Winterrosenzeit - Ricarda Martin - E-Book

Winterrosenzeit E-Book

Ricarda Martin

4,6
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die große Liebe überwindet alles - auch die Schrecken der Vergangenheit. Ein bewegender Liebesroman vor der Kulisse des Nachkriegs-England - für alle Fans von »Honigtot« von Hanni Münzer! Süddeutschland 1965: Wochenlang hat Hans-Peter gearbeitet, um das Geld für seinen großen Traum zu verdienen: Einmal zu einem Konzert der Beatles nach England, nach london zu reisen und seine Idole live auf der Bühne zu erleben! Im Seebad Blackpool erlebt er einen grandiosen Auftritt der Gruppe - und lernt die hübsche Ginny kennen. Zwischen Hans-Peter und Ginny funkt es sofort. Hans-Peter zieht mit der Gruppe nach London, weilt als Gast bei einem von Ginnys Freunden und lernt das Swinging London der sechziger Jahre kennen. Alles ist viel lockerer und freier als in Deutschland, und so verliebt er sich nicht nur in Ginny, sondern auch in das Land. Ginnys Vater ist Deutscher, der während der Nazizeit als politischer Häftling inhaftiert war und Deutschland 1945 verlassen hat. Sie selbst hegt keinen Groll gegen die früheren Feinde, beide ahnen jedoch, dass Ginnys Familie einer Beziehung zu einem Deutschen ablehnend gegenüberstehen wird. Wieder in Deutschland, beginnt Hans-Peter Nachforschungen nach seinem eigenen leiblichen Vater anzustellen, den er nie kennengelernt hat – und macht eine furchtbare Entdeckung. Wird seine Liebe zu Ginny jemals eine Chance haben? Nach dem Bestseller »Ein Sommer in Irland« der neue Bestseller von Ricarda Martin! feelings-Skala (1=wenig, 3=viel): Gefühlvoll: 3, Spannend: 1, Erotisch: 1 »Winterrosenzeit« ist ein eBook von feelings*emotional eBooks.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 571

Bewertungen
4,6 (10 Bewertungen)
7
2
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ricarda Martin

Winterrosenzeit

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Die große Liebe überwindet alles − auch die Schrecken der Vergangenheit. Ein bewegender Liebesroman vor der Kulisse des Nachkriegseuropas.

Süddeutschland 1965: Wochenlang hat Hans-Peter gearbeitet, um das Geld für seinen großen Traum zu verdienen: Einmal zu einem Konzert der Beatles nach England zu reisen und seine Idole live auf der Bühne zu erleben! Im Seebad Blackpool erlebt er einen grandiosen Auftritt der Gruppe − und lernt die hübsche Ginny kennen. Zwischen Hans-Peter und Ginny funkt es sofort. Hans-Peter zieht mit der Gruppe nach London, weilt als Gast bei einem von Ginnys Freunden und lernt das Swinging London der sechziger Jahre kennen. Alles ist viel lockerer und freier als in Deutschland, und so verliebt er sich nicht nur in Ginny, sondern auch in das Land.

Ginnys Vater ist Deutscher, der während der Nazizeit als politischer Häftling inhaftiert war und Deutschland 1945 verlassen hat. Sie selbst hegt keinen Groll gegen die früheren Feinde, beide ahnen jedoch, dass Ginnys Familie einer Beziehung zu einem Deutschen ablehnend gegenüberstehen wird.

Wieder in Deutschland, beginnt Hans-Peter, Nachforschungen nach seinem eigenen leiblichen Vater anzustellen, den er nie kennengelernt hat – und macht eine furchtbare Entdeckung.

Wird seine Liebe zu Ginny jemals eine Chance haben?

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. KapitelNachwortEin romantischer Familiengeheimnisroman vor der grandiosen Kulisse Irlands mit viel Sommerfeeling!
[home]

1

Kirchheim unter Teck, Deutschland, Juli 1965

Schwer drückte der Zementsack auf seine Schultern. Hans-Peter glaubte, mindestens zwei Zentner zu schleppen, dabei wog der Sack lediglich um die fünfundzwanzig Kilogramm. Wenn er diesen Sack abgeladen hatte, dann folgte der nächste und der nächste und der nächste … Ein Ende war so schnell nicht abzusehen. Da er sich diese Plackerei aber selbst ausgesucht hatte, biss er die Zähne zusammen und stapelte ordentlich die schwere Fracht in einem Raum des Rohbaus.

Eine kräftige, mit Schwielen übersäte Hand legte sich auf seine Schulter.

»Schluss für heute, Junge.«

Mit dem Handrücken wischte sich Hans-Peter den Schweiß von der Stirn. »Jetzt schon? Es sind noch drei Stunden bis zum Feierabend, Capo.«

»Wir machen heute früher Schluss. Schließlich ist Wochenende, und wir haben die letzten Wochen geschuftet wie die Ackergäule.« Der Blick des Poliers Gerhard Wallner – ein großer Mann mit einem Oberkörper wie ein Kleiderschrank – glitt wohlwollend über Hans-Peter. »Heute ist ohnehin dein letzter Tag. Du hast dir einen frühen Feierabend mehr als verdient.«

»Danke, Herr Wallner.«

Der Polier grinste und zwinkerte Hans-Peter zu.

»Ich gebe zu, vor vier Wochen war ich nicht nur skeptisch, sondern richtiggehend unwillig, dich bei uns auf dem Bau zu beschäftigen. Ein Studierter, der ständig über den Büchern hockt und nur eingestellt wird, weil sein bester Freund das Jüngelchen vom Boss ist. Ich glaubte, du hältst keine zwei Tage durch und willst eine Extrawurst gebraten haben.«

»Na ja, wenn ich behaupten würde, die Arbeit wäre einfach, müsste ich lügen.«

Hans-Peter grinste und betrachtete seine Hände mit der roten, rissigen Haut und den abgebrochenen Fingernägeln, unter denen Dreck klebte. Die ersten Tage auf dem Bau hatte er sich vor Schmerzen tatsächlich kaum bewegen können und war kurz davor gewesen, alles hinzuschmeißen. Nie zuvor in seinem Leben hatte er körperlich derart hart gearbeitet. Er verfolgte jedoch ein Ziel, daher biss er die Zähne zusammen trotz des Muskelkaters in Bereichen seines Körpers, von denen er zuvor nicht gewusst hatte, dass er dort überhaupt Muskeln besaß. Die teilweise bissigen Kommentare der Kollegen, die ihn ständig aufzogen, er als Student hätte keine Ahnung, was es bedeutet, zu arbeiten, ignorierte er und bewies ihnen das Gegenteil. Sechs Tage die Woche von frühmorgens bis zum Einbruch der Dunkelheit, bei sengender Hitze und bei strömendem Regen, schleppte er Zementsäcke, Ziegelsteine, Holzlatten, bediente die Mischmaschine und schaufelte so viel Sand, dass er das Gefühl hatte, die halbe Sahara umzugraben. Seine Muskeln stählten sich, sein Gesicht, der Oberkörper und die Arme nahmen eine tiefbraune Farbe an, und bald fühlte er sich körperlich so gut wie nie zuvor. Hans-Peter hatte sich bewusst für die Arbeit auf dem Bau entschieden, denn bei keiner anderen Tätigkeit hätte er in vier Wochen so viel verdient. Es war ein Glücksfall, dass der Vater eines Kommilitonen der Inhaber dieser gutgehenden Baufirma in Kirchheim war. Klaus Unterseher war zugleich Hans-Peters bester Freund und sein Mitbewohner im Studentenwohnheim in Tübingen, in dem sie sich ein Zimmer teilten.

»Wenn du von der trockenen Juristerei die Nase voll hast«, sagte der Polier Wallner, »kannst du jederzeit bei uns anfangen. Männer wie dich können wir immer gebrauchen.«

»Danke, Capo, aber ich möchte doch lieber Rechtsanwalt werden. Die Zeit hier wird mir jedoch in guter Erinnerung bleiben, und vielleicht arbeite ich im nächsten Jahr wieder bei euch.«

Wallner fragte: »Warum hörst du eigentlich heute schon auf, so mitten im Sommer? Es sind doch gerade Semesterferien, und bis zum Herbst könntest du dir noch ein hübsches Sümmchen verdienen.«

Hans-Peter antwortete lachend: »Nächste Woche werde ich verreisen, dafür brauche ich das Geld.«

»Ich verstehe.« Der Polier nickte. »Wo soll’s denn hingehen? Italien? Spanien? Zu gern würde ich mir auch mal die südliche Sonne auf den Bauch scheinen lassen, aber im Sommer Urlaub zu bekommen ist bei unserer Arbeit leider nicht drin.«

»Ich werde nach England fahren.«

»Nach England?« Hätte Hans-Peter gesagt, er wolle zum Mond aufbrechen, hätte Wallner nicht irritierter reagieren können. »Was willst du ausgerechnet in England? Es heißt, dort regnet es immer, das Essen sei ungenießbar und das Bier lauwarm und abgestanden.«

Hans-Peter zuckte mit den Schultern.

»Das habe ich auch gehört, aber das sind nur Klischees. Ich will mir lieber selbst ein Bild machen.«

»Wie willst du dich verständigen?« Wallner war immer noch skeptisch. »Ich glaube, auf der Insel spricht kaum jemand unsere Sprache.«

»Ich habe bis zum Abitur Englisch gehabt«, erklärte Hans-Peter, verschwieg aber, dass er in den letzten Monaten in jeder freien Minute die Sprache gepaukt hatte, um für seine Reise gut vorbereitet zu sein.

Aus einem Regal im Schuppen nahm Wallner zwei Flaschen Bier. Mit einem Plopp schnappte der Bügelverschluss auf, und Wallner reichte Hans-Peter eine Flasche.

»Na, dann genieß noch mal ein gutes Bierchen, damit du weißt, was du bei den Tommys vermissen wirst! Prost!«

Obwohl der Krieg seit zwanzig Jahren vorbei war, verwendeten nahezu alle Älteren noch immer diesen Ausdruck für die Einwohner Großbritanniens.

