Im Tempel des Amun-Re - Eva Hauser - E-Book

Im Tempel des Amun-Re E-Book

Eva Hauser

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Beschreibung

Eine Begegnung ruft bei Eva Hauser Erinnerungen wach, die gut 2500 Jahre zurückliegen und zu Schauplätzen in Mesopotamien, nach Ur und zu Nebukadnezar, bis ins alte Ägypten führen – zu real und zu vertraut, um sie wieder zu vergessen: Als die Erinnerungen detaillierter werden, will sie Gewissheit haben und recherchiert historische und archäologische Aufzeichnungen. In einer Zeit vor 2500 Jahren ist sie Moiria, eine junge Priesterin im Tempelbezirk in Ur. Ihr ist eine Zukunft in Kush bestimmt und sie wird vom Zweistromland an den Nil geschickt. Doch die neue Heimat erweist sich als gefährliche Herausforderung. In den Palästen des Pharaos von Kush vermischen sich spirituelle Ziele mit Machtansprüchen, Versäumnissen und menschlichen Schattenseiten. Während Moiria sich zwischen diesen Unwägbarkeiten behauptet, steht ihre Einweihung Im Tempel des Amun-Re mit ungewöhnlichem Ausgang bevor.

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Das Buch

Eine Begegnung ruft bei Eva Hauser Erinnerungen wach, die gut 2 500 Jahre zurückliegen und zu Schauplätzen in Mesopotamien, nach Ur und zu Nebukadnezar, bis ins alte Ägypten führen – zu real und zu vertraut, um sie wieder zu vergessen: Als die Erinnerungen detaillierter werden, will sie Gewissheit haben und recherchiert historische und archäologische Aufzeichnungen. In einer Zeit vor 2 500 Jahren ist sie Moiria, eine junge Priesterin im Tempelbezirk in Ur. Ihr ist eine Zukunft in Kush bestimmt und sie wird vom Zweistromland an den Nil geschickt. Doch die neue Heimat erweist sich als gefährliche Herausforderung. In den Palästen des Pharaos von Kush vermischen sich spirituelle Ziele mit Machtansprüchen, Versäumnissen und menschlichen Schattenseiten. Während Moiria sich zwischen diesen Unwägbarkeiten behauptet, steht ihre Einweihung im Tempel des Amun-Re bevor.

Die Autorin

Eva Hauser ist systemische Beraterin, wissenschaftliche Autorin und Dipl.-Kauffrau. Eines Tages beginnt sie, sich an ihre vergangenen Leben zu erinnern: Ihre intuitive, kreative Seite entfaltet sich. Aus der Perspektive vieler Leben ergeben ihre Beziehungen, Wege und Lernprozesse plötzlich einen zusammenhängenden Sinn.

Eva Hauser

Im Tempel des Amun-Re

Eine Rückerinnerung

Inhaltsverzeichnis
Umschlag
Das Buch / Die Autorin
Titel
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Hauptteil
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
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18
19
Epilog
Glossar
Literatur
Fußnoten
Impressum

Prolog

S iaspiqa,

dies alles habe ich aufgeschrieben im Vertrauen darauf, dass meine Zeilen Dich erreichen, sobald der richtige Zeitpunkt gekommen ist und Deine Zeit des Vergessens vorbei ist.

Was würdest Du tun, wenn Du wüsstest, Du hast schon einmal gelebt? Du erinnerst Dich an die Gegebenheiten, die Orte, die Personen, an alles, was geschah, und in manchen Menschen, die Dir begegnen, erkennst Du die wieder, die damals mit Dir waren.

Es mag sein, dass sie eine augenblickliche Sympathie für Dich empfinden, so, als ob Deine Augen sie schon einmal angeblickt haben könnten. Doch wer weiß – gehen nicht so viele Menschen tagtäglich an einem vorbei?

Was aber nun, wenn Du tief in Deinem Herzen weißt, dass es jemand ist, mit dem Du nah verbunden bist? Würdest Du ihn dann gehen lassen oder würdest Du ihn ansprechen? Wenn es ein Freund aus Kindertagen wäre, den Du aus den Augen verloren hast, dann wäre es ohne weiteres möglich, sich nach Jahren an die gemeinsame Zeit zu erinnern.

Doch so einfach ist es in diesem Fall nicht. Vielleicht ist der andere überzeugt, nur ein einziges Mal hier auf dieser Erde zu leben, und er glaubt, da sei sonst nichts, es gäbe kein weiteres Leben außerdem. Wie würdest Du ihm sagen wollen, dass es anders ist, dass Du ihn gut kennst. Du möchtest es so gerne sagen, bist überwältigt von der Erfahrung des Wiedererkennens und willst den anderen daran teilhaben lassen. Hoffst, dass auch er Dich sogleich erkennt, was der andere aber nicht kann oder vielleicht auch nicht will.

Als ich Dir wieder begegnet bin und Du mich angesehen hast – und ich glaubte, Du erkennst auch mich –, sind in mir Erinnerungen aufgestiegen, von ganz weit her, wie aus einer fernen Kindheit, in der ich vielleicht in einem anderen Land gelebt hatte und dort einmal zu Hause war, aber diesen Ort nun nicht mehr finden kann.

Es waren kleine Gedankenblitze zunächst, die sich, sobald mein Verstand sie fassen wollte, auflösten. Nach und nach haben sich Szenen gebildet, nicht in einer Reihenfolge des Zeitverlaufs, sondern nach der Intensität der erlebten Eindrücke – leicht, aushaltbar, noch nicht aushaltbar –, bis sich endlich die ganze Geschichte zusammenfügte.

So habe ich diese Geschichte aufgeschrieben, für Dich, für mich, für uns alle, die wir damals daran beteiligt waren. Die Auswirkungen der Ereignisse bestimmen noch heute unser Leben, auch wenn wir glauben, dass Vergessen sie ungeschehen machen kann.

Damals, als vermeintlich alles begann – obwohl es doch längst schon begonnen hatte –, liebte ich es, den Berichten Tamkarus, des Kaufmanns, zu lauschen, wenn er von seinen weiten Reisen heimkehrte und erzählte, von Ländern, schön wie aus den Märchen Bel-shalti-Nannars, und Menschen, so froh, dass ich mich danach sehnte, eines Tages ebenfalls dahin reisen zu können. Ich, die ich Ur nicht verlassen durfte …

Hauptteil

1

Bel-shalti-Nannar, die Hohepriesterin und Herrscherin Urs, war nicht da und doch war sie in ihrem Palast allgegenwärtig. Ihren Untergebenen war es so, als könne sie jeden Augenblick wieder hier sein.

Aber sie war wirklich nicht da, sie war hoch hinauf auf die Zikkurat gestiegen, und da würde sie wohl eine Weile bleiben, bis sie mit neuen Erkenntnissen wieder herabkam. Und bis sie herabkam, das konnte dauern, denn so schnell wie früher bewältigte sie die vielen Treppen nicht mehr, obwohl sie den Weg für ihr weit fortgeschrittenes Alter in einer großen Geschwindigkeit zurücklegte. So schnell, dass die weitaus jüngeren Priesterinnen, die sie bis zu einer der oberen Ebenen – nicht der obersten – begleiteten, außer Atem gerieten und hasten mussten, um mit ihr Schritt zu halten, die in Gelassenheit von Stufe zu Stufe stieg.

Bel-shalti-Nannar war nicht da, so konnte Moiria in Ruhe ihre Gedanken fließen lassen, wo immer sie hinwollten. Sie war die jüngste der Priesterinnen im Tempelbezirk, doch sie lebte nicht mit den anderen im Kloster, sondern war im Palast aufgewachsen. Da sie derselben Familie entstammte wie Bel-shalti-Nannar, war sie nach der Tradition von ihr adoptiert worden und als spätere Nachfolgerin im Amt der Hohepriesterin vorgesehen.

Gerade fünfzehnjährig war Moiria gerne noch ein Kind, und so oft und solange es möglich war, wollte sie von den ihr auferlegten diversen Pflichten frei sein. Ihre Gestalt war mädchenhaft schmal und die Helligkeit ihrer Haut stand im Kontrast zu ihrem dunklen Haar und den Augen, die die Farbe ändern konnten wie das Meer.

Wenn Moiria ihren Gedanken freien Lauf ließ, dann verging die Zeit so schnell, als gäbe es sie nicht. Und was ihr wie ein Augenblick erschien, musste wohl eine lange Zeit gewesen sein, denn Bel-shalti-Nannar, die sie eben noch weit weg wähnte, stand dann plötzlich vor ihr, um sie zu ermahnen.

»Mein Kind«, sagte sie dann – so begann sie immer, wenn sie mit Moiria sprach –, »du lässt deine Gedanken schweifen. Kontrolliere sie, setze sie zielgerichtet ein oder sei leer von ihnen und versinke in innerer Stille!«

Moiria kannte diese Worte zur Genüge, sie kannte sie auswendig, oft hatte sie sie vernommen. Sie übte wohl das eine oder andere, aber der Zwänge waren zu viele, wie sie fand. So war sie froh um jede Gelegenheit, bei der sie in ihren Gedanken die Enge des großen Palastes verlassen konnte. Dabei fingen diese an, selbstständig zu werden. Ein Gedanke holte den anderen heran. Sie waren wie unsichtbare Fäden, die miteinander verknüpft waren und an denen immer neue hingen. So hatte das Spiel kein Ende, es konnte immer weitergehen, Moirias Gedankenspiel.

