei Männer aus einem Wagen, der vor ihrer Tür geparkt hatte, und kamen auf sie zu. Alayne kannte sie nicht und befürchtete, es würde sich um Vertreter handeln. Während sie überlegte, wie sie die Fremden möglichst schnell abwimmeln konnte, sagte der Ältere: »Sind Sie Mrs. Sanderson? Alayne Sanderson, die Enkelin von Edith Gordon?«

Ein eisiger Schreck durchfuhr Alayne.

»Ist etwas mit meiner Großmutter? Geht es ihr schlechter?«

»Nicht dass ich wüsste«, antwortete der Mann und deutete auf die Eingangstür. »Wir hätten da nur ein paar Fragen. Können wir vielleicht ins Haus gehen?«

Alayne zögerte, und der Mann interpretierte ihr ablehnendes Schweigen richtig.

»Verzeihen Sie, wir haben uns noch nicht vorgestellt.« Er nestelte aus der Innentasche seiner Jacke einen Ausweis. »Ich bin Inspektor Grant, und das ist mein Kollege Harvey.«

»Polizei?« Alayne war ernsthaft erschrocken. »Was hat meine Großmutter mit der Polizei zu tun?«

Mr. Harvey lächelte beruhigend und sagte freundlich: »Wir möchten Ihnen nur ein paar Fragen stellen, Mrs. Sanderson. Von einer Nachbarin erfuhren wir, dass Mrs. Gordon im Krankenhaus ist, dort lassen die Ärzte uns aber nicht mit ihr sprechen. Ich hoffe, es ist nichts Ernstes?«

»Ein Schlaganfall«, sagte Alayne knapp und ohne zu erwähnen, dass Edith auf dem Weg der Besserung war. Ganz gleich, was die Herren wollten, sie sollten nur wissen, dass Edith schwerkrank war, und sie in Ruhe lassen. Sie schloss die Tür auf. »Kommen Sie herein, meine Herren.«

Alayne überlegte kurz, ob sie den Männern etwas anbieten sollte. Sie hatte ja keine Erfahrung im Umgang mit der Polizei, aber in Filmen sah man immer, dass die Polizisten nichts trinken durften, wenn sie im Dienst waren. Ob das auch für Tee oder Kaffee galt, wusste Alayne nicht, aber sie hatte keine Lust, die beiden länger als nötig in ihrem Haus zu dulden.

»Also, um was geht es?« Abwartend blieb Alayne stehen und bot den Männern keinen Platz an.

»Wir sind von der Mordkommission und da …«

»Mordkommission?« Alaynes Herz schlug schneller, und das Blut schoss in ihr Gesicht. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was Edith oder ich mit der Mordkommission zu tun haben.«

»Nur ein paar Routinefragen, Mrs. Sanderson.« Inspektor Grant holte einen Notizblock aus der Tasche und schlug ihn auf. Unwillkürlich erinnerte er mit dieser Geste Alayne an den Filminspektor Columbo. »Mrs. Edith Gordon war einst die Inhaberin des Crown Inn, einem Gasthaus an der Straße nach Evesham, nicht wahr?«

Alayne nickte verwundert.

»Das ist Jahre her. Meine Großmutter hat das Haus bereits vor zwanzig Jahren aufgegeben.«

»Wissen Sie, dass das Gebäude letzte Woche abgerissen wurde?«, hakte der Inspektor nach.

»Nein, das war mir nicht bekannt, und ich weiß auch nicht, warum es wichtig sein sollte.«

Die dunklen Augen des Inspektors bohrten sich in Alaynes Gesicht und sahen sie beinahe lauernd an. Er wollte ihre Reaktion ganz genau beobachten, als er die nächsten Worte aussprach.

»Bei den Abbrucharbeiten wurde eine Leiche in den Trümmern gefunden, oder vielmehr das, was von dem Skelett noch übrig war. Die Gerichtsmedizin konnte feststellen, dass es sich um einen Mann gehandelt haben muss, der offenbar im alten Keller vergraben war.«

Nun sehnte sich Alayne nach einem Drink, aber sie beherrschte sich.

»Das ist sicher furchtbar, aber ich sehe immer noch keinen Zusammenhang mit meiner Großmutter. Wie ich bereits sagte, das Gasthaus wurde vor langer Zeit geschlossen. Seitdem haben sich immer wieder Landstreicher dort herumgetrieben, um in kalten Nächten ein Dach über dem Kopf zu haben.«

Der Inspektor kratzte sich grübelnd am Kopf.

»Tja, Mrs. Sanderson, das Problem bei der Sache ist, dass der Tote seit vielen Jahren im Keller des Hauses vergraben zu sein scheint. Unseren Spezialisten der Kriminaltechnik ist es zwar noch nicht gelungen, das Skelett zu identifizieren, aber eines haben sie herausgefunden: Der Mann starb vor ungefähr fünfzig Jahren, also zu einer Zeit, in der sich das Crown Inn im Besitz von Edith Gordon befand. Das veranlasst uns natürlich dazu, Fragen zu stellen.«

Nun musste sich Alayne doch setzen. Vor fünfzig Jahren! Das war lange vor ihrer Geburt gewesen. Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken. Wenn der Tote tatsächlich all die Jahre im Keller gelegen war, dann auch zu der Zeit, als Alayne im Gasthaus gelebt hatte. Wie oft war sie in den Keller gegangen, nicht ahnend, welch grausiges Geheimnis er barg.