Die Flaschen stießen aneinander, und Hans-Peter nahm einen langen Schluck. Dass dieses Bier warm war, ließ er unkommentiert, denn auf der Baustelle gab es keinen Kühlschrank.

»Willste mir nicht verraten, was dich zu den Tommys führt?«, fragte Wallner gespannt. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was ein junger Bursche wie du in England zu suchen hat.«

»Kennen Sie die Beatles?«

»Nein, was soll das sein?«

»Eine Beatgruppe aus England«, erklärte Hans-Peter, der mit Wallners Antwort gerechnet hatte. Kaum jemand, der über vierzig Jahre alt war, interessierte sich für moderne Beatmusik. »Ich will zu einem Konzert dieser Gruppe. In England sind die Beatles bereits große Stars, aber hier werden sie auch immer bekannter. Immerhin ist diese Gruppe in Hamburg aufgetreten und hatte dort ihre ersten großen Erfolge.«

Abwehrend hob Wallner die Hände.

»Lass mich bloß mit diesem ausländischen Gedöns in Ruhe. Diese Hottentottenmusik ist nichts für mich, außerdem ist das nur eine Phase, die bald wieder vorbei sein wird. Na ja, auf jeden Fall wünsche ich dir eine gute Reise. Noch ein Bier?«

Hans-Peter schüttelte den Kopf.

»Wenn’s Ihnen recht ist, Capo, fahr ich gleich nach Hause.«

»Hol dir deinen Lohn im Büro ab«, sagte Gerhard Wallner und drückte Hans-Peters Hand so fest, dass dieser befürchtete, jeder einzelne Knochen würde brechen. »Ich wünschte, der Sohn vom Boss würde so ranklotzen wie du. Der hat sich hier aber noch nie blicken lassen, geschweige denn mal mit angepackt.«

»Klaus ist in Ordnung«, verteidigte Hans-Peter den Freund. »Ihm liegt eben mehr die geistige als die körperliche Arbeit.«

Die beiden Männer lachten, dann schwang sich Hans-Peter auf sein Mokick. Die Baustelle lag im sogenannten Paradiesle, einer beliebten Gegend der Stadt Kirchheim, in der in den letzten Jahren zahlreiche Ein- und Zweifamilienhäuser entstanden waren. Früher hatten die Kirchheimer auf dem ebenen Gelände vor den Toren der Stadt Obst- und Gemüsegärten angelegt, da innerhalb der Stadtmauern nicht genügend Platz war. Der Boden war fruchtbar, die Sonne schien ungehindert den ganzen Tag, und bei starkem Regen waren keine Überschwemmungen zu befürchten, da der Fluss Lauter weit genug entfernt lag. So erhielt die Gegend den Namen Paradiesle und entwickelte sich in den letzten Jahren zu einem beliebten Wohngebiet.

Zum Büro der Baufirma musste Hans-Peter die Stadt in Richtung Jesingen durchqueren. Stolz nahm er die prall gefüllte Lohntüte entgegen und verstaute sie sorgsam in der Innentasche seiner Jacke. Die Knochenarbeit hatte sich gelohnt, und in drei Tagen würde er auf dem Weg nach England sein. Allerdings hatte er, um arbeiten zu können, an der Uni zahlreiche Vorlesungen versäumt und war von seinem Freund Klaus notdürftig auf dem Laufenden gehalten worden. Da das Beatles-Konzert bereits Anfang August stattfand, hatte Hans-Peter mit dem Geldverdienen nicht auf die Semesterferien warten können. Da er aber leicht und gern lernte, würde er das Pensum spielend nachholen. Klaus Unterseher, der Sohn des Bauunternehmers, studierte ebenfalls Jura. Sie hatten sich in Tübingen kennengelernt und waren im selben Semester. Im Gegensatz zu Hans-Peter, der sich gern an der frischen Luft aufhielt – es musste ja nicht unbedingt beim Schleppen von Zementsäcken sein –, war Klaus Unterseher ein richtiger Stubenhocker. Am wohlsten fühlte er sich mit seinen dicken Gesetzesbüchern, sehr zum Leidwesen seines Vaters. Glücklicherweise hatte Klaus einen jüngeren Bruder, der mehr Interesse für das Familienunternehmen zeigte und die Firma eines Tages übernehmen wollte. Dass man es seinen Vätern nicht recht machen konnte, kannte Hans-Peter aus eigener leidvoller Erfahrung.

»Warum bittest du deinen Vater nicht einfach um das Geld für die Reise?«, hatte Klaus ihn gefragt, als Hans-Peter ihn bat, ihm eine Arbeit auf dem Bau zu besorgen. »Oder du arbeitest in der Sägemühle, da gibt es doch auch genügend zu tun.«

Hans-Peter hatte ausweichend geantwortet. Klaus wusste zwar, dass Hans-Peter und sein Vater kein sehr gutes Verhältnis zueinander hatten, dass Wilhelm Kleinschmidt nicht Hans-Peters leiblicher Vater war, ahnte der Freund jedoch nicht. Das war eine Sache, über die Hans-Peter nicht sprechen wollte, nicht einmal mit seinem besten Freund.

Erst im Alter von zwölf Jahren hatte Hans-Peter erfahren, dass er von Kleinschmidt adoptiert worden war. Unfreiwillig war er im Nebenzimmer Zeuge eines Streits zwischen Kleinschmidt und seiner Mutter geworden.

»Warum bist du nicht in der Lage, mir einen Sohn zu gebären?«, hatte Kleinschmidt seine Frau Hildegard gefragt. »Wir sind jetzt seit zehn Jahren verheiratet. Wie lange soll ich denn noch warten?«

»Vielleicht liegt es ja an dir …«

»Auf keinen Fall!«, hatte Kleinschmidt heftig widersprochen. »Du musst dich mehr anstrengen! Die Sägemühle hat mein Ururgroßvater aufgebaut, und ich will einen Nachfolger, durch dessen Adern mein Blut fließt. Ich habe deinen Sohn zwar adoptiert, er entwickelt sich aber zu einer Niete. Hockt den ganzen Tag über irgendwelchen Büchern, anstatt mit anzupacken. Alt genug wäre er. Als ich zwölf war, habe ich jeden Tag nach der Schule meinem Vater in der Mühle geholfen.«

»Hansi ist noch in der Entwicklung«, hatte Hildegard leise geantwortet. So leise, wie sie immer mit ihrem Mann sprach, wenn er sie mit Vorwürfen überschüttete.

»Ach was, er ist ein verzärteltes Jüngelchen, die Sägemühle braucht aber einen kräftigen Kerl, der anzupacken weiß.«

Erst drei Tage später hatte es Hans-Peter gewagt, seine Mutter auf das Gespräch anzusprechen.

»Wann hättest du mir gesagt, dass er nicht mein Vater ist?«, fragte er. »Wo ist mein richtiger Vater?«

Als wäre er ein kleiner Junge, hatte Hildegard Kleinschmidt ihn in den Arm genommen und über sein Haar gestreichelt. Leise, mit einer Traurigkeit in der Stimme, die Hans-Peter nie zuvor bei ihr gehört hatte, sagte sie: »Dein Vater ist im Krieg geblieben, und Wilhelm ist gut zu uns. Er meint es nicht böse, aber jeder Mann wünscht sich eben einen eigenen Sohn.«

Nach dieser Erklärung verstand Hans-Peter, warum er und der Mann, den er immer für seinen Vater gehalten hatte, nichts gemeinsam hatten. Nicht nur äußerlich. Wilhelm Kleinschmidt war an die zwei Meter groß, hatte eine bullige Statur und einen ausgeprägten Stiernacken. Sein Gesicht war stets gerötet, die Stimme laut und dröhnend. Hans-Peter war zwar auch groß, aber mager und schlaksig, und in der Regel sprach er ruhig und besonnen. Stockend und mit Tränen in den Augen, hatte Hildegard ihrem Sohn von dem großen Krieg erzählt und dass alle ihre Verwandten − ebenso wie die Angehörigen von Hans-Peters Vater − im Bombenhagel der Alliierten ums Leben gekommen waren.

»Im Februar 1945 wurde unser Haus vollständig zerstört. Ich konnte nur dich und das, was wir am Leib trugen, retten. Wir haben alles verloren, und es sprach einiges dafür, dass mein Mann gefallen war. Die einzige Angehörige, die wir noch hatten, war im Schwäbischen meine Großcousine Doris. Mir blieb keine andere Wahl, als Hamburg zu verlassen und in den Süden zu gehen. Doris war bereit, uns aufzunehmen, obwohl sie selbst nichts besaß.«

So war Hildegard nach Großwellingen gekommen, in eine Gemeinde mit knapp dreitausend Einwohnern. Die Städte und Dörfer auf der Schwäbischen Alb waren von Bombenangriffen und Zerstörungen zwar verschont geblieben, aber wie überall im Land herrschte auch hier große Armut und Mangel an Lebensmitteln. Tante Doris’ Mann war ebenfalls im Krieg geblieben, Kinder hatte sie keine. In ihrem Garten zog sie Kartoffeln, Gemüse und Obst, teilte das wenige bereitwillig mit Hildegard und deren kleinem Sohn. Und so kamen sie einigermaßen über die Runden.

Die Einwohner hatten sich Hildegard gegenüber zuerst ablehnend verhalten. »Die Städterin aus dem Norden«, wurde hinter ihrem Rücken getuschelt, so dass die erste Zeit für Hildegard sehr schwer gewesen war. Sie verstand kaum den regionalen Dialekt, der in ihren Ohren mit der deutschen Sprache wenig zu tun hatte, und auch sonst war alles anders als in Hamburg. Aber sie und Hans-Peter hatten ein Dach über dem Kopf und mussten keinen Hunger leiden. Das war so viel mehr als bei Millionen anderen Deutschen in jener Zeit.

