Im Visier - Arno Endler - E-Book

Im Visier E-Book

Arno Endler

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Beschreibung

Der Kurier bringt deine Daten vertraulich ans Ziel.

2031 – in Deutschland ist alles und jeder permanent verknüpft. Dennoch gehört Datenschutz der Vergangenheit an. Behörden sowie Cyberkriminelle haben Mittel und Wege gefunden, begehrte Informationen mitzulesen und für ihre Zwecke einzusetzen.
Wer es finanzieren kann, übergibt seine Dateien einem menschlichen Kurier. Die Daten werden persönlich zum Empfänger transportiert – anonym und vertraulich, von lokalem zu lokalem Speicher.
Sofia ist eine dieser Kuriere. Während ihres nächsten Jobs passiert es: Sie infiziert ihren Datengürtel mit einem Virus, der mehr als die gewünschten Daten herunterlädt. Die unbekannten Dateien sind nicht für fremde Augen gedacht und Sofia gerät ins Fadenkreuz von Politik, Verfassungsschutz und dem Mob. Begehren sie nur die Informationen oder steckt mehr dahinter?

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Seitenzahl: 430

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Arno Endler

IM VISIER

Datenlieferung im schwarzen Dreieck

© 2022 Polarise

Ein Imprint der dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

www.polarise.de

1. Auflage 2022

Autor: Arno Endler

Lektorat: Dr. Benjamin Ziech

Copy-Editing: Irina Sehling

Satz: Veronika Schnabel

Herstellung: Stefanie Weidner, Frank Heidt

Illustration Cover: licarto

Druckerei: CPI books GmbH, Leck

ISBN:

 

Print

978-3-947619-85-6

PDF

978-3-947619-86-3

ePub

978-3-947619-87-0

mobi

978-3-947619-88-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Natio-nalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über www.dnb.de abrufbar.

INHALT

PROLOG

DER AUFTRAG

DER VORHOF ZUR HÖLLE

IN DER SIEBTEN HÖLLE

DER WARNER IN DER DUNKELHEIT

RÖMISCHE TRAGÖDIE

OH, WIE IST ES AM RHEIN …

SO SICHER WIE EINE BURG

HANNIBAL ANTE PORTAS

GESCHÜTZT

IM REICH DER SCHATTEN

ORFEUS IN DER UNTERWELT

HETZJAGD IM SCHWARZEN DREIECK

BEGEGNUNG

EPILOG

Arno Endler, geboren als Sonntagskind 1965 in Neuwied, infizierte sich im Alter von 12 Jahren mit dem Science-Fiction-Virus. Als Schüler durchstöberte er bereits sämtliche Buchhandlungen seiner Heimatstadt auf der Suche nach Büchern des Genres und litt nur an einem Mangel an Taschengeld.

Er studierte Steuerrecht und betreute als Landesbeamter verschiedene IT-bezogene Projekte.

Seit dem Jahr 2008 wagte er schriftstellerisch Blicke in die nähere und fernere Zukunft und publizierte Dutzende Kurzgeschichten im c’t-Magazin. Seit 2016 schreibt er für die Serie Perry Rhodan NEO und veröffentlichte mehrere Romane in verschiedenen Verlagen.

PROLOG

In der engen Fahrstuhlkabine betrachtete der hagere, hochgewachsene Mann den undeutlichen Schatten auf dem gefliesten, fleckigen Boden. Der Lift ruckelte mehrfach, die Fahrt war unruhig. Eine Technik, die sicher schon bessere Zeiten gesehen hatte.

Der Mann, hier nannte man ihn Sven, nestelte an der Zugangskarte. Sie hing an einem Band, das sich in die Haut seines Nackens ritzte. Er musste schmunzeln, obwohl ihm eigentlich nicht danach war.

Der Umriss auf dem Boden, der nur bedingt seiner Gestalt ähnelte, gemahnte ihn daran, welches Geheimnis er hütete.

Schatten, dachte er, so nennen sie uns.

Im Minidisplay neben dem Touchscreen flammte die minus Drei auf – in grellem, blutigem Rot. Nichts deutete darauf hin, dass diese Etage und die zwei darunterliegenden vom Bundesamt für Verfassungsschutz genutzt wurden. Darüber taten die Beamten des IT-Bundesamtes ihren Dienst. Zutritt zu den BfVH-Etagen hatten sie nicht.

Welcome to hell. Willkommen in der Unterwelt, so hatte er einst die Begrüßungstour über sich ergehen lassen.

Sven glich das Wippen des Haltevorgangs aus, hielt seine Zugangskarte vor den Scanner. Die Türen glitten mit einem metallischen Schaben zur Seite. Ein kräftiger kühler Hauch kippte in die Kabine. Die Luft roch nach Desinfektionsmittel.

Sven trat hinaus in den Korridor, der so beamtenstubenmäßig angelegt war, dass er in jeder Streaming-Serie hätte verwendet werden können. Glatter, aber nicht rutschiger Bodenbelag, die Wände in schmucklosem Grau gestrichen, nur unterbrochen durch eine ganze Reihe von Türen zu beiden Seiten. Daneben elektronische Hinweisschilder, wer in den jeweiligen Räumen dahinter residierte.

Sven suchte die minus 3.027, ein Zimmer, in dem Piet auf ihn wartete. Er musste nach rechts.

Seine langen, schlaksigen Beine steckten in einer zu weiten Hose. Die Hosenbeine machten ein klatschendes Geräusch bei jedem Schritt. Niemand begegnete ihm auf dem Flur, es herrschte absolute Stille.

Sven trat an die minus 3.027, hielt seine Zugangskarte vor den Scanner, ein unscheinbares Quadrat mitten in der Tür.

Auf der Zugangskarte befanden sich all seine Daten, die ID-Nummer, Berechtigungen, die er schon längst überschrieben hatte, und in großen Lettern aufgedruckt las man dort BfVH.

Die Behörde, in deren Dienst man ihn gezwungen hatte.

Es summte kurz, dann öffnete sich die Tür mit einem Klacken nach innen. Sven stieß sie weiter auf und huschte hinein.

Piet teilte sich das Zwölfquadratmeter-Kabuff mit einem breiten Schreibtisch, auf dem gleich vier überbreite Monitore befestigt worden waren. Sie stellten die einzige Lichtquelle dar und tauchten den Raum in ein fahles Licht.

Der Datenspezialist saß im Rollstuhl und freute sich ganz offensichtlich, Sven zu sehen.

»Svenni!«, grüßte Piet.

»Hey, Pi!«, erwiderte Sven. »Ist nett, dass du mir helfen willst.«

»Mach ich doch gerne.« Piet deutete mit einem Kopfnicken in die Ecke. »Nimm dir den Stuhl. Ich hab meinen ja immer dabei.« Er griff in die Räder des Rollstuhls und korrigierte seine Position am Tisch.

Sven holte sich einen Rollhocker herbei, schob ihn neben Piets Platz und setzte sich. Über drei der Monitore ergossen sich Programmzeilen wie farbige Wasserfälle. Es waren von Piet entworfene Programmcodes, die Auswertungen zu ganz unterschiedlichen Problemstellungen lieferten.

Der vierte Bildschirm allerdings zeigte einen Videofeed.

»Ist das live?«, fragte Sven.

»Jep. Deswegen wollte ich, dass du herkommst.«

Gemeinsam betrachteten sie schweigend die Bilder eines Raums. Ein metallener Tisch war zu sehen mit einer darauf montierten massiven Stange, um die sich die Kettenglieder einer Handfessel spannten. Ein pausbackiger Rothaariger mit Schweiß auf der Stirn saß auf einem der Stühle, stützte sich mit den Ellenbogen auf der Tischplatte ab und schüttelte den Kopf. Die Handschellen hatten schon Spuren an seinen Handgelenken hinterlassen. Seine verwaschenen Augen zeigten Spuren von Tränen.

Piet zoomte heran, sie sahen ihn in Großaufnahme. Die fettig wirkenden dünnen Haare, die Rotze, die aus den Nasenlöchern tropfte.

»Scheiße, das ist Hoodie«, gab Sven das Offensichtliche wieder. »Was hat er ausgefressen?«

Piet hustete. Er wischte sich anschließend verstohlen den Mund ab und dirigierte mit den Fingern der linken Hand die Einstellungen am Monitor. Der Datenhandschuh war als solcher kaum erkennbar. Nur wer wusste, dass Piet einen trug, sah die verräterische Farbe.

Der Livefeed verkleinerte sich auf die Hälfte, daneben ratterte eine nicht enden wollende Reihe von Einträgen in einer Tabelle von oben nach unten.

