Im Tempel - Werner Lutz - E-Book

Im Tempel E-Book

Werner Lutz

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Beschreibung

Der Tempel Der Tempel ist das neue Einkaufszentrum, das im Stadtzentrum gegen den Widerstand vieler Bürger entstanden ist. In ihm treffen sich in einem versteckten Kellerraum heimlich Jugendliche und Linke, die regelmäßig politische Aktionen in dem Einkaufszentrum durchführen: gegen schlechte Arbeitsbedingungen bei Textilarbeiterinnen in Bangla Desh, gegen Massentierhaltung, gegen Konsumterror. Der Tempel ist aber auch ein altes Schloß irgendwo im Südharz, das im Nationalsozialismus als Krankenhaus fungierte, in dem Kinder dem Euthanasieprogramm der Nazis zum Opfer fielen. Eines Tages kommt Stefan in das Einkaufszentrum. Er ist verstört und orientierungslos und wird von den Jugendlichen aufgenommen. - Die Mutter des jungen Mannes wurde am Abend zuvor ermordet. Unklar ist, ob er etwas damit zu tun hat. Helmut Bruckner und seine Kollegin Brigitta Wagner, zwei Beamte aus dem Kriminalkommissariat, beginnen zu ermitteln. Vieles deutet auf einen Selbstmord der alten Dame hin. Andererseits stand, als die Leiche zufällig gefunden wurde, ihre Wohnungstür sperrangelweit offen. Die Ermittlungen führen die Kriminalpolizei bald in die Vergangenheit der nie aufgearbeiteten NS-Euthanasieverbrechen in der Stadt.

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Seitenzahl: 493

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Im Tempel

Der TempelTeil ITeil IITeil IIIImpressum

Der Tempel

Prolog

Es war ein diesiger Tag im November.

Kein Sonntag, kein Feiertag, kein Gedenktag. Ratten kennen keine besonderen Tage. Ihre Tage unterscheiden sich allenfalls darin, daß es im Sommer heller ist als im Winter.

Es war also ein ganz normaler Rattentag, als sie endlich beschloß, in dieses neue Einkaufszentrum, das es schon einige Zeit gab, umzusiedeln.

Lange Zeit hatte sie gezögert. Immer wieder hatte sie Ausflüge in dieses riesige Gebäude unternommen, wo es so viele interessante Gerüche gab und wo – wie sie von anderen erfuhr - viel Fressbares einfach auf dem Boden herumlag.

Nein, natürlich war sie nie am helllichten Tag dort gewesen. Das hätte sie nicht überlebt. Viel zu viele Menschen waren dort, die herumliefen, sich schubsten und an den Eingangstüren drängelten, sich abschätzend und aggressiv musterten, sich nur selten die Tür aufhielten. Und gehetzt und mürrisch, bepackt mit Einkaufstüten oder mit Händen in den Taschen durch die drei Stockwerke des Tempels zogen und danach noch aggressiver waren, wenn sie nach Hause gingen.

Nein, eine Ratte hatte natürlich andere Möglichkeiten, um in ein Gebäude zu gelangen. Obwohl die Menschen in den letzten Jahren immer glaubten, Ratten-sicher zu bauen und die Türen ordentlich verschlossen.

Für sie war es bisher allerdings nicht lukrativ gewesen, in diesen modernen Tempel zu ziehen. Denn es gab Reinigungsdienste, die dafür sorgten, daß die interessanten Essensreste von den Böden gewischt wurden: die leckeren, süßen, knusprigen, zerbrochenen Eiswaffeln mit klebrigem Eis dran, die Fladenbrot-Teile, die einem Kind aus der Hand gefallen waren mit Kebab und Salat, die Pizza-Stücke, die zertreten am Fußboden lagen, und die halbleer ausgetrunkenen Limonadendosen.

Kaum war nämlich die Einkaufspassage leer, rollte ein Trupp von Mitarbeitern mit lauten Apparaten und Maschinen an, der die Rolltreppen und Böden der drei Etagen innerhalb von zwei Stunden blitzblank sauber machte.

Für Ratten war das eigentlich ein klares Aus-Kriterium, ihren Lebensmittelpunkt in ein solch lebensunfreundliches Gebäude zu verlagern. Denn was nützen die vielen schönen Brocken, wenn sie immer gleich weggeputzt werden.

Dennoch hatte sich die Ratte vor kurzem entschlossen, hier einzuziehen und ihren hohlen Baum am Bach beim Wiesengrund – direkt neben dem alten Gulli und dem darunter liegenden Kanalanschluß – zu verlassen.

Wenn es ihr hier auf Dauer allerdings nicht zusagen oder zu gefährlich würde, könnte sie ja dieses Einkaufszentrum jederzeit wieder verlassen. Die Gefährlichkeit des Tempels konnte sie ohnehin erst dann richtig einschätzen, wenn sie hier leben würde. Das Gebäude wurde jedenfalls gut bewacht rund um die Uhr, das wußte sie. Und sie war auch gar nicht sicher, ob es dort nicht auch Katzen oder Hunde gab.

Nun ja, sie wollte es eben einfach ausprobieren, hineingelangen würde sie ohne Probleme. Zum Beispiel durch die dicken, grünen Stahltüren, die ins Parkhaus führten. Die standen manchmal einen Spalt offen. Oder durch die Heizungs- und Belüftungsschächte, die irgendwo Öffnungen hatten. Oder an den Regenüberlaufschächten entlang bis zu den dicken Ausgangsrohren zur Kanalisation, immer eine beliebte und bequeme Transportröhre für Ratten.

Ja, Ratten waren durchaus erfahren und schlau. Das behaupteten sogar die Menschen. Und diese sagten manchmal auch, daß ihre Gattung eine „soziale Kompetenz“ hätte, wie sie es bezeichneten.

Das hatte sie tatsächlich selbst einmal am eigenen Leib erfahren, wie Menschen sich sozial gegenüber ihren Artgenossen verhalten können. Obwohl sie sonst nur nach Ratten treten oder mit Gift und Fallen totmachen.

Er war damals, als sie noch klein gewesen war, eine ganz kleine Ratte, erst ein paar Wochen alt. Und es geschah, als sie bei einer großen Ratten-Flut-Katastrophe, die durch ein Sommergewitter verursacht worden war, zusammen mit hunderten anderen Ratten durch die Kanalisation in die städtische Kläranlage gespült worden war.

Alles in der Stadt war überflutet worden in dieser Nacht. Die Straßen wurden zu großen Flüssen, die Gullys liefen über, die Kanäle wurden zu reißenden Strömen. Die meisten Ratten kamen ertrunken an und wurden dann mit anderen Gegenständen, mit Exkrementen der Menschen und Klopapier aus dem Kanalnetz über einen großen Rechen herausgezogen, auf ein Förderband geworfen und abtransportiert. So lagen die Leichen der Ratten – wie auch sie - zwischen ihren toten Eltern und Geschwistern – aufgereiht wie Lebkuchen in der Vorweihnachtszeit - und wurden in große Abfallcontainer geworfen.

Alle waren tot. Ihr selbst war es durch Zufall gelungen, daß sie kurz vor dem Abwurf des Förderbandes in den Abfallcontainer sich über den Metallrand des Förderbandes rollen konnte und erschöpft am Boden liegen blieb. Irgendwann gelang es ihr, von dem einen Meter hohen Aufbau des Förderbandes hinunterzukommen und ins Freie zu laufen, wo der Gewitterregen schon aufgehört hatte.

Sie schleppte sich mit letzter Kraft zu einer kleinen Treppe, die in ein riesiges Vorklärbecken führte.

Vielleicht wäre sie dort auch ertrunken, wenn sie nicht ein Riese von Mensch entdeckt und mit einigen großen Pflanzenblättern zugedeckt hätte, wo sie geschützt die Nacht verbrachte.

Am Morgen weckte sie die warme Sonne und sie war wieder zu Kräften gekommen. Es war eine Nacht gewesen, in der hunderte von Ratten der Stadt ersoffen waren. Und sie war jetzt allein. Sie blieb einige Zeit dort auf der Kläranlage und fand dann einige Tage später – als das Hochwasser durch die Rohre abgeflossen war - zurück in die Kanalisation und die Innenstadt.

Heute, lange Zeit danach, würde sie also umziehen in das große Einkaufszentrum und alles hinter sich lassen. Es hatte sie von ihren Freunden weggezogen, von den anderen wenigen Ratten, die es hier noch in der Innenstadt gab, es hatte sie fortgezogen von dem letzten Stück eines wilden Bachufers, wo sie bis jetzt gelebt hatte.

Ja, sie hatte den Umzug lange vorbereitet, sie hatte sich immer weiter vorgetastet in dieses große helle Menschen-Gebäude. Sie hatte oft nachts dort geschnuppert, geprüft, gelauert. Sie mußte ja wissen, welche Möglichkeiten es in diesem riesigen Gebäude für sie gab, ob man sich ausreichend und gut ernähren konnte, welche Behausungen sich für sie anboten, welche Fluchtmöglichkeiten – und vor allem welche Gefahren es für sie gab. Immer wieder hatte sie Erkundungsausflüge zum Tempel unternommen.

Die Entscheidung war getroffen, und so kam sie heute, an diesem späten Abend im November an, als es schon längst dunkel war. Nachdem die vielen lauten Menschen endlich fort waren und der Reinigungsdienst bereits seine Arbeit getan hatte und weg war, und der Sicherheitsdienst seinen Rundgang gemacht und die letzten Türen geschlossen hatte. Es brannten nur noch einige spärliche Lampen - in den Eingangsbereichen, in den Stockwerken, an den Not-Türen und in den Treppenaufgängen.

Die Ratte schnupperte dennoch lange und steckte immer wieder prüfend und vorsichtig ihren Kopf in das große Gebäude, das sie soeben über das offene, dunkle Parkhaus erreicht hatte. Die Türen waren alle fest verschlossen gewesen, aber nach einigem Suchen hatte sie durch einen breiten Kabeltunnel die große Halle mit den Rolltreppen und Ladengeschäften erreicht.

Vorsichtig verharrte sie immer noch, wendete ihren Kopf schnuppernd und lauschend in alle Richtungen, blickte wieder zurück, blickte nach rechts und nach links, und trappelte dann rasch vorwärts.

Als erstes würde sie sich jetzt ihr neues Heim einrichten. Die Wege sondieren, eine von Menschen nicht erreichbare Unterkunft suchen. Und sie würde unten im Keller beginnen. Dort waren sicher viele Rohrgänge und Schächte, wo sie fündig werden würde.