Der Jüngere, Harvey, ergriff nun das Wort.

»Sie werden verstehen, Mrs. Sanderson, dass wir so bald wie möglich mit Mrs. Gordon sprechen müssen.«

»Ja, das ist mir klar«, sagte Alayne immer noch fassungslos. »Sie wird Ihnen aber sicher nichts sagen können, was zur Klärung des Falles beiträgt, denn ich bin überzeugt, dass meine Großmutter nichts von der Existenz einer … Leiche in ihrem Keller wusste.«

Die beiden Herren wandten sich zur Tür, Inspektor Grant drückte Alayne seine Visitenkarte in die Hand.

»Rufen Sie mich an, wann wir Mrs. Gordon im Krankenhaus besuchen können. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie dabei sind, aber es sollte so bald wie möglich geschehen. Ich mag es nicht, die Akten von ungeklärten Todesfällen auf meinem Schreibtisch zu haben.«

Verwirrt blieb Alayne zurück. Das war ja eine tolle Geschichte! Sie überlegte, ob sie ins Krankenhaus fahren und mit Edith darüber sprechen sollte, dann fiel ihr aber ein, dass Carren und Bradley in einer Stunde zum Abendessen kommen würden, und sie hatte noch nichts vorbereitet. Das Essen absagen wollte Alayne nicht, denn wenn sie ihre Tochter schon einem Mann anvertraute, dann wollte sie ihn besser kennenlernen. Sie war sich aber ganz sicher, dass Edith über den Fund ebenso schockiert sein würde wie sie selbst. Daher musste sie zuerst allein mit dem Arzt sprechen, ob man der alten Dame eine solche Belastung überhaupt zumuten konnte.

Carren und Bradley erzählte sie nichts von dem Besuch der Polizei, und Michael, der wie immer erst mitten in der Nacht nach Hause kam, zeigte sich wenig beunruhigt.

»Wird sich schon eine Erklärung finden«, murmelte er, rollte sich auf seiner Seite des Bettes zusammen und war binnen einer Minute eingeschlafen. Alayne indes fand keinen Schlaf, denn sie beschlich eine starke innere Unruhe, als ahnte sie, dass in ihrem Leben bald nichts mehr so sein würde wie bisher.

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2. Kapitel

Alayne konnte Edith erst wieder am kommenden Dienstag besuchen. Michael hatte schon wieder einen Termin, und Carren wollte zusammen mit Bradley in die Stadt, um sich noch ein paar schicke Klamotten für Kalifornien zu kaufen.

»Grüße Omimi von mir«, bat sie Alayne. »Ich werde mich auf jeden Fall noch von ihr verabschieden, bevor wir fliegen, und ich hoffe, es geht ihr bald wieder so gut, dass sie wieder nach Hause kann.«

Das hoffte Alayne ebenfalls, aber sie würde Edith auf jeden Fall das Angebot machen, zu ihr und Michael zu ziehen. So ganz uneigennützig war der Gedanke nicht. Obwohl Carren seit langem schon selbständig war, würde es Alayne fehlen, sich täglich um jemanden kümmern zu können. Zudem fand sie, dass eine Frau in Ediths Alter die Tage nicht mehr allein verbringen sollte. Sicher war sicher.

Alayne verbarg ihr Erschrecken über Ediths eingefallene Wangen und ihren gelblichen Teint mit einem forschen: »Was machst du nur für Sachen?«, als sie das Krankenzimmer betrat. Man hatte Edith in ein normales Zweibettzimmer verlegt, die andere Patientin war aber im Moment nicht anwesend. Edith fiel es schwer, sich aufzurichten, trotzdem lächelte sie und streckte die Hand ihrer Enkelin entgegen.

»Es tut mir leid, dir Sorgen bereitet zu haben.«

»Ach, Edith!« Vorsichtig umarme Alayne Edith und drückte sie leicht. Vor Erleichterung, dass der Schlaganfall offenbar keine bleibenden Schäden, wie eine Lähmung oder eine Störung des Sprachzentrums, hinterlassen hatte, wurden Alaynes Augen feucht.

»Wie geht es dir? Ich konnte heute noch nicht mit dem Arzt sprechen.«

»Diese Weißkittel!« Edith verdrehte die Augen. »In eine Rehaklinik wollen sie mich schicken. Dabei fühle ich mich gut und möchte so schnell wie möglich wieder nach Hause. Die Krankenhausluft macht mich krank, außerdem schnarcht meine Bettnachbarin.«

Alayne lachte, nahm Ediths faltige Hand und streichelte sie.