Piet beugte sich vor, um die Buchstaben besser erkennen zu können. »Er wird seit drei Stunden dort festgehalten. Der Befehl kam von Abteilung 7.«

»Sieben? Das ist die Datenakquise, nicht wahr?«, hakte Sven nach.

»Ja. Und der Befehl kam von …« Piet fuchtelte mehrfach mit den Händen, swipte sich durch die Anzeigen – ein wahrer Künstler mit dem Datenhandschuh.

Sven roch die Ausdünstungen von Piets Deo. Intensiv stechend. Bald schon würde es versagen und der Schweiß eines Nerds den Raum füllen.

»Da ist es. Kacke!«, stieß Piet hervor.

»Wer? Wer gab den Befehl?«

»Weiler.«

Sie starrten einander bedeutungsschwanger an. Die Abneigung gegen den Chef der Abteilung 7 verband die beiden.

Sven wandte sich wieder dem Monitor zu. »Was wirft Weiler ihm vor?«, fragte er.

»Hier steht nix.« Piet wechselte die Anzeigen und wühlte sich im Eiltempo durch mehrere Dateien.

»Mach das Bild wieder größer. Da passiert was«, wies Sven ihn an. Er schrak zusammen, als er gewahr wurde, wer den Verhörraum betreten hatte. »Scheiße, da ist Weiler persönlich«, murmelte er.

Hoodie, der eigentlich Nahood hieß, sah auf. Angst fegte über sein Gesicht. Er versuchte sich aufzusetzen, doch die Handschellen an den Ketten engten seinen Bewegungsspielraum stark ein und machten es ihm unmöglich. Er bewegte den Mund.

»Kein Audio?«, fragte Sven.

»Nein. Niemand weiß überhaupt von der Übertragung auf den Backup-Server. Aber ich kann die Transkription anwerfen. Das dauert einen Moment, aber dann sollten wir mitlesen können.«

Piet versank in seiner wild anmutenden Dirigententätigkeit. Auf dem Monitor überlagerten sich einige Programmfenster gegenseitig, bis der Spezialist endlich das passende geöffnet hatte und erleichtert aufseufzte.

Er verkleinerte den Videofeed und links daneben transkribierte ein Programm die Audioaufnahme aus dem Raum.

Was denkst du eigentlich, wer du bist? – Einen Anwalt? Deinen Anwalt? So jemand wie du, ein Nichts, ein schwabbelbäuchiger Nerd, der nur aus einem einzigen Grund noch nicht gefeuert wurde, fragt nicht nach einem Anwalt.

[nicht transkribierbare Geräusche]

Du hast eine Vereinbarung unterschrieben. Einen Vertrag. Und du hast ihn gebrochen.

Nein, bitte.

Jetzt flenn nicht herum. Wo ist der [Lätschopener]?

Piet richtete sich auf. »Weißt du, wovon Weiler spricht? Die Software kann dieses Wort nicht zuordnen.« Er sah Sven fragend an.

»Nein«, log dieser. Gleichzeitig verfolgte er die Antworten Hoodies, der immer noch alles abstritt.

Ich weiß von nichts. Als ich wieder ins Labor kam, war das Programm weg, alle Log-Dateien gelöscht.

Lüg mich nicht an.

Im Videofeed sahen die beiden vor den Monitoren, wie Weiler ihren Kumpel mit Lässigkeit ohrfeigte. Zweimal, dreimal. Das Gesicht Hoodies, der nicht ausweichen konnte, flog mal nach rechts, mal nach links. Schweißtropfen spritzten umher.

Sven schloss die Augen, spürte das Gewicht der Speicherkarte tonnenschwer in seiner Hosentasche. Hoodie würde ihn verraten, würde sie alle verraten. Er war zu schwach, um Weiler Paroli zu bieten. Sven selbst hätte in dieser Situation gestanden.

Also blieb ihm nicht mehr viel Zeit. »Hä?«, stieß Piet hervor.

Sven schreckte auf, las kurz nach, was gesprochen worden war.

Es ist sinnlos, Nahood. Du weißt, dass sich die Software eigenständig in gesicherte Netze einwählt, sobald er Kennungen oder Scans registriert. Derjenige, dem du ihn also weitergegeben hast, wird sich selbst verraten – bei jeder verflixten Nutzung! Also! Wo ist mein Baby?

Ich weiß es nicht.

Weiler hob den Arm erneut zum Schlag und verharrte dann plötzlich. Er bewegte sich kurz aus der Erfassung der Optik. Als er zurückkehrte, verzog sich Hoodies Gesicht in panischer Furcht.

Weiler legte eine etwa handgroße nierenförmige Kartonschale auf dem Tisch ab. Vier Spritzen glitzerten metallisch.

Man sagte mir, dass die erste Spritze nur Schmerzen verursacht, transkribierte die Software.

Weiler wanderte durch den Raum, stellte sich hinter Hoodies Rücken, der sich zu verrenken versuchte, um ihn anschauen zu können. Doch Weiler ließ es nicht zu.

Wenn du dem Schmerz der ersten Spritze nicht nachgibst und mir die Wahrheit sagst, werde ich Nummer zwei versuchen. Es soll Kreaturen geben, die Schmerz als lustvoll empfinden. Ich denke nicht, dass du zu diesen gehörst, Nahood. Daher glaube ich auch nicht, dass ich Nummer drei einsetzen werde, und ich würde es bedauern, das letzte Mittel in Nummer vier nutzen zu müssen. Denn darin ist das eigentliche Wahrheitsserum. Nur dass es alles aus deinem Hirn saugen wird und erheblichen Schaden verursacht. Ein weiterer Brief unserer Personalabteilung über den tapferen Heldentod eines Beamten im Einsatz wird fällig werden. Denn was von dir übrig bleibt, werden wir niemandem präsentieren können. Bist du bereit?

Weiler stellte sich neben den Tisch, nahm eine Spritze hoch.

Sven hatte genug gesehen. Er sprang auf.

»Was ist? Was machst du?«, fragte Piet.

»Ich …« Sven stockte. Seine Gedanken rasten. Er wusste, dass er sofort fliehen musste. »Ich werde es Müller melden. Er sollte wissen, was Weiler hier abzieht. Es ist schließlich sein Amt. Wir sind nur Gast hier. Er muss Weiler stoppen.«

»Nein, das darfst du nicht! Ich habe hier deutlich gegen alles verstoßen, was …«

»Ich halte dich da raus. Mach dir keinen Kopf. Schalt es ab, verwische deine Spuren«, wies Sven Piet an. Er schob den Hocker zurück und ging zur Tür, die er öffnete. Im Rahmen stehend schaute er sich ein letztes Mal um. »Und … Piet?«

»Ja?«

»Danke.«

Sven schloss die Tür hinter sich, eilte den Gang entlang und hämmerte ungeduldig auf den Knopf, der den Lift herbeibeorderte.

Er versuchte gegen die eigene Panik anzuatmen. Wie lange würde Hoodie noch durchhalten? Wann verriet er schließlich doch, dass er den Latchopener auf eine Karte transferiert und den Speicher an Sven übergeben hatte?

Die Speicherkarte brannte mit ihrer schieren physischen Existenz Löcher in seine Hosentasche. Viel zu einfach war es gewesen, ein solch mächtiges Instrument zu entwenden. Das würde Weiler klar werden.

Ich muss hier raus, war Svens vorherrschender Gedanke. Irgendwie unbehelligt aus dem Gebäude kommen.

Die Lifttüren glitten zur Seite. Eine leere Kabine. Sven trat ein und wählte die Drei. Im Erdgeschoss würde er durch die Scanner müssen. Das war zu gefährlich.

Nach einer kurzen ruckeligen Fahrt stoppte der Fahrstuhl im dritten OG. Hier lagen die Büroräume der offiziellen Mitarbeiter des IT-Bundesamtes und der Zugang zur Kantine, die über einen überdachten Außenbereich verfügte. Eine Terrasse mit locker verteilten Tischen.

Sven bemühte sich, einen entspannten Schritt beizubehalten, grüßte flüchtig Bekannte und zwei Kollegen, die an einem der Automaten miteinander diskutierten.

Niemand stoppte ihn, als er die Terrasse betrat. Nur zwei Tische waren besetzt. Sven trat zielgerichtet an die Brüstung, eine schmale Mauer, in der die Anti-Spionage-Störsender und holografischen Erzeuger eingebaut waren.

Die Sonne heizte die Luft bereits ordentlich auf. Kaum ein Lufthauch sorgte für Kühlung. Sven legte die Hände auf die Mauer, beugte sich vor und spinste über die Abgrenzung. Eine Rotbuche ragte nur etwa zwei Meter von der Gebäudewand entfernt in die Höhe. Der Wipfel war belaubt und mit zahllosen Ästen ausgestattet.

