Turings Vermächtnis - Arno Endler - E-Book

Turings Vermächtnis E-Book

Arno Endler

0,0

Beschreibung

Kannst du herausfinden, ob dein Gegenüber ein Mensch oder eine Maschine ist? Mein Name ist Jeremiah Schnitzer. Man kennt mich als KI-Skeptiker und Blogger. Ich halte es für unmöglich, dass es so etwas wie eine künstliche Intelligenz überhaupt gibt. Letztlich sind es nur programmierte Verhaltensweisen und Kommunikationsformen. Es wird uns vorgegaukelt, einer denkenden und fühlenden Maschine gegenüberzusitzen. Gerade halte ich eine Einladung in den Händen. Der berühmte Wissenschaftler Nicolas Ragg fordert mich heraus: Ich soll auf sein abgeschottetes Anwesen nach Jütland kommen und einen Turing-Test durchführen. Kann ich herausfinden, welche seiner Androiden – sogenannte Puppets – von echten Menschen gesteuert werden und welcher von einer KI? Natürlich werde ich die Herausforderung akzeptieren. Aber bin ich dort auch sicher? Was geschieht, wenn ich seinen Traum von der künstlichen Intelligenz platzen lasse? Steht dann mein Leben auf dem Spiel?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 333

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Arno Endler, geboren als Sonntagskind 1965 in Neuwied, infizierte sich im Alter von 12 Jahren mit dem Science-Fiction-Virus. Als Schüler durchstöberte er bereits sämtliche Buchhandlungen seiner Heimatstadt auf der Suche nach Büchern des Genres und litt nur an einem Mangel an Taschengeld. Er studierte Steuerrecht und betreute als Landesbeamter verschiedene IT-bezogene Projekte. Seit dem Jahr 2008 wagte er schriftstellerisch Blicke in die nähere und fernere Zukunft und publizierte Dutzende Kurzgeschichten im c’t-Magazin. Seit 2016 schreibt er für die Serie Perry Rhodan NEO und veröffentlichte mehrere Romane in verschiedenen Verlagen.

ARNO ENDLER

TURINGSVERMÄCHTNIS

© 2021 Polarise

Ein Imprint der dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

www.polarise.de

1. Auflage 2021

Autor: Arno Endler

Lektorat: Martin Wohlrab

Copy–Editing: Irina Sehling

Covergestaltung: Weberson Santiago

ISBN (Buch) 978-3-947619-49-8

ISBN (PDF) 978-3-947619-50-4

ISBN (ePub) 978-3-947619-51-1

ISBN (Mobi) 978-3-947619-52-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über https://dnb.d–nb.de abrufbar.

Inhalt

Über den Autor

DAS WER IST WER IN RAGGS SANKTUARIUM

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

DAS WER IST WER IN RAGGS SANKTUARIUM

Eine Reihe von illustren Bewohnern bevölkert den Landsitz an der in weiten Teilen verwüsteten Nordseeküste Jütlands.

Als exterritorialer Privatbesitz ist der Zugang beschränkt. Nur mit Zustimmung des zurückgezogen lebenden Nicolas Ragg ist der Zutritt erlaubt.

Im September 2081 sind folgende Persönlichkeiten anwesend:

Nicolas Ragg

Der schwerkranke Multimilliardär und »Vater der Puppets« ist der Auftraggeber des Turing-Tests

Mia Ragg

Seine Ehefrau und scheidende Direktorin der Ragg Enterprises

Delphine Dessert

Raggs Tochter, mit einem Hang zu gefährlichen Aktionen

Joseph Robert Rickter

Genannt Jobert, ein spiritueller Guru, obwohl nur ein halber Mensch

Ari Kanemaki

Greiser finnischer Maler, der »Meister der Farben«; man behauptet, dass seine Gemälde lebendig werden

Gabor Horvath

Ungarischer Lehrer und Moralphilosoph, der Denker unter den Einfältigen, blickt gerne hinter die Kulissen

Lysann Nouvelle-Barbe

Eine junge Ökoaktivistin, Bewahrerin alter genetischer Arten, die als Lebensmotto »Back to Nature« gewählt hat

Simon Vansang

Ex-Einzelkämpfer im Auftrag verschiedener Geheimdienste, bereitet sich als Prepper auf den Weltuntergang vor

Obane Thamine

Der letzte große Gegenwartsschriftsteller und Dramatiker, arbeitet an seinem Lebenswerk

Kisan Thamine

Sein Bruder, ein Musiker und Komponist; seine Werke besitzen die Magie, sämtliche Emotionen in den Zuhörern erzeugen zu können