Bald hatte Hildegard den vermögenden Sägemühlenbesitzer und Bürgermeister Wilhelm Kleinschmidt kennengelernt und ihn sehr schnell geheiratet. Als Frau des Bürgermeisters wurde sie von einem Tag auf den anderen akzeptiert, zumal die Mühle Dutzenden von Familien Arbeit gab. Da Wilhelm Kleinschmidt die aus dem Norden geehelicht hatte, musste die Frau in Ordnung sein, denn in Großwellingen galt Kleinschmidts Wort wie ein Gesetz. Vom Frontdienst in der Wehrmacht war er zurückgestellt worden, weil es unabdingbar gewesen war, die Sägemühle am Laufen zu halten. Dienst an der Heimatfront hatte das geheißen. Die über der Mühle flatternde Hakenkreuzfahne, die im Mai 1945 eilends eingeholt und verbrannt worden war, hatte für Kleinschmidt keine Konsequenzen gehabt, denn auch das neue Deutschland brauchte Holz für den Wiederaufbau. So hatte Wilhelm Kleinschmidt aus der Nachkriegszeit Kapital geschlagen und war vermögend geworden.

Die Ehe mit Kleinschmidt war für Hans-Peters Mutter ein Glücksfall gewesen. Allerdings hatten alle, auch Tante Doris, Hans-Peter verschwiegen, dass er nicht Kleinschmidts leiblicher Sohn war. Hildegard war der Ansicht, dies wäre besser für Hansi, wie sie ihn auch als Erwachsenen immer noch nannte. Sie waren jetzt eine Familie, und die Vergangenheit hatte keine Bedeutung mehr. Nach vorn schauen, das war die Devise aller Deutschen, die den Krieg überlebt hatten.

Doch seit Hans-Peter die Wahrheit kannte, nannte er diesen Mann in Gedanken nur noch beim Nachnamen. Am liebsten hätte er ihn auch so angesprochen, Kleinschmidt aber bestand darauf, von Hans-Peter Vater genannt zu werden, obwohl sich ihr Verhältnis zueinander zunehmend verschlechterte, als Hans-Peter in die Pubertät kam.

»Auch wenn deine und meine Ansichten so weit auseinandergehen, wie die Sonne von der Erde entfernt ist«, hatte Kleinschmidt gesagt, »wirst du es nicht wagen, mich vor den Leuten zu blamieren. Es reicht, dass du mit deinen zotteligen Haaren und diesen furchtbaren Hosen wie ein Gammler daherkommst. Alle zerreißen sich schon ihre Mäuler über dich.«

Ein weiterer Schlag für Kleinschmidt war es, dass Hans-Peter nach dem Abitur den Wehrdienst verweigerte und als Rettungshelfer beim Deutschen Roten Kreuz in Kirchheim arbeitete.

»Ich lasse mich nicht ausbilden, um andere Menschen zu töten!«, hatte Hans-Peter gesagt. »Deswegen möchte ich Anwalt werden, um der Gerechtigkeit mit friedlichen Mitteln zu dienen.«

Obwohl Kleinschmidt selbst nie eine Waffe in der Hand gehabt hatte, beschimpfte er seinen Stiefsohn als Feigling und Drückeberger. In dieser Zeit hatte Hans-Peter gelernt, seine Ohren vor den Anfeindungen Kleinschmidts zu verschließen und seinen eigenen Weg zu gehen. Sein Gerechtigkeitssinn war sehr ausgeprägt. Bereits in der Schule hatte Hans-Peter sich immer auf die Seite der Kleineren und Schwächeren gestellt, wenn ein großer, starker Junge versuchte, diese zu drangsalieren. Das hatte Hans-Peter so manches Mal ein blaues Auge und eine blutige Nase eingebracht, er spürte aber eine große Befriedigung, wenn er einen Beitrag gegen Willkür und Gewalt leisten konnte. Schulhofrangeleien waren zwar auch eine Form von Gewalt, manchmal ging es aber nicht anders, als jemandem eins auf die Nase zu geben. Die Lehrer sahen stets weg und setzten selbst den Rohrstock bei besonders aufmüpfigen und frechen Kindern ein. Hans-Peter wusste: Gegen seine eigenen Kinder, die er irgendwann mal haben würde, würde er niemals die Hand erheben.

Die nächste Hürde musste er überwinden, als er den Wunsch äußerte, zu studieren. Dafür brauchte er Kleinschmidts finanzielle Unterstützung. Zwar hatte Hans-Peter das Abitur mit guten Noten bestanden, für ein Stipendium hatte es aber nicht gereicht. Schließlich musste Kleinschmidt zähneknirschend nachgeben, denn Hans-Peter war entschlossen, auch ohne seine Hilfe diesen Weg zu gehen. Hans-Peter schrieb sich also an der Universität in Tübingen ein. Allerdings ließ Kleinschmidt ihn regelmäßig spüren, wie unnötig er diese »Studiererei« fand, und machte aus jeder Zahlung ein kleines Drama. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn Hans-Peter ihm bei jedem Scheck auf Knien gedankt hätte. Hildegard, Hans-Peters Mutter, hielt sich aus allem heraus. Sie stellte Kleinschmidts Ansichten und Handlungen niemals in Frage und ertrug geduldig seine Launen.

Dies alles ging Hans-Peter durch den Kopf, als er auf seinem Mokick die schmalen Straßen der Alb entlangknatterte. Großwellingen lag oberhalb des Neidlinger Tales, so dass der Motor der Kreidler bei den letzten zwei Kilometern Höchstleistung bringen musste. Im letzten Winter hatte Hans-Peter zwar seinen Führerschein gemacht, für ein eigenes Auto fehlte ihm jedoch das Geld. Schon für das Mokick hatte er Kleinschmidt monatelang anbetteln müssen. Hans-Peter beschloss, so bald wie möglich wieder auf dem Bau zu arbeiten, um sich von dem Verdienst im nächsten Jahr vielleicht ein kleines, gebrauchtes Auto kaufen zu können.

 

Die Sägemühle und das Wohnhaus der Kleinschmidts lagen am Ortseingang von Großwellingen. Das Haus war um die Jahrhundertwende erbaut worden und mit seinen acht Zimmern eigentlich zu groß für drei Personen. Früher hatten mehrere Generationen unter einem Dach gelebt, Kleinschmidts Eltern waren aber schon vor vielen Jahren gestorben. Unter Kleinschmidts Regie waren ein Anbau und ein Wintergarten entstanden, und heute war das Haus das größte und modernste des Ortes – so, wie es sich für den Bürgermeister gehörte. Vor zehn Jahren, als die deutsche Wirtschaftskraft einen Höhepunkt erreicht hatte, hatte Kleinschmidt die Sägemühle ausbauen und eine große, lichte Halle errichten lassen. Die dafür aufgenommenen Kredite waren längst zurückbezahlt, und die Auftragsbücher waren auch für die nächsten Monate voll.

Hans-Peter nahm den Geruch von frisch geschlagenem Holz wahr. Eigentlich hätte er nichts dagegen gehabt, in seiner Freizeit mit Holz zu arbeiten, auf keinen Fall jedoch unter der Fuchtel von Kleinschmidt und deshalb, weil es von ihm erwartet wurde. Sein Stiefvater hatte getobt, als er erfahren hatte, dass Hans-Peter für mehrere Wochen sein Studium vernachlässigte, um auf dem Bau zu arbeiten.

»Ich habe mich nicht nur damit abgefunden, dass du ein Rechtsverdreher werden willst, sondern ich finanziere dir diese Extravaganz auch noch«, hatte er Hans-Peter angebrüllt. »Keiner in meiner Familie hat jemals studiert. Warum auch? Und jetzt schleppst du Säcke für Fremde, anstatt so schnell wie möglich deinen Abschluss zu machen. Wenn du schon arbeiten willst – warum denn nicht in meiner Firma?«

Weil du mir nicht so viel bezahlt hättest, wie ich auf dem Bau bekomme, dachte Hans-Peter, und sagte laut: »Ich werde das verpasste Pensum nachholen. Diese Arbeit ist wichtig für mich.«

Kleinschmidt hatte mit den Schultern gezuckt, aus der Not eine Tugend gemacht und schließlich erklärt, es wäre vielleicht ganz sinnvoll, einen Anwalt in der Familie zu haben.

»Wenn der Betrieb weiterhin so viel Profit abwirft, werden wir in ein paar Jahren expandieren. Dabei kann ein Winkeladvokat nützlich sein.«

Hans-Peter hatte tunlichst verschwiegen, dass er auf keinen Fall in Großwellingen bleiben wollte, wenn er das Staatsexamen in der Tasche hatte. Er wollte in eine große Stadt: Stuttgart, München, vielleicht sogar nach Hamburg, wo er geboren worden war. Dort wollte er in einer Anwaltskanzlei arbeiten, bis er in der Lage war, sich selbständig zu machen. Aber das lag noch in weiter Ferne, und bis dahin musste er sich mit Kleinschmidt irgendwie arrangieren. Hans-Peter freute sich darüber, eigenes Geld verdient zu haben, das er ausgeben konnte, wie und wofür er wollte, ohne jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen.

 

Hildegard Kleinschmidt hatte das Motorengeräusch gehört und kam Hans-Peter entgegen, als er sein Zweirad in den Schuppen schob.

»Du bist heute aber früh zu Hause.«

Er gab seiner Mutter einen Kuss auf die Wange.

»Wir sind mit dem Bau gut vorangekommen, da hat der Polier früher Schluss gemacht«, erklärte er, steckte die Hände in die Taschen seiner Bluejeans und grinste. »Es war ohnehin mein letzter Tag, das passt mir ganz gut. Heute Abend will ich rüber in den Ochsen, ein paar Freunde treffen.«

Hildegard nickte. »Aber nicht so lange, mein Junge. Nicht, dass du morgen verschläfst, es ist schließlich dein großer Tag.« Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete ihren zwei Köpfe größeren Sohn. »Nun wirst du schon zweiundzwanzig! Ich frage mich, wo die Zeit geblieben ist.«

In diesem Moment betrat Wilhelm Kleinschmidt den Schuppen. Er nickte Hans-Peter kurz zu und sagte: »Ah, der Herr Sohn gammelt mal wieder den halben Tag rum.«

Hans-Peter ignorierte ihn. Es bestand kein Grund, Kleinschmidt zu erklären, warum er jetzt schon Feierabend hatte. Zu seinem Leidwesen war er gezwungen, die letzten vier Wochen zu Hause zu wohnen anstatt im Studentenwohnheim. Der tägliche Weg von Tübingen zu den Baustellen in und um Kirchheim herum wäre zu weit gewesen.