Seine einzige Chance. Er schwang sich auf die Mauer, blickte sich ein letztes Mal um. Dann sprang er. Er vernahm einen Schrei; ob es sein eigener war oder einer der Terrassennutzer gerufen hatte, wusste er nicht.

Die Äste empfingen ihn schmerzhaft. Er rutschte, suchte Halt, hörte es knacken, weitere Schreie. Etwas fetzte ihm Haut von der Wange, ein stechender Schmerz in seiner rechten Hand.

Der Absturz endete abrupt. Sven atmete. Er wandte sich um. Der Ast wackelte, darunter gab es mehrere Äste, die er kletternd erreichen konnte. Knapp zwei Meter über dem Boden ließ er sich fallen, landete auf den Füßen und blickte auf die Glasfassade mit den verspiegelten Flächen.

Er war draußen. Sie würden ihm folgen. Weiler würde keine Zeit verlieren.

Der Latchopener musste in Sicherheit gebracht werden. Sven blieb keine andere Wahl, als die Speicherkarte mit der App bis zu seinem Kontaktmann zu transportieren. Seine Leute warteten schon auf das Programm. In der Stadt. Dort hatten sie die Möglichkeit, Gegenmaßnahmen zu programmieren und sie einzuschleusen. Wenn es ihnen nicht gelang, war ihre Sache verloren.

Sven rannte los. Er nestelte das Smartphone aus der Brusttasche und tippte im Laufen eine Nachricht an Thorsten ein.

Ich bin auf dem Weg. Ich habe es.

Er wartete nicht auf Antwort, öffnete die Abdeckung des Geräts, nahm die SIM-Karte heraus, knickte sie in der Mitte durch und warf sie in den nächsten Mülleimer.

Er sah sich mehrfach um, konnte jedoch keinen Verfolger erkennen. Doch er hatte nicht vergeblich im BfVH gearbeitet und wusste um die unzähligen Kameraaugen, die in Frankfurt verteilt waren. Niemand konnte auf Dauer den Objektiven entgehen.

Wenig später entsorgte er seine Zugangskarte in einem Abfallkorb. Danach noch sein Smartphone, nicht ohne vorher seine Bürger-ID zu scramblen. Auch das würde nicht lange anhalten. Die unbarmherzigen Computerprogramme verglichen seine Bewegungen und Körperlinien mit denen, die im BfVH von ihm gespeichert waren. Nichts konnte er dagegen tun, außer in der Menge zu verschwinden.

In der Ferne hörte er Lärm. Sven beeilte sich.

DER AUFTRAG

Montag, 12. April, Frankfurt

Die letzten Monster der Hochhausschluchten fielen schnell zurück, als Sofia ihren E-Scooter in eine der vielen Seitenstraßen lenkte. Nur wenig Kühlung entstand durch den Fahrtwind. Die Luft verbarrikadierte die schmaler werdenden Gassen der Altstadt wie eine Wand, empfing Fußgänger, Biker und Scooterfahrer mit unbarmherziger Gewalt, raubte jedem auf den Straßen den Atem.

Die Frankfurter Skyline, so bekannt und überragend sie auch war, schien hier sehr weit entfernt. Bröckelnde Fassaden der umstehenden Häuser hatten Mauerteile und Verputzreste auf dem Weg verteilt. Einigen großen Brocken wich Sofia elegant aus. Doch ihre Laune verschlechterte sich merklich, als sie eine nasse Spur an ihrem Rücken spürte. Der Rucksack klebte an ihrem T-Shirt und trotz ihrer extrem kurzen Shorts fühlten sich selbst ihre Beine zu warm an.

Mehrere Passanten trugen Gesichtsmasken gegen die drückende Schwüle, um besser atmen zu können. Es waren nicht viele, allerdings hatte man sich irgendwie an den Anblick gewöhnt.

Ein Surren lenkte Sofia ab. Sie sah kurz hoch. Zwei Lieferdrohnen sausten zehn Meter oberhalb durch die enge Gasse, Pakete in den Greifern zu ihren Zielorten fliegend. Noch höher glitzerte verräterisch im Licht der strahlenden Sonne die gläserne Abdeckung einer Polizeidrohne, die in diesen schwer einsehbaren Bereichen zur allgemeinen Überwachung eingesetzt wurde. Sofia senkte sofort wieder den Blick, rückte das Basecap zurecht und steuerte um die nächste Ecke. Im Lenkerdisplay deutete der Pfeil des Navis auf das blinkende Zielfähnchen in höchstens fünfzig Meter Entfernung.

Sofia verlangsamte und sprang vom Roller. Der E-Motor stoppte und einige schnelle Schritte später blieb sie stehen.

Ein Mann kam in geduckter Haltung vorbei, sah sich verstohlen um und stellte sich in einen Hauseingang. Die rote Leuchtreklame eines zugelassenen Bordells über der Tür verhieß unendliche Orgasmen.

Sofia schüttelte den Kopf. »Viel Spaß! Und nimm ein paar Ideen für deine Frau mit nach Hause!«, rief sie ihm zu. Der Freier reagierte nicht, wartete vielmehr sichtlich ungeduldig, bis die Tür vernehmlich klackte, als sie sich für ihn öffnete.

Sie hasste es, so etwas zu beobachten. Ob ihre eigene Mutter in so einem Laden dahinvegetierte? Möglicherweise hatte der Job sie inzwischen getötet, egal ob seelisch oder körperlich.

Sofia klappte den Roller zusammen und hing ihn in die Halterung an ihrem Rucksack. Sie fummelte das Smartphone aus der Hosentasche und checkte die Adresse.

Sie war am Zielort. Doch wo war die Bar?

Die Traute Heimat verließ sich offensichtlich auf Mundpropaganda, statt ein klar erkennbares Türschild oder Werbebanner zu benutzen. Sofia zählte drei Eingänge in der Häuserfront mit der Nummer 22. Zwei führten auf halber Höhe in den ersten Stock; die beide wirkten, als wären sie Zutritte zu einfachen Wohnsilos. Rechts daneben führten Stufen in einen Keller.

Sofia entschied sich für den Untergrund, stieg die kurze Treppe hinab und betrachtete irritiert eine verrostete Metalltür. Die Muster von Rost, Lacken und Metall ergaben ein modernes Gemälde, voller Kraft und stetigem Verfall. Die Klinke wollte sie nicht anfassen, so versifft sah sie schon auf den ersten Blick aus. Ein Streifen Toilettenpapier klebte an dem Plastik, das sogar Verbrennungsspuren aufwies. Der Papierfetzen baumelte leicht, trotz des fehlenden Windes.

Versuchsweise drückte sie einhändig gegen die Tür. Vergeblich.

Sofia fluchte leise. Dann hämmerte sie mit der geballten Faust mehrfach gegen das dumpf klingende Metall.

Ohne dass sich die Klinke bewegt hätte, schwang die Tür nach innen auf.

Ein gähnendes schwarzes Loch, aus dem ihr ein Schwall abgestandener Luft gemischt mit Alkohol- und Zigarettengestank entgegenkam. Wie eine Luftschleuse, die ihren Inhalt ins All hinausbeförderte.

Sofia wappnete sich für das Schlimmste, verstaute ihr Basecap im Rucksack und betrat das Drecksloch.

»Traute Heimat! Dass ich nicht lache«, murmelte sie. »Als wenn jemand in so etwas seine Heimat sehen würde.«

Mit ein paar schnellen Bewegungen straffte sie ihren Pferdeschwanz und setzte Schritt auf Schritt in den Korridor. Funzelige Lampen an den Seiten ließen die fahle Farbe der Wände und den wahrscheinlich einst vor Jahrzehnten flauschigen Teppichboden mehr erahnen denn sichtbar werden.

Sofias Nase verschloss sich nach wenigen Metern. Zumindest nahm sie den Gestank nicht mehr als störend wahr.

Am Ende des Flurs versperrte eine Art Vorhang aus schwerem dunklen Stoff die Sicht auf die dahinterliegenden Räumlichkeiten.

Es schauderte Sofia, als sie ihn anfassen musste. Sie schlug ihn zur Seite hin auf. Dahinter lag der Barraum.

Eine Theke, hinter der ein glatzköpfiger junger Kerl Gläser putzte und sie in das Licht der Thekenbeleuchtung hielt. Er stoppte mitten in der Bewegung, betrachtete Sofia ausgiebig von unten bis oben und wieder zurück.