Ivy North

Als Online-Coachess Madame Nozomi kümmert sie sich um das Seelenheil ihrer Mandanten

Elias Troublemaker

Ein Online-Game-Crack von legendären Fähigkeiten, technisch versiert und selten geschlagen

Der 28. September 2081 verging, trotz zahlreicher Unkenrufe und Vorhersagen, ohne dass die Welt unterging. Sektenmitglieder starben, die vorab in ein obskures Jenseits hatten übersiedeln wollen, Aktienkurse stiegen und fielen wie an jedem anderen Tag auch. Klimatische Vorgänge führten zu nicht weiter erwähnenswerten Wetterphänomenen. Die Weltbevölkerung wuchs, da exakt zwei Babys mehr geboren wurden, als Menschen starben.

Unbeeinflusst von all diesen Ereignissen drehte sich die Erde, die Sonne pulverte eine enorme Energiemenge ins Weltall und der Mond blieb in seiner Umlaufbahn.

Wieder einmal blieb die angekündigte Apokalypse aus und nicht alle hatten darauf gewartet …

1

Das Dünengras bog sich im böigen Wind. Unterhalb des Dünenkamms trommelten Wellen im Sekundentakt gegen eine massige Mauer, jedes Auftreffen ein kleineres Erdbeben. Der Sturm pfiff, vereinzelte Regentropfen peitschten umher.

Eine Gestalt, ein Mensch von unbestimmbarer Statur, da dick eingekleidet, stemmte sich der Gewalt der Elemente entgegen, stand dicht an einer Kante, von der aus man in die Tiefe sehen konnte. Rund ein Dutzend Meter weiter unten schäumte die Brandung. Ein kräftig salziger Geruch wurde mit dem Aufwind nach oben getragen.

Die Gestalt wandte sich um. Zu ihren Füßen lag ein nackter Körper auf dem Bauch. Ein junger Mann, der schlanken Figur und den breiten Schultern nach zu urteilen. Er rührte sich nicht, trotz der eisigen Temperaturen lag er so still wie ein Toter, der er auch war.

Die dick vermummte Gestalt packte ihn an den Armen, zerrte ihn bis an den Rand und ließ ihn in die Tiefe fallen.

Das Meer verschluckte die Leiche augenblicklich. Im aufgewühlten Wellengang sah man noch einen Arm, als würde er winken.

Tag 1

Acht speziell beschichtete Rotoren erzeugten ein sanftes Flüstern. Der Oktokopter flog, dank seiner Tarnfolie nahezu unsichtbar, mit rund sechzig Stundenkilometern im strahlenden Sonnenschein. Niemand steuerte die Drohne, sie folgte lediglich dem Signal von weit unten am Boden.

Dazwischen lag eine dunkle Wolkenschicht, getränkt mit Nässe und Dreck. Gehirnwindungen gleich quollen schmutzige Ausstülpungen heraus, um zu verschwinden oder wieder zurückgesogen zu werden. Heftige Winde im Innern der Schlechtwetterfront ließen mit ihrer Energie die Wolken brodeln. Gelegentlich blitzte Wetterleuchten auf, verlieh dem Grau zusätzliche Schattierungen. All diese Bilder fing die Kamera der Sechzig-Zentimeter-Drohne ein und übertrug die Daten an die Kontrollstation. Bis zur Grenze des Aufnahmebereichs und darüber hinaus erstreckte sich die Unwetterfront, verbarg die Landschaft darunter. Es war der siebzehnte Frühjahrssturm, würden die Wetternachrichten am Abend vermelden. Nummer 18 und 19 standen in den Startlöchern.

Weit oberhalb der Wolken blies ein kräftiger Ostwind, der die Automatiksteuerung der Drohne zu Kurskorrekturen zwang. Unbeeindruckt von den Wetterphänomenen folgte die Überwachungseinheit dem Signal am Boden, das jedoch schwächer wurde. Gewaltige Potenzialunterschiede innerhalb der Wolke entstanden. Elektrische Feldstärken jenseits der drei Millionen Volt je Meter erzeugten Blitz auf Blitz.

Die Interferenzen, die sich dadurch bildeten, störten das Signal. Ohne Verzögerung verringerte die Automatik die Flughöhe. Die Drohne tauchte in die obersten Schichten ein.

Die Steuerungssoftware meldete Warnhinweise, die von der Kontrollstation als unwichtig angesehen wurden. Das Kommando traf ein, kurz bevor die Verbindung abbrach.