Teil I

Ankunft + Begegnungen

Ein Junge, dick und groß gewachsen, betrat in der Mittagszeit den Eingangs-Bereich des Tempels im Osten. Unsicher und schleppend setzte er seine Schritte, vorbei an dem Raver-Typen mit Irokesenschnitt und dem vielen Metall im Gesicht, der genau unter der Rolltreppe seine Geschenkideen mit Abenteuerausflügen und Candle-Light-Diners verkaufte und wie immer wichtigtuerisch an seinem Verkaufsregal lehnte und auf seinem Smartphone herumtippte.

Der Junge ging langsam weiter, vorbei an dem Turnschuh-Laden für Teenies mit der wohl aggressiv-lautesten Musik im ganzen Tempel, durch heftige Tanzbewegungen von den beiden Girlie-Verkäuferinnen begleitet, und an einer kleinen Nische mit maximal sechs Quadratmetern, in der zur Zeit ein neuer Verkaufsschuppen von den Tempelverwaltern eingerichtet wurde. Vorher standen da einmal ein Bankautomat und ein Kontoauszugsdrucker der Sparkasse.

Der Junge ging weiter, achtete kaum auf die Passanten, die ihm in einem breiten Strom entgegenkamen, rempelte eine ältere dicke Frau an und schlurfte an den Schaufenstern entlang, den Kopf nach unten gebeugt, abwesend in Gedanken vertieft. Die Menschen sahen ihm von weitem an, daß er kein fröhlicher Konsument war wie sie und wichen ihm deshalb weitläufig aus.

Jetzt war er auf Höhe der Poststelle, wo immer eine große Schlange von Kunden anstand. Gegenüber dem offenen Eingangsbereich befand sich eine Saft-Bar mit Frucht- und Gemüsesäften, die ebenfalls stark frequentiert war um die Mittagszeit. An dieser Stelle gab es stets Stau.

Der Junge ging durch die Gruppe der herumstehenden, schlürfenden Safttrinker und Einkäufer hindurch, ohne noch einmal jemanden anzurempeln oder zu berühren. Er hob oft kurz den Kopf und blickte dann weiter seines Wegs. Tatsächlich hatte es fast den Eindruck, als ob er mehr in eine unbestimmte Ferne blicke. So als ab er noch eine weite Strecke von vielen Kilometern zurückzulegen hätte.

Der Junge, so konnte man den Eindruck gewinnen, nahm die Menschen rings um sich nicht wahr. Er war nur körperlich abwesend, wirkte wie fremdgesteuert. Ab und zu fixierte er auch einen Punkt oben an der Decke des großen Tempels. – Die anderen im Tempel waren wie sonst auch meistens nur mit sich beschäftigt und nahmen auch den Jungen nicht wahr. Sie konsumierten ihre Säfte, vermehrten ihre vollen Einkaufstüten und waren mit Geschnatter oder Shopping-Unterhaltungen beschäftigt. Selbst wenn sie direkt vor dem Jungen standen, schauten sie entweder durch ihn hindurch oder sofort in eine andere Richtung – im Wissen darauf, daß der schon ausweichen würde. Oder sie drehten sich plötzlich vor ihm um oder bückten sich, um einen Geldschein, der am Boden lag, aufzuheben. Den Müll, den sie beim Essen ihrer Döner oder Gebäckstücke verloren, beachteten sie dagegen nicht.

***

Helmut Bruckner stand vor dem alten Mietshaus und blickte hoch. Drei Etagen. Die Wohnung lag ganz oben im vierten Stock der Mansarde. Treppensteigen, jetzt grad nach der Mittagszeit.

Er warf einen kurzen Blick auf Brigitta Wagner, die neben ihm stand und eben bei der älteren Dame klingelte, von der die Meldung an die Polizeidienststelle vorhin kam. Der Hausöffner summte, Brigitta Wagner drückte die Haustür auf, blickte auf Stefans Bauch und grinste. Natürlich, sie hatte ihn wieder mal entdeckt. Seinen obligatorischen Fleck auf dem Hemd.

Heute hatte es Sauerbraten gegeben in der Polizeikantine, und der Soßenfleck war zwar nicht so groß, daß er das Hemd hatte auswaschen müssen, aber er war nach oberlächlicher Reinigung dennoch gut sichtbar. Genau über dem Nabel.

„Jaja, ist schon gut“, brummte Helmut Bruckner, ohne sie anzusehen. „Die Tage sind gezählt, an denen du dich über meine Kleckser amüsierst.“ – „Wichtig ist, daß dir der Sauerbraten gut geschmeckt hat“, meinte Brigitta. „Du hättest wenigsten noch etwas Preiselbeer-Kompott auf die andere Seite kleckern können, dann wäre es eine richtig tolle Farbenkomposition geworden auf deinem Pressack-Hemd“.

Mit Pressack-Hemd meinte sie das rot-karierte Freizeithemd, das er eigentlich nur noch für Bergtouren manchmal trug. Aber zum Waschen war er die letzten Tage nicht mehr gekommen, weil sie den Fall mit dem Totschlag eines Jugendlichen an der Bahnlinie hatten klären müssen. Das war zeitintensiv gewesen wegen zahlreicher Zeugenvernehmungen, die oft erst abends in Kneipen oder einem Jugendklub stattfinden konnten.

„Jaja, und auch das Pressack-Hemd siehst du bald nicht mehr…“ antwortete Helmut Bruckner grimmig lächelnd „du wirst mich irgendwann noch vermissen, glaub‘ es mir.“

Brigitta Wagner strich ihm neckisch über die Wange und stieß die Tür weit auf. „Komm jetzt endlich Alter, die Frau oben schläft sonst ein.“

Sie gingen beide die Treppe hoch. Ab dem zweiten Stock kam Helmut Bruckner mit seinen 103 Kilogramm (sonntags nach dem Stammtisch hatte er noch zwei mehr drauf) richtig ins Schnaufen.

Naja, seine Tage waren gezählt hier. Ein halbes Jahr hatte er noch bis zu seiner Pensionierung. Er war langsam dabei, seinen Schreibtisch aufzuräumen. Das hieß konkret für ihn: fast alles wegwerfen. Und wenn er erst mal draußen war nach 46 Jahren, dann bräuchte er sich endlich nicht mehr in solchen Altbauten herumtreiben, hohe Treppen hinaufsteigen und Tatorte ansehen.

Wobei, er wußte noch gar nicht, ob sie überhaupt zu einem Tatort kamen. Das Treppenhaus war ordentlich und alt. Es war sauber, schön renoviert – sicher erst vor einigen Jahren – und die Treppen waren breit, aus Naturholz, wahrscheinlich Eiche, glänzend und hell. Während die Außenfassade grau und renovierungsbedürftig aussah, war das Treppenhaus ein Schmuckkästchen. Helmut konnte förmlich das Bohnerwachs riechen, mit dem wohl noch in den fünfziger und sechziger Jahren die Treppen behandelt waren.

Irgrendwann hatten sie die wohl neu abschleifen lassen – abgetreten waren sie schon seit vielen Jahrzehnten – und alles neu eingelassen. – Ja, den Bohnerwachsgeruch, er mußte schmunzeln dabei - hatte er tatsächlich noch immer in der Nase von dem Elternhaus, in dem er und seine Familie damals zur Miete gewohnt hatten. Da war am Wochenende alles durchgewischt und gebohnert. worden. Und die Wohnungstüren der Nachbarn hatten noch gute Ohren und Augen.

Ob das wohl hier auch der Fall war? Jetzt waren sie ganz oben, seine junge Kollegin stand schon am Treppengeländer, tippte nervös mit ihrer Stiefelspitze an das Geländer und grinste ihn an. „Na Alter, endlich oben?“ sagte sie halblaut und blickte provozierend auf ihre Armbanduhr. Plötzlich ging hinter ihr eine Wohnungstür auf. Brigitte Wagner drehte sich um und beide grüßten eine ältere Dame, die in der rechten Wohnungstür stand. „Sind Sie die Frau Battenbacher?“ fragte seine Kollegin die Dame. Es war eine vornehme, etwa achtzigjährige Frau, die auf einen schwarzen Gehstock mit einem Silberknauf gestützt war und die beide kritisch musterte.

Helmut Bruckner hatte jetzt ebenfalls den Treppenabsatz erreicht und nickte der Dame zu. „Kann ich mal Ihre Ausweise sehen?“ fragte die Dame mit lauter, herischer Stimme, so daß es bestimmt im ganzen Treppenhaus bis zur untersten Wohnung zu hören war. „Sind Sie die Herrschaften von der Kriminalpolizei?“ Frau Battenbacher zog aus einem Etui tatsächlich einen Zwicker, ein silbernes Monokel mit einem langen Handgriff, und betrachtete sie gründlich.

Brigitte Wagner antwortete ihr höflich, aber etwas schnippisch. „Nein, wir sind gar keine Herrschaften, ich bin schon von Geburt an weiblich. – Aber wir sind tatsächlich von der KriPo, und das hier neben mir ist der Herr Bruckner, der leitende Beamte“. Sie reichte der Dame die beiden Ausweise.

Frau Battenbacher musterte sie weiter gründlich und registrierte, daß Herr Bruckner der Kommissar war. Sie fragte etwas verärgert. „Warum sprechen Sie dann bei der Vernehmung, und nicht ihr Vorgesetzter? Sie sind doch sicher nur so eine Auszubildende oder Praktikantin oder wie das bei Ihnen heißt? Ich kenne mich aus mit den Dienstgraden, ich sehe genügend Tatort-Filme.“

Nun übernahm Helmut Bruckner das Gespräch, er hatte sich ein wenig verschnauft nach den vier Treppen, und einen hochroten Kopf.

„Wir haben die Meldung erhalten, daß bei Frau Stahnke gegenüber die Tür offenstand und sie leblos in der Wohnung liegt.“

Frau Battenbacher sah Helmut Bruckner mit interessiertem Blick und einem Lächeln an. „Ja, das habe ich heute Morgen erst bemerkt, nachdem ich die Zeitung holen wollte, moment, das war um… sechs Uhr. Kurz nach sechs.“

„Und, sind Sie dann in die Wohnung?“ fragte Helmut Bruckner.

„Nun ja, ich habe zuerst geklingelt und dann geklopft. Ich habe gewartet, und dann habe ich nichts gehört. Wissen Sie, ich gehe nicht so einfach in eine fremde Wohnung, auch wenn ich diese Person schon seit 34 Jahren kenne.“ Mißbilligend sah Frau Battenbacher wieder Brigitta Wagner an, als wenn sie diese verantwortlich für ihre gereizte Stimmung machen könnte. Aber Brigitta hielt sich mit einer Äußerung zurück und steckte wieder ihren Polizeiausweis ein.