Sie war es gewohnt, von Männern angestarrt zu werden. Frauen waren da vorsichtiger, glotzten weniger offensichtlich.

Sofia machte einen Schritt hinein, um den Vorhang endlich loslassen zu können. Der Barkeeper nickte ihr zu, eine Freundlichkeit, die sie nicht erwiderte. Stattdessen musterte sie die übrigen Anwesenden.

An der Theke saß ein Mann mittleren Alters, der sich krampfhaft an einem Glas festhielt. Sein krummer Rücken verdeckte beinahe die mächtigen Schultern und lenkte von den sehr muskulösen Armen ab. Seine Hose wies einige Löcher auf, das Hemd war mal weiß gewesen. Woher die zahlreichen fleckigen Flächen stammten, ließ sich nur erahnen.

Er ignorierte Sofia, ganz im Gegensatz zu den zwei jungen Typen, vielleicht Studenten, die überdreht und gleichzeitig übermüdet wirkten. Sie hatten wohl die Nacht durchgemacht.

Die beiden, der eine blond, der andere braunhaarig, ungefähr Mitte zwanzig, stießen sich gegenseitig an. Der Blonde vollführte eine obszöne Geste. Der andere lachte wie auf Kommando zu laut, zu exaltiert und mehr gezwungen denn belustigt.

Sofia schloss aus, dass die zwei ihren Kontakt darstellten. Alexa hatte einen Mann angekündigt und wenn ihre Chefin so etwas sagte, meinte sie es auch so.

Sonst war niemand da. Der Säufer an der Theke beachtete sie weiterhin nicht.

Das ist er demnach ebenfalls nicht, dachte Sofia und checkte die Zeit. 10:07. Sie war zu früh, beschloss die Anwesenden einfach zu ignorieren und trat an den Tresen heran. Sie bestellte einen Cuba Libre. »Wenig Rum, viel Cola. Ich will den Geschmack, nicht den Rausch. Draußen ist es heiß.«

Der Barkeeper nickte und kurz darauf stand ein Tumbler, mit Eis bis zum Glasrand, vor ihrem Platz. Sofia stellte den Rucksack mit dem Klapp-Scooter neben ihren Barhocker, nahm das Glas und genoss die angenehme Kühle.

»Hey, Süße!«, rief einer der Studenten mit kippender Stimme. »Lust auf’n Quickie?«

Sofia wandte sich um, musterte den verschämt auf die Wand starrenden Blonden und den grinsenden Brünetten. Sie hob ihr Glas in Richtung des Zweiten. »Da ich von dir außer einem Quickie nichts erwarten würde, verzichte ich lieber. Zu mehr bist du wahrscheinlich gar nicht fähig. Meine Zeit ist mir zu wertvoll.« Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern drehte ihm den Rücken zu und stützte sich mit den Armen auf der Theke ab. Sie checkte die Uhrzeit auf dem Smartphone, das sie neben dem Cola-Rum-Mix auf den Tresen gelegt hatte. Noch fünf Minuten.

Der einsame Trinker sah sie nicht an. Er hypnotisierte das Glas, das vor ihm einen feuchten Fleck auf der Platte hinterließ. Als er sprach, spürte Sofia eine Gänsehaut auf ihrem Rücken.

»Gut gekontert, die Dame.«

»Wie meinen?«, fragte sie. Ihr kamen Zweifel, ob es sich nicht doch um ihren Kontakt handelte.

»Eine Abfuhr ist nicht einfach zu erteilen. Eine Prise Humor, eine Prise ätzenden Sarkasmus, schon ist man den Kerl los. Aber man muss es können.« Der Breitschultrige hob sein Glas, ohne sie anzusehen, und prostete einem unsichtbaren Gegenüber zu.

Erst jetzt erkannte Sofia, dass dort ein Spiegel an der Bar befestigt war, in dem der Mann sie fixierte.

Sie wollte ihm schon zuprosten, als der Mann seinen Sitz verließ und sich auf den freien Hocker neben ihr setzte.

Sofia war sich sicher, die Zeit passte.

»Sind Sie Murat?«

»Und wenn ich es wäre?«, murmelte der Breitschultrige. Sofia spürte eine warme Hand auf ihrem Oberschenkel.

»Dann nimm sofort deine Griffel da weg, ich bin nicht im Auftrag inbegriffen. Pfoten weg!«

»Und wenn ich das nicht will?« Die Hand glitt nach oben, seine Finger packten kräftiger zu.

»Du bist nicht Murat?«, fragte sie erneut.

»Leider nein, aber wir können uns doch einigen, nicht wahr?«

Sofia schmetterte ihm das Glas gegen seinen Schädel, griff mit der anderen Hand nach dem Gelenk der grapschenden Finger, die sich bereits lösten. Sie schnappte sich Mittel- und Zeigefinger gleichzeitig und brach sie in einer flüssigen Bewegung.

Der Kerl riss den Mund auf, um vor Schmerzen aufzubrüllen, als sie seinen Hinterkopf mit der flachen Hand umfasste und den Schädel mit voller Wucht auf die Theke schleuderte. Das Geräusch war ohrenbetäubend und befriedigend. Sie packte seinen dünnen Pferdeschwanz – die letzte Hinterlassenschaft einer früheren Haarpracht – und zog ihn zurück. Nahezu schlaff stürzte der Kerl rückwärts vom Stuhl, merkte wahrscheinlich nicht mal mehr den Aufprall. Zu Sofias Verwunderung kam er jedoch schnell wieder zu sich, schüttelte den Kopf. Blut sickerte aus zwei Risswunden. Er versuchte sich aufzurappeln. Sofia glitt von ihrem Hocker und trat ihm zwischen die Beine. Jetzt endlich verdrehte er die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und verkrümmte sich in Embryonalhaltung. Spucke und Kotze lief aus seinem Mundwinkel. Glassplitter bohrten sich in das teigige Fleisch der Wange.

»Saubere Arbeit«, lobte der Barkeeper. Er öffnete die Klappe an der Seite des Tresens, kam in den eigentlichen Barraum und kniete neben dem Bewusstlosen nieder. Er tastete die Jackentaschen ab, fingerte die Geldbörse hervor und kontrollierte den Inhalt. Zwei Fünfziger nahm er heraus und stopfte sie sich in die Hosentasche. »Für die Putzfrau, mein Lieber.« Dann verschloss er die Börse und steckte sie wieder zurück. »Hey, ihr beiden!«, wandte er sich an die Studenten, die verschreckt an ihrem Tisch saßen. »Sperrstunde! Ihr habt genug. Helft mir mal mit dem hier!« Gehorsam kamen sie näher. »Einer nimmt den Kopf, einer die Beine und ihr legt ihn draußen vor der Tür ab, klar?«

Blondie nickte. Brünetti schien Zweifel zu haben. »Was ist, wenn er aufwacht?«

Der Barkeeper grinste. »So wie die Lady hier zugetreten hat, sollte das in absehbarer Zeit nicht der Fall sein. Sollte ich mich irren und er doch zu sich kommen, lauft einfach. Ich denke mal, mit den Schmerzen in den Eiern wird er nicht allzu schnell sein. Und jetzt macht mal. Die nächste Runde geht auf mich, wenn ihr am Wochenende wiederkommt.«

Das letzte Angebot erleichterte ihnen wohl die Entscheidung. Die Studenten ächzten unter dem Gewicht des Bewusstlosen, aber sie schafften ihn hinaus.

»Du bleibst hier sitzen«, befahl der Barkeeper Sofia. »Du schuldest mir ein Glas.« Er folgte den Studenten hinter den Vorhang.

Sofia blieb zurück. Alleine mit ihren Gedanken und dem Dank an Alexa, die ihr die verschiedenen Kampfsportarten ans Herz gelegt hatte. Dutzende Stunden mit unterschiedlichen Trainern, schmerzhafte Erfahrungen waren es gewesen. Inzwischen fühlte sich Sofia gewappnet. Die meisten Männer unterschätzten ihre Wehrhaftigkeit. Schließlich maß sie nur eins fünfundsechzig, war zierlich und nicht allzu muskulös gebaut.

Der Barkeeper kam zurück, stellte sich wieder hinter seinen Tresen. »Du blutest«, sagte er und legte einen Verbandskasten auf der Platte ab, den er sogleich öffnete. Es war eine Schnittwunde an der Hand vom zertrümmerten Glas.

»Hier, ein Pflaster. Dahinten ist das Klo. Gibt nur eines. Lass mal Wasser drüberlaufen und verkleb dann die Wunde. Ich will nicht noch mehr Sauerei hier.«

»Was ist, wenn er zurückkommt?«, fragte jetzt Sofia.