VERFOLGUNG AUFRECHTERHALTEN

Die Drohne sackte vier-, fünfmal durch, nutzte Windlöcher und beschleunigte den Sturzflug. Mühsam hielten die acht Rotoren die Lage im Sinkflug stabil. Die Steuerungsautomatik arbeitete am Limit und verlor mehrfach kurzfristig die Kontrolle. Das Ziel blieb im elektrostatischen Chaos verschwunden. Um den Auftrag zu erfüllen, musste das Fluggerät unter die Wolkenschicht gelangen. Ein menschlicher Pilot wäre sicherlich zurückgeschreckt. Die Software der Spionagedrohne kannte solche Bedenken nicht. Stur setzte sie den Sinkflug, der eher einem wirbelnden Sturz glich, fort.

Die Schlechtwetterfront trug auch größere Mitbringsel mit sich. Müll, aufgepickt und im Sog der Aufwinde mitgeschleppt. Ein schwarzes Rechteck fegte heran, traf eine Rotorenaufhängung und riss ein halbes Rotorblatt mit sich. Bevor die Steuerung den Verlust kompensieren konnte, trudelte die Drohne unkontrolliert. Eine thermische Verwerfung riss sie in die Höhe.

Die zweite Hälfte des Blattes war derart verbogen, dass sie wie ein Schneidwerk in die Plastikverkleidung des Motorarms schnitt. Dann gab das Material nach, das Rotorblatt zersplitterte endgültig.

Die Software deaktivierte den nutzlosen Motor und kompensierte mit den anderen, bis das Trudeln endete.

Wieder setzte der Sinkflug ein. Nun arbeiteten die verbliebenen sieben Antriebe an der Belastungsgrenze. Nur die Temperaturen nahe dem Nullpunkt halfen, damit sie nicht überhitzten.

Endlich durchbrach die Drohne die unterste Wolkenschicht.

Sensoren maßen die Entfernung zur Erdoberfläche. Rund fünfhundert Meter lagen zwischen dem Unwetter und dem Boden.

Der Empfänger erfasste das Sendesignal, nur dass die Quelle deutlich entfernter lag als prognostiziert. Zu groß war die Kursabweichung innerhalb der Front gewesen.

Die Steuerung gewann Abstand von der Unwetterfront. Aus der dichten Schicht lösten sich nur vereinzelt Regentropfen und stürzten in die Tiefe.

Beinahe nachtdunkel wirkte die darunter befindliche Landschaft. Die Drohne beschleunigte, gleichzeitig schaltete sie einen Restlichtverstärker zu dem Objektiv. Es fokussierte ein Fahrzeug, das unbeleuchtet und mit hoher Geschwindigkeit einer schnurgeraden Straße folgte. Rechts und links der schmalen Fahrbahn wechselten sich verwilderte Wälder mit brachliegenden Feldern ab. Immer wieder erfasste die Wärmebildkamera Körper von Tieren, die umherstreiften. Gelegentlich tauchten auch Gebäude auf, in denen jedoch keinerlei Wärmesignatur messbar war.

Die Drohne erhöhte erneut das Tempo, um den Kontakt zum Fahrzeug nicht zu verlieren.

Das Sendesignal erreichte Maximalstärke, als die Drohne exakt über dem Fahrzeug flog.

Vereinzelte Orkanböen versetzten das Fluggerät, zwangen die Automatik mehrfach zum Gegensteuern. Aus dem Motor des beschädigten Rotors schlugen plötzlich Funken.

Als hätte die Unwetterfront nur darauf gewartet, entlud sich ein Blitz aus der Wolke in die fragile Konstruktion. Sie zerbrach in mehrere winzige Bruchstücke und einen größeren Korpus, der trudelnd wie ein Stein abstürzte und in den Wipfel eines Baumes unter sich krachte.

Das Fahrzeug fuhr unbehelligt und ab diesem Zeitpunkt auch ohne den stillen Beobachter weiter.

In der Kontrollstation der Drohne ertönte das Verbindungsabrisssignal. Niemand schien darauf zu achten.

Am Boden, dort, wo das größte Trümmerteil gelandet war, schlugen kurzzeitig Flammen aus dem Innern der Maschine. Ein kräftiger Regenguss von oben löschte den Brand.

Zurück blieb ein Stück Müll, das nicht auffallen würde. Denn verstreut zwischen den Stämmen, Büschen und einigen Felsbrocken verteilte sich noch mehr Unrat. Verdrecktes und zerrissenes Plastik in allen Formen und Ausprägungen hing und lag in der Landschaft herum. Als hätte ein Müllfahrer seine Ladung bei Sturm einfach in den Wald gekippt.