Jedes Mal, ehe sie damit begann, nahm sie sich vor, aufzuhören, bevor Bel-shalti-Nannar dazukam und sie überraschte, doch nie gelang es ihr; immer wurde sie inmitten ihrer Träume gestört. So würde es wohl auch diesmal wieder geschehen, so sehr sie sich auch bemühte, mitten aus ihren schönsten Gedanken würde sie geholt werden, und Bel-shalti-Nannar würde sie ermahnen. Doch das wollte Moiria hinnehmen. Bel-shalti-Nannar kam sowieso viel zu früh zurück. Vielleicht noch früher. Sie war immer für etwas Unerwartetes gut.

Bel-shalti-Nannar stand auf der obersten Plattform der Zikkurat. Trotz ihres hohen Alters hielt sie sich tadellos aufrecht und ihr mehrstöckiger, ausladender Kopfputz saß kerzengerade. Auch war sie mit guter Körperfülle gesegnet, ganz im Gegensatz zu einigen der älteren Priesterinnen, deren Gesichter und Körper durch all die jahrelange Entsagung mager und ausgezehrt waren.

Bel-shalti-Nannars Palast war von ihrem Vater Nabonid erbaut worden. Das imposante Gebäude, das ganz nach ihren Wünschen gestaltet worden war, gruppierte sich in seiner Bauweise um eine Reihe von Lichthöfen herum. Der größte und zugleich Haupthof lag unmittelbar vor dem Empfangssaal, in dem auch ihr Thron stand. Das Zedernholz für die Säulen, Balustraden und filigran durchbrochenen Wandverkleidungen war auf Karawanen von weit hergeholt worden. Mosaike und edle Ausstattung, die niemals überladen wirkten, entsprachen Bel-shalti-Nannars Hang zu gediegener, kostbarer Schlichtheit. So hatte der Palast trotz der teilweise sehr dicken Mauern etwas Luftiges und Leichtes.

Über eine Brücke, die einen neben dem Palast vorbeiführenden Kanal überquerte, der mitten durch Ur zog, konnte der heilige Bezirk erreicht werden, dessen gewaltige Umfassungsmauern verschiedene Tempel und Gebäudekomplexe beherbergten, wie den Ningal-Tempel, die Zikkurat, auf der der Hochtempel des Nannar stand, das Priesterinnen-Kloster, die Schule der Schreiber, das Museum, das Schatzhaus, Korn- und Vorratsspeicher sowie die Plätze der Handwerker.

Als Bel-shalti-Nannar jetzt auf ihren Palast hinübersah, verzog sie ihren Mund schräg nach unten. Manchmal widerte ihr großer Hof sie an, mit all den Menschen. Immer mehr Weihrauch ließ sie verbrennen, um die Luft zu reinigen von all der Habgier und Hinterlist, von all dem Zersetzenden, von all dem Niederen, das diese Schmarotzer verströmten. Tag um Tag kostete der Unterhalt ihres Hofes sie einen beachtlichen Betrag. Nicht so viel wie der Haushalt des persischen Satrapen in Babylon, der verschlang in einem Jahr weit mehr Talente Silber, aber immerhin, es war beachtlich.

Was bestimmte Dinge anging, so fürchtete Moiria sich, erwachsen zu werden. Die Verantwortung und die Pflichten des Amtes, das sie, als Nachfolgerin Bel-shalti-Nannars, einmal innehaben würde, schreckten sie. Schon lange taten sie das.

Meist schob sie solche Sorgen einfach weg. Doch heute gelang es ihr nicht. Die Bedrängnis kam mit Nachdruck. Es war ein Zwiespalt, in dem sie sich befand und der sich nun nicht mehr leugnen ließ, das musste sie sich eingestehen. Einerseits hoffte sie, dass Bel-shalti-Nannar noch ewig lebte, damit sie noch lange nicht deren Platz einnehmen müsse, denn riesenhaft und ängstigend schien ihr das Gebilde zu sein, das Bel-shalti-Nannar inmitten des persischen Reiches geschaffen hatte. Andererseits war sie deren Reden, wohlmeinenden Belehrungen, Übungsstunden und Ratschläge mehr als überdrüssig. Sie waren zu viel und zu eindringlich. Wenn Moiria sie mit einem bloßen Achselzucken hätte abtun können, wäre es ein Leichtes gewesen. Aber das ging nicht. Nicht bei Bel-shalti-Nannar. Es lag an ihrer Allgegenwart und, wie es Moiria schien, auch an ihrem Blick, dem nichts verborgen blieb. Ganz gleich ob sie die Augen offen oder geschlossen hielt, sie konnte in Moiria hineinsehen, ob Moiria das wollte oder nicht.

Bel-shalti-Nannar hatte es nach Moirias Meinung leicht, weil sie keine Rolle zu spielen brauchte. Sie war sie selbst. Die Übereinstimmung von Bel-shalti-Nannar als solcher und Bel-shalti-Nannar als Hohepriesterin war vollkommen. Warum das jedoch so war, das entzog sich Moirias Kenntnis. Ob sie sich das Amt der Hohepriesterin für sich passend gemacht hatte oder ob sie schon immer so gewesen war, das konnte Moiria nicht auseinanderhalten.

Wie, so fragte sie sich oft, sollte es ihr, die doch so anders war, jemals gelingen, so zu sein wie Bel-shalti-Nannar? Nahezu unerreichbar schien es ihr.

Am Anfang hatte Bel-shalti-Nannar wohl angenommen, es sei nur eine Frage der Zeit, und das Beispiel, das sie vorlebte, würde das Seine schon dazutun. Deshalb hatte sie Moiria oft sich selbst überlassen und nur ab und zu, zwischen ihren vielen Beschäftigungen, sich ihr zugewandt. Moiria war es lieb so gewesen und sie hatte dabei nichts vermisst. Sie hatte sich wohlgefühlt, geborgen und zu Hause inmitten der Priesterinnen, der Besucher und der Gäste.

Doch seit einiger Zeit hatte sich das geändert. Bel-shalti-Nannar ließ Moiria nicht mehr in Ruhe. Sie hatte genaue Vorstellungen davon, wie ihre Nachfolgerin einmal sein sollte, und arbeitete daran, Moiria dementsprechend zu formen. Je mehr Bel-shalti-Nannar von Moiria verlangte, umso mehr widersetzte sie sich ihr. Und umso mehr Moiria das tat, umso eindringlicher wurde Bel-shalti-Nannar in ihren Bemühungen.

Bel-shalti-Nannars Blicke waren wiederum von der Zikkurat hinüber zum Palast gewandert. Sie war höchst unzufrieden mit Moirias Entwicklung. Eine Ausbildung, die ihresgleichen suchte, ließ sie ihr angedeihen. Aber das Kind begeisterte sich nicht dafür. Sie hatte schon vieles versucht, um zu erreichen, dass Moiria endlich annahm, was sie ihr zu vermitteln suchte.

Sie hatte Druck ausgeübt, aber einsehen müssen, dass das nur das Gegenteil des Gewünschten bewirkte. Moiria verschloss sich vor ihr. Dann war sie es anders angegangen und hatte Moiria eine Weile gar nicht beachtet. Aber Moiria war das nur recht gewesen.

Schließlich hatte Bel-shalti-Nannar wieder lange Gespräche mit Moiria geführt, um sie zu überzeugen. Jedoch auch das hatte nicht zum gewünschten Erfolg geführt. Es war ihr unbegreiflich. Jedes andere Mädchen hätte alles darum gegeben, um an Moirias Stelle sein zu dürfen. Die anderen Priesterinnen, die niemals die Gelegenheit haben würden, zum Rang der Entu, der Hohepriesterin, aufzusteigen, zerrissen sich fast, um zu zeigen, wie ernst sie ihre Ausbildung nahmen. Alle hätten es als Krönung ihres Lebens erachtet, von ihr, Bel-shalti-Nannar, lernen zu dürfen und eines Tages zu übernehmen und fortzuführen, was sie sich erarbeitet hatte.

Sie senkte die Lider und konzentrierte sich auf Moiria. Sie wollte wissen, was das Kind gerade tat. Nach einigen Atemzügen in tiefer Entspannung erschien Moirias Bild vor ihrem inneren Auge. Es war so, wie sie vermutet hatte. Nicht einmal die einzige Übung, die sie Moiria für den heutigen Nachmittag vorgeschlagen hatte, führte das Kind aus.

Moiria saß zwischen einigen Kissen und hatte die Augen ins Weite gerichtet. Bel-shalti-Nannar schnaubte. Gerade das, was sie verhindern wollte, tat Moiria nun wiederum. Schon war sie an der Treppe, um hinunterzusteigen, zum Palast hinüberzueilen und Moiria zum soundsovielten Male auf die Folgen unachtsamer Gedanken aufmerksam zu machen, die sich ebenso verwirklichten wie alle anderen auch, da besann sie sich eines Besseren und hielt inne.