»Du weißt noch gar nicht, dass Carren zu Bradley in die Staaten geht, um dort ihr Studium fortzusetzen.«

Überrascht hoben sich Ediths Augenbrauen, und Alayne erzählte ihr die Neuigkeit und auch, dass Carren bald abfliegen würde. Dann sprach sie vorsichtig ihre Idee an, Edith solle zu ihr und Michael ziehen. Aber sie konnte nicht ausreden, denn Edith wehrte den Vorschlag sofort vehement ab.

»Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr. Ich fühle mich in meinem Cottage wohl, und dort möchte ich auch sterben. Alt und Jung unter einem Dach – das geht selten gut. Du hättest es bald satt, mich bedienen zu müssen, außerdem würde mir mein Rosengarten fehlen.«

»Aber Edith, wäre es nicht besser …?«

»Nein, wäre es nicht«, unterbrach Edith. »Ich sehe ein, dass ich künftig wohl jemanden brauche, der ein Mal am Tag nach mir sieht. Diana in allen Ehren, aber sie hat nicht so viel Zeit.«

Alayne wurde einer Antwort enthoben, denn eine Schwester trat ein und bat sie, für einen Augenblick herauszukommen.

»Ich komme gleich wieder, Edith.« Auf dem Flur erwartete sie der behandelnde Arzt und begrüßte sie mit einem Lächeln.

»Mrs. Gordon hat großes Glück gehabt. Hätte man sie nur eine Stunde später gefunden, wäre der Schaden wohl irreparabel gewesen. So aber denke ich, dass sie in vier, fünf Wochen wieder ein ganz normales Leben führen wird.«

»Meine Großmutter ist von einer Rehamaßnahme wenig begeistert«, sagte Alayne und sah den Arzt erwartungsvoll an. »Könnte diese nicht auch ambulant erfolgen? Sie würde so gerne wieder nach Hause.«

Zweifelnd schüttelte der Arzt den Kopf.

»Bei einer jüngeren Patientin vielleicht, aber bei Mrs. Gordon sollten wir kein Risiko eingehen. Nun, wir werden sie auf jeden Fall noch sieben, acht Tage hierbehalten, dann machen wir eine neue Kernspintomographie. Sollte diese zu unserer Zufriedenheit ausfallen, sprechen wir noch mal über die Reha.«

Erleichtert nickte Alayne. Sie wollte wieder zu Edith ins Zimmer zurückgehen, als der Arzt fortfuhr: »Übrigens, Mrs. Sanderson, vor ein paar Tagen waren zwei Herren von der Polizei hier und wollten Mrs. Gordon sprechen. Es ist doch hoffentlich nichts Schlimmes geschehen?«

Alayne verneinte mit einem grimmigen Gesichtsausdruck.

»Ich weiß, Doktor, sie waren inzwischen auch bei mir. Es geht um ein Haus, das früher im Besitz meiner Großmutter war, aber es hat nichts mit ihr zu tun. Ich werde sie fragen, ob sie sich kräftig genug für ein solches Gespräch fühlt.«

»Seien Sie aber bitte vorsichtig, Mrs. Sanderson, Ihre Großmutter darf sich unter keinen Umständen aufregen.«

Edith sah Alayne erwartungsvoll an, als sie ins Zimmer zurückkam.

»Na, hast du den Quacksalber überzeugt, dass ich heimgehen darf?«

Alayne lachte.

»Ganz so schnell geht es nicht. Du musst schon noch ein wenig Geduld haben.« Sie setzte sich auf die Bettkante, ergriff ihre Hand und sah ihr in die Augen. »Edith, da gibt es etwas, über das ich mit dir sprechen muss. Es geht um deinen früheren Pub, den Crown Inn.«

»Was ist damit?«

»Hast du gewusst, dass das Gebäude vor einigen Tagen abgerissen worden ist?« Alayne sah, wie sich Ediths Gesicht verschloss. Bildete sie es sich ein, dass für einen Moment Angst in ihren Augen aufflackerte? Edith schüttelte den Kopf, und Alayne fuhr fort: »Man hat dabei … nun, in den Trümmern wurde ein Skelett gefunden, das schon Jahrzehnte dort gelegen haben muss, darum war die Polizei bei mir. Sie würden in den nächsten Tagen gern mit dir sprechen, aber ich sagte ihnen bereits, dass du dazu nichts aussagen kannst.«

Ediths Augen weiteten sich, dann zog ein milchiger Schleier über die Pupillen, und sie stöhnte laut.

»Edith?«, rief Alayne und merkte, wie Ediths Hand und dann ihr ganzer Körper zu zittern begann. »Was ist mit dir?« Hektisch tastete Alayne nach der Klingel und drückte mehrmals auf den roten Knopf. Ediths Körper bäumte sich auf, sie röchelte, und ihre Lippen verfärbten sich blau. Alayne sprang auf, rannte auf den Flur und rief nach Hilfe, aber da kamen auch schon eine Schwester und der Arzt, mit dem sie eben gesprochen hatte, herbeigeeilt.

»Was ist geschehen?«

»Edith … Mrs. Gordon … etwas stimmt nicht mit ihr …«

Alayne wurde zur Seite gedrängt, die beiden beugten sich über das Krankenbett, und der Arzt prüfte Ediths Pupillen.