»Du hast bestimmt Hunger«, sagte Hildegard. »Ich kann dir schnell ein paar Stullen machen …«

»Nichts da, der Junge isst mit uns zu Abend, wenn es Zeit dafür ist«, unterbrach Kleinschmidt seine Frau.

»Aber …«

»Lass es gut sein, Mutti«, raunte Hans-Peter. »Ich bin nicht hungrig und möchte ohnehin erst baden. Ich esse später drüben im Ochsen.«

Hildegard Kleinschmidt nickte und erwiderte: »Ich heize gleich den Kessel im Bad an.«

 

Zwei Stunden später war Hans-Peter wieder auf seinem Mokick unterwegs nach Kleinwellingen. Das Dorf lag etwa drei Kilometer in östlicher Richtung und gehörte verwaltungstechnisch zu Großwellingen. Bis Anfang der fünfziger Jahre war Kleinwellingen eine eigenständige Gemeinde, und die Einwohner beider Dörfer waren sich wegen einer uralten Fehde, an deren Ursache sich niemand mehr erinnern konnte, nicht gerade grün gewesen.

Legenden besagten, dass während des Dreißigjährigen Krieges ein Großwellinger mit den feindlichen Truppen konspiriert habe, woraufhin diese Kleinwellingen angriffen und das Dorf dem Erdboden gleichgemacht hatten. Das war aber keineswegs historisch bewiesen. Doch seit der Fusion der beiden Orte bestand ein harmonisches Miteinander zwischen den Groß- und Kleinwellingern.

Was in Großwellingen die Sägemühle von Wilhelm Kleinschmidt war, war in Kleinwellingen die Ochsen-Brauerei mit der angeschlossenen Brauereigaststätte Roter Ochsen, die im allgemeinen Sprachgebrauch nur Ochsen genannt wurde. Im Umkreis von fünfzig Kilometern gab es keine zweite Bierbrauerei, außerdem schmeckte der Gerstensaft hier ausgezeichnet. Die Gaststätte bot einfache, aber schmackhafte schwäbische Hausmannskost, so dass an den Wochenenden auch Gäste aus dem Umland das Wirtshaus aufsuchten.

Die Brauerei war sogar noch älter als die Sägemühle. Der Inhaber Eugen Herzog konnte Belege vorweisen, dass seine Ahnen das erste Bier bereits Ende des 16. Jahrhunderts in die Fässer fließen ließen. Wegen der Knieverletzung, die Herzog sich in jungen Jahren bei einem Sturz zugezogen hatte, zog er das linke Bein nach. So war Eugen Herzog der Dienst an der Front erspart geblieben. Ähnlich wie die Sägemühle musste auch die Brauerei am Laufen gehalten werden, was durch das Fehlen junger, kräftiger Männer nicht einfach gewesen war. Herzog war aber nicht nur Brauer aus Leidenschaft, er war auch Ortsvorsteher von Kleinwellingen und zugleich der beste Freund von Wilhelm Kleinschmidt. Die Männer kannten sich von Kindesbeinen an und ähnelten sich in Größe und Statur.

In Großwellingen gab es zwar zwei Wirtshäuser, das Goldene Lamm vermietete auch Fremdenzimmer, bedingt durch die Freundschaft, trank Kleinschmidt aber immer im Roten Ochsen sein Bier, zudem war die Gaststube mit dem Holz aus Kleinschmidts Mühle ausgekleidet.

Dicker Zigarren- und Zigarettenqualm und die Gerüche nach Essen schlugen Hans-Peter entgegen, als er das Wirtshaus betrat. Fast alle Tische waren besetzt, und Anneliese, die Bedienung, hatte im wahrsten Sinn des Wortes alle Hände voll zu tun. Gekonnt balancierte sie fünf volle Teller auf ihren Armen und begrüßte Hans-Peter mit einem freundlichen Lächeln. Egal, wie viel Betrieb war, Anneliese blieb immer ruhig und freundlich und wurde auch bei schwierigen Gästen nie ungeduldig. Sie arbeitete seit ihrer Jugend im Roten Ochsen, war unverheiratet und eine Cousine zweiten Grades von Eugen Herzog.

»Die anderen sind hinten im Saal«, rief sie Hans-Peter zu und trug die Teller direkt vor seiner Nase vorbei.

Beim Geruch nach Schweinekrustenbraten und handgeschabten Spätzle begann sein Magen zu knurren.

Die Wände der Gaststube waren mit gerahmten Fotografien, die Motive aus der Gegend zeigten, geschmückt; grün-weiße Vorhänge zierten die Fenster; die Tischdecken auf den massiven, dunklen Holztischen und die Kissen auf den Eckbänken und den Stühlen waren mit dem gleichen Stoff bezogen. Im Winter heizte ein ausladender Kachelofen, den Herzogs Vater kurz vor dem Krieg hatte einbauen lassen, den Raum.

Eugen Herzog stand hinter dem Tresen und zapfte Bier, am Stammtisch im Erker auf der rechten Seite saßen drei Männer und klopften Benogl. Hans-Peter kannte sie alle: den kleinen, schmächtigen Friedrich Bauer mit einer Hornbrille mit dicken Gläsern, Finanzbeamter in Kirchheim; Johannes Räpple, den Inhaber der einzigen Tankstelle und Kfz-Reparaturwerkstatt in Großwellingen, und Werner Fingerle, dem das Lebensmittel- und Haushaltswarengeschäft des Ortes gehörte.

»Guten Abend, Hansi.« Räpple winkte Hans-Peter zu. »Spielst du mit? Uns fehlt der vierte Mann, Konrad konnte nicht kommen.«

»Heute nicht«, erwiderte Hans-Peter, durchquerte den Gastraum und verließ ihn wieder durch die Hintertür.

Er sah nicht, wie die drei Männer die Köpfe zusammensteckten und zu tuscheln begannen.

»Hat’s nicht leicht, der Willy, mit diesem Bürschchen«, raunte Fingerle.

Räpple nickte bekräftigend. »Seit Hansi ein Studiosus ist, ist er wohl zu fein, um mit uns ein Blatt zu klopfen. Habt ihr seine Hose gesehen? Unmöglich, wenn ihr mich fragt. Wir sind hier schließlich nicht auf einer Pferdekoppel in Texas! Und dann diese langen Haare! Wenn das mein Sohn wäre …« Vielsagend sah Räpple in die Runde.

»Hört doch auf«, warf Bauer ein. »Das ist eben die heutige Jugend. Denkt doch nur mal zehn Jahre zurück, als der Rock ’n’ Roll und Elvis über den Großen Teich nach Europa kamen. Da haben wir uns auch wie Elvis eine Tolle gekämmt.«

»Das war etwas völlig anderes«, begehrte Räpple auf. »Damals wussten wir trotzdem noch, was sich gehört, und haben uns anständig angezogen. Zum Glück gehört mein Dieter nicht zu denen, die sich in Beatschuppen herumtreiben und Läuse im Haar haben.«

Den letzten Satz hatte Anneliese gehört, die mit drei gefüllten Biergläsern an den Tisch trat.

Sie runzelte die Stirn und sagte: »Ich kenne genügend Männer mit kurzen Haaren, die man mal gründlich nach Läusen absuchen sollte.«

Die Männer verstummten. Natürlich fühlte sich von den dreien keiner angesprochen, es war aber besser, sich mit der resoluten Anneliese nicht auf eine Diskussion einzulassen. Insgeheim waren sie sich aber einig, dass junge Leute wie Hans-Peter langsam, aber stetig auf ihr Verderben zusteuerten.

 

Ein schmaler, dunkler Gang, in dem sich die Toilettenräume befanden, und eine Treppe, die zu den zwei Kegelbahnen im Keller führte, brachte Hans-Peter in den Saal des Gasthauses Ochsen. Der Raum fasste an die hundert Personen und wurde für diverse Feierlichkeiten, wie Hochzeiten und runde Geburtstage und auch für den einen oder anderen Leichenschmaus, gebucht. Wenn keine Festivität anstand, war der Saal bei den jungen Leuten der Umgebung beliebt, denn vor einem Jahr hatte Eugen Herzog eine Musicbox aufstellen lassen. Das gab es in keinem anderen Gasthaus in der Gemeinde, und Kleinschmidt war zum ersten Mal nicht einer Meinung mit seinem Freund gewesen.

»Ich weiß nicht, warum du dir diese unsägliche Musik in dein Haus holen musst«, hatte Kleinschmidt gesagt, aber Herzog hatte lächelnd geantwortet: »Ist doch besser, wenn sich die jungen Leute im Ochsen aufhalten, anstatt in die Stadt zu fahren, wo wir nicht wissen, was sie treiben.«

Als Hans-Peter die Tür öffnete, hörte er die Klänge von Sugar Baby, dem erfolgreichen Schlager von Peter Kraus. Vier junge Männer und zwei Mädchen im Alter von Hans-Peter bewegten sich im Takt der Musik.

»He, Hans-Peter, toll, dass du es geschafft hast«, rief ihm Dieter Räpple, der Sohn des Tankstellenbesitzers, zu.