Was würde es nützen, Moiria einen weiteren Vortrag zu halten? Nichts würde es nützen, gar nichts! Stille war auf der Zikkurat und Klarheit. Trauer war in Bel-shalti-Nannar. Sie würde nicht zu Moiria gehen, sie würde bleiben, ganz genau so, wie sie es sich für heute vorgenommen hatte. Sollte Moiria nun endlich lernen, die Folgen für sich selbst zu verantworten. Schmerzlich wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder sich selbst zu.

Moiria empfand sich so ganz anders als Bel-shalti-Nannar und seit einiger Zeit so unverstanden von ihr. Eigentlich war überhaupt niemand mehr da, der Verständnis für sie hatte.

Josua, ihr Freund aus der Kinderzeit, kam nur noch selten in den Palast. Bel-shalti-Nannar hatte ihn von ihr entfernt. Josua hatte sie verstanden. Alles hatte sie ihm sagen können, alles. Jedes Mal, wenn sie das, was sie auf dem Herzen hatte, bei ihm ausgesprochen hatte, war es nur noch halb so schwer, und wenn sie dann gemeinsam noch darüber lachen konnten, dann war es ganz verschwunden. Josua hatte niemals etwas beurteilt oder verurteilt, bei ihm war jedes Wort gut aufgehoben, sogar Geheimnisse. Stundenlang haben sie nebeneinander an ihrem Lieblingsplatz auf dem Dach gesessen, hatten kleine Pfeifen geschnitzt und Früchte gegessen. Gemeinsam hatten sie den Palast durchstreift, die Wachen geneckt und die Besucher geärgert. Sie hatten die Magazine durchstöbert, sich Naschwerk aus dem Küchenhaus geholt und endlose Tage der Kindheit miteinander geteilt.

Bel-shalti-Nannar hatte der Kinderfreundschaft einige Jahre zugesehen und dann, als Moiria heranwuchs, Josua kurzerhand und ohne Vorankündigung eine Aufgabe als Hirte draußen vor der Stadt zugewiesen. Damit war Moirias Kinderzeit von einem Tag auf den anderen zu Ende gewesen. Von nun an waren nur noch die Erwachsenen um sie, von denen sie seit je wie eine Erwachsene behandelt worden war.

Seit Josua nicht mehr da war, gab es niemanden mehr, von dem sie sich wirklich verstanden fühlte. Bei Bel-shalti-Nannar fand sie kein offenes Ohr. »Du bist nicht irgendein Kind«, hatte sie ihr gesagt. »Du hast eine Aufgabe zu erfüllen, auf die du vorbereitet sein musst. Und eben dies, wofür du Verständnis möchtest, behindert deine weitere Entwicklung.«

Dies wiederum verstand Moiria nun nicht. Bel-shalti-Nannar besaß immer die sichere Überzeugung, genau zu wissen, was gut und richtig, was überflüssig war und was noch dazugehörte. Um diese Sicherheit beneidete Moiria sie. Bel-shalti-Nannar, die immer alles wusste, die immer etwas tat, sich scheinbar niemals auszuruhen brauchte, die herrschte wie eine Königin und die Menschen gebrauchte und hin und her schob wie Figuren auf einem Brettspiel in ihrem Spiel der Macht.

Bel-shalti-Nannar war mächtig. Das gehörte zu ihr, das kannte Moiria nicht anders, aber es erschreckte sie in seiner Deutlichkeit. Sie dachte an all die Menschen, die in den vergangenen Jahren im Palast ein- und ausgegangen waren – Gesandte aus vielen Ländern, hohe Beamte der Perser, Kaufleute und Abenteurer –, und sie ermaß die Bedeutung dieser Kontakte. Bel-shalti-Nannars großer Empfangshof war immer reich besucht. Es wimmelte förmlich von bunter Vielfältigkeit der Farben und Charaktere.

Früher hatte Moiria es nur genossen zu schauen, stundenlang. Dass Bel-shalti-Nannars Thron oft leer geblieben war, während sich die Gäste davor tummelten, war Moiria erst mit den Jahren aufgefallen.

Der Thron blieb deshalb leer, weil Bel-shalti-Nannar es vorzog, sich zu Einzelbesprechungen in ihren kleineren, privaten Empfangsraum zurückzuziehen. Hier wurde das Eigentliche ausgehandelt, Aufträge erteilt und über deren Ergebnisse Rechenschaft abgelegt.

Nicht nur hohe Politiker und Gesandte anderer Länder empfing Bel-shalti-Nannar, sondern auch Personen, die durch ihr verwegenes Äußeres Aufmerksamkeit erregten. Und manche Augen, in die Moiria oft im Vorbeigehen gesehen hatte, waren wie abgrundtiefe Löcher, aus denen kein Lichtfunke schimmerte und in denen kein Widerhall war. Augen, die Werkzeugen gehörten, die für Silber wohl alles taten.

Moiria war nicht wohl zumute, als sie daran dachte, dass auch diese Belange eines Tages die ihren sein würden, und sie wusste nicht, wie sie das Ausmaß der Folgen überschauen und beherrschen sollte. Die Besucher kamen nicht, um die Mondgottheiten Ningal und Nannar zu ehren oder ihnen zu opfern, sie kamen, weil sie in die Fäden Bel-shalti-Nannars verstrickt waren. Das Spiel der Macht zog sie an. Und Bel-shalti-Nannar spielte es mit jedem Jahr meisterhafter, und die Umsetzung ihres Willens gelang ihr schneller und durchschlagender. Immer stärker liebte sie das Ausleben ihrer Macht.

Moirias Vater Nebukadnezar stand in seinem Wagen und fuhr auf Ur zu. Er hatte sein Herz verschlossen. Immer seltener öffnete er es. Und wenn er es öffnete, dann tat er es nur, um auf Unterstützung von außen zu hoffen. Doch das Offensein für die Hoffnung schmerzte ihn, weil er damit auch offen war für Verletzung und Enttäuschung. Wie viele Jahre hatte er schon vergebens gewartet auf ein Ereignis, das ihm helfen würde, endlich sein rechtmäßiges Erbe anzutreten! Und so verschloss er sich immer mehr und verhärtete sein Herz.

Bel-shalti-Nannar hatte ihn nie in der Weise unterstützt, wie er es von ihr erwartet hatte, obwohl sie seine Tante war. Nebukadnezars Vater, Bel-shalti-Nannar und Belshazzar waren Geschwister, Kinder aus der Verbindung von Nitocris, der Tochter Nebukadnezars dem II., und Nabonid, der bis zur Machtübernahme der Perser König von Babylon war.

Belshazzar, der älteste Sohn, und seine Nachkommen waren während Kyrosʼ Einmarsch ums Leben gekommen. Nebukadnezars Vater hingegen hatte sich zu dieser Zeit nicht in Babylon aufgehalten. Durch ihn, als einzig überlebenden königlichen Sohn Nabonids, war die Linie der Familie fortgeführt worden, deren männliches Oberhaupt er nun war.

Schon als er noch ein Kind war, hatte das Sinnen danach, den Persern die Herrschaft zu entreißen und den babylonischen Thron einzunehmen, den wichtigsten Platz in seinem Leben eingenommen. Doch die Jahre waren vergangen, ohne dass es die wirkliche Gelegenheit für einen großangelegten, durchschlagenden Erfolg gegeben hätte. Wohl hätte er längst einen lokalen Aufstand durchführen und sich zum König ausrufen lassen können; das hatten vor ihm schon viele versucht, jedoch nach kurzem Erfolg waren sie niedergeschlagen worden.

Um so etwas zu unternehmen, dazu besaß er zu großen Weitblick. Der Angriff gegen die Perser musste anders begonnen werden, von mehreren Fronten aus und mit Hilfe Verbündeter. Könnte es gelingen, dann wäre die Thronfolge an ihm, und ein Sohn der Chaldäer würde wieder in Babylon herrschen.

Doch die Wirklichkeit sah im Augenblick anders aus. Er musste sich in Uruk mit Besitztümern begnügen, die, gemessen an ganz Babylonien, bescheiden waren. Darüber hinaus war ihm ein persischer Beamter zur Seite gestellt, der seine Erträge aus Land-, Viehwirtschaft und Handel überwachte. Dieser Beamte war zugleich lokaler Schatzmeister. In regelmäßigen Abständen zog er hohe Abgaben von ihm ein.

Wie das ganze Volk litt er unter den Steuern, denn die Perser bereiteten weitere Kriegszüge gegen die Griechen vor, die Unsummen kosteten. Doch nicht nur das, seine Aufseher waren für die persische Armee rekrutiert worden. Deshalb mussten Nebukadnezars Wagenlenker und die Männer, die ihn sonst begleiteten, vorübergehend auf seinen Feldern und Dattelhainen aushelfen. Jede Hand wurde gebraucht, bis er neue Arbeitskräfte beschaffen konnte, die bei der Ernte halfen. Das war die Lage, mit der er zu leben hatte und die ihm so ganz und gar nicht gefiel.

Der Thron, auf dem Bel-shalti-Nannar saß, war der einzige Machtfaktor, den die Familie damals, bei der persischen Machtübernahme behalten hatte. Kyros hatte dem Volk seinen Glauben und seine Götter gelassen, wohl wissend, dass er leichter regieren könne, wenn die Menschen ihm gewogen wären. Babylon behielt seinen Stadtgott Marduk und Ur den Mondgott Nannar mit seiner irdischen Gemahlin und Stellvertreterin Bel-shalti-Nannar.