Es stank intensiv nach Fäulnis und Fäkalien. Wenn es einen Beobachter gegeben hätte, so wären ihm die verwesenden Überreste menschlicher Körperteile aufgefallen. Arme, Beine, mehrere beinahe vollständige Leichen. Maden und Insekten bevölkerten, zersetzten sie, fraßen sich satt und nutzten die Toten als Brutstätte.

Doch es gab keinen solchen Beobachter. Niemand betrat dieses Gebiet freiwillig.

Eine ganze Serie von Blitzen entlud sich, gefolgt von ohrenbetäubendem Donnergrollen. Für einen Moment war es taghell geworden. Man hätte den Eindruck gewinnen können, als bewegten sich die Leichen. Es war allerdings nur der heftige Sturmwind, der an den Körpern zerrte.

Regen peitschte gegen die Front des autonomen Mobils. Im Innern hörte man es leise prasseln, dazu summte der E-Antrieb. Ein auf langen Fahrten sehr beliebtes Einschlafmittel. Wie ein hypnotischer Zwang ermüdete es Insassen, und so war es wohl auch dem einzigen Fahrgast ergangen. Er schlief in seinem Sitz.

Nur sparsame Beleuchtung erhellte die Sitzgruppe. Der Monitor mit der Navigationsanzeige, den Leistungs- und Fahrdaten war ebenfalls gedimmt. 72 Stundenkilometer zeigte der Tacho, doch die KI bremste, da die Fahrbahn voraus endete. Zwischen zwei brachliegenden Ackerflächen schlängelte sich ein schmales Band. Ein behelfsmäßiger Weg, der nur selten genutzt zu werden schien. Die KI folgte der Linie des Navigationsprogramms und bog in den nur grob freigelegten Feldweg ein. Es rumpelte, mehrere tiefe Schlaglöcher schüttelten Fahrzeug und Insassen durch.

Automatikgurte spannten sich über die Schultern des Schlafenden und hielten ihn in Position.

Sein Kopf bewegte sich, zu heftig versetzte es das E-Mobil. Der Formschaumstoffsessel dämpfte nicht alle Bewegungen ab.

Der Mann öffnete die Augen, blickte sich verschlafen um. Er wirkte verwirrt, nicht ganz bei sich, wischte einen Speichelfaden von seinem Mundwinkel. Irritiert sah er hoch zu dem gläsernen Dach des Mobils. Der abperlende Regen hatte die Scheibe sauber gewaschen. So hatte er freien Blick auf die tief hängende Wolkendecke, in der es wetterleuchtete. Im nächsten Moment durchfuhr das E-Mobil wieder einen Regenschauer. Wasser prasselte auf das Fahrzeug.

Der Mann hob die Hände und rieb sich das Gesicht. Er gähnte herzhaft, wollte sich vorbeugen und bemerkte die Gurte, die ihn an den Sitz fesselten. »James«, sagte er halblaut.

Die KI antwortete prompt. »Was kann ich für Sie tun?«, erklang die weiblich anmutende Alt-Stimmlage aus den verborgenen Lautsprechern.

»Wie lange noch?«, fragte der Mann.

»Eine genaue Prognose bezüglich der veranschlagten Reisedauer ist derzeit wegen der vorherrschenden Wetter- und Wegverhältnisse nicht möglich.«

»Ach, James. Bitte. Gib mir eine Zeitspanne.«

»Wir erreichen das Ziel frühestens in dreißig Minuten, spätestens in 55.«

»Danke, James. Geht doch. Könntest du bitte die Gurte wieder lösen?«

»Das Angurten dient Ihrer Sicherheit und ist auf solchen Nebenstrecken obligatorisch.«

»Ich entbinde die Gesellschaft von allen Haftungsansprüchen, Jeremiah Hilarius Schnitzer«, erklärte der Fahrgast und bestätigte die Vereinbarung mit seinem vollständigen Namen. Zusammen mit der Stimmaufzeichnung ersetzte dies in vielen Fällen schriftliche Verträge.

»Die Vereinbarung wurde aufgezeichnet und ist in Kraft, Mr. Schnitzer«, erwiderte die KI.

»Danke, James.«

Die Gurte lösten sich. Jeremiah H. Schnitzer reckte sich, dann stemmte er sich aus dem Formsessel und stellte sich aufrecht hin, was die hohe Decke des E-Mobils, das von außen betrachtet wie ein fahrendes Ei wirkte, ermöglichte. Sein Kopf stieß nun beinahe gegen die Glasscheibe und er starrte hoch hinaus, strich sich dabei durch die kurzgeschorenen blonden Haare.