„Und dann? Dann sind Sie in die Wohnung gegangen, oder…?“ fragte Helmut Bruckner. Er blickte ihr kurz ins Gesicht. Frau Battenbacher wurde ein wenig rot. „Ja, natürlich. Es war eben so komisch, daß es ruhig war und die Tür sperrangelweit offenstand. Ich bin vorsichtig hinein und habe nochmal geklopft und nach Frau Stahnke gerufen.“

„Und dann?“ „Ja, dann war ich an ihrer Schlafzimmertür, ich weiß ja wo ihr Schlafzimmer ist. Aber das war zu, also die Tür war zugezogen. Und die habe ich dann vorsichtig aufgemacht, und da sah ich sie im Bett liegen, ganz friedlich und auf die Seite gedreht, ich hatte gedacht, sie schläft und wollte schon die Tür wieder zumachen und gehen, aber ich wurde dann doch stutzig, weil sie so still da lag, so bewegungslos. Und dann bin ich eben zu ihrem Bett und sie lag mit geschlossenen Augen da, als ob sie schlief. Aber wie ich ihr die Hand vorsichtig aufs Gesicht legte, habe ich erschrocken bemerkt, daß sie ganz kalt war.“

„Und dann sind Sie wieder aus der Wohnung und haben die Polizeistreife angerufen?“ Helmut Bruckner hatte in sein Notizbuch, das er hervorgezogen hatte, einige Wörter geschrieben. Brigitta Wagner hatte sich umgedreht und betrachtete die Wohnungstür, an der ein Siegel der Polizei angebracht war.

„Ja, ich bin dann eben ganz schnell aus der Wohnung gelaufen und hatte auf einmal Angst. Wissen Sie, wenn Frau Stahnke vielleicht umgebracht worden ist und der Mörder ist noch in der Wohnung?“

„Wie kommen Sie auf einen Mörder?“ Helmut Bruckner stutzte. „Naja, aber dann wäre doch die Wohnungstür nicht offen gewesen, oder?“ Bruckner wiegte den Kopf. „Kann sein, muß aber nicht sein. Vielleicht hatte sie Besuch? Wohnte sie eigentlich alleine?“ „Ja, natürlich, ihr Mann ist schon vor dreizehn Jahren gestorben.“

„Also gut, gehen wir hinüber“, sagte Helmut Bruckner. Er drehte sich abrupt um und zog aus seiner Tasche ein Taschenmesser. Brigitta Wagner war schneller, sie stand bereits vor dem Siegel und schnitt es mit ihrem Messer auf.

Frau Battenbacher sah interessiert zu und stand den beiden dicht auf den Fersen. Helmut Bruckner drehte sich um und sagte höflich aber betont zu ihr: „Wir müssen uns das alles jetzt in Ruhe ansehen in der Wohnung. Falls wir noch Fragen haben an Sie, melden wir uns bei Ihnen.“

„Soso“, antwortete Frau Battenbacher ein wenig eingeschnappt, weil sie nicht mitgehen durfte und drehte sich abrupt um, ihre rechte Hand fest auf den silbernen Knauf ihres Gehstocks gestützt. Sie ging kopfschüttelnd in ihre Wohnung zurück, ohne sich noch einmal umzudrehen. „Ich weiß aber nicht, ob ich später noch da bin“ rief sie noch. „Das macht nichts, wir brauchen wohl nicht so lange“ sagte der Kommissar.

„Woher wissen Sie das denn?“ fragte Frau Battenbacher. Brigitte Wagner verdrehte die Augen und Bruckner lächelte sanft und verschwand in der Wohnungstür, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Der Flur machte einen ordentlichen und sauberen Eindruck. Es gab auch keinen Geruch nach Essensresten oder abgestandener Luft. Die verstorbene Dame mußte oft gelüftet haben, und die Wände wirkten, als wären sie erst vor einiger Zeit neu renoviert worden. Die beiden gingen durch die Wohnung und suchten sofort das Schlafzimmer. Plötzlich fiel Helmut Bruckner ein, daß er Frau Battenbacher nachher noch etwas Wichtiges fragen mußte.

Im Schlafzimmer lag die tote Frau unter ihrer Bettdecke. Sie wirkte tatsächlich auf den ersten Blick schlafend, fast hätte Helmut Bruckner sie angesprochen. Er ging zu ihr und legte ihr die Finger an die Halsschlagader. Der Hals war kalt. Er fasste ihre Hand, die Totenstarre war noch nicht eingetreten, so lange konnte sie noch nicht tot sein. Er nickte zu Brigitta, ohne etwas zu sagen.

Brigitta zog ihr Handy aus der Jacke und machte mehrere Fotos von der Leiche. Helmut Bruckner wartete, bis sie fertig war und deckte die Dame auf. Sie hatte ein weiß-blau gemustertes Nachthemd an, und ihr Körper wirkte auch jetzt entspannt. Sie mußte friedlich gestorben sein. Ohne Gewalteinwirkung. Gab es einen Grund für ein Verbrechen? Bis jetzt nicht. Es gab ein einziges Indiz, das vielleicht auf ein Verbrechen hinwies: die offen stehende Tür. Und genau dazu wollte Bruckner die Nachbarin noch einmal genau fragen.

Die beiden gingen in allen Räumen umher. Es war überall ordentlich und sauber, nichts lag auf dem Boden, nichts war heruntergefallen, keine Möbel waren verrückt.

Die Wohnung war auch nicht überladen, wie es oft bei älteren, alleinstehenden Personen der Fall ist. Vollgestopft mit jahrzehntelangem Leben eben, weil man nichts wegwirft: Bücher, Schallplatten, Nippel, Geschirr. Überhaupt Geschirr, Ganze Ess- und Kaffee-Service hatte er vor 18 Jahren bei seiner Mutter gefunden, als sie gestorben war. Es wurde alles aufgehoben und nie mehr verwendet. Ihn hatte das damals überfordert. Er hatte kurzerhand eine Firma beauftragt, die dann die Wohnung leergemacht und besenrein übergeben hat.

Das Einzige, das er damals gerade noch retten konnte - es war schon aussortiert worden vom Firmenchef - waren alte Fotoalben, vor allem aus der Nazi-Zeit. Offenbar gingen die gut auf den Flohmärkten, wo der Ramsch der Wohnungen verkauft wurde. – Ja, die Fotoalben hatte er mitgenommen. Allerdings auch nicht mehr angeschaut. Und sie würden wohl wieder weggeworfen werden, wenn er mal das Zeitliche segnet. Helmut Bruckner nickte nachdenklich. Ja, jeder Mensch hat seine Zeit, und mit ihr sammelt er Möbel, Kunst, Geschirr, Überraschungseierfiguren, andere Sachen die ihm wert waren - ein Leben lang. Aber im Grunde war das meistens überflüssig für die Nachkommen oder Freunde. Die Dinge hatten eigentlich allesamt zu der Person gehört, die damit gelebt hatte.

Und diese Wohnung hier von der toten Dame? Sie war einfach anders. Geschmackvoll möbliert mit einigen alten, schweren Schränken und Kommoden aus der Gründerzeit. Aber es war überall genügend Platz. Auch Bilder hingen an den Wänden, die alt und mit Gold- oder schönen Holzrahmen eingefasst waren. Kunstbilder. Aquarelle, Ölbilder. Auch davon nicht zu viel, aber geschmackvoll positioniert in den Räumen. Der Boden war aus alter Eichendiele, kein Laminat, das sah man sofort. Und die war wohl vor einigen Jahren erst neu eingelassen worden.

Im Wohnzimmer stand am Fenster ein kleiner Schreibtisch, eine Art Sekretär, wie sie in England beliebt sind. Zierlich, aber ohne Verzierungen und Schnickschnack, aber ein schönes Buchenholz.

Helmut Bruckner ging weiter in der Wohnung umher. Von einem Zimmer zum anderen und wieder zurück. Er ließ die Umgebung auf sich Wirkung, in der diese Dame gelebt hatte. Es war eine Frau mit Bildung gewesen, die hier gestorben war. Das erkannte er auch an den Büchern, die im Regal standen. Kein Ramsch. Schöne Bildbände über Kunstwerke, aber auch über fremde Länder. Außerdem viele alte Bücher, die noch ledergebunden waren. Medizinische Themen gab es dabei einige. Er mußte unbedingt die Nachbarin noch über die Familienverhältnisse genauer befragen. Wie lange hatte ihr Mann gelebt, wann war er gestorben? Was war er von Beruf gewesen? Hatte sie eigentlich Kinder? Und ihr Freundeskreis.

Im Schlafzimmer traf er seine Kollegin wieder, die die Tote genauer inspiziert hatte. Beide standen nun vor dem Bett. „Sie sieht so friedlich aus. Irgendwie deutet nichts auf einen gewaltsamen Tod hin, was meinst du?“ fragte Brigitta und blickte ihn an.

„Ich habe in der Wohnung nichts gefunden. Alles ordentlich und sauber. Richtig gemütlich und nicht so vollgestopft alles. Geschmackvoll eingerichtet. Und alles für eine Einzelperson. Also für sie. – Ich habe nicht den Eindruck, daß außer ihr noch jemand in der Wohnung gelebt hat“.

Brigitta nickte. „Ja, ich auch nicht. Hast du in den Kühlschrank gesehen?“ „Wieso, hast du Hunger?“ Helmut Bruckner grinste. Brigitte Wagner verdrehte die Augen und streckte ihm die Zunge heraus.

„Hast du mal die Bettdecke weggenommen? Irgendwelche Verletzungen oberflächlich entdeckt? Blut? Offene Wunden?

„Nein, nichts zu sehen“ antwortete Brigitta. „Ich vermute, daß sie an einem natürlichen Tod gestorben ist.“

„Ja, aber…“ erwiderte Helmut Bruckner nachdenklich. „Ich weiß, ich weiß“, sagte Brigitta sofort, „das erklärt nicht, warum die Wohnungstür sperrangelweit offenstand. Eben deshalb wäre eine Obduktion angesagt.“ Bruckner nickte zustimmend. „Zunächst mal ein Arzt, der die Todesbescheinigung ausstellt“.