»Die Tür ist zu. Er kommt nicht rein. Die Traute Heimat ist geschlossen.«

Sofia spürte sofort ein enges Gefühl im Hals. »Dann bin ich eingesperrt?«

»Eingesperrt? Um Gottes willen, nein. Warum sollte ich mich mit einer Einzelkämpferin freiwillig in Isolation begeben? So wie du reagierst, will ich gar nicht mit dir alleine in einem Raum sein.« Er lächelte. »Es gibt einen weiteren Ausgang, einen, den die Polizei und das Gesundheitsamt nicht kennen. Direkt neben dem Klo, die Tür, die mit Privat gekennzeichnet ist. Allerdings fehlen die ersten beiden Buchstaben. Ist immer offen. Für Freunde, meine ich. Und jetzt bitte.« Er hielt ihr erneut das Pflaster vor die Nase.

Sofia sah ihm in die Augen und glaubte ihm. Sie nahm das Pflaster und ging in die angegebene Richtung. Tatsächlich gab es hinter der Tür zu den Toiletten einen kurzen Gang mit zwei Türen, darunter die Privat-Tür.

Sofia reinigte im Waschbecken, das wie auch der Rest des Klos erstaunlich sauber war, die blutende Hand. Es brannte leicht. Sie fummelte eine winzige Scherbe aus der Wunde.

Nachdem sie verpflastert war, kehrte sie in den Gastraum zurück.

Am Tresen saß ein grauhaariger Mann mit Vollbart. Ein mächtiges graues Ungetüm von Bart, in dem es nur noch selten schwarz schimmerte. Er lachte über etwas, das der Barkeeper wohl gesagt hatte, und wandte den Kopf, als Sofia nähertrat.

»Ah, die blonde Mini-Ninja? Sehr gut. Ich bin Murat. Ich bin ein wenig zu spät und habe gehört, dass ich die ganze Show verpasst habe. Tut mir leid, meine Kleine, tut mir echt leid.«

»Sie sind Murat?«

»So wahr ich hier sitze.«

»Nennen Sie mich nicht Kleine.«

»Aber du bist eine Kleine, meine Kleine. Ein alter Mann darf doch die Wahrheit sagen, nich wahr? Verzeih einem Dinosaurier wie mir, der schon viel zu lange auf der Erde ist, dass er sich nicht benehmen kann. Aber soweit ich weiß, haben wir sowieso ein Date, nich wahr?«

Sofia verzichtete auf weitere Belehrungen. Murat war ein Kunde und der Kundschaft verzieh man beinahe alles, hatte Alexa ihr stets eingebläut.

Vor ihrem Platz hatte der Barkeeper ein neues Glas mit Cola-Rum auf den Tresen gestellt. Die Mischung war exakt dieselbe, wie Sofia zufrieden feststellte. Niemand, der sie betrunken machen wollte. »Danke.«

»Zum Wohl. Murat bezahlt, hat er gesagt.«

»Und das halte ich auch, Jüngelchen. Aber du musst uns gleich für ein paar Minuten Privatsphäre gönnen. Tust du das?«

Der Barkeeper nickte, schenkte Murat einen Scotch in dessen Glas nach und fragte: »Jetzt sofort?«

»Aber ja, und schalt die Kameras aus.«

Sofia sah sich sofort um, konnte jedoch keine offensichtlichen Überwachungsobjektive erkennen. »Hier sind Kameras? In dieser Spelunke?«

»Spelunke?« Murat lachte laut auf, bis sein Gelächter in Husten erstickte. Er nippte schließlich an seinem Whisky. »Das Wort habe ich schon lange nicht mehr gehört und schon gar nicht aus einem so jungen Mund.«

»Warum Kameras?«

»Gibt es die nicht überall, meine Kleine?«, fragte Murat.

»Nun …«, begann Sofia und wurde von einer Handbewegung ihres Kontaktes gestoppt.

»Es ist eine andere Welt geworden als die, in die ich hineingeboren wurde. Als ich so alt war wie du, und glaube mir, das ist verdammt lange her, da haben sich die Menschen noch aufgeregt, wenn man ihre Daten wollte, wenn man Kameras an öffentlichen Plätzen installierte. Aber dann kam die Angst! Vor Gewalt. Dem Verbrechen! Terroristen und die Pandemie. Wie eine Katze schlichen sich die Politiker in die Herzen der Menschen, versprachen Sicherheit, Aufklärung und Gesundheit. Und viele glaubten es. Und es dehnte sich aus. Bis in die letzten Winkel der Privatsphäre, nich wahr? Und nun gibt es nur noch ganz wenige Orte, die niemand beobachtet. Ob es die verdammten Kameraaugen in den E-Mobilen sind oder die stationären Beobachtungsstellen, ob die Drohnen von den Behörden eingesetzt wurden oder von Privatleuten. – Irgendwo will immer einer wissen, was an diesem oder jenem Ort geschieht. Also auch hier. Die Bar gehört meinem Boss. Und die Aufzeichnung deiner kleinen Kampfeinlage wird ihm bestimmt gefallen. Aber das, was wir hier zu besprechen haben, soll unter uns bleiben, nich wahr? Es ist vertraulich. Denn du bist ein Kurier. Und im Falle meines Chefs sein Kurier.«

»Das ist eine der Grundregeln meines Berufs. Vertraulichkeit.«

»Zeig ihn mir, meine Kleine«, verlangte Murat.

»Wie bitte?«

»Ich will ihn sehen.«

»Wen?«

»Den Gürtel, jetzt zier dich nich so.«

Sofia hörte die Stimme Alexas in ihrem Hinterkopf. »Es ist der Kunde, der zahlt. Erfüll seine Wünsche.«

Sofia glitt vom Hocker und stellte sich vor Murat auf. Sie hob ihr Shirt bis zum Ansatz ihrer Brüste hoch.

»Es ist perfekt«, flüsterte der alte Mann. »Darf ich ihn anfassen?«

Sofia gewahrte nichts Gieriges oder Schleimiges oder Verdorbenes in seinen Augen, nur die reine Neugierde. »Ja, nur zu.«

Vorsichtig streckte Murat seine Hand aus und betastete Sofias Bauch rund um den Nabel. »Ich spüre keinen Unterschied zu einer normalen Haut. Wie weit geht er?«

»Der Gürtel endet etwa acht Zentimeter oberhalb des Bauchnabels, Murat«, erklärte Sofia. »Unten geht er bis zur Naht meines Slips.«

»Es ist ein verdammtes Wunderwerk, nich wahr?«, murmelte Murat, der immer wieder das Ende des Gürtels suchte und genauso scheiterte wie ein Polizei- oder Zollbeamter, der Sofia abtasten würde.

»Ist ein Wunderwerk. In der Tat. Eine hauchdünne Festplatte, die sich so organisch anfühlt, als wäre sie meine echte Haut. Ich ließ sie mir vor sechs Monaten implantieren. Niemand sieht sie, wenn er nichts davon weiß. Kein Scanner, außer ein MRT, würde den Unterschied wahrnehmen. Ich bin das perfekte Versteck für einen Datentransport, ein Kurier halt.« Sofia bemerkte selbst, wie sehr sie ins Schwärmen geriet und dass sie zu viel ausplauderte.

»Und jeden Cent wert, denke ich, nich wahr?«

»Oh ja.«

Murat zog die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Er sah Sofia direkt in die Augen. »Entschuldige.«

»Wofür?«

»Ich habe dich abgetastet wie ein Stück Fleisch. Nicht behandelt wie einen Menschen.«

Sofia, die ihr Shirt hatte sinken lassen, wunderte sich über das unerwartet schamvolle Verhalten des Mannes.

»Eine Grenze, die ich nie wieder überschreiten wollte, meine Kleine.«

»Sie haben diese Grenze schon überschritten?«, hakte sie nach, ohne genau zu wissen, wovon er sprach.

»Mehrfach. Ich bin ein alter Mann und habe Prinzipien. Kaum hat mich die Neugier übermannt, schon verfalle ich in längst überholte Verhaltensmuster.«

Sofia fiel auf, wie gewählt sich Murat ausdrücken konnte. Als wenn er zuvor eine Art Maskerade getragen, den einfachen Kontaktmann gespielt hätte. »Für wen arbeiten Sie, Murat?«

»Das darf ich dir nicht sagen. Es würde dir auch nicht guttun, zu viel über ihn zu erfahren, glaube es mir.«

»Okay«, akzeptierte Sofia die plötzliche Verschlossenheit des älteren Mannes. Die angedeutete Warnung Murats irritierte sie nicht im mindesten. Ein Kurier war es gewohnt, Aufträge für Kunden aus dem kriminellen oder halblegalen Milieu anzunehmen. Die Bezahlung war besser und Alexa mochte es, wenn viel Geld hereinkam, daher hatte sie wohl auch diesen Job für Sofia an Land gezogen.