Er lächelte, als er eine Lücke in der Wolkenschicht entdeckte, durch die ein kräftig goldener Sonnenstrahl wie ein Laserlicht stieß. Das E-Mobil schwankte ein wenig. Jeremiah glich die Bewegungen mit federnden Knien aus und stützte sich gleichzeitig mit der rechten Hand an der oberen Glasscheibe ab.

Er sah auf seiner Smartwatch, dass er drei Benachrichtigungen erhalten hatte.

Doch noch war Zeit. Er wollte seine Ruhe, die News auf seinen Social-Media-Kanälen für die kommenden fünf Tage waren produziert und würden von seinem Team rechtzeitig ins Netz gestellt. Raven würde sich darum kümmern.

Wie eine geölte Maschinerie lief die Verbreitung seiner Botschaft. Und Hunderttausende hörten ihn, glaubten ihm und multiplizierten die Anzahl seiner Anhänger durch Likes, Spreads und Adds. Der schnöde Mammon war schon seit Jahren kein Problem mehr. Vielmehr die Tatsache, dass es bislang kein Umdenken in der Gesamtgesellschaft gegeben hatte. Für ihn, den Prediger der neuen Zeitrechnung, hieß es nur, dass er sein Ziel längst nicht erreicht hatte und sich noch mehr bemühen musste.

Er würde sich voll auf den anstehenden Job konzentrieren. Hier lag seine beste Chance auf einen großen Coup. Nicolas Ragg, Selfmade-Billiardär, treibende Kraft hinter zahllosen technischen Entwicklungen, ominöse Schattengestalt und Geldgeber für Millionen von Start-ups, der geheimnisvollste VIP der Welt, hatte sich mit einem Jobangebot gemeldet. Die Anfrage hatte Jeremiah überrascht, zählte er doch zu den schärfsten Kritikern des zurückgezogen lebenden Nicolas Ragg.

Schon lange hatte es keine Ragg Time mehr gegeben. Acht Jahre seit dem letzten Auftritt in aller Öffentlichkeit. Und auch damals hatten aufmerksame Beobachter und Verschwörungstheoretiker behauptet, dass das Individuum auf der Bühne nicht Ragg gewesen sein konnte.

Die Einladung für den Job hatte ein Bote persönlich überbracht. Auf einem handgefertigten Papier, mit violetter Tinte beschrieben, lud Nicolas Ragg ihn zu einem Wochenende in sein Anwesen ein.

Jeremiah hatte, in seinem Büro sitzend, den jungen Mann angesehen, der mit stoischem Gesichtsausdruck und in entspannter Körperhaltung neben dem Schreibtisch auf Antwort wartete.

Die Vermutung lag nahe, dass es sich bei dem Boten um einen Puppet handelte, doch er wirkte echter als echt. Jeremiah behielt seine Hypothese für sich und erkundigte sich, was er dort solle. Der Bote zuckte mit den Schultern.

Erst nach der persönlichen Bestätigung, dass er gewillt war, an einen der abgeschiedensten Orte in ganz Europa zu reisen, erhielt Jeremiah den Zugangscode für einen Cloudspeicher. Darin fand er Dutzende Dateien und eine Videobotschaft.

Das E-Mobil stoppte abrupt. Beinahe wäre er gestürzt. »James?«, fragte er laut in die Stille hinein. Der Antrieb schien ausgefallen.

»Mr. Schnitzer?«

»Was ist geschehen? Warum der Halt? Ist der Motor defekt?«

»Der Weg ist blockiert. Ich erfrage derzeit eine Ausweichroute, doch die elektromagnetischen Interferenzen stören die Verbindung.«

»Kannst du die Route nicht selbst berechnen?«, erkundigte sich Jeremiah, obwohl er die Antwort darauf schon vorhersagen konnte.

»Zu meinem Bedauern, nein. Für diesen Kartenabschnitt liegen keinerlei verwertbare Daten mehr vor.«

»Hm.« Jeremiah setzte sich zurück in den Sessel. Jenseits der umlaufenden Scheiben war es dunkel wie die Nacht. Die Unwetterfront an diesem späten Nachmittag ließ so gut wie kein Licht durch die dichte Wolkendecke.

»Kannst du die Außenbeleuchtung anschalten?«, bat Jeremiah.

»Natürlich, Mr. Schnitzer«, bestätigte die Mobil-KI.

Scheinwerfer flammten auf, beleuchteten Bäume, Sträucher, zerwühltes dunkles Erdreich und eine Menge Müll, der sich in den Büschen angesammelt hatte.