„Aber der wird nichts feststellen weiter, wenn er sie nur äußerlich untersucht“, sagte Brigitta Wagner. „Also Obduktion ist angesagt, sehe ich auch so. Könnte ja ein Giftmord gewesen sein. Möglicherweise gibt es auch Einstichstellen von einer Spritze.“

„Naja, vielleicht kommen wir drum herum, daß es ein Kriminalfall wird“, fuhr Bruckner fort. „Ich habe eigentlich kein Interesse mehr, mich die letzten Wochen in meinem Arbeitsleben noch groß mit einem Mordfall zu befassen.“

„Kannst du vergessen“, sagte Brigitta Wagner. „Du meinst wohl, du kannst nur nur noch deinen Schreibtisch aufräumen wochenlang und herumsitzen und dann die Fliege machen?“

Helmut Bruckner klopfte ihr kollegial auf die rechte Schulter. „Nein, nein, du kommst jetzt dran, man muß die Jungen endlich ran lassen. Du mußt das Ruder übernehmen“. „Rede nicht so geschwollen“, grinste Brigitta ihn an.

Beide gingen aus dem Schlafzimmer und über den Treppenhausflur hinüber zur Wohnungstür der Nachbarin.

Frau Battenbacher mußte direkt hinter der Tür gestanden haben. Kaum hatte Brigitta Wagner ihren Finger auf die Klingel gesetzt, ging auch schon die Tür auf, kurz nachdem man den Klingelton hörte.

„Guten Tag Frau Battenbacher“, sagte Helmut Bruckner, „da sind wir schon wieder. – Also, wir haben eigentlich nichts Verdächtiges gefunden. Aber ein paar Fragen hätten wir noch an Sie.“

„Wieso haben Sie nichts Verdächtiges gefunden“, fuhr ihn Frau Battenbacher laut an, „da muß doch ein Verbrechen geschehen sein. Ich meine, die Wohnungstür stand doch offen. Oder denken Sie vielleicht, daß Frau Stahnke jeden Abend vor dem Ins-Bett-Gehen die Tür sperrangelweit offen ließ?“

Beide Polizisten nickten. „Sehen Sie“, sagte Helmut Bruckner, „und deshalb hätten wir noch ein paar Fragen an Sie.“

Frau Battenbacher sah ihn wartend an, und Brigitta Wagner betrachtete den alten Fußabstreifer, der vor der Wohnungstür lag. Er war bestimmt noch aus den sechziger Jahren. Eine Kokosmatte.

„Also was mich interessieren würde, wäre das Umfeld von Frau Stahnke. Hat sie eigentlich allein gewohnt? Kam ab und zu jemand zu Besuch? Hat jemand bei ihr übernachtet. Hatte sie Freunde?“

„Nein, nichts von allem“ sagte Frau Battenbacher. „Sie, ich stehe nicht den ganzen Tag am Türspion, aber ich hätte schon gemerkt, wenn sie Besuch gehabt hätte ab und zu. Ganz früher besuchte sie manchmal ein älterer Mann, der wohl ab und zu mit ihr am Kaffeetisch saß. Sie kannte ihn glaube ich von ihrem Chor, wo sie damals drin war. Aber der war auch schon viele Jahre nicht mehr da. Ich habe zumindest nichts bemerkt.“

„Und Kinder? Hatte sie Kinder?“ „Nein, auch nicht…“ Frau Battenbacher zögerte und dachte nach. „Doch… natürlich, sie hatte schon zwei Kinder. Einer ist schon als Kleinkind gestorben, da lebte ihr Mann noch, also das war vor über zwanzig Jahren. Oswald hieß er, er war glaube ich körperbehindert.“

„Und ein anderer, der ein wenig älter war und irgendwie psychisch krank, lebte in einem Heim.“

„Seit wann denn?“ Brigitta sah sie gespannt an. „Weiß ich nicht mehr, kurz nachdem sein Bruder gestorben war. Der war wie gesagt auch behindert, allerdings hat man es ihm körperlich nicht angesehen. Irgendwas mit Authismus oder wie das neumodische Zeug heute heißt. Verhaltensgestört halt.“

„Und der war auch die letzte Zeit nicht mehr da?“ fragte Brigitta Wagner weiter. „Nein, habe ich doch gesagt, oder?“ Frau Battenbacher wurde wieder mürrisch, offenbar konnte sie Brigitta Wagner nicht leiden.

„Wann ist denn ihr Mann gestorben, und was war er von Beruf?“ Helmut Bruckner blickte sie fragend an.

„Der ist gestorben… also ich glaube ein halbes Jahr nach dem Tod des Kleinen. Das war übrigens auch schrecklich, er war eigentlich gesund. Hat immer herumgetollt, hat richtig Leben ins Haus gebracht. Und auf einmal, ich glaube er war erst vier Jahre alt, lag er eines Morgens einfach tot in seinem Bett. Die Ärzte haben Herzstillstand diagnostiziert.“

Es entstand eine Pause. Frau Battenbacher sah die beiden Polizeibeamten kritisch an. „Keine Fragen mehr?“ Sie lächelte plötzlich.

„Doch, hatten Sie zu Ihrer Nachbarin ein gutes Verhältnis?“, fragte Georg Bruckner. „Naja, gut würde ich nicht sagen. Aber normal. Man kennt sich eben jahrzehntelang. Manches weiß man voneinander, man redet ab und zu, aber oft nur über das Wetter oder den neuen Postboten oder sowas. Oder daß im Haus endlich irgendwas getan werden müßte. Und natürlich haben wir auch privat uns über die Jahre alles Mögliche erzählt, aber es ist nie eine Freundschaft daraus geworden, wenn Sie das meinen.“

Helmut Bruckner nickte nur. Er ging einen Schritt auf sie zu und streckte seine Hand aus. Sie zuckte unwillkürlich zurück. „Ja, dann verabschieden wir uns, ich bedanke mich für Ihre Auskünfte und Ihre Zeit.“ Er lächelte sie an. Brigitta Wagner gab ihr ebenfalls die Hand, die Frau Battenbacher nach langem Zögern auch ihr hinstreckte. Man gab Bediensteten ihrer Meinung nach nicht ebenso aufmerksam und höflich die Hand wie den Vorgesetzten. Da war ein Unterschied. - Trotzdem lächelte sie auch die Polizistin an, was ihr sichtbar Mühe kostete.

„Ja dann…“ sagte Helmut Bruckner und drehte sich um, er ging bereits zwei Stufen auf der Treppe hinunter, als ihm noch etwas einfiel von vorhin. Er rief Frau Battenbacher zu „wann ist denn die Wohnung renoviert worden?“ Die alte Dame sah ihn merkwürdig an. „Wie renoviert? Ist mir gar nicht aufgefallen, daß da mal was war mit Handwerkern Die sieht doch aus wie immer…“

„Naja, sie wirkt frisch gestrichen und tapeziert. Das kann doch nicht so lange her sein“, sagte Helmut Bruckner. Frau Battenbacher zuckte mit den Schultern und meinte: „Aber ich habe wirklich nichts bemerkt, und es ist mir heute auch nicht aufgefallen, als ich bei ihr drin war.“

Die Tür schloß sich hinter ihr, die beiden gingen die Treppe hinunter. Auf dem ersten Treppenabsatz blieb Helmut Bruckner plötzlich stehen und bückte sich vor der Ecke am Fenster. Er hob ein kleines schwarzes Teil auf, das – in einem Spalt versteckt – kaum zu sehen war. Brigitte Wagner stellte sich neben ihn und sah interessiert auf seine Hand. „Ein kleiner USB-Stick? Ist ja interessant, mal sehen was drauf ist.“

Helmut Bruckner steckte ihn ein, und sagte zu seiner Kollegin, ehe sie die Haustür aufmachten: „Wir brauchen nicht nur sofort eine Obduktion, sondern ich will auch die Spurensicherung da haben. Noch heute. Vielleicht finden wir noch mehr.“

Seine Kollegin nickte mit dem Kopf. „Hast du die Wohnung wieder versiegelt?“ „Natürlich, hast du es nicht gemerkt?“ Helmut Bruckner schaute sie verblüfft an. „Ich habe geglaubt, daß nur mein Gedächtnis nachläßt.“

Beide standen sie vor der Haustür. Es begann leicht zu regnen. Brigitte Wagner zog sich ihre Kapuze der Regenjacke über den Kopf und fragte: „Ist noch was? Gehst du mit ins Präsidium?“

Bruckner schüttelte den Kopf und blickte in Gedanken auf das Straßenpflaster. „Nein, ich muß noch zu meinem Doktor. Sag‘ mal…“ sprach er langsam weiter, „irgendwie ist das doch alles komisch mit der verstorbenen Frau. In so einem Haus muß doch die Nachbarschaft etwas mitkriegen, wenn sich was ändert. Also ich meine, wer da Besuch hat, wer häufig da ist und so weiter. Zumindest diese Frau Battenbacher.“ Der Kommissar blickte Brigitta von der Seite an. „Naja, ich vermute fast, daß sie einen gewaltsamen Tod gestorben ist. Eine offen stehende Tür und eine Leiche sind jedenfalls höchst verdächtig. Das sieht nach Hitchcock aus.“

Wieder grinste seine Kollegin und hielt die offene Hand auf. „Gib mir mal den Stick, ich sehe ihn mir im Büro noch an.“ Helmut Bruckner holte ihn aus seiner rechten Hosentasche.

„Und bei der Aufzählung Ihres Bekanntenkreises war sie recht zurückhaltend, findest du nicht? – Ich denke, daß sie nicht nur Kinder hatte, sondern auch Freunde oder Bekannte, die sie regelmäßig besuchten. Die Wohnung roch auch nicht nach einer alten Dame, die jahrelang allein lebt.“

Brigitta Wagner lächelte. „Was du immer schnüffelst“. Sie drehte sich um und winkte ihm mit der Hand zum Abschied zu. „Wir sehen uns später im Präsidium.“

***

Der Junge war irgendwann eingeschlafen. Er hatte sich auf eine der unbequemen Holzbänke ohne Lehne gesetzt, aber eine weiße Säule stand an der rechten Seite der Bank, und irgendwann hatte sich der Junge so positioniert, daß er sich mit dem Rücken halb an die Säule anlehnen konnte. Zuerst beobachtete er noch das Treiben im Tempel, hörte das Stimmengewirr, registrierte einige seltsame Blicke der Einkaufstüten tragenden Menschen. Aber irgendwann legte sich eine samtene Decke über seine Wahrnehmung, die Stimmen rückten weiter weg, er entspannte sich, sein Bauch war voll, sein Hungergefühl vorbei, und er wurde schläfrig. Ab und zu wachte er noch auf, die Zeit mußte wohl schon fortgeschritten sein, die Menschen wurden weniger im Tempel. - Dann schlief er ganz fest ein.