Seitdem hatte es Bel-shalti-Nannar verstanden, die reichen Schenkungen, die Nabonid dem Nannar- und Ningal-Heiligtum übereignete, als er das alte Amt für seine Tochter neu einrichtete, um ein Vielfaches zu mehren. Auch ihre einflussreichen Beziehungen immer weiter auszubauen gelang ihr, und das in einer Weise, die nach außen hin alles im Namen des Mondkultes und zum Wohle der Stadt Ur erscheinen ließ.

Bel-shalti-Nannar war die Herrscherin eines gewaltigen Gefüges geworden. Die Steuerfreiheit und die Unantastbarkeit des heiligen Bezirks sicherten ihr riesige Handelsgewinne. Durch den Schutz der persischen Machthaber, den sie in all den Jahren genossen hatte, war sie nahezu unangreifbar. Feinde, derer sie sich viele gemacht hatte, konnten wegen ihrer besonderen Stellung als Hohepriesterin nicht direkt gegen sie vorgehen, meistens waren ihnen diesbezüglich sogar völlig die Hände gebunden. Die Angriffe ihrer Gegner mussten deshalb auf Umwegen stattfinden, und wenn sie nicht überhaupt im Sande verliefen, erreichten sie Bel-shalti-Nannar nur in abgeschwächter Form, so dass es ihr ein Leichtes war, sie abzuwehren.

Wer es mit ihr aufnehmen wollte, der musste ihr deshalb mehr als gewachsen sein. Manch einer, der dachte, er könne dies, wurde nach kurzer Zeit einer ihrer Handlanger, den sie benutzte und wieder wegwarf, um ihn erneut zu gebrauchen, wenn er ihr wieder nützlich sein konnte. Wer nicht mehr wollte, der musste weitermachen, denn eines wollte er doch: die Macht, die er schon besaß, auch wenn sie noch so gering war, nicht mehr hergeben.

Auch der Familie gegenüber hatte sie immer spüren lassen, dass sie das Sagen hatte und alle von ihr abhängig waren. Bel-shalti-Nannars Ableben würde ein Hindernis weniger für Nebukadnezar bedeuten. Auf ihren Tod wartete er seit dem Tag, an dem sie, die ehe- und kinderlos bleiben musste, seine Tochter Moiria als ihre Nachfolgerin adoptiert hatte. Von dem Augenblick an, wo Moiria die Hohepriesterin sein würde, konnte er Einfluss nehmen, und, mit Hilfe der Möglichkeiten, die er durch sie zur Verfügung hatte, Vorbereitungen treffen, um im geeigneten Moment loszuschlagen.

Seit Moiria als kleines Mädchen zu Bel-shalti-Nannar gekommen war, hatte sie ihre leibliche Mutter nicht mehr gesehen. Bereits vor ihrer Geburt war bestimmt worden, dass die erstgeborene Tochter Nebukadnezars von Bel-shalti-Nannar adoptiert werden würde. Moirias Mutter war überzeugt gewesen, dass sie sich und ihrer Tochter viel Leid ersparen könne, wenn sie, im Hinblick auf die bevorstehende Trennung, die Bindung zwischen sich und ihrem Kind nicht zu eng werden lassen würde.

Nachdem Moiria geboren worden war, tat Bel-shalti-Nannar, wie Moirias Mutter es vorausgesehen hatte, alles, um möglichst früh eine Beziehung zu Moiria aufzubauen. Sie wurde in regelmäßigen Abständen von Uruk nach Ur zu Besuch gebracht. Es waren dann Süßigkeiten für sie aufgestellt und Bel-shalti-Nannar spielte mit ihr. Moiria durfte sich alle Spiele wünschen. Bel-shalti-Nannar beschäftigte sich mit ihr in einer Weise, wie Moiria es bei keinem anderen erlebte. Sie erhielt von Bel-shalti-Nannar all das, nach dem sie sich sehnte und was ihre leibliche Mutter ihr nicht zu geben wagte, um ihr den Schmerz der Trennung zu ersparen.

Moiria gefiel es in Ur, wo sie so besonders behandelt wurde. Aber sie liebte auch ihr Zuhause, obwohl ihre Mutter sich inzwischen viel mehr ihrer zweitgeborenen Tochter Ina zuwandte, einem Kind, das nun wirklich ihr eigenes war und das keiner ihr nehmen konnte. Einmal, Moiria kam soeben von einem Besuch in Ur zurück, sah sie, wie ihre Mutter gerade Ina besonders liebevoll in ihren Armen wiegte und mit weicher Stimme ein Lied dazu sang. Moiria sagte: »Aber, du bist doch auch meine Mutter, nicht nur Inas.«

Mutter sah Moiria aus ernsten Augen an und sagte: »Bel-shalti-Nannar ist bald deine Mutter.«

Moiria sah hinab auf ihre Hand, in der sie einen entzückenden kleinen Spiegel hielt, den Bel-shalti-Nannar ihr geschenkt hatte. Sie nahm ihn auf und sah hinein. Darin erblickte sie ihre Augen. Groß und traurig waren sie. Ganz fest sah sie hinein, bis diese sich mit Tränen füllten. Dann konnte sie den Anblick nicht mehr ertragen. Sie ließ den Spiegel schnell sinken und rannte davon.

In Ur würde ihr Leben beginnen, erst dort, nicht hier.

Als Moiria dann bald darauf nach Ur übersiedelte und bei Bel-shalti-Nannar lebte, kam Mutter nicht zu Besuch. Sie fragte Nebukadnezar jedes Mal: »Wo ist Mutter, wann kommt sie mit?«

Er sagte dann immer: »Ein andermal vielleicht.«

Mutter kam nie mit. Irgendwann hörte Moiria auf zu fragen. Das Gesicht der Mutter, mit den ernsten Augen und der zarten, blassen Haut, das sie zunächst noch deutlich vor sich hatte sehen können, wurde mit der Zeit ein Schemen. Für Moiria war Bel-shalti-Nannar ihre Mutter, und sie liebte sie, trotz allem Unwillen und trotz aller Aufsässigkeit, die sie ihr so oft entgegenbrachte. Sie bewunderte die Stärke dieser bemerkenswerten Frau, die wie ein Kaleidoskop immer Neues, Schillerndes hervorbrachte.

Nachdem Moiria ganz zu Bel-shalti-Nannar gezogen war, durfte sie Ur nicht mehr verlassen. Vom Palast bis zum heiligen Bezirk, auf die Zikkurat hinauf und manches Mal bis zu den Stadtmauern führten ihre Wege. Weiter führten sie nicht, nur ihre Träume. Die Wege, die weiterführten – zur Mündung des Stromes, über die Meere, in ferne Länder – die gingen andere. Männer wie Jesed oder Tamkaru gingen diese Wege und Moiria bewunderte sie sehr. Sie kannten alle Länder der Welt, und Moiria wünschte sehnlichst, sie auch eines Tages besuchen zu können.

Jedes Mal, wenn Jesed überraschend den Palast betrat, dann war es für Moiria, als ginge zwischen all den Öllampen und Schwaden des Rauches der Duftharze ein Stern auf. Wenn er in den Empfangshof des Palastes hereinrauschte und seine weißen Gewänder dabei knisterten, war es Moiria, als bringe er einen belebenden Lichtstrahl zu ihr, in die Welt des Mondgottes, und sie könne teilhaben an dem Leben draußen, an der Sonne und an der Bewegung.

Jesed gehörte zu den Männern, die Bel-shalti-Nannar respektierte und denen gegenüber sie ein gewisses Wohlwollen hegte. Das Wohlwollen zu ihm hätte aber sofort in ein Fuß-auf-die-Brust umgeschlagen, falls auch er sich hätte abfertigen lassen, wie sie es zu tun pflegte, wenn ihr nicht Einhalt geboten wurde. Zu gern hätte sie ihn ganz einbezogen in ihr Spiel, doch es gelang ihr nicht so, wie sie wollte. Manches Mal konnte sie ihn für kurze Zeit ködern, aber dann ging er wieder weit fort, hinaus aus ihren Kreisen.

Moiria wusste dann nicht, wo er war, was er tat, welcher Art von Geschäften er nachging und ob und wann er wieder zurückkehrte. Einmal war er drei Jahre lang weggeblieben, ehe er den Palast wieder besuchte. Als Moiria ihn fragte, wo er denn so lange gewesen sei, hatte er geschmeichelt gelacht und gesagt, Dareios habe ihn gebeten, Bewässerungssysteme zu erkunden, die dem Qanat im persischen Hochland überlegen seien. Es klang sehr wichtig, und das war es wohl auch, wenn der persische Großkönig Jesed darum bat.

Auch Tamkaru, der Kaufmann, kannte wie Jesed all die Länder, in die Moirias Träume führten.

Sie freute sich immer schon auf den Augenblick, wo er den Palast wieder betreten und hoffentlich für viele Tage in Ur bleiben würde. Er wurde aus dem Reich Kush in Afrika zurückerwartet. Ein Land, in dem es Gold und edle Steine in der Erde gab. Ein Land, in dem wunderschöne Akazien wuchsen und das da, wo es vom Nil, vom Atbara und vom Blauen Nil eingeschlossen wurde, wie ein Paradies sein sollte. Reich war das Land und so schön wie keines sonst, so hatte Tamkaru ihr erzählt. Die Menschen dort seien dunkel und ebenmäßig und liebten es, zu musizieren, zu singen und zu lachen und zu tanzen.