»Darf ich dich etwas fragen?«, überraschte Murat die Kurierin erneut.

Sofia zuckte mit den Schultern und leerte gleichzeitig ihren Tumbler.

»Woher stammst du, meine Kleine? Deine Haut ist gebräunt, deine Augenbrauen sind dicht und dunkel, aber deine Haare blond und dünn. Wahrscheinlich gefärbt. Wo stand deine Wiege? Wer waren deine Eltern?«

Sofia schwieg verdutzt. Der Mann lächelte sie an. So hätte es ein Opa vielleicht getan oder jemand, der ihrer Vorstellung von einem Großvater am nächsten kam. Was wollte Murat von ihr? Worum ging es ihm tatsächlich bei der Frage?

Er konnte nichts von ihrer Herkunft wissen. Sie glaubte zumindest nicht daran.

»Ich kenne meine Eltern nicht.«

»Soso«, zweifelte Murat.

»Ich wurde adoptiert. Ich kam mit der Flüchtlingswelle 2015 ins Land. Als Fünfjährige, behaupten meine Papiere, aber es muss nicht stimmen. Irgendwo auf dem Weg von Syrien ins gelobte Land Deutschland verloren mich meine Eltern. Oder sie haben mich ausgesetzt, an jemanden weitergereicht oder verkauft, ich weiß es nicht«, erzählte sie die Halbwahrheit, die für ihren Vater galt. Das Schicksal ihrer Mutter ging den Mann nichts an.

Murat musterte sie eindringlich und glaubte ihr offenbar. »Kein schönes Leben, meine Kleine.«

»Vielleicht nicht, aber ich fand eine neue Heimat, Menschen, die mich mochten, mir etwas zutrauten und mir Halt gaben – neben den einfachen Dingen wie Essen, Trinken, ein Bett und ein Dach.«

»Neue Heimat, hm? Okay, meine Kleine. Du hast einen Job, versau ihn nicht. Du weißt, warum deine Chefin dich ausgewählt hat?«

»Ich weiß nicht, worauf diese Frage abzielt!«

»Du bist der Ersatz. Dein Vorgänger war zu neugierig, unvorsichtig und hatte keinen Respekt. Hast du Respekt?« Eine deutliche Drohung schwang in der Stimme Murats mit.

»Natürlich«, erwiderte Sofia schnell.

»Er hat es bereut. Einen hohen Preis bezahlt. Verstanden?«

»Ja. Ich denke.«

»Gut. Ich hoffe, dass du auf dich aufpassen kannst.«

Sofia antwortete nicht mehr, wartete geduldig auf das, was noch kommen würde. Ihr fiel ein, dass Alexa sie mehrfach ermahnt hatte, dass es ein wichtiger Auftrag sei, nicht so wie die bisherigen Transporte. Es war eine Art Bewährung, um in den Kreis der Kuriere aufgenommen zu werden.

»Pat ist mein Chef«, sagte Murat. »Und Pat möchte, dass von einem Server ganz in der Nähe eine Menge Daten auf einen anderen Server transferiert werden.«

»Dafür bin ich da. Ich benötige die Zugangsdaten und die Adresse. Dazu eine Vorankündigung, damit ich hineinkomme, falls der Zugang beschränkt ist.«

Murat griff in seine Tasche, zauberte ein mehrfach gefaltetes Blatt Papier hervor und reichte es Sofia. »Lesen, merken und mir zurückgeben. Du hast keine zweite Chance.«

Sofia warf einen flüchtigen Blick auf das handbeschriebene Blatt. »Okay. Fertig.«

Murats Augen weiteten sich. »Wie?«

»Fotografisches Gedächtnis. Eines meiner vielen Talente«, gab Sofia ein wenig an.

»Okay. Nenne mir den Zielort«, verlangte Murat.

»Koblenz, das am Rhein. Die Koordinaten werden mir erst später zugestellt. Hier in Frankfurt ist mein Ziel eine Datenhölle namens …«

»Stopp, stopp! Alles klar, ich glaube dir, meine Kleine. Du bist ein Wunder, nich wahr? Ein kleines Ninja-Wunder mit dem gewissen Extra. Pat wird zufrieden sein, wenn du abgeliefert hast.«

»Ich erfülle immer meine Jobs.«

»Das hat Watch-it auch behauptet.«

Sofia verzog keine Miene bei der Erwähnung von Alexas E-Mail-Adresse, die sie für die Kunden benutzte. »Jep. Chef hat immer recht, nich wahr?«, stichelte sie.

Murat grinste. »Hier, meine Kleine.« Er reichte ihr ein kleines Kärtchen. »Das ist meine Telefonnummer. Für den Notfall. … Und jetzt gib mir meine Karte zurück. Du brauchst sie schließlich nicht.«

Sofia nickte. »Murat Atayurt?«

»Ja, meine Kleine. Das ist mein Name.«

»Sohn des Yurt?«

»Du kannst Türkisch?«

»Nein. Nur ein paar Brocken. Was soll das mit dem Import – Export?«

»Ist ein Insider-Gag. Mussde nich verstehen. Dein Termin ist in zwei Stunden. Weißt du, wohin du musst?«

»Mein Smartphone weiß es. Wie lange brauche ich mit einem E-Scooter bis dorthin?«

»Gute Viertelstunde, würde ich meinen.«

»Dann kann ich ja noch was trinken.«

Murat stellte sich ächzend neben den Hocker. »Ich hole dir Tom wieder zurück.«

»Der Barkeeper?«

Murat nickte. »Sei vorsichtig und pünktlich. Nicht so wie dein armseliger Vorgänger. Pat hasst nichts mehr als unpünktliche Lieferung.«

»Ich werde es mir merken.«

»Und pass auf dich auf. Im Notfall …?«

»0172 65…«

Murat hob die Hand. »Alles klar. Vielleicht sehen wir uns mal, wenn du in der Stadt bist.« Er ging, verschwand hinter der Tür zu der Toilette und dem Hinterausgang.

Sofia musste nicht lange warten, bis der Barkeeper zurück war und sich jenseits der Theke postierte.

»Du heißt Tom?«

Er nickte.

»Ich bin Sofia.«

»Okay.« Er widmete sich den Schrankinhalten unter dem Tresen und deponierte halbvolle und leere Flaschen auf der Ablage vor Sofia.

»Kann ich einen Tee haben?«

Tom tauchte so abrupt hinter der Theke wieder auf, dass Sofia erschrak. »Eigentlich hat die Traute Heimat geschlossen und die Kasse ist zu.«

»Soll ich erst Murat anrufen, um ihm von einem Notfall zu berichten?«, stichelte Sofia.

»Das würde ich nicht tun«, entgegnete Tom und griff sich an die Stirn. »Okay, Tee. Schwarz? Pfefferminz? Irgendwo hier muss auch noch ein Earl Grey sein. Tee geht nicht so gut in der Trauten Heimat. Und es geht aufs Haus, sonst kommt meine Kasse durcheinander.«

»Schwarz ist in Ordnung.«

»Okay. Kann ich den Fernseher anschalten?«

»Dann musst du dich nicht mit mir unterhalten«, vermutete Sofia.

»Murat hat mir aufgetragen, dir jeden Wunsch zu erfüllen und dich nicht rauszuschmeißen. Mehr aber auch nicht. Ich muss immer noch aufräumen und das mache ich für gewöhnlich mit Geräuschuntermalung.«

»Dein Reich.«

Tom schaltete einen Flachbildschirm an, der gegenüber der Bar an einer Wand hing. Die Nachrichten liefen. Es war Montag, die Sprecherin übergab gerade an den Börsenexperten und lächelte in die Kamera.

Sofia bekam ihren Tee und hörte mit halbem Ohr hin.

Offenbar schlugen die Aktienmärkte heftig aus. Unerwartete Börsenbewegungen, insbesondere was eine neue deutsche Firma anging, die sich im Bereich der Entwicklung einer künstlichen Intelligenz als führend bezeichnete. Die Ankündigung einer Pressekonferenz für die nächste Woche hatte Spekulationen genährt und den Börsenkurs geradezu explodieren lassen.

Sofia nippte an ihrem heißen Tee, rührte nebenher noch zwei Löffel Zucker darunter und sah sich die Chartentwicklung auf dem TV an.