„Hej aufwachen“ rief ihn eine Männerstimme an. „Aufwachen, hier kannst du nicht sitzen bleiben“, plötzlich rüttelte ihn jemand fest und grob am Arm. Der Junge schreckte auf, fröstelnd blickte er in die Augen eines uniformierten älteren Mannes. Es war wohl jemand vom Sicherheitsdienst.

Der Junge nickte mit dem Kopf und sagte „Ja ja“. Der Mann ging weiter, nachdem er festgestellt hatte, daß der Junge auf der Bank seine Aufforderung verstanden hatte, aus dem Tempel zu gehen. „In zehn Minuten wird hier geschlossen“, sagte er noch und drehte sich um zu einem Kunden, der ihn gerade etwas fragte.

Danach war der Junge wohl wieder eingenickt. Plötzlich spürte er eine Berührung an seiner linken Hand. Er schreckte sofort hoch und blickte in das Gesicht einer Frau. „Du kannst hier nicht pennen. Du, die machen hier gleich dicht. Der Typ, der grad eben da war, kann richtig ungemütlich werden. Der hat mich schon mal an den Haaren gepackt, der Arsch.“

Der Junge nickte schläfrig. „Brauchst du ein Quartier oder was? Du siehst so aus also ob du von zuhause abgehauen bist. – Komm‘ jetzt einfach mit…“ die Frau drehte sich nach allen Seiten um. „die kommen echt gleich wieder. Ich kann dir zeigen, wo du hier übernachten kannst, da müssen wir uns aber beeilen.“ Der Junge stand auf, ein kleiner, schmuddeliger Teddybär fiel aus seinem Rucksack. Die Frau lächelte ihn an. Bist du ausgezogen von daheim, weil du deinen Teddy mitbringst?“ Sie nahm ihn an der Hand. „Komm, wir müssen schnell in den Keller“. Von dort aus gibt es einen Weg in ein Versteck.

Die Frau zog den großen Jungen hinter sich her, blickte sich immer wieder um, und lief nicht zur Rolltreppe, weil da bereits unten zwei Männer vom Sicherheitsdienst zu sehen waren, die andere Gäste aus dem Einkaufszentrum höflich, aber bestimmt hinauskomplimentierten. Die Frau ging zielsicher oben in den Flur, der zum Parkhaus führt und stieß eine breite Metalltür auf, die zum Treppenhaus auf ging. Sie blickte sich immer wieder nach dem Jungen um, der jetzt schneller lief, aufgewacht war und ihr stumm folgte.

Unten, auf der untersten Ebene der Kellertreppe, gab es wieder eine Metalltür, klein und schmal. Die Frau stieß sie auf, sah noch einmal nach oben, ob ihnen jemand folgte, und schob den Jungen sanft vor sich her, danach schloß sie leise die Tür hinter sich. Es war stockdunkel jetzt. Die Frau hatte plötzlich eine Taschenlampe in der Hand und der Junge erkannte, daß sie sich in einem langen Gang befanden, an dem mehrere Rohre an Decke und Seite entlangliefen.

„Das ist ein Bewirtschaftungsgang, wir sind gleich da“, sagt die Frau. Nach etwa zehn Metern bogen sie in einen anderen Gang ab, dann ging es eine schmale Kellertreppe hinunter, hier war wieder ein Lichtschalter. Unten angekommen, stieß die Frau eine andere Stahltür auf, und sie befanden sich plötzlich in einem von Neonröhren hell erleuchteten Raum, in dem sich einige Matratzen auf dem Boden befanden, ein weißer Tisch und einige Klappstühle ringsum. Zwei junge Männer saßen da, schläfrig drehten sie sich um, einer, groß und bullig mit einem Vollbart im Gesicht, er blickte den Jungen an und sagte dann zur Frau: „Wen schleppst du denn da wieder an?“ Er schüttelte seinen Kopf und blickte dem Jungen nachdenklich ins Gesicht.

„Das ist…“ begann die Frau und sah irritiert zum Jungen, „hör mal, kannst du eigentlich auch reden?“ Der Junge nickte und wurde rot. „Stefan“ sagte er leise und tonlos. „Naja, jedenfalls braucht er was zum Übernachten, zumindest für heute. – Stimmt doch, oder?“ Sie sah wieder den Jungen an und lächelte. „Ja“, sagte der Junge. Es war still im Raum, alle blickten ihn jetzt an, ob noch ein Satz danach käme. Der Junge merkte es und setzte stockend fort. „Ich habe keine Unterkunft zurzeit, bin von zuhause weggelaufen, da kann ich jedenfalls nicht mehr hin.“

Jetzt sprach der andere junge Mann. Er sah ungepflegt aus, hatte lange fettige Haare und einen stoppeligen Bart, in dem sich Essensreste befanden. „Du kannst schon hierblieben heute Nacht. Danach müssen wir halt klären, wie es weiter geht, ob…“ Er hörte mit dem Reden auf, nachdem die Frau ihm mit der Hand signalisiert hatte, daß sie jetzt nicht weiter darüber zu reden hätten.

Es wurde gemütlicher, nachdem sie sich gesetzt hatten. Der mit dem Vollbart hieß Molle, der andere Schlanke und Schmächtige mit mehreren Piercings im Gesicht hieß Ben. Und die Frau, die Stefan nun endlich in Ruhe länger ansehen konnte, hieß Grit. Sie hatte lange blonde Haare, war zierlich, wesentlich kleiner als er und wirkte auf ihn wie seine Englisch-Lehrerin, die er einmal in der neunten und zehnten Klasse der Realschule gehabt hatte.

„Wie alt bist du?“ Es war kurz still in dem Raum, dann pfiff Molle und grinste. Grit lächelte Stefan an. „Ich bin zum Beispiel kurz vor sechzig“ antwortete sie. „Also Oma für dich.- Brauchst du aber nicht zu mir sagen.“

„Ist mir egal“ antwortete Stefan undeutlich und langsam.

Grit und die beiden Männer stutzten. Erst jetzt wurde Grit bewußt, daß der Junge irgendwie behindert war. Aber sie konnte es nicht einordnen. Sie hatte jedenfalls gemerkt, daß er langsam redete und dabei konzentriert auf einen Flecken an der Decke sah.

„Bist du irgendwie krank oder bekloppt?“ fragte sie geradeaus. Stefan sagte ernst und tiefsinnig, wie wenn er ein ärztliches Bulletin verkünden wollte. „Ja, ich bin behindert, und zwar seit meinem vierten Lebensjahr. Ich hatte eine schwere Gehirnhautentzündung, eine Meningitis, das war eine bakterielle Erkrankung, und danach ist mein Kopf verrückt geworden“.

Die beiden Jungs lachten schallend, und Stefan drehte sich ruckartig nach ihnen um und sah sie verärgert an.

„Wieso lacht Ihr da so komisch? Das ist eine schlimme Krankheit, und ich habe jahrelang gebraucht, bis ich wieder normal war.“

Jetzt lachten die beiden Männer noch mehr. „Macht ja nix, macht ja nix antwortete Molle, „wir sind doch alle nicht ganz normal hier…“

Grit hatte sich an der Fröhlichkeit der Männer nicht beteiligt. Sie blickte abwechselnd den Jungen an und die beiden anderen, wartete bis sich die Heiterkeit wieder gelegt hatte und sagte dann zu Stefan: „Also los jetzt, erzähl‘ mal ein bischen von dir. Warum und vor wem bist du abgehauen?“

Stefan blickte sie an und bekam einen roten Kopf. Er war aufgeregt und stotterte entrüstet: „ich ich ich… bin überhaupt nicht abgehauen… Ich kann doch machen was ich will, bin schließlich schon erwachsen…“ ruckartig zog er seine Geldbörse aus der hinteren Tasche der Hose, riss sie auf und riss einen Personalausweis heraus. Grit sah ihn kurz an. „Du brauchst dich nicht aufregen, Stefan, ich wollte doch nur wissen, wer du bist und warum du nicht woanders hin zum pennen gehst…“

„Das ist, weil…“ plötzlich wurde Stefan ruhig und sagte nichts mehr. Es war eine Zeitlang still. Alle blickten ihn an.

Grit verstand als erste: „Du willst und kannst es jetzt nicht sagen, das verstehe ich. Aber irgendwann mußt du es uns schon erzählen, wenn wir dich hier mit aufnehmen. Wir sind übrigens noch ein paar mehr. Insgesamt so ein knappes Dutzend. Wir wohnen hier im Tempel.“ Grit machte eine Pause und amüsierte sich über den Gesichtsausdruck von Stefan, der sie ungläubig mit offenem Mund anstarrte. Irgendwie sah er schon ein wenig weggetreten aus, fand sie.

„Naja, das wirst du schon noch richtig mitkriegen, warum und wo wir da pennen. Es hat einen Grund. Aber das will ich dir jetzt noch nicht alles sagen. – Vor allem nicht, weil wir noch gar nicht wissen, wie wir dran sind mit dir…“. Sie sah wieder amüsiert in sein ungläubiges Gesicht, „aber ich denke eigentlich, daß du ganz in Ordnung bist.“

***

Grit stammte aus einem Vorort der Stadt, einer Wohngegend, in der nicht nur früher, sondern auch heute viele arme Menschen wohnen: Alte, Alleinerziehende, Hartz IV-Empfänger, neuerdings auch viele Flüchtlinge. – In diesem Viertel war sie aufgewachsen, als es gerade neu gebaut und bezogen worden war. Es liegt im Stadtwesen, und früher war es über einen Wiesengrund, über die Auen eines Flusses, der die Stadt von Süd nach Nord quert, erreichbar, die damals mit kleinen Siedlerhäuschen bebaut war.

Von dieser Siedlung aus ging es damals, als Grit jung war, noch durch ein kleines Kieferwäldchen, und dann kam ein Dorf, das in den fünfziger Jahren erst dem Stadtgebiet zugeschlagen worden war. Eingemeindet. Und aus diesem Dorf war in den sechziger und siebziger Jahren ein riesiger Stadtteil gewachsen, der schon damals – und auch heute immer noch das größte Bebauungs- und Erweiterungsgebiet der Stadt war.

Das Wäldchen war spurlos verschwunden, ebenso die für Kinder spannenden, brach liegenden Flächen mit Wiesen und Hügeln. Nur eine kleine Gruppe alter Kiefern erinnerte noch daran, daß es hier früher einmal viel mehr Bäume gegeben hatte.

Ein großer Kanal, der ab Mitte der 1960er Jahre dort gebaut wurde, bildete eine Grenze im Wiesengrund zwischen dem Zentrum der Stadt und dem neu entstandenen Stadtteil. Mit tausenden von Sozialwohnungen.