Ein Land der Freude und der Schönheit, dachte Moiria, ein Land wie aus den Märchen, die Bel-shalti-Nannar ihr früher immer vor dem Einschlafen erzählt hatte. Schon malte Moiria sich aus, was Tamkaru ihr wohl diesmal aus diesem zauberhaften Land mitbringen würde, da fiel ihr auf, dass er bereits schon bei seiner unmittelbar vorhergehenden Reise in Kush, in der Stadt Meroë am Nil gewesen war.

Moiria war ratlos. Zweimal hintereinander nach Kush, dafür gab es keinen vernünftigen Grund. Warum hatte sie das nicht schon früher bemerkt? Vielleicht, so schien es ihr nun fast, hatte Bel-shalti-Nannar recht damit, wenn sie sagte, ihre Gedanken seien nachlässig, verworren und abschweifend.

Es war ihr also entgangen, dass Tamkaru wieder nach Kush gereist war. Sie begann zu überlegen. In den Tagen vor seiner Abreise hatte Tamkaru nicht mit ihr über sein nächstes Reiseziel gesprochen und sie hatte nicht danach gefragt, weil sie angenommen hatte, es sei Indien. Jedes Mal, wenn er aus Kush gekommen war, war er im Anschluss daran nach Indien gereist.

Nun erinnerte Moiria sich, kürzlich einen Gesprächsfetzen aufgefangen zu haben. Bel-shalti-Nannar war mit einem Mann, der für sie Aufträge ausführte, in ihren privaten Besprechungsraum gegangen. »Wie weit ist alles gediehen?«, hatte er gefragt, und sie hatte erwidert: »Zu meiner Zufriedenheit. Du erhältst Weisungen, sobald Tamkaru aus Meroë zurück ist.«

Tamkaru war also in Kush gewesen, und sie hatte keine Ahnung davon gehabt. Wenn sie nicht zufällig die Bemerkung gehört hätte, dann wäre ihr erst an Tamkarus Geschenk aufgefallen, dass er nicht in Indien gewesen sein konnte. Warum, fragte sich Moiria, hatte sie eigentlich keine Ahnung davon? Von diesem und von so vielem anderen, von dem sie immer erst erfuhr, wenn es schon geschehen war. Sie wollte ja sehr gerne Ahnung davon haben. Nur, wie sollte sie es anstellen, Dinge zu ahnen, von denen sie nicht wusste? Hinterher zu wissen, das war leicht, aber vorher, das wollte sie können.

Es war immer dasselbe. Sie wusste nicht, während alle anderen zu wissen schienen. Alle wussten – und allen voran Bel-shalti-Nannar. Nur sie selbst, Moiria, wusste nichts. Es musste einen Grund dafür geben. Aber welchen? Sagte man es ihr nicht? Oder hatte man es ihr gesagt und sie hatte nicht hingehört? Oder fragte sie nicht? Vielleicht war es das.

Fragen hätte sie können. Aber was sollte sie denn fragen, wenn sie nicht wusste wonach? Sicherlich könnte sie zu Bel-shalti-Nannar gehen und sagen: »Ich habe das Gefühl, dass es so viele Dinge gibt, die ich nicht weiß.« Das Gespräch würde dann etwa folgenden Verlauf nehmen.

Bel-shalti-Nannar würde sehr wahrscheinlich so oder ähnlich antworten: »Aha, mein Kind ist wissbegierig, das gefällt mir. Was möchtest du denn wissen?«

Und sie würde darauf sagen: »Das weiß ich nicht, darum geht es ja gerade, um die Dinge, die ich nicht weiß!«

»Gut«, würde Bel-shalti-Nannar erwidern, »du weißt also noch nicht, was du mich fragen willst, dann komme morgen wieder, wenn du dir eine Frage überlegt hast.« Oder sie würde einfach sagen: »Mein Kind, das brauchst du jetzt noch nicht zu wissen, ich werde es dir erklären, wenn es an der Zeit ist. Hast du sonst noch eine Frage?«

Von ihr würde sie nichts erfahren, wenn sie etwas herausfinden wollte. Also musste sie allein versuchen, zu ergründen, was Tamkaru in Kush wollte.

Die Güter, die die Kaufleute seit urdenklichen Zeiten aus Kush holten, waren die gleichen geblieben. Tamkaru beförderte sie in regelmäßigen Abständen auf seinen Karawanen und Schiffen. Und sie würden weiterhin gehandelt, auch ohne dass er zweimal hintereinander nach Meroë reiste. Wenn es etwas Neues gegeben hätte, ein seltenes Tier, eine Pflanze, ein Gewürz, ein Duftöl, einen feinen neuen Stoff oder neue Schminke, oder die Künstler sich in einer neuen Fertigkeit übten, Tamkaru hätte ihr beim letzten Mal schon davon erzählt und es ihr längst mitgebracht.

Um was ging es also wirklich? Was hatte Bel-shalti-Nannar vor? Was konnte sie wollen von diesem Land, in dem Tamkaru nun zum wiederholten Mal war? Moiria überlegte, was sie über Kush wusste. Von dort kamen Gold, Edelsteine, Elefantenstoßzähne, Tierfelle, Ebenholz, Harze und Augenschminke. Es war der südliche Nachbar des von den Persern besetzten Teils Ägyptens und sein Pharao hieß Siaspiqa. Mehr wusste sie nicht über Kush. Es war nicht allzu viel, wie sie zu ihrer Bestürzung feststellte, obwohl Tamkaru ihr immer ausgiebig davon berichtet hatte.

Ein Land, das so weit weg war und mit dem Bel-shalti-Nannar irgendetwas im Sinn hatte. So sehr Moiria auch versuchte herauszufinden, was es war, sie kam nicht darauf.

Das Leben im heiligen Bezirk war auch durch die Phasen des Mondes geprägt. Bel-shalti-Nannar achtete streng darauf, Reinigungsrituale in Zeiten des abnehmenden Mondes durchzuführen, ging es darum, die Gedanken und Herzen ihrer Priesterinnen und aller ihr Anvertrauten zu reinigen oder Gebäude und Gegenstände von anhaftenden unliebsamen Schwingungen zu befreien. Besonders geeignet waren dazu die Stunden kurz vor dem Neumond, wo die Sogwirkung am größten war und die guten Vorsätze dann sogleich, wenn der Mond wieder zunahm, in die Tat umgesetzt werden konnten.

In der Nacht des Vollmondes wurde eine besondere Zeremonie gefeiert. Mit Fackeln zogen die Priesterinnen durch den heiligen Bezirk. Bel-shalti-Nannar wurde auf einem sänftenartigen, schwindelerregend hohen Thron getragen. Dabei war sie in eine Robe gekleidet, in der sich das Licht des Vollmondes irisierend und schimmernd fing. Die hohe und ausladende Haube, die sie dabei krönte, stand dem Thron um nichts nach. In jeder Vollmondnacht vermählte sich Bel-shalti-Nannar aufs Neue mit Nannar, wenn sie unter den Gesängen der Priesterinnen die Zikkurat emporstieg, um sich in seinem Hochtempel mit ihm zu vereinigen. Die größeren Edelsteine ihres Gewandes und des Kopfputzes sandten stechende Lichtblitze aus, wenn sich das Licht der Fackeln oder des großen Feuers, das entzündet worden war, darin brach.

Moiria durfte bereits als kleines Mädchen an diesem Fest teilnehmen. Wenn Bel-shalti-Nannar es auch mit der Zeit des Zubettgehens bei ihrem Adoptivkind sehr genau nahm, so bildete die Nacht des Vollmondes doch eine Ausnahme, und dementsprechend aufgeregt war Moiria jedes Mal.

Es schien, als ob Bel-shalti-Nannar entrückt wäre, doch ihre Achtsamkeit war hellwach und ihre spirituellen Fähigkeiten ausgeprägter als sonst. Es war dann nicht notwendig, dass sie einen ihrer Kristalle nahm, sie wusste auch so. Die Priesterinnen mussten ihre Gedanken besonders gut im Zaum halten, denn es geschah nicht selten, dass die eine oder andere wegen flatterhafter Gedanken gerügt wurde. Wie sehr erschraken die jungen Priesterinnen, wenn Bel-shalti-Nannar ihnen am nächsten Tag, wenn sie zu einer Art Beichte antreten mussten, auf den Kopf zusagte, welche Gedanken sie während des Vollmondes gehabt hatten. Glaubten sie doch, dass wenigstens in dieser Nacht Träume erlaubt seien oder Bel-shalti-Nannar diese zumindest nicht bemerken würde. Alle, die Schwierigkeiten hatten, sich mit dem Zölibat abzufinden, bekamen das zu spüren. Manche Mädchen, die in ihren Fantasien in den Vollmondnächten an Männer aus Fleisch und Blut dachten, hatte Bel-shalti-Nannar schon während eines gesamten Mondzyklus einmauern lassen.

Wenn Moiria es wollte, dann konnte sie sich schon konzentrieren und die auferlegten Übungen erfüllen, vor allem während der Vollmondnächte tat sie es, denn die Bußen, die auferlegt wurden, waren doch zu abschreckend.