Es regnete nicht, so dass Jeremiah den umgestürzten Baumstamm erkennen konnte. Wie eine heruntergelassene Schranke oder ein Anti-Terror-Poller versperrte er die Weiterfahrt, wobei schon der Weg selbst kaum erkennbar war.

Er überlegte, Raven eine Sprachnachricht zu senden, um sie an seinem Abenteuer teilhaben zu lassen. Aber er war viel zu gebannt von der unwirtlichen Umgebung, als dass er Zeit dafür gefunden hätte.

James manövrierte mithilfe eines hochentwickelten Bodenradars und einer Satellitenunterstützung, weswegen das E-Mobil auch ohne Licht gefahren war.

»Wie sieht es aus?«, erkundigte sich Jeremiah, als ihm das Schweigen zu lange andauerte.

»Die Datenübertragung läuft. Allerdings ist der Durchfluss gering.«

»Kein 6G-Netz?«, hakte Jeremiah nach. Er sah auf das Display seines Armbands. Der Empfänger zeigte nur rund fünf Prozent an.

»Zu meinem Bedauern, nein.«

Jeremiah schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Geduld war angesagt, eine Tugend, die er noch zu verinnerlichen hatte und an der er stets scheiterte.

Als er die Lider wieder hob, betrachtete er seine Hände, bewegte die Finger, verschränkte sie und knetete sie sogar. Doch die Wahrnehmung, dass diese Extremitäten nicht zu seinem Körper gehörten, blieb. Er führte die rechte Hand zum Mund und biss sich in den Daumen, bis er den Schmerz spürte. Da erst verging das Gefühl.

Sensomotorische Störung, formten sich die Wörter in seinen Gedanken. Warum nur gerade jetzt, fragte er sich.

Das E-Mobil ruckte an, fuhr den Weg zurück, den es gekommen war. »Kurs ist berechnet. Die voraussichtliche Ankunftszeit erhöht sich um eine halbe Stunde.«

»Danke, James«, entgegnete Jeremiah. »Und lass diesmal bitte die Außenbeleuchtung brennen. Ich möchte ein wenig von der Umgebung sehen.«

Es gab jedoch nicht allzu viel zu entdecken. Nach einigen Metern im langsamen Tempo verhüllte dichter Regen das nähere Umland. Es entstand ein kakophonischer Krach, bis die aktive Außengeräuschunterdrückung einsetzte und angenehme Stille eintrat.

Das ablaufende, aufgepeitschte Wasser an den Scheiben bildete einen perfekten Sichtschutz.

Jeremiah, der sich wieder in seinen Sessel gesetzt hatte, runzelte die Stirn. Die KI startete eine Musikuntermalung und bot gleichzeitig eine umfangreiche Auswahl an Stücken an. Auf dem Monitor erschien eine seltsame Playlist. Sämtliche Songs, deren Titel, Künstler und Erscheinungsjahr angezeigt wurden, entstammten dem vergangenen Jahrtausend, alle mindestens hundert Jahre alt.

Einige Titel sagten ihm etwas, da sie gecovert in den aktuellen Charts vertreten waren.

»Keine Musik, James. Lass es, bitte.«

»Die Hintergrundmusik dient der Unterstützung der aktiven Geräuschunterdrückung, Mr. Schnitzer. Außerdem hat sie einen beruhigenden Einfluss auf den Hörer«, widersprach die KI. »Ich empfehle daher …«

»Schon gut!« Jeremiah wusste um die Unvollkommenheit der in die E-Mobile verbauten autonomen Programmierungen. Die in Schweden erschaffene Software, die sich KI schimpfte, gehörte zu den eindimensionalsten auf dem Markt. Jede Diskussion um Recht oder erteilte Befehle endete nach kurzer Zeit in den altbekannten Schleifen. Die Einheiten, die üblicherweise als James bezeichnet wurden, waren seiner Aufmerksamkeit nicht wert. »Triff selbst eine Wahl.« Jeremiah schloss die Augen und horchte den ersten Klängen einer irgendwie metallisch verstimmt klingenden E-Gitarre, die ein aus der Epoche gefallenes Intro einspielte. Dann erklangen Stimmen von längst verstorbenen Männern.

He’s a real nowhere man

Sitting in his nowhere land

Das E-Mobil stoppte abrupt. Dank der geringen Geschwindigkeit rüttelte es Jeremiah nur schwach durch.

Bevor er fragen konnte, was zu dem Halt geführt hatte, glitt die Seitentür auf. Herein stürzte mit gesenktem Kopf eine triefnasse Gestalt in einem dick gefütterten Regenmantel mit Kapuze, die das Gesicht im Schatten verbarg.