Am Ausgang des früheren Dorfes Richtung Westen jedenfalls wurden in den 1960ern damals die ersten Sozialwohnungen gebaut. Und eine davon hatte die Familie von Grit erhalten, die vorher in einem Hinterhaus in der Innenstadt gewohnt hatte. Grit war zwölf Jahre alt gewesen, als sie umzogen.

Schulfreunde hatte sie nicht gleich gefunden nach dem Umzug. – Erst kurz vor dem Umzug war sie auf die Realschule gewechselt, die im Süden lag. Und hier in dem Viertel, in dem sie aufwuchs, wurden jetzt Fahrräder geklaut und Mädchen von halbstarken Jungs blöd angemacht und betatscht. Müll lag in den Grünflächen und auf dem Gehsteig herum, ausgediente Fernsehgeräte und kaputte Waschmaschinen. Und es gab Cliquen hier, die irgendwo auf den Straßen herumlungerten. Wie überall in der Stadt damals , wo es solche Wohnviertel gab.

Manche von den Jungs standen auch oft auf der gegenüberliegenden Seite des Mietshauses, wo Grit mit ihren Eltern wohnte. Bierbüchsen wurden auf die Fahrbahn geworfen und kleine Jungs und Mädchen geärgert oder von ihren Fahrrädern geschubst und verprügelt.

Der Sperrmüll, der sich vor den Wohnblocks ansammelte, wurde gelegentlich abends auch mal angezündet, und die Feuerwehr rückte an.

Als Grit die Realschule abgeschlossen hatte und eine Ausbildung als Kinderpflegerin begann, rückten das Wohngebiet, ihre Straße, die Nachbarschaft weiter weg. Sie hatte bald neue Freundinnen und Freunde, die ganz woanders wohnten. Zwei sogar in richtigen Villenvierteln. Andere wenige zumindest in besseren Gegenden, wo es geordneter zuging.

Sie war ein Kind der Sechziger Jahre, der Zeit des Aufbruchs nach der Starre des Jahrzehnts vorher. Antiautoritäre Erziehung, Sommerset, Studentenbewegung, Ohnesorg, RAF, linke Gruppen, Demos gegen den Vietnam-Krieg. Das alles hatte Grit in ihrer Jugendzeit mehr atmosphärisch erlebt, sie war nie direkt dabei gewesen, aber dennoch fühlte sie sich dieser aufwachsenden und rebellischen Generation zugehörig, es prägte ihr Leben ebenso wie das vieler anderer Jugendlicher in dieser Zeit. Das drückte sich natürlich auch äußerlich aus in einer Protesthaltung: lange Haare bei Jungs, das Tragen von US-Army-Parkern als Zeichen des Protestes gegen Vietnam-Krieg, und das Hören progressiver Musik: Pink Floyd, Emerson, Ekseption, Hendrix, Underground.

Mitte der Siebziger Jahre begann Grit dann politisch bewußter und aktiv zu werden, ihre Ausbildung war im Sommer 1974 abgeschlossen. Damals ging es gegen Berufsverbote und die Jugendarbeitslosigkeit im Sommer 1975, die künstlich provoziert und inszeniert war vom damaligen Arbeitgeberpräsidenten Schleyer, weil dieser den Erfolg durch die Massenaktionen von Gewerkschaftsjugendlichen für ein geplantes und gefordertes Berufsbildungsgesetz, für welches die Arbeiterjugend lange gekämpft hatte, verhindern wollte.

1977 wurde Schleyer durch die RAF entführt und erschossen, und zuvor starb Ulrike Meinhof im Knast. Grit hatte sich damals nicht so sehr für diese RAF interessiert, heute war sie sich aber sicher, daß Ulrike Meinhof damals ermordet worden war. – Nach all dem, was sie in den vielen Jahren danach erlebt hatte in diesem Staat, konnte sie sich das gut vorstellen. Beweise dafür würde es nie geben.

Und sie ist sich heute auch sicher, daß die Morde der NSU vor einigen Jahren, die für sie eine demokratische Zäsur darstellen, ebenso vom Staat oder seinen Geheimdiensten lanciert, wahrscheinlich sogar aktiv geplant oder unterstützt und organisiert wurden.

***

Der Junge hatte es sich bequem gemacht. Man merkte ihm an, daß seine Anspannung sich gelegt hatte. Er saß in der Ecke und betrachtete immer wieder die fünf Männer, die hier um den Tisch herum saßen. Und diese wiederum waren unsicher und betrachteten ihn argwöhnisch. Ihre grimmigen Gesichtsausdrücke vermittelten den Eindruck, als wenn sie gleich fragen wollten, warum Grit so einen seltsamen Typen hier angeschleppt hat, und was er hier zu suchen hätte. Und behindert wäre er sicher auch noch, er hatte sowas wie eine Hasenscharte, er machte nicht einmal seinen Mund ordentlich auf und erzählte, wer er war und warum er hier sei.

Grit grinste die Männer schon die ganze Zeit an, sagte aber nichts. Zwischendurch musterte sie Stefan von der Seite.

Plötzlich war dieser aufgetaut und durchbrach die beklemmende Stille mit den Worten: „Ich bin abgehauen von zuhause, ich brauche eine Unterkunft. Vielleicht..." – er zögerte und sah zu Grit hinüber – „vielleicht kann ich eine Zeit bei euch bleiben, wenn das geht. Ich mache auch bei euren Aktionen gerne mit.“

Grit fiel auf, daß er komisch sprach. Er sah beim Reden niemanden an und blickte starr auf die Tischplatte. Vielleicht war er autistisch oder so was. Und eine Hasenscharte hatte er.

Ein kleiner Kerl mit dünnen schwarzen Haaren kläffte: „Du weißt doch gar nicht, was wir hier machen oder was.“ Er blickte ihn aggressiv an. „Und wir wissen nichts von dir.“ Der Typ blickte in die Runde. „Du, was wir hier tun, ist kein Kinderspiel, und du siehst aus, als wenn du noch mit der elektrischen Eisenbahn spielst…“. Der Junge wurde rot im Gesicht. Jetzt gab es Stimmengewirr, und dazwischen keifte Grit laut.

„Jetzt erzähl‘ nicht so einen Unsinn, Jürgen. Und außerdem: der Junge heißt Stefan, hat er vorhin schon gesagt, und braucht unsere Unterstützung. Ich will jetzt auch gar nicht wissen, warum er von zuhause abgehauen ist und ob er von den Bullen gesucht wird oder was. – Das ist erst mal ganz egal, ist das klar?“ Grit blickte Jürgen mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Dann sprach sie weiter. „Stefan wird uns schon was erzählen. Erst mal muß er zur Ruhe kommen, und wir erklären ihm beim Essen jetzt, warum wir hier sind und was wir hier so treiben.“

Zwei der Männer, die schwarze Kleidung trugen, hatten bereits den Tisch gedeckt, klapperten mit Tellern, ein anderer holte drei große quadratische Schachteln mit Pizzen von einem Tischchen. Andere stellten Getränke auf den Tisch. Bier, Cola, Wein, Gläser.

„Guten Appetit“, sagte Grit und blickte alle lächelnd an, drückte Stefan ein Besteck in die Hand und schob ihm einen Teller hin. – Die Pizzen reichten für alle, aber sie waren kalt. Es gab sogar eine kleine Schüssel Salat.

Während des Essens wurde Stefan wieder von allen gemustert. Nicht mehr so argwöhnisch, aber neugierig. Was das wohl für ein Typ ist, den die Grit da mitgebracht hatte. Einer, Berry, mit gefärbten knallroten Haaren, schüttelte beim Schlucken mehrfach den Kopf und sah Grit grimmig an.

„Du brauchst nicht so zu schauen“, sagte Grit freundlich, „manchmal gibt es Veränderungen bei uns. Das ist zu akzeptieren“.

Stefan fing nach einer kurzen Pause und nachdem er seinen Teller weggeschoben hatte plötzlich an zu reden. „Ich bin von meiner Mutter weg, weil sie tot im Bett lag.“

Im Zimmer war es plötzlich ganz still. Alle blickten zu ihm. „Sie lag heute Morgen tot im Bett, und sie war schon ganz kalt.“

„Hast du denn bei ihr denn gewohnt?“ fragte Grit und legte ebenfalls ihr Besteck weg. „Ja. Nein. Eigentlich nicht mehr. Früher schon. Die letzten zwei Jahre war ich in so einer offenen Pflegegruppe im Heim, aber da gefiel es mir nicht mehr.“

„Wieso Pflegegruppe?“ fragte Berry. „Naja, meine Mutter ist schon sehr alt, und ich war noch nicht volljährig, also jetzt…“ Stefan schneuzte sich umständlich in eine Serviette, „jetzt bin ich achtzehn und könnte überall wohnen, aber zu meiner Mutter kann ich nicht mehr, weil sie mich rausgeworfen hat einfach. Sie hatte sich damals mit dem Jugendamt in Verbindung gesetzt. Und ich habe sie aber dann, als ich nicht mehr dort wohnte, trotzdem fast jeden Tag besucht. Also das Verhältnis zwischen uns war eigentlich wieder in Ordnung.“

„Und warum bist du heute einfach weg, als sie tot war? Hast du wenigstens einen Arzt geholt?“ fragte Grit.

„Nein, habe ich nicht. Hätte ich vielleicht tun sollen. Das war alles so komisch. Als ich ankam, stand auch die Wohnungstür weit offen. Und ich habe gedacht, daß meine Mutter vielleicht kurz die Wohnung verlassen hat und im Keller ist oder auf dem Dachboden ist. Da habe ich vor der Tür gewartet. Und dann war alles ruhig. Und dann bin ich doch irgendwann in die Wohnung. Und wie ich ins Schlafzimmer geschaut habe, wo die Tür nur angelehnt war, habe ich meine Mutter im Bett liegen sehen. Sie lag ganz friedlich da.“ Plötzlich war Stefan traurig und hatte Tränen in den Augen. Grit nahm spontan seine Hand und streichelte seinen Arm.

Stefan redete stockend weiter. „Ja, ich habe ihr dann über die Wange gestrichen mit der Hand, und da bin ich total zusammengezuckt, weil ihr Kopf so kalt war.“

„Und wann war das nochmal?“ fragte mit tiefer Stimme Molle, der bullige Typ mit dem Vollbart. „Um ha-halb sieben mmmorgens“ antwortete Stefan stotternd.