»Sofort zur Computertomographie!«

Die Schwester rannte zum Telefon, und nur wenige Minuten später erschienen ein weiterer Arzt und zwei Schwestern. Einer gab Edith eine Spritze, während das Bett den Gang entlanggerollt wurde. Alayne stand wie eine Zuschauerin daneben, unfähig, sich zu bewegen oder etwas zu tun. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis eine Schwester kam und Alayne mitleidig ansah.

»Es war ein zweiter Schlaganfall, Mrs. Gordon ist noch in der radiologischen Abteilung. Eventuell muss sie operiert werden.«

»Aber wie …? Warum …? Es ging ihr doch gut …«, stammelte Alayne. »Kann ich zu ihr?«

»Das ist unmöglich. Am besten warten Sie unten in der Cafeteria. Sobald ich etwas weiß, werde ich Sie informieren.«

Weil es ihr plötzlich übel wurde, ging Alayne auf die Toilette und benetzte ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Im Spiegel sah sie, dass sie wachsbleich war, auch zitterten ihre Hände. Was war geschehen? Edith schien auf dem Weg der Besserung gewesen zu sein, bis … ja, bis sie, Alayne, von dem Skelett im Crown Inn zu sprechen begonnen hatte. Sie schloss die Augen, lehnte sich an die kühlen Kacheln und versuchte, ruhig zu atmen. Sie trug die Schuld an Ediths Anfall! Es war zu früh gewesen, um ihr davon zu erzählen, sie hätte noch ein paar Tage warten müssen. Selbst für einen jüngeren, gesunden Menschen war es ein Schock, zu erfahren, dass in einem Haus, in dem man lange gelebt hatte, eine Leiche im Keller lag. Wie hatte sie nur so gedankenlos sein können, eine alte Frau, die gerade einen Schlaganfall überstanden hatte, mit einer solch schrecklichen Nachricht zu konfrontieren.

»Wenn Edith stirbt, bin ich schuld!«

Alayne sprach die Worte in den leeren Raum und erkannte mit aller Deutlichkeit, dass sie sich das niemals würde verzeihen können.

 

Sie wartete Stunde um Stunde. Die Zeiger der Uhr schienen stillzustehen, denn jedes Mal, wenn Alayne einen Blick darauf warf, waren nur wenige Minuten seit dem letzten Mal vergangen. Alayne war dem Rat der Schwester gefolgt und hatte sich in der Cafeteria einen großen Becher Cappuccino geholt. Obwohl sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte – und jetzt war es früher Nachmittag –, hatte sie keinen Hunger. Sie holte sich einen frischen Kaffee, dann einen weiteren und schließlich einen vierten Becher Kaffee. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und ging in die Station hinauf. Dort erhielt sie aber nur Auskunft, dass Edith gerade operiert wurde. Nach der Computertomographie war zur Sicherheit noch eine Kernspintomographie gemacht worden, und beide zeigten ein Blutgerinnsel im Gehirn, das nur operativ beseitigt werden konnte. Niemand brauchte Alayne zu sagen, was eine Operation für eine Frau in Ediths Alter bedeutete. Alayne verließ kurz das Krankenhausgebäude, um Michael anzurufen. Wie gewohnt erreichte sie nur die Mailbox, sicher hatte er gerade ein Kundengespräch. Kurz schilderte sie die Umstände und dass sie nicht wisse, wann sie nach Hause kommen würde. Bei Carren hatte sie mehr Glück. Die Tochter ging an ihr Handy.

»Soll ich kommen, Mama?« Deutlich war die Sorge in ihrer Stimme zu hören. Alayne war über ihren Vorschlag dankbar, lehnte aber ab.

»Du kannst nichts tun, wir müssen warten.«

Es war gegen sechs Uhr am Abend, als der Arzt Alayne zu sich in sein Sprechzimmer rufen ließ. Er sah besorgt aus und machte daraus auch keinen Hehl.

»Der zweite Schlaganfall war um einiges heftiger als der erste. Wir haben Mrs. Gordon operiert, das Blutgerinnsel entfernt und sie in ein künstliches Koma versetzt. Allerdings darf ich Ihnen nicht verschweigen, dass Teile des Gehirns unwiderruflich zerstört worden sind, außerdem muss ich so ehrlich sein und Ihnen sagen, dass die Chance, dass Mrs. Gordon noch einmal aufwacht, unter zwanzig Prozent liegt.«

Alayne schloss die Augen und atmete durch. Der Arzt schenkte ihr ein Glas Wasser ein, das sie durstig trank, bevor sie sagte: »Ich wollte das nicht, Doktor. Ich habe meiner Großmutter von der Polizei erzählt und dachte, sie wäre kräftig genug, um es zu ertragen. Warum habe ich das nur getan?«

Mitfühlend sah der Arzt sie an.

»Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen, Mrs. Sanderson. Ein zweiter Anfall hätte jederzeit auftreten können. Daher hatte ich ja die Rehamaßnahme vorgeschlagen. Ihre Großmutter ist alt …«

Den Rest des Satzes ließ er unausgesprochen, und Alayne verstand. Edith hatte ein langes Leben gehabt. Wahrscheinlich war es auch glücklich gewesen, zumindest hatte sie sich nie beklagt oder gejammert. Gut, ihr Mann – Alaynes Großvater – war im Krieg gefallen, und es hatte keinen neuen Mann für Edith gegeben. Aber sie hatte nie den Eindruck gemacht, dass sie eine zweite Ehe vermisste.

»Sie sollten jetzt nach Hause gehen und sich ausruhen.« Der Arzt unterbrach ihre Gedanken. »Wir melden uns, sobald sich der Zustand von Mrs. Gordon ändert – zum Positiven oder auch zum Negativen.«

»Darf ich morgen wiederkommen?«

»Selbstverständlich, kommen Sie, wann Sie möchten.«

 

Ziellos fuhr Alayne durch die Stadt. Sie mochte nicht nach Hause, wo sie sicher schon von Michael erwartet werden würde. Sie wollte seine Kommentare, dass es für Edith an der Zeit war, zu sterben, nicht hören. Instinktiv hatte sie ihren Wagen in die Straße gelenkt, in der sich Marilyns Geschäft befand. Obwohl es schon spät war, brannte noch Licht. Alayne parkte, ging zur Tür und schloss diese mit ihrem eigenen Schlüssel auf.

»Marilyn? Bist du noch hier?«

Aus dem hinter dem Verkaufsraum liegenden Büro trat eine große, schlanke Blondine. Sie sah Alayne erstaunt an.

»Was machst du hier? Du sehnst dich wohl nach Arbeit, was? Kein Problem, du kannst mir gerne helfen, ein paar verstaubte Dinge, die ich heute Nachmittag erhalten habe, zu putzen.« Marilyns unbekümmerte Art tat gut. Als Alayne näher kam und zu lächeln versuchte, rief Marilyn: »Du meine Güte, wie siehst du denn aus? Ist etwas passiert?«

Mit knappen Worten schilderte Alayne die Ereignisse des Tages. Marilyn drückte sie auf das breite Ledersofa im Büro und kochte eine Kanne Tee, während sie Alayne zuhörte.

»Ich würde jetzt gerne sagen: ›Mach dir keine Sorgen, sie wird es schaffen‹, aber wir wissen beide, dass das gelogen wäre. Aber du darfst dir keine Vorwürfe machen, es war nicht deine Schuld. Das hat der Arzt ja auch bestätigt.«

»Danke, Marilyn.« Seufzend strich sich Alayne eine Haarsträhne hinters Ohr. Plötzlich merkte sie, wie hungrig sie war. »Du hast nicht zufällig etwas zu essen hier?«

Marilyn zuckte bedauernd mit den Schultern.

»Ich kann aber kurz was beim Chinesen holen, ich selbst habe seit dem Mittag nichts mehr gegessen. Ente süßsauer für dich, wie immer?«

Alayne nickte und merkte, wie sie sich zu entspannen begann. Marilyn Preston war im Moment der einzige Mensch, mit dem sie sprechen wollte. Sie war darüber glücklich, dass sie und Marilyn eine so schöne Freundschaft verband, die weit über das Geschäftliche hinausging. Während Marilyn zum Chinese-takeaway ging, betrachtete Alayne das Geschirr, das sie heute Nachmittag erworben hatte. Mit einem Blick erkannte sie, dass es ausnahmslos aus dem neunzehnten Jahrhundert stammte, allerdings waren die meisten Teller angeschlagen, und bei zwei Tassen fehlten die Henkel. Es musste wohl lange auf einem Dachboden oder in einem Keller gelagert worden sein, denn die feinen, einst weißen Rillen am Rand waren grau vor Schmutz. Marilyn war gerade dabei gewesen, diese vorsichtig mit einem feinen Pinsel und einer speziellen Tinktur zu reinigen, als sie gekommen war. Eine Arbeit, die viel Geduld und Fingerspitzengefühl erforderte, aber Marilyn Preston verfügte über beides. Alayne wunderte sich manchmal, warum die Freundin unverheiratet war, und es gab auch seit Monaten keinen Freund in ihrem Leben. Im letzten Jahr war da mal ein Mann gewesen, aber nach ein paar Treffen hatte Marilyn seinen Namen nicht mehr erwähnt, und damals waren sie noch nicht so eng befreundet gewesen, als dass Alayne nachgefragt hätte. Marilyn Preston war eine sehr schöne Frau mit ebenmäßigen Gesichtszügen, einem makellosen Teint und blonden Locken, die ihr über die Schultern fielen. Meistens trug sie das Haar aber aufgesteckt.

»Es gibt Männer, die denken, sie hätten ein naives Dummchen, das von Antiquitäten und von geschäftlichen Dingen nichts versteht, vor sich, wenn ich mich entsprechend schminke, anziehe und die Haare offen trage.« Sie hatte verschmitzt gelächelt. »Sie merken aber schnell, dass sie sich getäuscht haben. Allerdings erst, wenn ich ein gutes Geschäft unter Dach und Fach gebracht habe.«

Marilyn kehrte zurück, und sie ließen sich das Essen schmecken. Danach holte Marilyn eine Flasche Wein aus dem Schrank und wies Alaynes Einwand, sie müsse noch fahren, mit dem Hinweis, sie könne sich auch ein Taxi rufen, zurück.