Ein Schwall kühl-nasser Luft flutete das Innere. Es stank nach Moor und Schlamm, dazu leicht nach Erdöl. Die KI schloss die Tür augenblicklich.

Jeremiah versuchte einen Blick auf die Gesichtszüge zu werfen, aber der Kaperer wandte ihm den Rücken zu, während er sich aus der Jacke quälte. Zu seinen Füßen hatte sich eine Pfütze aus grauem Wasser gebildet.

»Guten Tag«, grüßte Jeremiah und blieb dabei sitzen.

Die Jacke landete auf dem Boden. Eine schlanke Silhouette und schulterlange nachtschwarze Haare wurden sichtbar.

Eine Frau war zugestiegen. Sie drehte sich um.

Eine Maske mit Atemschutz bedeckte das komplette Gesicht. Grazile Finger in dunkelbraunen Handschuhen griffen nach den Seiten der Maske, betätigten den Öffner. Die Maske löste sich, die Frau legte sie in eine der Ablagen.

»Was zum Henker machen Sie hier in dieser Gegend?«, herrschte die junge Frau Jeremiah an. In ihrem leicht gebräunten Gesicht sah man die Abdrücke der Maskenhalterung. Braune Augen funkelten, offensichtlich verärgert oder verwundert, so genau wusste Jeremiah das nicht einzuschätzen. »Das ist Sperrgebiet und dazu noch in Privatbesitz!«

Jeremiah schenkte ihr ein Lächeln. Sie war hübsch, ohne Zweifel, und ihre Stimme angenehm tief. Er schätzte sie auf Mitte zwanzig, wobei das reine Aussehen in der heutigen Zeit nur ein Anhaltspunkt sein konnte.

»Ich habe eine Einladung. Sonst wäre ich nicht hier. Mein Ziel ist das Anwesen von Nicolas Ragg.«

Sie reckte sich, strich sich eine einzelne Haarsträhne aus der Stirn und musterte ihn abschätzig. »Einladung? Soso. Kann ich sie sehen?« Sie hielt ihm die offene Hand entgegen.

Da wurde Jeremiah klar, dass sie wissen musste, dass er eine physische Karte erhalten hatte. Sie wusste Bescheid, gehörte entweder zu Raggs Personal oder war selbst eingeladen worden.

»Vielleicht sollten Sie sich erst einmal vorstellen. Sie haben schließlich mein E-Mobil geentert.«

»Geentert? Sie haben mich beinahe überrollt. Ich halte es für ausgleichende Gerechtigkeit, dass Sie mich den Rest des Wegs mitnehmen, klar?«

»Ich bin J. H. Schnitzer«, versuchte es Jeremiah. »Und wer sind Sie?«

»Ah. Schnitzer also. Der Mahner in der Wüste«, kommentierte die Frau, ohne sich selbst vorzustellen.

»Wie soll ich das verstehen?«, hakte Jeremiah nach, obwohl ihm bewusst war, wie ihn weite Teile der Bevölkerung wahrnahmen.

»Leben in Zeiten vorgetäuschter Künstlicher Intelligenzen. So heißt doch Ihr unbedeutender, minderwertiger Kanal, nicht wahr? Ich denke, Sie machen zu viel Aufhebens um eine Alltäglichkeit, Mr. Schnitzer. Mir macht anderes Kopfschmerzen, nicht die ewigen Mahnungen. Wir alle sind Teil eines andauernden technischen Fortschritts. Und er bereichert unser Leben.«

Jeremiah spürte augenblicklich den Drang, zu widersprechen, zu predigen, wie Raven es nannte. Die junge Frau wollte ihn ganz offensichtlich aus der Reserve locken. Er kannte diese Art der Provokation nur zu gut. In zahlreichen Vorlesungen, die er gehalten hatte, fanden sich stets Zweifler, die genauso reagierten. Er hatte zu viel Erfahrung mit solchen Menschen und lächelte besänftigend. »Nun, da Sie wissen, wer ich bin, wäre es nett, wenn Sie mir den gleichen Gefallen erweisen würden.« Ruhig sah er sie an, wartete geduldig und erfreute sich an der abzulesenden Mimik. Sie ärgerte sich darüber, dass er sich nicht hatte provozieren lassen. Gleichzeitig sah man ihr an, dass es ihr peinlich war, sich nicht bereits vorgestellt zu haben.

Offenbar um Zeit zu gewinnen, zog sie die Handschuhe aus, legte sie auf der Jacke ab, ordnete anschließend die langen Haare hinter ihrem Kopf und band sie mit schnellen, geübten Handgriffen zu einem Dutt.