Die anderen klopften Hans-Peter auf die Schulter. Er kannte sie alle schon sein ganzes Leben, aber er war der Einzige aus ihrer Schule, der Großwellingen verlassen hatte, um zu studieren. Dieter hatte eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker gemacht, natürlich würde er den väterlichen Betrieb übernehmen; Helmuth war als Bankkaufmann in der Filiale der Sparkasse in Großwellingen angestellt und mit Renate verlobt, und Volker und Lothar arbeiteten beide in der Sägemühle. Brigitte, das zweite Mädchen, kümmerte sich um ihre herzkranke Mutter. Seit Hans-Peter an die Uni gegangen war, war der Kontakt mit den früheren Freunden eher locker. Heute Abend hatte Dieter jedoch darauf bestanden, dass sie zusammen in Hans-Peters Geburtstag hineinfeierten. Hans-Peter fiel auch optisch aus der Reihe. Die anderen jungen Männer trugen leichte, dunkle Stoffhosen, weiße Hemden mit Krawatten und Jacketts, die Haare waren kurz geschnitten. Keiner trug eine Bluejeans und ein am Hals offenes Hemd wie Hans-Peter, dessen hellblonde, leicht wellige Haare seine Ohrläppchen bedeckten und sich auf seinem Hemdkragen kringelten. Die Mädchen hatten sich mit wadenlangen Röcken, bunten Blusen und hochhackigen Pumps schick gemacht.

Die Tür öffnete sich, und ein mittelgroßes, vollschlankes Mädchen trat ein. Auch sie trug einen weitschwingenden, flaschengrünen Rock, dazu eine senfgelbe Bluse. Sie balancierte ein Tablett mit vier Bierkrügen und zwei Gläsern Cola. Beim Anblick von Hans-Peter leuchteten ihre grauen Augen. Schnell stellte sie das Tablett auf einen Tisch, umarmte Hans-Peter und wiederholte Dieters Worte:

»Toll, dass du es so zeitig geschafft hast. War dein letzter Tag sehr anstrengend?«

»Nicht mehr oder weniger als die Wochen zuvor«, antwortete Hans-Peter grinsend. »Ich bin jetzt aber schon froh, dass die Schinderei vorbei ist.«

Susanne Herzog war das einzige Kind des Brauereibesitzers und ein knappes Jahr jünger als Hans-Peter. Ihre Mutter war gestorben, als Susanne noch keine drei Jahre alt gewesen war, und sie hatte kaum eine Erinnerung an sie. Ihr Vater hatte nicht wieder geheiratet. Durch die Freundschaft der Väter waren Hans-Peter und Susanne beinahe wie Geschwister zusammen aufgewachsen. Susanne hatte nach der Hauptschule eine Ausbildung zur Hauswirtschaftsleiterin in Kirchheim absolviert und Kurse in Stenographie, Maschinenschreiben und Buchhaltung belegt. Seitdem arbeitete sie nicht nur in der Gaststätte, sondern kümmerte sich auch um die Bücher der Brauerei. Diesbezüglich war Eugen Herzog aufgeschlossener als Kleinschmidt, der seine Finanzen und steuerlichen Angelegenheiten niemals einer Frau überlassen würde.

»Bringst du mir auch eine Halbe?«, bat Hans-Peter sie. »Und etwas zu essen. Was gibt es denn heute Gutes?«

»Ich kann dir die Rinderleber mit gerösteten Zwiebeln und Bratkartoffeln empfehlen«, antwortete Susanne. »Das Fleisch kam heute Vormittag frisch vom Schlachter.«

Hans-Peter nickte, ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Renate hatte inzwischen eine weitere Münze in die Musicbox geworfen und eine Taste gedrückt. Der Plattenarm unter der runden, gläsernen Kuppel wählte die entsprechende Scheibe, und Gitte sang, dass sie einen Cowboy als Mann wollte. Hans-Peter verzog das Gesicht. Das war nicht gerade die Musik, die er bevorzugte, in der Musicbox befanden sich aber keine Scheiben der Beatles oder von anderen ausländischen Gruppen. Zeitgenössische deutsche Schlager – weiter ging Eugen Herzogs moderne Einstellung dann doch nicht.

Wenig später trank Hans-Peter durstig das helle Bier mit der dicken Schaumkrone und ließ sich die gebratene Leber schmecken. Dabei hörte er den Freunden zu, die von der vergangenen Woche erzählten. Etwas Aufregendes war nicht dabei. In Groß- und Kleinwellingen geschah nie etwas Aufregendes. Die Tage verliefen immer nach dem gleichen Muster. Im Grunde mochte Hans-Peter das Leben auf dem Land. Hier war es ruhig, kein Straßenlärm, keine Autoabgase, und die Menschen waren nicht so hektisch wie in der Stadt. Er konnte sich dennoch nicht vorstellen, den Rest seines Lebens in dieser Beschaulichkeit zu verbringen. Bis er sein zweites Staatsexamen abgelegt hatte, würden aber noch einige Jahre vergehen.

Während Hans-Peter aß, saß Susanne Herzog neben ihm. Sie hatte ihr mausbraunes, glattes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, trug aber eine dekolletierte Bluse, die den Ansatz ihrer üppigen Brüste frei ließ. Hans-Peter war an diesen Anblick gewöhnt. Susanne gehörte zu seinem Leben wie eine Schwester, mit der er über alles sprechen und der er alles sagen konnte.

Als Hans-Peter gesättigt den Teller von sich schob, legte Susanne eine Hand auf die seine und fragte: »Hast du Lust, nächstes Wochenende beim Ausschank zu helfen?«

»Nächstes Wochenende?«

»Das Schützenfest«, erinnerte Susanne ihn. »Hier wird die Hölle los sein, und wir können jede Hilfe gebrauchen.«

Aus Freundschaft half Hans-Peter hin und wieder bei Veranstaltungen beim Bierzapfen … eine nette Abwechslung. Das Schützenfest der Wellinger war der Höhepunkt eines jeden Sommers. Drei Tage wurde gefeiert, gegessen, getrunken und getanzt. In einem Bierzelt, das gut und gern fünfhundert Menschen fasste, spielten abwechselnd die Blasorchester der Musikvereine beider Orte.

»Äh … ich kann nächstes Wochenende nicht hier sein«, antwortete Hans-Peter.

»Warum nicht?«, fragte sie enttäuscht. »Du hast die Semesterferien doch immer bei deinen Eltern verbracht.«

In diesem Moment endete die Musik, und Hans-Peter flüsterte: »Ich erzähle es dir später.«

Außer dem Polier Wallner und seinem Freund Klaus hatte Hans-Peter bisher niemandem von seinen Plänen, nach England zu reisen, erzählt. Auch nicht seinen Eltern, denn Kleinschmidt würde nicht nur versuchen, es ihm auszureden, sondern er würde ihm diese Reise vermutlich verbieten. Hans-Peter war aber volljährig und konnte fahren, wohin er wollte. Als Begründung, warum er vor Beginn der Semesterferien auf dem Bau gearbeitet hatte, hatte Hans-Peter gesagt, für das nächste Semester müsse er sich besonders teure Bücher anschaffen. Es reichte, wenn er seinen Eltern am Abend vor seiner Abreise die Wahrheit erzählte.

Sie hörten weiter Musik und sprachen über Belanglosigkeiten. Die Zeit bis Mitternacht schleppte sich zäh dahin, und Hans-Peter wäre am liebsten nach Hause gegangen, denn der harte Arbeitstag steckte ihm in den Knochen. Er hatte aber versprochen, auf seinen Geburtstag anzustoßen, und Eugen Herzog spendierte die Getränke. Als es schließlich Mitternacht war, alle ihre Gläser erhoben und Hans-Peter musikalisch ein Alles Gute zum Geburtstag darboten, empfand er dann doch eine Art Heimatgefühl. Die jungen Männer drückten kräftig seine Hand und schlugen ihm auf die Schulter, die Mädchen küssten ihn leicht auf die Wange. Auch Susanne küsste ihn – allerdings mitten auf den Mund.

»Alles, alles Gute im neuen Lebensjahr«, murmelte sie und wich, erschrocken über ihre eigene Courage, einen Schritt zurück.

Hans-Peter lächelte, nahm ihren Arm, zog sie in seine Arme und sagte: »Ich danke dir, Susi«, und küsste sie ebenfalls.

Die anderen klatschten und grölten, und Susannes Wangen nahmen die Farbe reifer Tomaten an. Verlegen strich sie sich über ihr Haar und sah zur Seite. Es war nicht das erste Mal, dass Hans-Peter sie geküsst hatte, heute jedoch war es irgendwie anders gewesen.

Die Freunde verabschiedeten sich, Hans-Peter und Susanne blieben allein zurück.

»Warte einen Moment, ja?«, bat Susanne, verließ den Saal, kehrte kurz darauf zurück und überreichte Hans-Peter ein viereckiges, flaches, in buntes Geschenkpapier eingepacktes Päckchen. »Noch mal alles Gute zum Geburtstag.«

Hans-Peter dankte ihr und riss das Papier ab.

»Das ist ja toll!«, rief er, als er eine Singleschallplatte von den Beatles mit dem Titel Help in der Hand hielt. »Woher hast du die Scheibe? Ich wusste nicht, dass sie bereits in Deutschland veröffentlicht wurde.«

Susannes Augen strahlten.

»Ich bin gestern extra nach Stuttgart gefahren, denn die Platte ist brandneu. Ich habe gehofft, dass du sie dir noch nicht selbst gekauft hast. Am liebsten hätte ich dir die Langspielplatte geschenkt, die erscheint aber erst in zwei Wochen auf dem deutschen Markt.«

»Du bist ein Schatz, Susi«, sagte Hans-Peter und küsste sie flüchtig auf die Wange.

»Du sollst mich nicht Susi nennen«, erwiderte sie verlegen. »Ich sage ja auch nicht Hansi zu dir. Ich hatte mal einen Wellensittich, der Hansi hieß.«

Hans-Peter grinste und erwiderte: »Also gut, Sanne, obwohl ich diese Abkürzung von Susanne noch nie gehört habe.« Er wusste, dass die Freundin den Namen Sanne in einer Zeitschrift gelesen hatte und seitdem so angesprochen werden wollte. Hans-Peter fand zwar, dass Susi besser zu ihr passte, aber sie hatte recht: Er selbst mochte es ja auch nicht, als erwachsener Mann immer noch Hansi genannt zu werden.