Zum Zeitpunkt des Neumondes fanden sich ebenfalls alle Priesterinnen zu einem schweigenden Ritual im Tempel der Ningal ein. Absolute Stille hatte zu herrschen. Bel-shalti-Nannar verlangte von ihren Zöglingen genau die Qualität der Energien des abnehmenden und des zunehmenden Mondes und des Wechsels zu erspüren.

Wehe, der Zyklus einer der Priesterinnen entsprach nicht dem des Mondes. Sie musste sich dann einem aufwendigen Reinigungsprozess unterziehen, der ihr Innerstes nach außen und ihr Oberstes zuunterst kehrte. War gar eine der Priesterinnen schwanger, dann wurde sie ohne Gnade aus dem Orden verstoßen. Um jedoch das ungeborene Kind zu schützen, ließ Bel-shalti-Nannar insofern Barmherzigkeit walten, als sie das Mädchen, welches gefehlt hatte, bis zur Geburt bei einer zuverlässigen Familie in Ur unterbrachte. Dann erst wurde sie davongejagt. Das Kind blieb unter Bel-shalti-Nannars Obhut und wurde je nach Eignung und Geschlecht als Priesterin, Weberin, Küchenmagd, Schreiber, Handwerker, Viehhirte oder Soldat für die Garde ausgebildet.

2

Moirias Vater ließ sich des Öfteren in Bel-shalti-Nannars Palast in Ur sehen. So hatte er es auch heute vor. Er wollte ein vertrauliches Gespräch mit seiner Tochter führen, denn er befürchtete, dass Bel-shalti-Nannar sie immer mehr beeinflussen und ihm mit der Zeit entfremden könnte. Er wollte sich Moirias vergewissern. Ihrer Unterstützung musste er sicher sein, wenn er seine Pläne in die Tat umsetzen wollte.

Doch noch war ihm Bel-shalti-Nannar im Wege. Denn sie hatte nicht vor, ihm bei der Vorbereitung und Durchführung des Krieges gegen die Perser zu helfen. Er wusste genau, dass Bel-shalti-Nannar letztlich dasselbe Ziel verfolgte wie er, wenngleich mit anderen Personen.

In letzter Zeit pflegte sie verstärkt Kontakte mit Kush. Wegen des Goldes tat sie das sicher nicht, davon hatte sie schon mehr als genug. Etwas anderes gab es dort, was sie haben wollte und was für sie kostbarer war als Gold. Es war Eisen.

Sie brauchte Eisenwaffen. Und sie konnte Eisen nicht selbst herstellen. Es gab hier keine Eisenerzvorkommen, und es gab keine Wälder, die Holz geliefert hätten, um die Hochöfen zu heizen. Auch wenn beides vorhanden gewesen wäre, Bel-shalti-Nannar hätte nicht in aller Öffentlichkeit Hochöfen betreiben können, ohne Argwohn bei den Persern zu erregen. Also mussten die Waffen von anderswo bezogen werden, aus Meroë, wo es Eisenerz, Holz und Hochöfen in Fülle gab. Dort würden Pfeil- und Speerspitzen aus Eisen hergestellt und als fertige Waffen auf Tamkarus Karawanen verladen und zwischen seinen Handelswaren hierhergebracht werden.

So weit stimmten Bel-shalti-Nannars und Nebukadnezars Ansicht über die Vorgehensweise überein. Er musste ebenso handeln. Denn auch er benötigte Waffen, um die Rebellen auszurüsten, die seit langen Jahren hinter ihm standen und auf den Tag warteten, an dem sie endlich losschlagen konnten. Es war nur von Vorteil, wenn Bel-shalti-Nannar schon die Vorbereitungen getroffen hatte und durch Tamkarus Vermittlung mit Siaspiqa einig geworden war. Sie würde ihm, Nebukadnezar, in die Hände arbeiten, solange sie noch am Leben war. Für eine kurze Zeit wollte er sie noch gewähren lassen. Nur zu lange durfte es nicht mehr sein. Sie musste sterben, ehe sie ihre Vorsätze weiter ausführen konnte.

Denn was die weitere Zukunft betraf, unterschieden sich seine und ihre Pläne deutlich. Sie hatte ihn bei der späteren Verteilung der Macht nicht vorgesehen und er sie nicht. Er hatte ursprünglich erwartet, dass sie ihn um seinen Rat bitten und ihn mit dem Unternehmen betrauen würde. Denn ohne das Wissen und Können eines Mannes wie er, konnte sie keinen Krieg führen. Er hatte gehofft, dass sie sich für ihn entscheiden würde. Wäre es so gekommen, dann hätte er vorgehabt, sie schrittweise von den Informationen abzuschneiden, bis sie isoliert gewesen wäre. Dann hätte er sie vollends außer Kraft gesetzt.

Bel-shalti-Nannar mochte über langjährige politische Erfahrung verfügen, aber deshalb war sie noch kein Feldherr. Hier war ihr, auch wenn sie es äußerst ungern wahrnahm, eine Grenze gesetzt. Immer hatte sie jedoch auch jenseits dieser Grenze ihren Willen ausführen lassen wollen. Männer waren dabei ihre Erfüllungsgehilfen gewesen. Um sicherzustellen, dass diese ihre Aufträge genau einhielten, belohnte sie sie erst bei Erfolg – mit Silber, mit einem Posten in der Tempelverwaltung, mit der Beteiligung an einem ertragreichen Geschäft oder mit einem neuen, noch anspruchsvolleren Auftrag.

Je fähiger diese Männer waren, umso weniger gab es davon, umso teurer waren sie und umso riskanter wurde es für Bel-shalti-Nannar, sie zu beschäftigen. Sie musste immer noch mehr, noch Begehrenswerteres, noch einflussreichere Positionen bieten und dabei darauf vertrauen, nicht selbst übervorteilt zu werden. Nebukadnezar fragte sich, wer es sein könnte, den sie auf ihr nächstes Ziel ansetzte, und was sie ihm wohl in Aussicht stellte, damit er tätig würde. Sehr viel müsste es sein, mehr als Bel-shalti-Nannar im Augenblick selbst besaß. Im Geiste hatte sie wohl schon ganz Babylonien und Akkad inne und lockte damit.

Er dachte an Jesed: Er könnte der Mann sein, den sie mit ihrem Vorhaben betraute. Er vermutete sehr, dass es Jesed sein würde. Denn Bel-shalti-Nannar und Jesed hatten schon des Öfteren erfolgreich zusammengearbeitet.

Die äußeren Begrenzungen Urs tauchten vor ihm auf und er ließ seine Pferde ausgreifen. Es würde viel geschehen in der nächsten Zeit, und er wollte nicht länger mehr Zuschauer sein, sondern Verursacher, Lenker und Herrscher.

Bel-shalti-Nannars Einstellung Moiria gegenüber war all die Jahre von einem Zwiespalt geprägt. Einerseits achtete sie auf das Sorgfältigste auf ihre Erziehung, andererseits hielt sie sie unwissend. Das hatte zwei Gründe. Zum einen war Bel-shalti-Nannar der Überzeugung, dass sie selbst, wie ihre Vorfahren auch, sehr alt werden würde und noch genügend Zeit bliebe, um Moiria einzuweihen.

Zum anderen hatte Moiria sich nicht so entwickelt, wie Bel-shalti-Nannar es sich gedacht hatte. Sie hatte vorgesehen, dass Moiria sich die Erkenntnis durch langjährige Übungen erarbeiten sollte. Da Moiria aber nur lernen wollte, wenn ihr die Ziele der jeweiligen Aufgaben bekannt waren, diese ihr jedoch meist nicht enthüllt wurden, kam sie nicht voran, und Bel-shalti-Nannar schob den Zeitpunkt, an dem sie Moiria die Essenz ihres Wissens mitteilen wollte, in unbestimmte Ferne hinaus.

Auch wollte Bel-shalti-Nannar sich nicht zu frühzeitig eine Konkurrenz heranziehen, denn je sicherer Moiria sich sein würde, das Amt der Entu auszufüllen, umso größer würde die Gefahr sein, die von Nebukadnezars Seite ausging. Moiria hatte diesen Zwiespalt Bel-shalti-Nannars unbewusst immer wahrgenommen. Da sie ihn aber nicht einordnen konnte, weil die Grenze ihres Denkens an dem Bereich endete, wo das Wissen begann, welches Bel-shalti-Nannar ihr vorenthielt, reagierte sie in der Art eines trotzigen Kindes darauf.

Sie verschloss sich vor Bel-shalti-Nannar, hörte ihr nicht mehr zu, begann ihre Ausbildung zu vernachlässigen und zog sich immer mehr in die Welt ihrer eigenen Gedanken zurück. Das wiederum duldete Bel-shalti-Nannar nicht und begann, Druck auf Moiria auszuüben, die ihrerseits darauf mit noch größerem Trotz antwortete.

Tamkaru befand sich auf der Rückreise nach Ur. Längst hätte er sich zur Ruhe setzen können, doch immer wieder zog es ihn hinaus, zusammen mit seinen Männern und treuen Freunden. In den Karawansereien und unter freiem Himmel war er mehr zu Hause als in seinem kostbar ausgestatteten Wohnhaus in Ur.