Nach dem zweiten Glas sagte Marilyn plötzlich ernst:

»Ich nehme mal an, du möchtest bei deiner Großmutter bleiben und nicht am Montag nach Lancaster fahren?«

Lancaster? Vor Schreck verschluckte sich Alayne beinahe. Das hatte sie ja völlig vergessen! In der nordenglischen Stadt wurde der Haushalt eines Herrensitzes aufgelöst, der versprach, alte und kostbare Stücke zu enthalten. In den letzten Monaten hatte Alayne ihren Kunstverstand bewiesen und mehrfach gezeigt, dass sie Möbel relativ genau der Zeit ihrer Entstehung zuordnen konnte, darum bat sie Marilyn häufig, solche Termine wahrzunehmen.

»Daran habe ich gar nicht mehr gedacht.« Verlegen schaute Alayne ihre Chefin an.

Marilyn legte ihre Hand auf Alaynes Arm.

»Ich verstehe, dass du jetzt in der Nähe bleiben möchtest. Man weiß ja nie … Ich fahre gerne, wenn du dann hier im Geschäft sein könntest?« Alayne nickte erleichtert, und Marilyn lächelte versonnen. »Vielleicht sollte ich einen Tag früher hoch nach Lancaster fahren, mir ein kleines, hübsches Hotel suchen und einfach mal die Seele baumeln lassen.«

»Das täte dir gut, Marilyn. In den letzten Monaten hast du zu viel gearbeitet, meistens sogar auch noch am Wochenende.«

Marilyn nickte, und so war es abgemacht, dass sie zu der Haushaltsauflösung im Norden fahren und Alayne derweil im Laden bleiben würde, wo sie binnen weniger Minuten im Krankenhaus sein konnte, wenn es nötig werden würde.

 

Dieses Mal ging es Michael nahe, als Alayne von Ediths neuem Anfall berichtete.

»Sie wird doch überleben, oder?« Besorgt sah er Alayne an, doch diese konnte nur mit den Schultern zucken.

»Es ist zwar eine unerträgliche Vorstellung für mich, Edith zu verlieren, aber irgendwann müssen wir alle sterben. Und Edith ist in einem Alter …«

Den Rest ließ sie unausgesprochen und schmiegte sich dankbar in Michaels Arme.

Wie lange war es her, seit sie sich so nahe gewesen waren? Meistens bestanden ihre Zärtlichkeiten nur noch aus einem flüchtigen Kuss am Morgen, bevor er zur Arbeit fuhr. Abends kam er oft so spät nach Hause, dass Alayne bereits schlief. Sollte Ediths Krankheit dazu führen, dass sie und Michael einander wieder näherkamen, dann hätte sie wenigstens ein wenig Positives.

»Ich muss am Montag nicht nach Lancaster fahren.« Alayne löste sich aus einer Umarmung. »Marilyn fährt. Sie versteht, dass ich lieber in Ediths Nähe bleiben möchte.«

»Lancaster?« Grübelnd zog Michael die Stirn kraus. »Warum wolltest du nach Lancaster?«

Alayne seufzte innerlich, der Moment der Nähe verflog. Bereits vor drei Wochen hatte sie Michael erzählt, dass sie zu einer Haushaltsauflösung wollte und wahrscheinlich über Nacht bleiben müsse, aber er hatte ihr wieder einmal nicht zugehört. Eigentlich interessierte er sich überhaupt nicht für ihre Arbeit. Alayne hatte sich zwar daran gewöhnt, trotzdem tat es weh, dass er kaum an ihrem Leben teilnahm. Sie erklärte mit einem Satz, worum es ging, dann sagte Michael zusammenhangslos: »Ich werde am Wochenende verreisen müssen. Rauf nach Stoke-on-Trent.«

»Übers Wochenende?« Alayne war überrascht. Die Stadt lag nicht so weit von Cheltenham entfernt, dass Michael über Nacht bleiben musste.

»Das Büro hat einen Besitz mit einem alten Farmhaus und viel Land zum Verkauf bekommen«, erklärte Michael. »Nach dem Tod des früheren Eigentümers ging alles an eine Erbengemeinschaft. Diese Leute leben aber in ganz England verstreut und arbeiten, so dass sie nur am Wochenende Zeit haben. Aus diesem Grund hat Ben die Besichtigungstermine auf Samstag und Sonntag gelegt.«

Enttäuscht wandte sich Alayne ab, füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein. Sie brauchte jetzt eine starke Tasse Kaffee. Es kam häufig vor, dass Michael am Wochenende Termine wahrnahm, nur gerade jetzt wäre es ihr lieber gewesen, wenn er bei ihr geblieben wäre. Es bestand die Gefahr, dass Edith jeden Tag starb. Obwohl Alayne eine starke Frau war, gab es auch für sie Situationen, wo sie sich gerne an die starke Schulter eines Mannes anlehnte.