»Das ist wirklich ganz große Klasse von dir«, sagte er und drehte die Schallplatte in den Händen. Am liebsten hätte er sie sofort aufgelegt, aber die Musicbox war abgeschlossen, und Eugen Herzog war der Einzige, der die Scheiben austauschen durfte.

»Was hast du nächstes Wochenende denn Wichtiges vor?« Susanne hatte die Frage nicht vergessen.

Hans-Peter räusperte sich mehrmals, bevor er antwortete: »Ich mach mich am Dienstag auf den Weg nach England.«

Susannes Reaktion war ähnlich wie die des Poliers. Ungläubig starrte sie Hans-Peter an und rief: »Was, in aller Welt, willst du in England?«

»Am ersten August treten die Beatles in Blackpool auf.«

»Pläckpul?«, wiederholte Susanne verwundert.

»Blackpool«, sagte Hans-Peter langsam und deutlich und lächelte. »Das ist eine Stadt in Nordengland am Meer, ich habe im Atlas nachgesehen.«

»Deswegen hast du also die letzten Wochen auf dem Bau gerackert.« Susanne zog die richtigen Schlüsse. »Du hast Geld verdient, um nach England fahren zu können. Wie kommst du denn dorthin?«

Hans-Peter hob seine rechte Hand und streckte den Daumen in die Höhe.

»Deswegen ziehe ich auch schon am Dienstag los, dann habe ich genügend Zeit.«

»Wo wirst du übernachten?«

Hans-Peter zuckte mit den Schultern.

»Da wird sich schon etwas finden lassen, zur Not schlafe ich unter freien Himmel. Es ist schließlich Sommer.«

»Ich beneide dich!« Susanne verdrehte schwärmerisch die Augen. »Um die Pilzköpfe einmal in echt sehen zu können, würde ich alles geben! Mein Vater erlaubt eine solche Reise aber niemals, besonders nicht das Trampen.«

»Äh … ja, das denke ich auch.«

Unbehaglich rutschte Hans-Peter auf dem Stuhl herum. Nicht einen Moment hatte er in Erwägung gezogen, Susanne zu fragen, ob sie ihn begleiten wollte. Das war ganz allein seine eigene Sache, außerdem war eine solche Reise per Autostopp nichts für ein Mädchen.

»Allerdings … wenn wir vielleicht …«, stotterte Susanne und wich seinem Blick aus. »Dann würde mein Vater es vielleicht erlauben, und er würde uns sicher das Geld geben, um mit dem Zug fahren und in Hotels übernachten zu können.«

Hans-Peter lächelte gezwungen. Er wusste, was Susanne andeutete. Seit Jahren verfolgten ihre beiden Väter den Plan, dass sie einander heiraten sollten. Auch wenn aus Hans-Peter kein Brauer werden würde, würde die Fusion der Sägemühle und der Brauerei eine große regionale Macht bedeuten, und Kleinschmidt und Herzog würden noch mehr Geld scheffeln können. Einen Brauer konnte man anstellen, Hans-Peters juristische Ausbildung käme beiden Betrieben zugute, und die beiden jungen Leute kannten einander in- und auswendig. Das Problem an der Sache war nur, dass Hans-Peter in Susanne nur eine liebe, vertraute Freundin sah und er sie sich als seine Ehefrau nicht vorstellen konnte. Sie hatte aber recht: Wenn er und Susanne offiziell miteinander verlobt wären, könnte es durchaus sein, dass Herzog seiner Tochter erlaubte, Hans-Peter ins Ausland zu begleiten, und sogar einen großzügigen Zuschuss zu der Reise beisteuern würde. Er sah zu der Wanduhr über der Tür, stand auf und sagte: »Ich muss jetzt gehen, es ist gleich eins. Meine Mutter ließ sich nicht davon abbringen, meinen Geburtstag groß zu feiern, und hat die gesamte Verwandtschaft eingeladen. Sie reißt mir den Kopf ab, wenn ich verschlafe.« Er versuchte, die Situation mit einem Scherz zu entspannen.

»Verstehe ich«, erwiderte Susanne traurig und ein klein wenig verletzt. Spontan umarmte Hans-Peter sie und fragte: »Magst du zum Kaffee kommen? Wie ich meine Mutter kenne, hat sie für ein ganzes Regiment gebacken, und wir können dann die Platte bei mir anhören.«

Sofort strahlten Susannes Augen, und sie nickte eifrig.

Mit einem unguten Gefühl fuhr Hans-Peter durch die Nacht nach Hause. Er hatte Susanne für den Nachmittag eingeladen, sozusagen als Entschädigung, weil er wegfahren würde und sie ihm leidgetan hatte. Er musste aber aufpassen, in ihr keine Hoffnungen zu wecken. Susanne Herzog war ein patentes und nettes Mädchen, immer offen und ehrlich, und sie hatte eine herzerfrischende Art. Ihre Figur war zwar etwas zu mollig, um dem gängigen Schönheitsideal zu entsprechen, aber sie hatte ein hübsches Gesicht. Susanne war eine Frau, mit der man Pferde stehlen konnte, nur Leidenschaft oder gar Begehren empfand Hans-Peter nicht, wenn er sie betrachtete oder sie in den Armen hielt. Was machte er sich jetzt darüber eigentlich Gedanken? Für eine feste Bindung oder gar eine Ehe fühlte er sich ohnehin noch nicht bereit. Vor allem anderen musste er das Studium abschließen und sich eine berufliche Zukunft aufbauen.

In Tübingen ging Hans-Peter hin und wieder mit Mädchen aus, dafür sorgte schon Klaus Unterseher. Obwohl Hans-Peter im direkten Vergleich der deutlich Attraktivere der beiden Freunde war, hatte Klaus etwas an sich, das die Frauen wie magisch anzog. Klaus hatte Charme, war höflich und gab jedem weiblichen Wesen in seiner Umgebung das Gefühl, einzigartig zu sein. Dabei nutzte er die Mädchen nicht aus und kannte seine Grenzen. Klaus wäre es niemals eingefallen, ein Mädchen zu kompromittieren, Hans-Peter ebenso nicht. Einem Flirt war er nicht abgeneigt, auch der eine oder andere Kuss und ein paar harmlose Zärtlichkeiten waren vertretbar, weiter ging er jedoch nicht. Außerdem wollte er sich nicht ernsthaft verlieben, denn das würde ihn nur von seinem Studium abhalten, befürchtete er. Er wollte so schnell wie möglich sein eigenes Geld verdienen, um von Wilhelm Kleinschmidt nicht länger abhängig zu sein.

[home]

2

Doris Lenninger, die einzige leibliche Verwandte von Hildegard Kleinschmidt, war eine große, hagere Frau mit engstehenden Augen, einer spitzen Nase und schmalen Lippen. Das Leben hatte es nicht immer gut mit ihr gemeint. Der Krieg hatte ihr den Mann genommen, Kinder waren ihr in ihrer Ehe nicht vergönnt gewesen, und ihre Eltern waren kurz hintereinander gestorben, als sie selbst noch keine zwanzig Jahre alt gewesen war. Seitdem bewirtschaftete sie allein einen kleinen Hof mit vier Rindern und ein paar Dutzend Hühnern. Die Milch und die Eier verkaufte sie im Geschäft von Werner Fingerle, und samstags fuhr sie auf den Wochenmarkt nach Kirchheim. Im Gegensatz zu ihrer nur zwei Jahre jüngeren Cousine sah sie aus wie eine Frau, die vor ihrer Zeit verblüht war. Modischer Schnickschnack und feine Kleider passten ihrer Meinung nach nicht zu einer Bäuerin, auch hielt sie nichts davon, ihre Haare zu färben, wie es Hildegard seit einiger Zeit regelmäßig von einem Friseur in der Stadt machen ließ. Die hat auch das Geld dafür, dachte Doris und konnte nicht verhindern, dass ihre Gedanken von Neid beherrscht wurden. Niemand wusste, dass Doris, als ihr Günther aus Russland nicht wiedergekehrt war, ein Auge auf Wilhelm Kleinschmidt geworfen hatte. Der war immer schon ein stattlicher Mann gewesen, darüber hinaus vermögend und mit einer gesicherten Existenz. Er aber hatte der Bäuerin nie mehr als einen freundlichen Blick geschenkt.

Doris Lenninger hatte nicht gezögert, als Anfang 1945 der Hilferuf ihrer entfernten Cousine sie erreichte. Obwohl sich die beiden Frauen nie zuvor begegnet waren und die Verwandtschaft über einige Ecken ging … in diesen schweren Zeiten mussten sie alle zusammenhalten. Bereitwillig hatte Doris das wenige, das sie selbst zum Essen gehabt hatte, mit Hildegard geteilt. Den kleinen Hans-Peter hatte sie sofort in ihr Herz geschlossen, so einen knuddeligen, blondgelockten Jungen hatte sie sich selbst immer gewünscht. Der Knabe war noch zu klein, um von dem Schrecken, dem er in Hamburg ausgesetzt gewesen war, Schaden erlitten zu haben. In der gesunden Landluft blühte er auf, auch das im ersten Nachkriegsjahr noch karge Essen schadete seiner Entwicklung nicht. Dann hatte Wilhelm Kleinschmidt um Hildegards Hand angehalten, und diese Nachricht war wie ein Faustschlag in Doris’ Magen gewesen. Sie hatte sich aber nichts anmerken lassen und ihrer Cousine sogar geholfen, die Hochzeit so schön, wie es damals möglich gewesen war, zu gestalten.

Heute trauerte Doris Lenninger weder ihrem toten Ehemann noch Kleinschmidt nach. Mit dem Thema Männer hatte sie abgeschlossen, der Hof und die Tiere füllten ihr Leben aus. Nur ihre enge Beziehung zu Hans-Peter war geblieben, auch wenn sich der Junge leider viel zu selten zu Hause blicken ließ. In ganz Großwellingen kannte Doris keinen anderen, der zur Universität ging und eines Tages Rechtsanwalt werden würde.