Auf der Karawanenroute, die von Meroë zum Roten Meer führte, hatte er die Wüste durchquert. Nun war er an Bord eines seiner Seeschiffe, das entlang der Küste um die arabische Halbinsel segelte. In wenigen Tagen würde er die Insel Telmun erreichen, einen Hauptumschlagsplatz für die Güter der Kaufleute. Tamkaru war gern auf Telmun, mit seinem geschäftigen Treiben, den Rufen der Männer und dem Aufeinandertreffen der verschiedenen Kulturkreise. Doch diesmal wollte Tamkaru sich nicht auf Telmun aufhalten. Es drängte ihn, nach Ur zu kommen. Auch sein Schiff, das er aus Indien zurückerwartete, das in diesen Tagen einlaufen sollte, konnte ihn nicht davon abhalten. Es zog ihn zu Bel-shalti-Nannar. Die Blütenessenzen, die Seidenstoffe und die Perlen aus Indien, die sie wünschte, konnten warten. Das, was er ihr zu sagen hatte, vertrug keinen Aufschub, sondern verlangte größte Eile.

Tamkaru besaß Bel-shalti-Nannars Vertrauen. Er allein wahrte sämtliche Handelsinteressen des enormen Tempeleigentums. Seine und ihre Beziehungen erstreckten sich über das gesamte persische Reich, führten nach Afrika, ans Mittelmeer und bis nach Indien. Ihre Zusammenarbeit bezog sich jedoch nicht nur auf Handelsgeschäfte, er war auch ihr bester Informant. Denn als Kaufmann konnte er überall hinreisen und unter dem Vorwand, Geschäfte abschließen zu wollen, mit jedem sprechen, selbst mit Feinden des persischen Reiches.

Er ging bei den Herrschern ein und aus, er sah und hörte, was in ihren Familien, in ihren Palästen, in ihrem Volk und in ihren Heeren geschah. Wieder zu Hause in Ur, berichtete er Bel-shalti-Nannar, was er erfahren und beobachtet hatte, und sie, die Ur nicht verlassen durfte, wusste auf diese Weise alles, was sie wissen musste, um ihre Netze immer weiter auszuwerfen.

Jedes Mal, wenn Tamkaru nach Ur zurückkehrte, betrat er sein Haus nur, um es unmittelbar darauf wieder zu verlassen. Nach einem Bad, mit neuen Kleidern angetan sowie mit erlesenen Geschenken für Bel-shalti-Nannar und Moiria, führte sein erster Weg zum Palast, wo er bereits erwartet wurde. Moiria war dann jedes Mal ein Stück gewachsen und noch hübscher geworden, während Bel-shalti-Nannar die Gleiche geblieben war – sprühend, geistreich, alterslos und ein Mittelpunkt besonderer Anziehungskraft.

Viele Jahre lang war das so gewesen. Tamkarus und Bel-shalti-Nannars Geschäfte blühten und ihre Verbindungen wurden immer weitreichender. Doch in der letzten Zeit hatte sie sich verändert. Sie war abweisender geworden, in sich gekehrter. Ein gequälter Ausdruck lag in ihrem Gesicht. Ihre Worte waren knapper und entschlossener, ihre Anweisungen duldeten noch weniger Widerspruch als früher, und mancher Gedankengang, an dem sie ihn mit leiser Stimme bruchstückhaft teilnehmen ließ, erfüllte ihn mit Unbehagen. Es war kein Denken innerhalb des Verantwortungsgefüges einer Hohepriesterin mehr. Es war das Denken eines Menschen, der sich nur mehr durch größtmögliche Machtausdehnung Genugtuung verschaffen konnte.

Bisher hatten Tamkarus Ziele und sein Handeln mit dem Willen Bel-shalti-Nannars übereingestimmt, und er hatte große Vorteile daraus gehabt. Aber was nun, wenn es einmal anders wäre?

Moiria konnte sich nicht in den Schlaf fallen lassen. Sie lag wach auf ihrem Ruhebett und sah den Lichtreflexen zu, die über die hohen Palastwände huschten. Von Ferne hörte sie das Gemurmel der Dienerinnen. Auch die Luft war nicht still, sie brauste und vibrierte, so als ob alles Bel-shalti-Nannars hohe Energie angenommen hätte.

Seit Stunden rannen Moirias Tränen. Bis zum Morgen hatte sie noch Zeit, dann sollte keiner mehr sehen, was seit dem Besuch ihres Vaters in ihr vorging und wofür sie keine Lösung sah. Wie auch immer sie es wendete, sie fand nichts, um es wegzuschaffen oder aufzuhalten. Seit sie davon wusste, war es da, mitten in ihrem Leben, und es ließ sich auch nicht rückgängig machen.

Wieder begann sie alle Möglichkeiten zu durchdenken und auch, ob sie sich jemandem wie Jesed oder Tamkaru anvertrauen sollte. Doch sie verwarf es wieder. Einmal, weil sie nicht sicher war, ob die beiden darüber Schweigen bewahrt hätten, Jesed würde es sich vielleicht sogar auf seine Weise zunutze machen, eine zusätzliche Gefahr. Zum anderen, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass einer von ihnen einen Ausweg gekannt hätte.

Längst waren die Laken durchnässt von all den Schluchzern, die sie versucht hatte darin zu ersticken, damit nur keine der Dienerinnen sie hörte. Mehr und mehr kam sie zu der Überzeugung, dass es einen Ausweg gar nicht gab und tatsächlich nur die zwei Möglichkeiten blieben, zwischen denen sie zu entscheiden hatte. Ließ sie Bel-shalti-Nannar eine Warnung zukommen, dann würde diese nicht eher ruhen, bis sie herausgefunden hätte, wer nach ihrem Leben trachtete. Auf Nebukadnezar fiele ihr Verdacht sehr schnell. Moiria wusste, dass sie dann nach einer Gelegenheit suchen würde, ihn umbringen zu lassen.

Das also konnte Moiria nicht tun. Ebenso gut hätte sie Bel-shalti-Nannar gleich die Wahrheit von Angesicht zu Angesicht sagen können. Warnte Moiria sie aber nicht und ließ ihn gewähren, dann bliebe zwar er am Leben, aber Bel-shalti-Nannar wäre in Gefahr. Wie nur sollte Moiria sie davor bewahren, ohne ihren Vater der Rache auszuliefern?

Wenn Bel-shalti-Nannar ermordet werden würde, dann müsste sie ewig mit der Gewissenslast leben, ihren Tod nicht verhindert zu haben. Doch nicht nur das. Sie selbst wäre dann Entu. Allein mit der Macht, der Verantwortung, die sie nicht haben wollte. Allein und ausgeliefert all denen, die jetzt noch taten, was Bel-shalti-Nannar wollte, die aber nur auf ihre Stunde warteten.

Ein Spielball würde sie sein zwischen den Interessen all derer, die je nach Gunst und Gelegenheit für oder gegeneinander arbeiteten. Zwischen all diesen Menschen müsste sie die Zügel von Bel-shalti-Nannar übernehmen, in fliegendem Wechsel, auf einer rasenden Fahrt mit unbekanntem Ziel, über das, wie ihr schien, selbst der Wagen und die Pferde mehr wussten als sie selbst.

Nein, sagte sie sich, nein, das durfte nicht geschehen. Niemals. Den Tag, an dem sie Hohepriesterin werden würde, wollte sie so weit wie möglich von sich schieben. Sie fürchtete sich davor. Wenn er einmal kam, dann sollte er erst in sehr vielen Jahren sein, und sie hoffte, dass sie dann auch bereit dafür sein würde. Vorzeitig, so wie ihr Vater sich das dachte, sollte dieser Tag nicht herbeigeführt werden. Er sollte sein, wenn die Zeit dafür war. Jetzt war sie nicht, noch nicht. Sie wollte es nicht.

Moiria sah an den Palastwänden empor, so als ob diese sie trösten konnten oder eine Lösung wussten. Auch die Wände schienen wach zu sein, das ganze Gebäude und die Nacht selbst waren in Bewegung. Das Singen in der Luft und die flackernden Lichter führten ein eigenes Leben.

Sie hielt die Hände vors Gesicht. Gab es denn kein Entrinnen? Immer stärker stiegen die Übelkeit, die Ablehnung und die Angst in ihr auf. So unvereinbar war alles, dass sie dachte, sie selbst solle zerstört werden, von den Kräften die an ihr zerrten. Das Ansinnen Nebukadnezars, die Forderungen Bel-shalti-Nannars, die Erwartungen, die sie selbst an sich stellte, waren nicht miteinander in Einklang zu bringen. Sie waren unversöhnlich und kämpften gegeneinander, mitten in ihr, genau da, wo es am meisten schmerzte.

Der Besuch ihres Vaters heute hatte zunächst so ausgesehen wie all seine Besuche, die von Zeit zu Zeit stattfanden. Die Beiläufigkeit, mit der er sprach, als er von der Familie erzählte. Die Distanziertheit, mit der er sich nach ihrem Befinden erkundigte. Fast hatte sie geglaubt, er wolle schon wieder gehen, als er endlich zur Sache kam und den eigentlichen Grund seines Besuches enthüllte. Und wie er es gesagt hatte, ebenso beiläufig wie all das andere vorher auch, als ob es ganz selbstverständlich sein müsste. So nebenher hatte er es erwähnt, dass sie zuerst gedacht hatte, er scherze.