Alayne fuhr täglich ins Krankenhaus und saß an Ediths Bett, deren Zustand sich nicht verbesserte, aber auch nicht verschlechterte. Das nahm Alayne als gutes Zeichen. Stundenlang hielt sie die schmale Hand und erzählte Edith belanglose Sachen. Sie war überzeugt, dass komatöse Menschen die Stimmen der Anwesenden wahrnehmen konnten.

Michael kam am Sonntagabend zurück. Offenbar war der Termin erfolgreich verlaufen, denn er war ausgesprochen gut gelaunt. Auch die Haushaltsauflösung in Lancaster war gut verlaufen, und drei Tage später trafen verschiedene Boxen, Kartons und diverse Möbelstücke, die Marilyn erworben hatte, im Geschäft ein. Alayne half, die Sachen auszupacken und zu katalogisieren. Es war nichts Spektakuläres darunter, nichts, was wirklich wertvoll war, aber viele kleine Dinge, wie zum Beispiel Puder- und Pillendosen, Frisierbestecke und Nippes aus dem neunzehnten Jahrhundert. Waren, die von Marilyns Kundschaft gerne gekauft wurden.

Als Alayne Marilyn half, ein sperriges Chaiselongue in den hinteren Raum, in dem die Möbel standen, zu tragen, blieb sie mit dem Ellenbogen an Marilyns Handtasche hängen. Diese fiel zu Boden, öffnete sich, und das Schminktäschchen, ein Feuerzeug, ihr Handy, zwei Kugelschreiber und ein Prospekt fielen heraus.

»Oh, das tut mir leid!« Alayne setzte das Sofa ab und bückte sich, um die Sachen wieder aufzusammeln. Marilyn tat es ihr gleich, aber da hatte Alayne bereits das farbige Faltblatt in der Hand und las:

Romantic Castle Hotel, Lancaster

Alayne pfiff anerkennend, als sie die Fotos der mittelalterlichen Burganlagen und der Zimmer mit Himmelbetten anschaute. Und sie erkannte die fünf goldenen Sterne unter der Rubrik Kategorie.

»Das sieht aber nicht nach einer kleinen, günstigen Pension aus«, sagte sie und schmunzelte.

Marilyn schoss das Blut in die Wangen. Beinahe grob entriss sie Alayne den Prospekt.

»Man darf sich ja wohl mal ein schönes Hotel ansehen, oder?«, sagte sie harsch und steckte das Faltblatt hektisch in ihre Hosentasche.

Überrascht wich Alayne zurück. Auf Marilyns Stirn hatte sich eine Falte gebildet, und sie wich ihrem Blick aus. Alayne vermutete, dass die Freundin mit einem Mann in Lancaster gewesen war, und sie gönnte ihr eine neue Liebe von Herzen. Darum hakte sie auch nicht weiter nach. Wenn Marilyn etwas erzählen wollte, dann würde sie das früher oder später tun. Vorausgesetzt, es handelte sich um eine ernsthafte Beziehung. Sollte das nicht der Fall sein, verstand Alayne, wenn sie nicht darüber sprechen wollte. Den Rest des Tages blieb Marilyn ungewöhnlich schweigsam, und Alayne erledigte ihre Arbeit. Erst als sie die Jacke anzog und sich zum Gehen wandte, sah Marilyn sie entschuldigend an.

»Verzeih, dass ich vorhin so barsch war, das wollte ich nicht. Ich wünsche dir für morgen alles Gute!«

Alayne stutzte. Woher wusste Marilyn, dass Carren und Bradley morgen abfliegen würden? Sie konnte sich nicht erinnern, der Freundin den Tag genannt zu haben.

»Ich danke dir«, sagte sie und nickte ihr freundlich zu. »Manchmal beneide ich dich, weil du keine Kinder hast. Da bleibt dir ein solcher Abschied erspart.«

Marilyn lächelte, aber Alayne meinte, einen gequälten Ausdruck in ihren Augen zu sehen. Im Augenblick konnte sie sich aber nicht mit Marilyn und ihren eventuellen Problemen beschäftigen. Ediths Krankheit und die Trennung von Carren – das war genug Belastung.

 

Carren hatte darauf bestanden, einen Mietwagen nach Heathrow zu nehmen, obwohl Alayne angeboten hatte, sie und Bradley zu fahren.

»Mama, wenn ich etwas nicht mag, so sind das Abschiedsszenen und Tränen am Flughafen.« Ihr Lachen klang nicht so unbekümmert, wie sie Alayne glauben machen wollte. »Lass uns hier Good-bye sagen, und im Sommer kommen du und Paps nach Kalifornien, nicht wahr?«

Alayne unterdrückte die Tränen. Auf keinen Fall wollte sie wie eine heulende Glucke an der Tür stehen und ihrer Tochter tränenüberströmt nachwinken.