»Verdammt«, fluchte sie halblaut. »Warum ist man nie dabei, wenn die Post abgeht?«

»Du spekulierst?«, erkundigte sich Tom, der alle Flaschen wieder abgeräumt hatte und auf dem Tresen lehnte, den er eben sauber gewischt hatte.

»Ich lege meine Ersparnisse in Aktien an, ja. Spekulieren würde ich das nicht nennen.«

»Deine Ersparnisse?«, spottete der Barkeeper.

»Klar. Ich bin gut, und ab sofort verdiene ich auch ’ne Menge. Irgendwann will ich den Job nicht mehr machen.«

»Du weißt, für wen du hier arbeitest?«, fragte Tom.

»Nein, muss ich auch nicht.«

»Pat ist … nun … nicht gerade ein präsentabler Geschäftsmann.«

»Du meinst, er ist kriminell«, half ihm Sofia aus. »Und mit meiner Dienstleistung mache ich mich zum Teil seiner Machenschaften.«

»Ja, oder wie willst du es dir schönreden?«

»Du arbeitest auch für ihn, oder nicht?«

Tom runzelte die Stirn. »Ich arbeite in einer Bar, die zufälligerweise einem Familienunternehmen gehört, dessen Vorsitz Pat hat. Murat hingegen steckt viel tiefer drin und hat sich mehrfach die Finger dreckig gemacht. Dafür hat er auch eine lange Zeit im Bau gesessen.«

»Er war im Gefängnis?«

»Ja. Das war er. Ist schon länger her, aber viele in Pats Umkreis haben gesessen. Willst du dazugehören?«

Sofia verzichtete auf eine Antwort.

»Das ist ein Clan. Und du hast gerade von der rechten Hand des Clanchefs einen Auftrag bekommen«, ergänzte Tom und beugte sich vor, bis seine Nase beinahe die ihre berührte. Jetzt flüsterte er nur noch. »Ich habe einen Arbeitsvertrag als Barkeeper. Wenn ich hier nach meiner Schicht fertig bin, dann gehe ich nach Hause und studiere weiter Wirtschaftsinformatik. Ich habe niemanden verletzt, ausgeraubt oder beschissen. Aber was wirst du tun?«

Sofia erinnerte sich daran, dass Murat Tom befohlen hatte, die Kameras auszuschalten. Er konnte also nicht wissen, was sie mit Murat besprochen hatte.

»Ich erledige meinen Job. Ansonsten bin ich ein Niemand und so soll es auch bleiben.« Sie leerte die Teetasse. »Bin ich dir wirklich nichts schuldig?«

Tom winkte ab.

Sofia schnappte sich ihren Rucksack mit dem Klapp-Scooter und ging auf die Tür zu, die zum Hinterausgang führte.

»Pass auf dich auf, Sofia«, rief Tom ihr nach.

Sie hob zum Abschied die Hand, ohne sich umzudrehen.

Sonntag, 4. April (8 Tage zuvor), Hunsrück

Es riss ihn aus dem Schlaf wie an jedem verdammten Morgen seit acht Jahren. Johann-Friedrich zu Welsdorf und Hagen, Sprössling einer langen Reihe Erstgeborener eines nicht allzu reichen Adelsgeschlechtes, spürte die Feuchte auf dem Kopfkissen und an seiner Haut. Er hatte geschwitzt. Er hasste es, wenn sein Körper ihm das antat.

Von rechts kamen gleichmäßige Atemzüge einer Schlafenden, gelegentlich von leisem Fiepen untermalt. Loretta erholte sich von ihrer Arbeit.

Welsdorf schlug die Decke zur Seite und stieg aus dem Bett. Die Vorhänge waren blickdicht, aber die Uhr auf dem Beistelltisch zeigte 6:02. Er tappte nackt zur Tür und betrat sein Gym, ein quadratischer Raum, auf drei Seiten mit ganzwandigen Spiegeln versehen. Die Stirnwand bildete ein deckenhohes Fenster, das einen wunderbaren Blick über die Hügellandschaft des Hunsrücks bot. Keine Windräder waren zu sehen, deren pure Existenz Welsdorfs Abscheu erregte. Der Ausblick war gut gewählt und von außen hatte man dem Glas eine spiegelnde Schicht aufgedampft. Niemand konnte Welsdorf in seinem versteckten Domizil entdecken, wissen, wann er dort war, was er an diesem Ort tat und mit wem.

Welsdorf begann mit einigen schnellen Liegestützen und Situps, bevor er für eine Viertelstunde auf das Laufband ging. Er ignorierte die Verlockung, das Display im Kopf des Geräts anzuwerfen und die Nachrichten der Nacht zu checken. Es war die Zeit für seinen Körper, nicht für seinen Intellekt. Und er war stolz auf die hagere Gestalt mit Muskeln an den richtigen Stellen. Er war sich der mehr oder weniger verstohlenen Blicke der Frauen bewusst, die ihn wollten, obwohl er verheiratet war. Ein Mann mit gutem Aussehen, charmantem Lächeln und der Macht, im Staat etwas zu bewegen; der sich in den höchsten Kreisen ganz selbstverständlich bewegte und Kontakt zu anderen Mächtigen pflegte. So oder so ähnlich hatte es in einer Frauenzeitschrift gestanden. Mit seinem Foto auf dem Cover als Top-Story.

Welsdorf hörte das Ping des Timers und wechselte auf das Rudergerät. Weitere fünfzehn Minuten später stand er unter der Dusche.

Das Wasser prasselte hart auf ihn herab, so wie er es liebte.

Er war nicht überrascht, als ihn plötzlich Hände von hinten umarmten. Die weichen Brüste Lorettas drückten sich in seinen Rücken, ihre Hände glitten tiefer. Er hielt sie auf. »Noch nicht genug?«, witzelte er flach.

»Du hast nur so selten Zeit für mich«, entgegnete sie, halb erotisch angehaucht, halb sich beschwerend.

Er drehte sich um, sah in ihr junges Gesicht, dem die Falten von Sorgen und Älterwerden weiterhin fehlten. Sie hatte grüne Augen und herrliche konturierte Wimpern. Einzig dafür geschaffen, um mit Männern zu flirten. Ihre langen rotgefärbten Haare flossen an ihr herab und schmiegten sich an den weichen Körper.

Loretta war klein, viel kleiner als seine Frau. Doch dies machte sie mit einer Biegsamkeit wett, die unanständig zu nennen eine Untertreibung war.

»Ich bin fertig, Loretta«, sagte Welsdorf, umfasste ihre Schultern, beugte sich zu ihr und küsste sie sanft.

Das Escort-Girl öffnete den Mund, um den Kuss zu intensivieren, da roch Welsdorf den leicht abgestandenen Atem der Nacht und löste sich sofort von ihr. »Dusch du auch, ich mache Frühstück«, erklärte er, tätschelte im Vorbeigehen ihre Pobacken und nahm sich ein Handtuch.

Die Küche seines geheimen Hauses war nur für ihn eingerichtet und wurde von den Jakobs, einem älteren Ehepaar, auf Zuruf bestückt, wenn er beabsichtigte, sich einen oder mehrere Tage dort aufzuhalten. Natürlich wussten sie nicht, wem das Anwesen gehörte. Christoph, sein Fahrer, übernahm die Übermittlung der Aufträge.

So fand Welsdorf im Kühlschrank alles vor, was für ihn ein Frühstück ausmachte. Er schnitt Obst zu einem saftigen Obstsalat, mixte Protein-Quarks und Joghurt zum Unterrühren.

Im Ofen erwärmten sich die Brötchen und auf dem Tisch stand Marmelade aus den Früchten, die im Garten der Jakobs wuchsen. Welsdorf setzte eine Kanne Espresso auf, deren Brodeln anschwoll, bis der anschließende Duft die Küche durchzog und so einen angenehmen Tag verhieß.

Welsdorf war gerade fertig, den zentralen Tisch zu decken, als Loretta hereinkam, die nassen Haare in einem hochgesteckten Handtuch verbergend und einen Morgenmantel aus Seide tragend. Der Mantel klaffte ein wenig auf.

Welsdorf schätzte es, dass Loretta auf solche Details achtete. Ein Profi durch und durch. Sie strahlte ihn an. »Das duftet herrlich, Jo!«

Welsdorf nahm die Brötchen mit einem Backhandschuh aus dem Ofen, drapierte sie im Kreis in einem Körbchen und setzte sich zu ihr an den Tisch.

An seinem Platz wurde in der Tischplatte ein kleines Kontrolldisplay sichtbar, als er die Kontaktstelle berührte. Er schaltete das Radio ein und kontrollierte kurz die Sicherheitsfeatures des Hauses. Kein Eindringling, niemand, der ihn und das Escort-Girl stören würde. Achtzehn Mails mit Dringlichkeit eins wurden angezeigt, dazu rund zweihundert mit Prio zwei und drei, die von seiner Sekretärin stets vorgeprüft wurden, bevor sie bei ihm landeten.