Doch dann hatte sie sein entschlossenes Gesicht gesehen, wie aus Stein schien es zu sein. Er wünschte Bel-shalti-Nannars umgehendes Ableben, und da dieses bei natürlichem Verlauf wohl noch Jahre auf sich warten ließe, sollte Moiria es mit Gift in Bälde herbeiführen.

Das konnte er doch nicht verlangen. Niemals konnte er ein solches Ansinnen an sie stellen! Immer noch sah sie sein Gesicht ganz deutlich vor sich. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie von sich weisen würde, was er von ihr wünschte. Er hatte erwartet, dass sie auf seinen Plan eingehen würde, ihm zuliebe, der Familie zuliebe. Sie hatte es ihm angesehen. Er war enttäuscht von seiner Tochter. Ärger und Groll zeigten sich für einen kurzen Augenblick in seinem Mienenspiel, bis er seinen üblichen beherrschten Ausdruck wiederfand. Während sie beide sich angeschwiegen hatten, war in seine Augen ein grauer Schimmer getreten und in seine Mundwinkel etwas Verächtliches.

Wieder packten Moiria die Tränen und schüttelten sie. Warum nur musste alles so sein? Und wie nur, wie sollte es jetzt weitergehen? Was sollte sie tun, jetzt da es Morgen wurde und sie Bel-shalti-Nannar gegenübertreten musste. Dass sie ihr gestern nach Nebukadnezars Besuch nicht mehr begegnet und auch nicht zu ihr gerufen worden war, betrachtete Moiria als außergewöhnlich seltene und glückliche Fügung. Denn Bel-shalti-Nannar hätte ihr sofort angesehen, was sich ereignet hatte.

Ihr Vater wäre dann vielleicht nicht mehr lebend aus Ur herausgekommen. Dank des gütigen Schicksals, das Moiria noch Aufschub geschenkt hatte, bis sie Bel-shalti-Nannar begegnete, war er inzwischen bestimmt wieder zu Hause. Moiria glaubte, dass er erst von dort aus Weiteres in die Wege leiten würde, jetzt, da er ohne ihre Mithilfe war. Vielleicht blieb noch Zeit, vielleicht lange genug, um doch noch einen Ausweg zu finden.

Doch zunächst war es das Wichtigste, dass Bel-shalti-Nannar nichts merkte. Sie durfte es ihr nicht ansehen. Sie durfte nicht aufmerksam werden, auf das scheußliche, das mulmige Gefühl, das sich genau zwischen ihrem Herzen und ihrem Nabel festgesetzt hatte. Es musste weg, ganz schnell weg.

Enki sollte kommen. Moiria nahm einen tiefen Atemzug, setzte sich auf und rief nach ihren Dienerinnen. Die Mädchen stürzten herbei. »Holt Enki, rasch!«, trug sie ihnen auf. Die Dienerinnen entfernten sich.

Moiria saß voll ungeduldiger Erwartung auf ihrem Bett, als Enki nahte. Er strahlte. Stets war er glücklich, wenn er gerufen wurde und helfen durfte. Sein kugelrundes, gutmütiges Gesicht wippte wie sein ganzer Körper beim Laufen.

Enki, der alles für Bel-shalti-Nannars und Moirias Gesundheit tat, hatte wegen der außerordentlichen Heilkraft, die durch seine Hände strömte, viel Leid erfahren müssen. Er war gefangengehalten, ausgenutzt, unterdrückt und in seiner Kindheit entmannt worden. Auf wundersamen Wegen war er schließlich eines Tages nach Ur in Bel-shalti-Nannars Palast geraten. Er fand Vertrauen und Verständnis und ein Zuhause, das ihm Würde ließ. Seitdem war er für Bel-shalti-Nannars Wohlergehen verantwortlich, und ihr einst sehr angeschlagener Gesundheitszustand besserte sich zusehends.

Als er jetzt Moiria erblickte, verzog sich seine Miene sogleich besorgt. Er fühlte ihre Stirn, dann schüttelte er den Kopf und tätschelte beruhigend ihre Hand: »Es ist nicht das Fieber.«

»Enki, es geht mir entsetzlich, so furchtbar wie noch nie! Du musst mir helfen!«

Sein liebes Gesicht war ernst und er betrachtete sie forschend. Er streckte seine Hände aus und hielt sie behutsam in einiger Entfernung oberhalb ihres Nabels. Moiria brauchte nichts zu sagen.

Enki wackelte vorwurfsvoll mit dem Kopf. »Das sitzt so fest, es muss schon länger da sein. Was hast du nur wieder angestellt, warum hast du mich nicht eher gerufen?«

»Es ist erst heute Nacht gekommen und ich habe die ganze Zeit nicht geschlafen!«

»Deshalb siehst du so aus, zum Fürchten.«

»Enki, ich spüre es schon, es wird besser, aus deinen Händen strahlt so viel Wärme.«

»Ich tue, was ich kann, das weißt du doch. Bel-shalti-Nannar darf dich auf keinen Fall so sehen. Sonst regt sie sich nur wieder auf, und das ist nicht gut für sie!«

Moiria fühlte sich bereits leichter. Wie ein warmer, heller Strom floss es aus Enkis Händen und durchrieselte sie. Das Kalte und Dunkle begann sich zu verflüchtigen.

Enki schloss die Augen, während er alle Heilkraft, die strömte und die er zu leiten vermochte, weitergab. Ein paar Tränen rannen dabei über seine dicken, runden Wangen.

Moiria ging es immer besser. Das Kalte, Dunkle war lichter geworden. Immer weicher und durchlässiger wurde es, bis es sich vollends auflöste. Sie streckte sich wohlig aus und hätte am liebsten einschlafen mögen. Sie gähnte. Enki nickte zufrieden, tätschelte ihr noch einmal die Hand, dann ging er hinaus.

Schräg unter ihren Haaren hervor sah Moiria auf das Tablett mit den frisch aufgeschnittenen Früchten und dem Tee, das inzwischen hereingebracht worden war. Sie betrachtete es eine Weile, unschlüssig, ob sie aufstehen oder noch liegen bleiben sollte. Schließlich raffte sie sich auf. Das scheußliche Gefühl war verschwunden. Sie dehnte sich. Wie gut, dass es einen Enki gab. Und wie gut, dass er verschwiegen war. Falls Bel-shalti-Nannar schon am so frühen Morgen bemerkt hätte, dass Moiria hatte behandelt werden müssen, dann hätte Enki, falls sie ihn darüber befragt hätte, mit liebenswürdigem Lächeln etwas völlig Harmloses gesagt. Beispielsweise, dass er sich plötzlich in Sorge um Moirias Gesundheitszustand befunden habe und bei ihr war, aber zu seiner Freude sagen könne, dass es ihr sehr gut ginge. Das war keine Lüge und außerdem musste Bel-shalti-Nannar nicht alles merken.

Moiria nahm einen Spiegel und blickte hinein. Sie sah aus, als ob sie eine erholsame Nacht besten Schlafes und schönster Träume erlebt hätte. Sie gefiel sich. Das war also geschafft. Sie würde später wie immer in Bel-shalti-Nannars Hof gehen können, ohne dass jemand etwas von ihren Sorgen bemerkte.

Das scheußliche Gefühl war fast verschwunden. Moiria trank ein paar Schlucke und aß ein paar Bissen. Sie würde sich heute etwas sehr Gutes überlegen müssen. Sofort wollte sie damit beginnen, sobald sie angekleidet war.

Die Früchte waren heute nicht richtig süß. Sie versuchte von einer anderen Sorte, auch die schmeckte nach nichts. Im Tee dagegen war zu viel Honig, er war widerlich schal und dabei fast klebrig. Missmutig schob sie alles von sich.

Sie wusste, dass sie irgendetwas unternehmen musste, ohne jedoch zu wissen, was. Sie wusste, dass sie auf jeden Fall etwas zu tun hatte. Widerwillen erfüllte sie, gegen das Tablett, gegen den Raum und gegen die Unabänderlichkeit. Je länger sie die Früchte voll Unbehagen anstarrte, umso mehr überkam sie die Vorstellung, dass dieser Tag verstreichen würde, ohne dass sie eine Lösung gefunden hätte, dass auch die folgende Nacht und die darauffolgenden Tage und Nächte so vergehen würden.

Das scheußliche Gefühl war wieder da. Es kletterte hoch, durch ihr Herz, in ihren Hals. Es würgte sie und sie hätte laut schreien und das Tablett gegen die Wand schleudern mögen.

Nachdem Moiria an diesem Morgen ein zweites Mal nach Enki hatte rufen lassen, ging sie schließlich einigermaßen gefasst in Bel-shalti-Nannars großen Empfangsraum.

Dort toste es bereits von Stimmenlärm. In der Luft war milchiges Dämmerlicht, gespeist von den vielen Öllampen und Rauchbecken. Nur vereinzelte Sonnenstrahlen fielen vom großen Haupthof herein und beleuchteten die eine oder andere Szene. Der Thron war leer, aber sicher war Bel-shalti-Nannar irgendwo in der Nähe, ihre Gegenwart lag förmlich in der Luft.