Am heutigen Sonntag war Doris Lenninger die Erste, die im Haus des Bürgermeisters eintraf. Die Haustür stand wie immer offen, in der schmalen, niedrigen Diele roch es nach Braten und Gemüse, und sie hörte Hildegard in der Küche mit Töpfen und Pfannen klappern.

»Tante Doris!« Hans-Peter kam die Stiege herunter. »Du bist schon da? Ich fürchte, mit dem Essen wird es noch ein wenig dauern.«

Fest umklammerten ihre dünnen Arme Hans-Peter, ihr Kuss auf seine Wange war feucht.

»Alles erdenklich Gute zum Geburtstag, Hansi!« Für Doris würde der Junge immer Hansi bleiben, gleichgültig, wie alt er war. »Ich wollte unbedingt die Erste sein, die dir gratuliert, von deinen Eltern natürlich abgesehen.«

Hans-Peter erwähnte nicht, dass er die ersten Glückwünsche bereits in der Nacht von seinen Freunden erhalten hatte, und führte die Tante in die gute Stube mit der festlich gedeckten Tafel. Hildegard hatte extra das feine Porzellan von Wilhelms Großeltern und das Silberbesteck aus der Vitrine geholt, um den Geburtstag ihres Sohnes angemessen zu begehen. Bevor 1945 die Amerikaner nach Großwellingen gekommen waren, hatte Kleinschmidt das Geschirr und das Besteck sicherheitshalber im Wald vergraben. Die Tischdecke war aus blütenweißem Leinen und mit zierlichen Lochstickereien gesäumt. Hildegard hatte sie selbst angefertigt.

»Magst du einen Cognac?«, fragte Hans-Peter gastfreundlich, da er wusste, dass Tante Doris hin und wieder einem guten Schluck nicht abgeneigt war.

»Am helllichten Vormittag?« Sie kicherte verlegen. »Warum nicht? Schließlich gibt es heute einen Grund zum Feiern.«

Sie prostete Hans-Peter zu, der auf den Genuss von Alkohol vor dem Mittagessen jedoch verzichtete. Nach und nach trafen die weiteren Gäste ein: Tante Martha, die ledige ältere Schwester Kleinschmidts, zwei Cousins, einer mit Frau und drei Söhnen, und eine Cousine mit Ehemann und zwei kleinen Kindern. Für die Kinder war ein separater, niedriger Tisch gedeckt worden. Außer an Festtagen wie Geburtstagen, Ostern oder Weihnachten hatte die Familie wenig Kontakt untereinander. Martha Kleinschmidt wohnte in Esslingen, arbeitete dort in einer Automobilfabrik und kam nur selten auf die Schwäbische Alb, auch die Vettern und die Base lebten nicht in der Gegend. Hans-Peter nahm ihre Glückwünsche und die mehr oder weniger liebevoll eingepackten Geschenke entgegen, bedankte sich freundlich und wusste, dass – wie jedes Jahr – unter den Gaben handgestrickte Socken und Pullover sein würden.

Nun trat auch Wilhelm Kleinschmidt in die gute Stube, sah sich um und blaffte: »Wo bleibt das Essen? Ich habe Hunger wie ein Stier und könnte eine halbe Sau in einem Doppelwecken verdrücken.«

»Ich seh mal nach«, sagte Hans-Peter und verschwand schnell in der Küche. Gerade seihte seine Mutter die gekochten grünen Bohnen ab und vermischte sie mit brauner Butter.

»Kann ich dir helfen?«

Hildegard nickte. »Du kannst die Suppenterrine reintragen, und fangt ruhig schon an, ich komme gleich nach.«

Wilhelm Kleinschmidt saß bereits an seinem angestammten Platz an der Stirnseite des Tisches. Unwillig zogen sich seine buschigen Augenbrauen zusammen, als Hans-Peter mit der Terrine ins Zimmer trat. Er hielt nichts davon, wenn Hans-Peter seiner Mutter half, denn Hausarbeit war einzig und allein Frauensache. Tante Doris sprang auf und nahm Hans-Peter die Schüssel aus den Händen.

»Ich teile aus«, sagte sie schnell, bevor Kleinschmidt sich zu einer bissigen Bemerkung hinreißen lassen würde.

Schließlich kam auch Hildegard und setzte sich links neben ihren Mann. In ihrem buntbedruckten Sommerkleid und den hochtoupierten hellblonden Haaren sah sie zwar sehr adrett aus, unter ihren Augen lagen jedoch dunkle Schatten, und die Labialfalten erschienen heute tiefer als sonst. Nicht zum ersten Mal dachte Hans-Peter, dass seine Mutter müde und abgearbeitet und deshalb älter aussah als dreiundvierzig Jahre. Da konnte auch der beste Friseur nicht helfen.

Kleinschmidt faltete die Hände und sprach ein kurzes Gebet. Nach der Suppe trugen Hildegard und Doris Rinderbraten in Rotweinsoße mit Kartoffelsalat, Spätzle und grünen Bohnen auf, zum Nachtisch gab es rote Grütze mit Vanillesoße. Gesättigt lehnte Kleinschmidt sich zurück und rülpste vernehmlich.

Bauer!, dachte Hans-Peter verächtlich, auch Hildegard zuckte zusammen, niemand wagte jedoch, Kleinschmidt zu tadeln.

Am Nachmittag würde es noch Kaffee und Kuchen geben. Hans-Peter fragte sich, wer das alles essen sollte, denn in der Speisekammer standen nicht weniger als fünf Kuchen und Sahnetorten.

»Wir brauchen schließlich eine Auswahl«, hatte seine Mutter erklärt, als Hans-Peter am Morgen angedeutet hatte, dass das alles viel zu viel war. »Du weißt, Tante Doris mag keinen Frankfurter Kranz, Tante Martha isst nur Apfelkuchen, und die Kinder lieben Schwarzwälder Kirschtorte.«

Im Haus Kleinschmidt verkam nichts. Speisereste wurden am folgenden Tag noch mal aufgewärmt, und seit im Keller eine Kühltruhe stand, konnten Kuchen und Torten eingefroren und später nach Bedarf wieder aufgetaut werden. Die Männer tranken Bier, natürlich das gute Herzog-Bräu, die Frauen Rotwein, und nach dem Essen schenkte Kleinschmidt großzügig von seinem besten Obstbrand aus, den er von einer Brennerei in Owen bezog. Hans-Peter hätte sich am liebsten auf sein Mokick geschwungen, um durch diesen schönen, warmen Sommertag zu fahren, stattdessen packte er pflichtschuldig seine Geschenke aus. Bald stapelten sich Hemden, Socken und Krawatten, lediglich Tante Doris hatte ihm keine Kleidung, sondern ein Schreibset, bestehend aus einem Füllfederhalter und einem Kugelschreiber im gleichen Design, geschenkt. Hans-Peter bedankte sich artig und beantwortete die Fragen nach seinem Studium. Das einzig Gute am heutigen Tag war, dass sich Kleinschmidt vor seiner Verwandtschaft zurückhielt und Hans-Peter nicht ständig kritisierte. So verlor niemand auch nur ein Wort über Hans-Peters Haarschnitt. Seiner Mutter zuliebe hatte Hans-Peter jedoch auf seine geliebten Bluejeans verzichtet und trug eine dunkle Stoffhose und ein hellblaues Hemd.

Hildegard schnitt gerade die Kuchen und Torten an, als Susanne Herzog eintraf.

»Du hast gar nicht verraten, dass du Susanne eingeladen hast«, raunte seine Mutter Hans-Peter zu. »Das freut mich aber sehr.«

Auch Wilhelm Kleinschmidt war von der Anwesenheit Susannes angetan und blinzelte Hans-Peter verschwörerisch zu. In diesem Moment wurde Hans-Peter bewusst, dass seine Einladung an Susanne falsch interpretiert werden könnte. Jetzt und vor den Verwandten war jedoch nicht der richtige Zeitpunkt, klarzustellen, dass Susanne niemals seine Frau werden würde. Sie tranken Kaffee, aßen von den Kuchen, die Unterhaltung drehte sich um Nichtigkeiten.

Nach einer Stunde stand Hans-Peter auf und sagte: »Susanne hat mir eine Schallplatte geschenkt, die wir gern anhören möchten. Ihr erlaubt, dass wir in mein Zimmer gehen?«

»Was für eine Schallplatte?«, fragte Kleinschmidt sofort. Bevor Hans-Peter antworten konnte, rief Susanne: »Help, die neue Scheibe der Beatles.«

»Help? Heißt das nicht Hilfe?« Kleinschmidt musterte Hans-Peter grimmig. »Wie unpassend. Ich fürchte, bei diesem Krach kommt ohnehin jede Hilfe zu spät.«

Seine Cousins lachten über diesen Scherz, Hans-Peter konnte es sich aber nicht verkneifen, schnippisch zu antworten: »Du brauchst ja nicht hinzuhören, wenn es dir nicht passt.«

Mit einem Schlag verstummten alle Gespräche. Kleinschmidt stemmte seine Hände auf den Tisch und erhob sich.

»Das hier ist immer noch mein Haus, Junge, und ich bestimme, was unter diesem Dach gehört, gesehen und gelesen wird.«

»Die Zeiten eines Diktators in Deutschland sind vorbei, falls du das noch nicht gemerkt haben solltest.«

Nach fünf Stunden in dieser Gesellschaft, in denen er erwartungsgemäß gelächelt und auf jede Frage höfliche Antworten gegeben hatte, konnte Hans-Peter sich nicht mehr zurückhalten.

»Jetzt auch noch frech werden, Bürschchen?«

»Willy, bitte …« Hilde legte eine Hand auf den Arm ihres Mannes. »Nicht heute, bitte.«

Wie ein lästiges Insekt schüttelte er die Hand seiner Frau ab und trat vor Hans-Peter. Dieser wich keinen Schritt zurück. Er war ebenso groß wie Kleinschmidt, aber nur halb so breit.

»Solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst, wirst du dich an meine Regeln halten.« Kleinschmidts Stimme war bedrohlich leise geworden. »Wer finanziert dir denn das alles, damit du an der Universität herumgammeln kannst? Wer bezahlt deine unsäglichen Bluejeans und dein Zimmer in Tübingen? Das Einzige, wofür ich wirklich gern meine Börse weit öffnen würde, wäre der Friseur. Ich hätte nicht übel Lust, dir höchstpersönlich den Kopf kahl zu scheren.«

»Die Zeiten haben sich geändert.« Hans-Peter schlug einen versöhnlichen Ton an. Zwar stritten er und sein Stiefvater so gut wie täglich, von Kleinschmidt wollte er sich seinen Geburtstag aber nicht vermiesen lassen. »Ich höre die Schallplatten leise, und so wie ich kleiden und frisieren sich fast alle in der Stadt.«

»Dann verschwinde in die Stadt und nimm deine Negermusik mit!«

»Die Beatles sind keine Neger!« Nun wurde es Hans-Peter zu bunt, und er erhob seine Stimme. »Sie sind aus England, aus Liverpool, um genau zu sein, und die beste und erfolgreichste Musikgruppe der Welt. Du kannst dich aber freuen, in zwei Tagen bin ich weg.«

»Weg?« Hildegard sah ihren Sohn erschrocken an. »Du willst doch nicht etwa die Semesterferien in Tübingen verbringen?«

»Ich fahre nach England, zu einem Konzert der Beatles!«, trumpfte Hans-Peter auf. Eigentlich hatte er vorgehabt, seinen Eltern erst am Abend, wenn sie unter sich waren, von der Reise zu erzählen und nicht vor der gesamten Verwandtschaft, die gespannt die Ohren spitzte, gleichzeitig aber so tat, als ginge sie das alles nichts an.

»Das verbiete ich dir!«, donnerte Kleinschmidt.

»Muss ich dich daran erinnern, dass ich heute zweiundzwanzig geworden bin?«, fragte Hans-Peter überheblich. »Ich bin also schon seit einem Jahr volljährig. Du hast mir nichts mehr zu verbieten, und bevor du fragst: Die Reise bezahle ich aus eigener Tasche. Dafür habe ich wochenlang gearbeitet.«

»Ich als dein Vater verbiete dir …«, wiederholte Kleinschmidt zornig.

»Du bist nicht mein Vater!«, unterbrach Hans-Peter patzig.

Die Ohrfeige kam so unerwartet, dass Hans-Peter nicht ausweichen konnte. Er taumelte nach hinten und befürchtete, sein Kopf würde in tausend Teile zerspringen. Der Schmerz raubte ihm für einen Moment den Atem, vor Kleinschmidt wollte er sich aber keine Blöße geben und weinen. Wortlos wandte Hans-Peter sich um und verließ das Zimmer.

Susanne folgte ihm, und er flüsterte: »Es ist wohl das Beste, wenn du jetzt gehst.«

»Sehe ich dich noch, bevor du fährst?«

Hans-Peter nickte stumm, ließ Susanne stehen und rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe in sein Zimmer hinauf.

Keine zehn Minuten später klopfte es an der Tür.

»Lass mich in Ruhe!«, rief Hans-Peter.

Seine Mutter trat trotzdem ein, in der Hand einen Eisbeutel. Ohne Hans-Peters abwehrende Geste zu beachten, legte sie den Eisbeutel auf seine rote geschwollene linke Gesichtshälfte.

»Er meint es nicht so«, sagte Hilde in dem schwachen Versuch, ihren Mann zu verteidigen. Mal wieder zu verteidigen, denn Kleinschmidts aufbrausendes Temperament war allgemein bekannt, allerdings hatte er nie zuvor gegen Hans-Peter oder gar gegen Hilde seine Hand erhoben. »Du hast ihn provoziert.«

»Weil ich eine eigene Meinung habe?« Hans-Peter konnte nur nuscheln, denn seine Oberlippe fühlte sich an wie ein aufgeblasenes Schlauchboot.

»Wie kannst du behaupten, du würdest nach England fahren?«

»Weil es die Wahrheit ist, Mutti.« Hans-Peter richtete sich auf, eine Hand auf den Eisbeutel gepresst, der den Schmerz etwas erträglicher machte. »Ich wollte es euch heute Abend sagen, und bevor du fragst: Vor Wochen habe ich in der BRAVO gelesen, dass die Beatles in Nordengland auftreten. Deswegen habe ich auf dem Bau gearbeitet und das Geld zusammengespart, das ich brauche. Kleinschmidt wird mich nicht davon abhalten, oder will er mich etwa im Keller anketten?«

»Ach, Junge, jetzt übertreibst du aber. Dein Vater meint es nur gut mit dir und macht sich Sorgen.« Mit einem Seufzer fuhr Hildegard ihrem Sohn über den Kopf. »Du bist so schnell erwachsen geworden, und ich weiß, dass ich dich ziehen lassen muss. Kannst du denn nicht versuchen, mit deinem Vater besser auszukommen? Zumindest, wenn du zu Hause bist, die meiste Zeit verbringst du ja ohnehin in Tübingen.«

»Das liegt nicht nur an mir.«

Solche Gespräche führten sie seit Jahren, und Hildegard fühlte sich hin- und hergerissen. Auf der einen Seite verstand sie ihren Mann, denn Hans-Peter entsprach weder äußerlich noch in seinen Ansichten und Vorlieben dem Bild, das Kleinschmidt von einem braven und ordentlichen Sohn hatte. Es war ja nicht nur die moderne, ausländische Musik, die hier auf dem Land wie ein Fremdkörper wirkte, oder die langen Haare. Seit Hans-Peter studierte, hatte er sich verändert, und Hildegard vermutete, ihr Mann konnte es nicht ertragen, dass ihr Sohn ihm in puncto Wissen und Intelligenz haushoch überlegen war. Wilhelm Kleinschmidt hatte nur die Volksschule besucht und alles, was für die Leitung der Sägemühle nötig war, von seinem Vater gelernt.

»Ein solches Unternehmen führt man nicht mit Latein und Geschichte«, waren seine Worte. »Dazu braucht man Muskeln und einen gesunden Menschenverstand, und auch ohne Abitur wird man zum Bürgermeister gewählt.«

Hildegard wusste: Was früher vielleicht noch gegolten hatte, war heute anders. Die Zeiten hatten sich geändert. Auf Hans-Peter war sie sehr stolz, denn sie zweifelte nicht daran, dass ihr Sohn einmal ein guter Rechtsanwalt werden würde.

»Ich werde mit deinem Vater sprechen, sobald er sich beruhigt hat«, sagte sie leise und stand von der Bettkante auf.

»Er ist nicht mein Vater«, murmelte Hans-Peter. Diese Worte waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen. »Wie war er denn? Ich meine, mein richtiger Vater?« Hildegard ließ sich wieder auf das Bett sinken und starrte Hans-Peter ausdruckslos an. Er fuhr fort: »Du sprichst nie von ihm, ich weiß gar nichts, ja, ich kenne nicht einmal seinen Namen.«

Sie schluckte mehrmals, bevor sie flüsterte: »Martin. Sein Name war Martin, und er war ein wunderbarer Mensch.« Hans-Peter tastete nach ihrer Hand und hielt sie fest, als Hilde zu erzählen begann: »Ich war erst sechzehn, als er in unseren Laden kam. Meine Eltern hatten eine Bäckerei. Er war nur vier Jahre älter, sah aber schon sehr erwachsen aus und wusste genau, was er wollte. Er arbeitete als Buchhalter in einer großen Elektrofirma. Wenn der Krieg nicht gekommen wäre, hätte er es sicher zum Prokuristen gebracht. Wir mussten warten, bis ich einundzwanzig war, vorher erlaubten meine Eltern nicht, dass wir heirateten. Und dann auch nur, weil ich dich bereits unter meinem Herzen trug, außerdem war Krieg, und niemand wusste, ob Martin zurückkehren würde.«

»Wann und wo … Ich meine, hat er mich überhaupt jemals gesehen?«

Hildegards Augen verschleierten sich, ihr Blick ging in die Ferne, als ob sie das Hier und Heute vergessen hätte.

»Natürlich kannte er dich. Martin versuchte, so oft wie möglich nach Hamburg zu kommen. Du warst etwas über ein Jahr alt, als Martin das letzte Mal Heimaturlaub erhielt. Er war sehr stolz auf dich, denn du sahst ihm sehr ähnlich. Danach hörten wir niemals wieder von ihm. Er wurde nach Osten geschickt, und zu Beginn des letzten Kriegsjahres …« Sie verstummte, über ihre Wangen liefen Tränen.

Vergessen war der Streit mit Kleinschmidt, vergessen die Ohrfeige. Hans-Peter konnte sich nicht erinnern, dass seine Mutter jemals so viel von der Vergangenheit erzählt hatte, ja, dass sie überhaupt von ihrer Familie und ihrer Jugend gesprochen hatte.

Er musste diesen sentimentalen Moment ausnutzen und fragte:

»Warum schweigt jeder über diese Zeit, Mutti? Selbst in der Schule haben wir nicht mehr als die Eckdaten erfahren. Die Lehrer wiegeln sofort ab, wenn man Fragen stellt, erst jetzt an der Uni reden die Leute über den Krieg und die Zeit davor.«

Hildegard zuckte zusammen und kehrte in die Gegenwart zurück. Mit feuchten Augen sah sie Hans-Peter an und erwiderte leise: »Ach, Junge, wir wollen das alles vergessen. Jeder, der es miterlebt hat, möchte nicht mehr an diese schrecklichen Jahre erinnert werden. Aus Trümmern und Blut ist ein neues, ein starkes und gutes Deutschland erwachsen. Auch wenn ich deinen Vater verloren habe, hat das Schicksal es mit mir, mit uns, gut gemeint. Wir konnten uns ein neues Leben aufbauen, viele andere bekamen diese Chance nicht.«