»Alles klar, Jo?«, erkundigte sich Loretta, die die Espressotasse absetzte und nach dem Obst griff.

»Ja, natürlich.« Welsdorf deaktivierte das Display. Die Mails konnten warten. Erst wurde gefrühstückt.

Eine halbe Stunde später folgte er Loretta ins Schlafzimmer. Sie öffnete ihren Koffer, in dem sie frische Kleidung mitgebracht hatte, stopfte Unterwäsche und Abendkleid, die sie gestern Abend getragen hatte, in einen Beutel.

Sie legte den Seidenmantel ab und blickte Welsdorf über die Schulter hinweg schelmisch an.

Er trat näher, packte sie fest an, schob sie vor sich her bis an die Wand, presste sie dagegen. Sie keuchte auf, was ihn noch mehr erregte. Er nestelte seine Hose herunter und nahm sie im Stehen. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er die Kontrolle verlor, wie er es nur in ihrer Gegenwart tat. Er ließ von ihr ab, zog die Hose hoch und setzte sich heftig atmend aufs Bett, mied dabei ihren Blick.

»Das war schnell«, sagte sie in schwer einschätzbarem Tonfall. »Nach dem vergangenen Abend hätte ich nicht gedacht, dass du noch so voller Power bist.«

»Es tut mir leid.« Welsdorf fixierte ihre bloßen Beine. Sie bewegten sich nicht. Er wollte nicht in ihre Augen sehen.

»Muss es nicht, Jo«, versuchte sie ihn zu beschwichtigen, was nicht funktionierte. »Es war überraschend. Kompromisslos und gut.«

»Du … dir kann es nicht gefallen haben. Es war mehr wie eine Vergewaltigung.«

Die nackten Beine kamen näher, blieben direkt von seinen Füßen stehen. Er spürte ihre Hände auf seinem Kopf, die durch den Kurzhaarschnitt strichen und ihn liebkosten. »Ich habe es nicht so empfunden. Aber ich merke, dass du unter Stress stehst.«

Sein Kopf kippte langsam voran, bis seine Stirn an ihrem warmen, weichen Bauch landete. Es fühlte sich so gut an.

Er war ihr dankbar, dass sie auch in solchen Momenten nicht davon sprach, dass es ihr Beruf war und so etwas dazugehörte. Loretta war der Profi, den er an seiner Seite brauchte, nicht mehr und nicht weniger.

»Danke«, sagte er und unterdrückte die aufkeimende Wut in sich, die Loretta nicht verdiente. Er war es, der ihr seine Schwäche zeigte, von der niemand etwas wissen sollte. Konnte er ihr wirklich vertrauen?

Sie entließ ihn aus der fast schon mütterlich anmutenden Umarmung. Er roch den Duft ihrer Bodylotion, hielt den Kopf weiterhin gesenkt. Minuten verstrichen, in denen er seine Selbstbeherrschung wiedererlangte.

Sie packte in aller Stille ihren Koffer. »Wenn du sonst nichts mehr von mir willst, dann könnte mich Christoph zurückfahren.«

Welsdorf nickte und stemmte sich hoch. Loretta stand dort in Zivil. Hautenge blaue Jeans und ein dunkelvioletter Hoodie. Sie wirkte noch viel jünger und verletzlicher, als sie war.

»Ja, natürlich.«

Loretta lächelte ihn an, verzichtete auf die Nachfrage, wann es das nächste Treffen geben würde. Sie wusste genau, dass es darauf keine Antwort gab und sie kurzfristig reagieren musste. Das Finanzielle war längst geregelt.

»Zeit für Abschied«, murmelte Welsdorf mit belegter Stimme.

Sie kam näher, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn sanft auf die Wange. Dann ging sie.

Welsdorf sah ihr nicht nach, horchte, bis er die Tür ins Schloss fallen hörte, die zum Keller und damit zur Garage führte, in der Christoph auf Loretta wartete.

Welsdorf eilte ins Wohnzimmer, nahm sich das Tablet vom Tisch und checkte die wichtigen Mails.

Parteikram war darunter, nicht weiter interessant, die aktualisierte Terminliste seines Büros und mehrere Anfragen von Firmenvertretern und Lobbyisten mit der Bitte um persönliche Treffen. Er kennzeichnete vier davon für Miriam, die sicherlich morgen recht früh im Büro erscheinen würde. Sie kümmerte sich um die Termine.

Eine Mail allerdings war verschlüsselt in seinen Posteingang geschoben worden. Die Authentifizierung lief über Iris-Scan und Kennwort.

Welsdorf wusste, was das bedeutete und wer der Absender war.

Er aktivierte den Scanner, der ein Foto von seinem rechten Auge machte, und nannte das Kennwort Orwell.

Die Mail ploppte auf.

»Verdammt«, fluchte Welsdorf. Er legte das Tablet ab und suchte nach seinem Smartphone. Er fand es im Schlafzimmer, wo ihn die zerwühlten Laken an Loretta denken ließen.

Er wählte Christophs Nummer. Sein Fahrer meldete sich prompt. »Herr zu Welsdorf?« Im Hintergrund hörte man das leise Surren des E-Antriebs wie einen Bienenschwarm hinter einer Scheibe.

»Kann ich sprechen?«, fragte Welsdorf.

»Mein Fahrgast sitzt hinter der Abschirmung.«

»Okay. Wie weit seid ihr?«

»Noch eine gute Viertelstunde bis zum Ziel.«

»Verdammt. Das geht nicht. Ruf ein Taxi, Christoph, und komm sofort wieder zurück. Ich muss ins Diskret-Haus Nummer 17. Ich habe einen Termin.«

»Verstanden. Bin in zwanzig Minuten wieder am Haus.« Christoph trennte die Verbindung.

Welsdorf wusste, dass Loretta nicht begeistert sein würde, irgendwo in der Pampa ausgesetzt zu werden. Er würde ihr Schmuck schenken. Oder einen Blumenstrauß. Oder nichts. Sie war ein Profi. Sie würde es verstehen. Und ihre Entlohnung war schließlich fürstlich.

Welsdorf musste an den Termin denken. Worauf hatte er sich nur eingelassen? Zum wiederholten Male fragte er sich das.

Und erneut kam es ihm in den Sinn: Nur wer ein Risiko einging, konnte maximalen Ertrag erhalten.

Schon sein Vater und sein Großvater hatten nach dieser Maxime gehandelt. Und nun er.

Johann-Friedrich zu Welsdorf und Hagen war sich des Risikos durchaus bewusst. Aber niemand würde ihm das Wasser abgraben. Und das Ergebnis war jegliche Anstrengung wert.

Er trat an den Kleiderschrank und suchte sich einen Anzug für das anstehende Meeting.

Später stellte er sich zufrieden vor den Spiegel und musterte sein Äußeres. Ein kantiges Gesicht, Dreitagebart und kurze blonde Haare, deren Locken angedeutet waren. Seine eisgrauen Augen wirkten entschlossen und die schmalen Lippen bestätigten dies nur noch. Er war ein Mann der Tat.

Christoph hielt Wort. Der Wagen kam pünktlich, Welsdorf stieg ein.

Durch die getönten Scheiben betrachtete er die vorbeiziehenden Bäume, als die Limousine über den versteckten Feldweg die eineinhalb Kilometer bis zur geteerten Straße ruckelte. Trotz der perfektionierten Federung fühlte es sich teilweise so an, als würde er eine Schiffsreise in unruhiger See unternehmen.

Doch genau so musste es sein. Der Ort war abgelegen und sollte es auch bleiben. Kein Journalist hatte es bislang geschafft, dieses Ferienhaus zu finden.

»Wie hat sie es aufgenommen?«, erkundigte sich Welsdorf bei seinem Fahrer.

»Wie ein Profi, wie ein Profi«, antwortete Christoph. Er stoppte den Wagen, sah kurz in beide Richtungen und steuerte dann auf die nahezu unbenutzte Kreisstraße. »Wir sind gegen elf im Diskret-Haus. Reicht das?«

»Ich wäre gerne zehn Minuten früher dort.«

»Ich beeile mich.«

Das E-Mobil beschleunigte kräftig. Es drückte Welsdorf sogar in die Sitze. Er sah hinauf durch das gläserne Dach des Wagens. Die Sonne schien. Es würde ein wirklich heißer Tag werden.

DER VORHOF ZUR HÖLLE