„Und warum warst du morgens so bald schon bei ihr gewesen?“ Der Typ mit dem Vollbart bohrte weiter. „Ich bin einfach aus dieser Pflegegruppe abgehauen, wo ich war. Da war ich freiwillig, fast drei Jahre lang. Ich bin jetzt immerhin erwachsen und kann gehen wohin ich will, oder nicht?“ Er blickte die Männer und Grit der Reihe nach prüfend an. Grit nickte eifrig. „Natürlich.“ Stefan sagte „neunzehn, in zwei Wochen.“ „Ja, aber…“ – jetzt fragte Grit nach, „warum bist du dort plötzlich weg und wissen die auch Bescheid, daß du abgehauen bist einfach so? Ich meine die suchen dich doch? Die verständigen doch die Bullen.“

Stefan schwieg länger. Dann sagte er. „Den Grund will ich jetzt nicht sagen. Später vielleicht“.

Piwi, ein junger blonder Junge, wahrscheinlich ein Schüler, der brav angezogen war und äußerlich mehr einem Model ähnelte, unterbrach jetzt das Verhör. „Wir müssen langsam anfangen, verdammt, wir haben noch einiges zu besprechen und zu erledigen heute Nacht.“

Alle nickten, einige standen sofort auf. Stühlerücken, Unruhe. Grit lächelte Stefan an. „Aber irgendwann will ich von dir noch mehr hören“ sagte sie und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Gehst du mit mir? Dann zeige ich dir auch ein wenig von unserem Untergrund-Tempel.“

Manche grinsten, als sie das hörten. Sie verließen alle den Raum, trennten sich aber dann in kleine Gruppen. Es war inzwischen kurz nach ein Uhr nachts. Alle gingen sie leise und ohne zu reden in Gänge, durch Türen und trugen irgendwelche Geräte oder Werkzeug bei sich.

Stefan konnte sich immer noch nicht vorstellen, was jetzt passieren sollte.

Sie gingen durch einen langen, dunklen Gang, einige gemeinsam. Nur grüne Lichter für die Anzeige der Rettungswege waren zu sehen. Einer von der Gruppe leuchtete manchmal auf den Boden, weil wohl irgendetwas in dem Gang herumstand.

Kurz hinter Stefan ging Grit als letzte der Gruppe. Er spürte ihren Atem, so dicht lief sie hinter ihm. Das machte ihm ein angenehmes Gefühl, obwohl er sonst körperliche Nähe von Menschen nicht so mochte und schnell auswich. Aber Stefan ging weiter, fühlte sich plötzlich sicherer. Er drehte sich nach Grit um. Auf einmal lief sie schon rechts neben ihm und fasste einfach seine Hand. „Ich zeige dir jetzt mal einiges hier im Tempel. Etwas, das du garantiert noch nicht gesehen hast. Das ist nicht die Glitzerwelt, die Kunden erleben, sondern die zweite Haut. Die geheimen Gänge, die zu Wartungsschächten führen oder auch oben in die Läden und die Räume hinter den Verkaufsebenen.

„Und wie kommen wir in die Geschäfte hinein?“ fragte Stefan. Grit sagte leise. „Wir haben einen Generalschlüssel. Woher wir den gekriegt haben, verrate ich dir natürlich nicht. Auch nicht, wer ihn hat. Aber wir haben ihn schon länger.“

„Und der Wachtdienst oder andere Typen vom Tempel wissen wirklich nicht, daß ihr hier unten seid und euch nachts hier rumtreibt?“ Grit lachte kurz leise auf. „Naja, wenn du so fragst – ich denke schon, daß es manche ahnen oder sogar wissen, dass wir hier hausen. Aber selbst wenn es so ist, wissen sie nichts Genaues. Ich denke, sie können es sich aber vorstellen, daß wir ortskundig sind und Zugang zu vielen Räumen haben. Die waren schon oft verblüfft, was wir hier organisiert haben.“

Nach dem langen Gang, der einige Abzweigungen hatte, die in andere Gänge führten oder Treppen hoch in andere Stockwerke, hatte sich die Gruppe nach und nach aufgelöst. Einer war rechts abgebogen mit Werkzeug, ein anderer mit irgendwelchen großen Plakatrollen links, zwei waren eine Treppe hochgelaufen.

Nun waren Grit und Stefan übrig geblieben, und sie standen am Ende des Ganges vor einer weißen Stahltür. „Ab jetzt müssen wir vorsichtig sein“, sagte Grit. „Wir sind jetzt direkt vor der großen Halle im Erdgeschoß, wo eine Pizzeria ist und ein Cafe‘, und der vordere Eingangsbereich. Da ist auch der Infotresen, wo sich jeden Tag eine andere Blondine zu Tod langweilt, genau vor dem Eisstand.“

Stefan nickte. „Und man kann uns sehen von außen?“

Grit erwiderte: „Genau, darum geht es. Es ist zwar jetzt Nacht, und im Tempel ist es auch relativ dunkel, aber wir müssen uns trotzdem ducken und immer wieder verstecken. Schließlich kann es sein, daß ein Passant draußen vorbeiläuft und irgendeine Bewegung sieht von uns. Dann ruft er die Bullen an, und dann gibt es eine riesengroße Razzia hier.“ Ohne auf eine weitere Äußerung von Stefan zu warten, öffnete Grit vorsichtig die Stahltür. Sie ging nach innen auf. Ein heller Lichtschein viel sofort herein. Direkt über der Tür mußte ein Strahler angebracht sein.

Stefan rieb sich die Augen. Er hatte sich schon an die Dunkelheit im Gang gewöhnt. Beide traten sie heraus. Stefan blickte nach oben, wo die Emporen der ersten und zweiten Galerie waren. Er glaubte, einen Schatten zu entdecken. Bestimmt einer von ihnen.

Beide gingen nun die abgestellte Rolltreppe hoch ins Obergeschoß. Dort oben hatten sich alle zusammengefunden, an unterschiedlichen Standorten.

Nun bekam Stefan eine Ahnung, was geplant war. Es war ein großes Foto, das auf eine Leinwand projiziert worden war und sich zusammengerollt in mehreren Teilen befand. Das wurde von den anderen Jungs jetzt ausgelegt und sie waren dabei, es zusammenzusetzen.

Stefan erkannte ein Bild eines zusammengestürzten Hauses darauf, eine Ruine, unter der Menschen begraben waren.

„Weißt du, was das ist?“ Stefan zögerte, er erinnerte sich, dieses oder ähnliche Fotos vor einiger Zeit in der Zeitung gesehen zu haben oder im Fernsehprogramm. Er schüttelte den Kopf.

„Es ist die eingestürzte Textilfabrik in Sabhar in Bangla Desh. Dort wurden im Jahr 2013 über 1100 Menschen getötet durch den Einsturz. Hauptsächlich Frauen, die dort für Hungerlöhne gearbeitet haben. – Oft waren es alleinstehende Frauen, die ihre kleinen Kinder zurückließen als Waisen. Und außerdem gab es fast zweieinhalbtausend Verletzte.

„Wie ist das passiert?“ Stefan blickte sie neugierig an. Grit reagierte verblüfft. Offenbar hatte dieser Junge tatsächlich nichts davon gehört. Er interessierte sich wohl nicht für Politik. Grit zuckte mit den Schultern und sagte: „Eine Untersuchungskommission kam einige Monate später zu dem Schluss, dass die Hauptursache für die Katastrophe grobe Fahrlässigkeit war. Unter anderem sind für den Bau des Hauses minderwertige Baumaterialien verwendet worden, und das Bauland hat sich für ein mehrgeschossiges Gebäude von den Behörden aus nicht geeignet.“ Stefan nickte still mit dem Kopf.

Grit berichtete weiter: „Dieses Gebäude mit acht Stockwerken, hergestellt als Stahlbetonskelett – das ist eine völlig überalterte und gefährliche Methode, die in Deutschland zum Beispiel längst überholt ist - gehörte einem Politiker. Im Gebäude gab es mehrere Textilfirmen, sowie andere Geschäfte und eine Bank.

Einen Tag vor dem Einsturz waren in dem Gebäude Risse festgestellt worden. Deshalb verbot die Polizei sofort den Zutritt. Trotzdem befanden sich mehr als 3.000 Menschen im Gebäude, größtenteils Arbeiterinnen, als das Gebäude morgens einstürzte. Sie waren von den Fabrikbetreibern gegen ihren Willen und ihre Angst gezwungen worden, ihre Arbeit aufzunehmen.“

Es entstand eine Pause. Stefan blickte schweigend auf den Boden, Grit betrachtete ihn nachdenklich. Plötzlich fasste sie ihn mit der Hand fest am Arm. „Stell‘ Dir mal vor, 1100 Tote, ganz viele Verletzte. Es waren meistens Frauen, die allein waren und Kinder hatten. Die Kinder wurden Waisen. Es gibt dort kein soziales Netz wie bei uns. Und alles, alles, alles – Grit wurde jetzt laut – weil Unternehmer und Fabrikbesitzer dort aus Profitgründen alles machen können. Es gibt keine Arbeitssicherheit für Beschäftigte, gar nichts.“

„Und was wollt ihr jetzt genau machen?“ Grit deutete auf die Männer, die verstreut im 1. Obergeschoß Teile der großen Fotografie auslegten und zusammensetzten.

Einige der Jungs waren damit beschäftigt, Ösen für die Befestigung an den Seiten und Kanten anzubringen und stabile Schnüre hindurchzuziehen. „Das kommt jetzt nach oben in die Galerie?“ Grit nickte, sagte nichts und ging schnell zu einem Klamottenhaufen, der einige Meter weiter aus einem Pappkarton entleert worden war. Stefan ging hinter ihr her. Er blickte verblüfft auf mindestens ein Dutzend von T-Shirts, die voller Blut waren. Beim genaueren Hinsehen, stellte er fest, daß es rote Farbe war.

„Und die werden dann auch aufgehängt, alles an der Decke, und außerdem ein großes, zwanzig Meter langes Transparent.“

Stefan sah sie mit offenem Mund an. „Aber wenn Ihr das heute Nacht schon aufhängt, ist es doch morgen früh, ehe der Tempel aufmacht, längst weg.“

Grit grinste. „Schau an, schau an, Du denkst ja plötzlich mit. Natürlich hast du recht. Deswegen wird es oben so an Schlaufen befestigt, daß man es nicht erkennt. Und morgen in der Mittagszeit werden Armin und Joe die Befestigungen öffnen und dann rollt alles heraus. Links oben an der Treppengalerie hängt dann das Transparent, und weiter oben das große Bild der Textilfabrik…“. Grit klopfte ihm auf die Schulter. „Wir haben das alles schon ausprobiert, ob es funktioniert. Also komm Alter, Du kannst mir helfen, die ganzen T-Shirts an Schnüre zu hängen. Später werden sie dann an einer Stange hochgezogen, wenn alles fertig ist…“

Stefan half mit, kam ins Schwitzen wie alle. Einer der Gruppe hatte Wachdienst. Es war alles abgedunkelt. Sie orientierten sich nur an den Notleuchten und dem Licht, das von vorne außen von den Straßenlaternen kam.