»Wenn Michael Urlaub bekommt, werden wir euch ganz bestimmt besuchen.«

Carren öffnete die Haustür in dem Moment, als Bradley vorfuhr. Bei der Verabschiedung drückte Alayne Bradley fest die Hand und verkniff sich die Worte: »Pass gut auf mein Mädchen auf!« Carren drückte sie nur kurz an sich, dann ging sie ins Haus, schloss die Tür und schaute nicht zurück. Jetzt aber ließ sie ihren Tränen freien Lauf, denn es sah sie ja niemand. Von Michael, der unmöglich freinehmen konnte, hatte sich Carren bereits am Morgen verabschiedet. Alayne wusste, nun begann in ihrem Leben ein neuer Abschnitt. Wie anders sich dieser jedoch gestalten sollte, konnte sie in diesem Moment nicht ahnen.

Zwanzig Stunden später schickte Carren erst eine SMS, dass der Flug gut verlaufen wäre, und später rief sie an, um euphorisch zu berichten, welch herrliches und warmes Wetter in Los Angeles herrschte und wie nett sie von Bradleys Familie aufgenommen worden war. Alayne freute sich mit ihrer Tochter. Sie hatte gerade wieder aufgelegt, als das Telefon erneut klingelte. Es war Michael.

»Alayne, hast du meinen petrolblauen Anzug in die Reinigung gebracht? Mir ist beim Essen etwas Soße auf das Jackett getropft.«

Alayne schüttelte den Kopf, erinnerte sich dann aber daran, dass Michael die Geste nicht sehen konnte.

»Ich wusste nicht, dass der Anzug verschmutzt ist.«

»Ich hatte dich doch vor vier Tagen ausdrücklich darum gebeten!« Michaels Stimme klang genervt. »Du weißt, es ist mein bester Anzug. Übermorgen habe ich ein wichtiges Geschäftsessen, dazu wollte ich ihn tragen.«

Alayne unterdrückte ihren aufsteigenden Ärger. Es mochte wohl stimmen, dass Michael sie gebeten hatte, den Anzug in die Reinigung zu bringen, aber in den letzten Tagen war so viel geschehen, da hätte sie sich von ihrem Mann etwas mehr Verständnis gewünscht.

»Ich bringe ihn sofort in die Expressreinigung, dann ist er morgen Abend fertig.« Alaynes Stimme klang ruhig, aber ein wenig gepresst.

»Gut, mach das.« Ohne ein Wort des Abschieds legte er auf.

Seufzend ging Alayne ins Schlafzimmer, in dem Michael den Anzug achtlos über eine Stuhllehne gehängt hatte. Auf und neben dem Revers prangten zwei fettige, dunkle Flecke. Alayne warf die Jacke auf das Bett, um sie zusammenzufalten und in eine Tüte zu stecken, als in der Innentasche etwas knisterte. Es war nicht Alaynes Art, in den Taschen ihres Mannes herumzusuchen, aber nun musste sie es tun, um nicht ein vielleicht wichtiges Geschäftsschreiben mit in die Reinigung zu geben. Als sie nun den Bogen aus der Tasche nahm und ihn entfaltete, geschah das, was sonst nur in kitschigen Filmen passierte, aber es war bittere Realität.

Romantic Castle Hotel, Lancaster

Alayne erkannte den Schriftzug, der gleiche wie auf Marilyns Prospekt. In ihren Händen hielt sie eine Rechnung für das letzte Wochenende, als Marilyn in Lancaster und Michael in Stoke-on-Trent war. An dem Michael angeblich in Stoke-on-Trent gewesen war – das Blatt Papier in ihren Händen zeigte Alayne die Wahrheit. Ausgestellt war die Rechnung auf Mrs. und Mr. Sanderson, und sie – Alayne – war zweifelsohne nicht in Lancaster gewesen. Der Preis des Zimmers war schwindelerregend, aber das nahm Alayne nur am Rande wahr. Sie war völlig ruhig und überlegte, warum sie jetzt weder weinen noch schreien konnte und wollte. Weil es sie vielleicht nicht überraschte? Weil sie vielleicht schon länger geahnt hatte, dass es in Michaels Leben eine andere Frau gab? Die vielen Überstunden und Termine an Wochenenden hätten sie stutzig machen sollen, aber sie hatte Michael vertraut.

Vertrauen … Das Wort hämmerte hinter ihren Schläfen. Sie hatte auch Marilyn vertraut. Der Frau, die ihre Freundin und gleichzeitig die Geliebte ihres Mannes war. Jetzt verstand sie Marilyns Erschrecken, als sie den Prospekt gesehen hatte, verstand, warum sie in den letzten Wochen nicht mehr nach Ladenschluss zusammen etwas trinken gegangen waren, was sie am Anfang ihrer Freundschaft ein- oder zweimal in der Woche getan hatten.

Äußerlich immer noch ruhig, ging Alayne in Michaels Arbeitszimmer, schaltete den Computer an und – als das Programm gestartet war – tippte ein paar Zeilen. Sie druckte sie aus, setzte ihre Unterschrift darunter, faltete den Bogen und steckte ihn in ein Kuvert. Dann zog sie sich eine Jacke über, nahm die Autoschlüssel und fuhr auf direktem Weg zu Marilyns Geschäft. Das goldene Glockenspiel bimmelte, als sie die Tür aufstieß. Marilyn sah sie erstaunt an.