Es war fast die Nacht herum, es war kurz nach vier Uhr, als sie fertig waren mit der Montage. Kaputt und schwitzend gingen sie wieder hinunter. Grit lief noch einmal oben auf der Galerie entlang und prüfte, ob alles gut installiert worden war.

Plötzlich drehte sie sich – schon im Keller angekommen - um und rief: „Ich habe den Akkuschrauber liegen lassen verflucht. – Er liegt noch oben auf der Galerie neben dem Eingang vom Handy-Laden.“

Stefan drehte sich spontan um und lief los. Als er bereits die Rolltreppe hinauflief, hörte er unten im Erdgeschoß Geräusche. Instinktiv duckte er sich auf der Treppe, ging ganz in die Knie und bewegte sich so fast bäuchlings die letzten Stufen die Rolltreppe hoch.

Er ahnte, ohne sich umzudrehen, daß es Wachleute vom Sicherheitsdienst waren, die soeben am Haupteingang Süd die Tür betätigt hatten. Sie waren noch weiter weg, konnten die Rolltreppe eigentlich noch nicht einsehen. Stefan war inzwischen oben und krabbelte auf allen vieren, es waren etwa zehn Meter, zu der Stelle, wo der Akkuschrauber lag. Er nahm ihn, robbte weiter bis zu dem Seitenausgang, der ins Parkhaus führte.

Kurz vor dem Ausgang ins Parkhaus entdeckte er die Tür zum Treppenhaus, die bis in den Keller hinunter führte. Stefan lauschte noch einmal, ob er auf dem Flur hier oben schon Schritte hörte. Dann ging er rasch durch die Tür ins Treppenhaus und rannte die Treppenstufen nach unten. Im untersten Kellergeschoß ging er wieder in den Flur zurück und befand sich bereits in der Nähe des langen Flures, wo sie gestern abend in dem Raum gegessen hatten.

Die anderen mußten wohl schon dort unten sein, er sah niemanden mehr. Als er die Tür zu ihrem Raum öffnete, war sie verschlossen. Er hörte drinnen Geräusche, und dann ein Klicken des Schlosses. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit und Grit stand vor ihm in dem erleuchteten Raum und strahlte ihn an. „Schön, daß Du es geschafft hast. Das war jetzt praktisch deine Einstellungsprüfung. Ab jetzt gehörst du zu uns. Wenn sie dich nicht erwischen so wie jetzt, bist du ein zuverlässiger Tempelritter.“ Die anderen im Raum lachten leise, die Tür war noch nicht zu.

Als sie alle sich etwas zu essen oder trinken genommen hatten – Pit, ein blonder, langhaariger Junge, er wirkte wie ein Oberschüler, hatte noch vier Döner mitgebracht, die bei dem Türken-Imbiss auf einem Ablagebrett vor der Ladentür lagen – begannen sie kauend, über die Aktion zu reden.

Stefan wußte immer noch nicht genau, wie das in der Mittagszeit von statten gehen sollte. Klar war ihm geworden, daß sie konspirativ und zuverlässig vorbereitet werden mußte so eine Aktion, und zwar so, daß alles klappte, und auch dass niemand von den Beschäftigten oder Ladeninhabern des Tempel vorher Verdacht schöpfen konnte.

Einigen fielen jetzt die Augendeckel zu. „Wir hauen uns gleich hin. Stefan, du kannst bei mir pennen, also neben mir, da ist Platz und einen Schlafsack und eine Iso-Matte kriegst du auch.“ Grit nickte ihm zu.

Zwei der Jungs, die sich schon hingelegt hatten, pfiffen frivol, und der Große mit dem Bart grinste.

„Ihr seid echt doof“ sagte Grit und stand auf. „Los, komm…“ sagte sie noch einmal zu Stefan und zog ihn an der Hand mit sich.

Kaum hatte sich Stefan hingelegt und zugedeckt, fiel er in tiefen Schlaf.

Am nächsten Morgen weckte ihn ein bohrendes, lautes Geräusch. „Oh je, nicht schon wieder“, hörte er eine Stimme rufen. Und ein anderer brummte irgendwas ärgerlich.

„Was bauen die denn heute schon wieder um“ fluchte ein anderer. „Erst kurz nach sieben ist es, die spinnen wohl. Die wissen wohl nicht, daß wir gearbeitet haben.“

Einige schliefen weiter, im Raum war es dunkel, nur wenig Licht drang durch das Oberlicht in der Tür vorne.

Grit hatte sich noch überhaupt nicht gerührt, sie lag auf dem Rücken.

Alle waren dann rasch aufgestanden und hatten nacheinander die Höhle unten im Keller des Tempels verlassen. Vorsichtig gingen sie, entweder allein oder zu zweit, die Flure entlang, immer lauschend, ob ein Beschäftigter des Tempels oder jemand vom Hausmeisterdienst kam.

Manche von denen wußten Bescheid, daß sie hier unten sich trafen und im Keller irgendwo schliefen, aber Genaueres wussten die nicht. Vor allem wußten sie nicht, warum sie sich ausgerechnet diesen Keller als Treff ausgesucht hatten.

Enstanden war das, weil einer der Jungs, Piwi, der Model-Typ, der Sohn des Hausmeisters vom Tempel war. Ansonsten interessierte es hier keinen, was sie hier machten, und niemand kam auch hier rein. Offiziell war es ein Heizungskeller und ein Abstellraum, jedenfalls keine Kantine oder Werkstatt.

Dennoch galt es natürlich aufzupassen, wenn sie das Licht der Öffentlichkeit des Tempels wieder erreichten. Aber auch dafür gab es ein System. Einige gingen unauffällig einfach im Keller in das Treppenhaus und von da aus eine oder mehrere Etagen nach oben, wo sie nicht auffielen, weil es hier auch Kunden gab, die nicht mit dem Aufzug fahren wollten. Andere schlichen durch die zweite Haut des Tempels, also durch hinter den Läden sich befindliche Sperrholz- und Trennwände.

Stefan lief jetzt hinter Grit her. „Wir gehen erst mal ins Cafe‘, ich brauche ein ordentliches Frühstück“, sagte sie zu ihm. „Komm, los, ich kenne ein schönes Frühstückscafe‘ in der Altstadt.“

Stefan nickte nur. „Wann müssen wir da sein zur Aktion?“ fragte er. „Um halb zwölf, punkt zwölf geht es dann los,“ antwortete Grit.

Im Cafe‘ quatschten sie weiter. Grit fragte Stefan noch einige Löcher in den Bauch, weil sie immer mehr von ihm wissen wollte, Sie hatte noch keine griffige Begründung gefunden, warum er jetzt ausgerechnet hier im Tempel gelandet war. „Wir müssen aufpassen in der Stadt, die suchen dich bestimmt, die Bullen. Da gibt es dann Steckbriefe und aktuelle Fahndungsmeldungen. Setz‘ dir mal die rote Mütze auf von mir.“ Sie gab ihm ihre rote, verwaschene Baseballkappe.

***

Albrecht Fortmüller ärgerte sich wieder über die Langsamkeit seines Computers. Die Kiste brauchte fast fünf Minuten jetzt, bis sie hochgefahren war. Ein neues Netz hatten sie inzwischen hier an der UNI schon seit drei Jahren – und eine ganze Abteilung, die sich „IT direct“ nannte und erste Hilfe leistete per Telefon, wenn es Probleme gab mit dem Internet oder dem PC.

Seitdem war es noch schlimmer geworden. Früher kannte man einige Ansprechpartner persönlich, rief eine Telefonnummer von einem Kollegen an, und der konnte einem meistens unbürokratisch helfen, so daß man schnell weiterarbeiten konnte.

Heute war alles anders. Es gab zwar eine Hotline, aber da war keiner mehr dran, sondern man mußte die Störungsmeldung aufs Band sprechen und konnte von Glück reden, wenn man am gleichen Tag noch zurückgerufen wurde. Und sein neuer PC war ihm schon vor zwei Jahren versprochen worden. Er wartete noch immer darauf, aber langsam war es ihm auch egal. In drei Jahren würde er die Fliege machen, da hatte er sein Rentenalter erreicht. Er war schon zweimal bei einem früheren Studiums-Kollegen gewesen, der Leiter des städtischen Versicherungsamtes war und hatte sich von ihm die Rente ausrechnen lassen. Es machte ihm jedesmal großen Spaß. Nur der Amtsleiter, sein früherer Kollege, zog ihn immer auf: „Na, schon wieder da, Alter? – Meinst du vielleicht, wenn du jeden Monat gerannt kommst, kriegst du ein paar Euro mehr Rente in drei Jahren?“

So frotzelten sie sich gegenseitig an, in Wirklichkeit hatten sie beide große Übereinstimmung zur allgemeinen politischen Lage, fanden die SPD und die Grünen verbrecherisch, weil sie ihnen und ihrer Generation – und den nächsten Generationen noch viel mehr – eingebrockt hatten. Nämlich daß es Hartz IV gab, daß der Sozialstaat demontiert worden war – etwas, wozu es in England einer Maggie Thatcher bedurft hatte – in Deutschland hatte dagegen nur ein billiger Schröder sowie alle Folge-Vorsitzenden der SPD gereicht. Ja, und natürlich vor allem, weil das Rentensystem von denen demontiert worden war, so daß es nur noch Armutsrenten geben würde in wenigen Jahren. Dauerhaft.

Bereits jetzt zeigte der Kahlschlag mit allen möglichen, bisherigen Rentenreformen, daß völlig normale Beschäftigte, die über 45 Jahre lang etwa als Busfahrer, Verkäuferin oder in sonst einem anständigen Lehrberuf gearbeitet hatten, nur noch knapp über 1000 Euro Rente bekämen. Sie würden Flaschen sammeln müssen, und Ernst, so hieß sein Kumpel am Rentenamt, erzählte ihm jedes Mal ausführlich Beispiele, wo Menschen, die sich jahrelang auf ihre Rentenzeit gefreut hatten, bei ihm in Tränen ausbrachen: Kein Urlaub mehr, auch kein kleiner, kein Essen im Restaurant mehr einmal im Monat, sondern zur Tafel.