»Mein Name ist Dessert«, antwortete sie.

»Dessert?«, wiederholte Jeremiah verwundert und verzichtete auf eine weitere Nachfrage. Wahrscheinlich hatten schon zu viele Menschen den naheliegenden Witz ausgesprochen.

»Ja.«

»Gut. Darf ich fragen, was Sie in dieses Sperrgebiet geführt hat, Ms. Dessert? Meinen Grund kennen Sie ja bereits.«

»Sie haben mir noch nicht die Einladung gezeigt.«

»Warum sollte ich?« Jeremiah hob beschwichtigend die Hände. »Ich sitze in einem autonomen E-Mobil. Eine James-KI bringt mich an mein Ziel im Auftrag meines Gast- und Auftraggebers. Ich muss Ihnen meine Einladung nicht zeigen.«

»Nicolas lässt so gut wie niemanden in sein Sanktuarium vor. Warum gerade Sie, Mr. Schnitzer? Mir fällt kein einziger verdammter Grund ein, warum Nicolas Sie eingeladen haben sollte.«

Sie nannte Ragg beim Vornamen, registrierte Jeremiah, dessen Recherchen zu dem Anwesen Raggs wenig bis gar nichts ergeben hatten. Dennoch war ihm klar gewesen, dass der Billiardär sicherlich nicht ohne Personal dort leben würde. Eine Mitarbeiterin war ihm ins Mobil geschneit. Wobei …! Wenn er an seinen Job dachte, dann könnte dies schon die Gelegenheit für einen ersten Test sein. Vielleicht eine Art Warm-up. Eine vorgezogene Front. Nicolas Ragg gehörte wahrscheinlich zu den intelligentesten und raffiniertesten Menschen auf der Welt.

Niemand, der nicht über ein gewisses Maß an Hinterhältigkeit verfügte, hätte diesen rasanten Aufstieg zum Firmenmagnaten vollziehen können. Jeremiah musste aufmerksam bleiben, misstrauisch, egal, wie unerwartet die Situation auch sein mochte.

Er griff sich an die obere Brusttasche seines Overalls und zückte die Karte. »Bitte sehr.«

Ms. Dessert riss sie ihm beinahe aus der Hand, ihre Augen flitzten über die wenigen Zeilen. Dann reichte sie sie ihm zurück. »Nun gut. James«, wandte sie sich an die KI, »wie lange noch bis zur Grenze?«

»19 Minuten«, meldete sich James.

Jeremiah deutete auf das Display mit dem Navigationskartenset. Die Fahrtroute war dort schematisch zu erkennen. Gleichzeitig auch ein gewaltiger blauer Bereich, auf den sie direkt zufuhren. »Falls uns deine Programmierung nicht unmittelbar in der Nordsee versenkt.«

Ms. Dessert gönnte der Anzeige nur einen flüchtigen Blick, dann betätigte sie den Schalter für die Ausgabe eines Notsitzes und nahm Platz. Sie lehnte sich an die Seitenwand des E-Mobils, die unterhalb der umlaufenden Fensterfront weich gepolstert war. Sie musterte Jeremiah von oben bis unten. Er fühlte sich wie eine Laborratte.

»Sie sind kleiner, als es Ihre Videoaufzeichnungen und Streams vermuten lassen.«

Sie ist gut, dachte Jeremiah. Ohne mit der Wimper zu zucken, provozierte sie ihn fortwährend. Als verfolge sie einen Plan.

»Nun, Ms. Dessert«, begann Jeremiah, »es ist alles eine Frage des Standpunkts und der Kameraperspektive. Ich selbst empfinde mich als gerade groß genug. In einer Welt voller genoptimierter, gleichgemachter Mitmenschen kann ich gut mit dem Makel von zehn Zentimetern fehlender Körpergröße leben.«

»Delphine«, sagte sie leise, beinahe flüsternd.

»Wie bitte?«

»Wir werden uns im Sanktuarium ständig begegnen, Mr. Schnitzer. Ich halte es für angebracht, die Förmlichkeit zu reduzieren. Delphine Dessert.«

Er verstand. »Jeremiah Hilarius. Du kannst mich auch Jerry nennen. Ich weiß nicht, was meine Eltern veranlasst hat, mir ein derart altertümliches Namensungetüm zu verpassen.«

»Jerry also. Okay.« Sie runzelte leicht die Stirn. Zum ersten Mal bemerkte er ein Muttermal neben dem rechten Mundwinkel, das den Takt der Bewegung ihrer Lippen mittanzte. »Glaubst du wirklich an das, was du da auf deinen Kanälen verzapfst?«

Und weiter setzte sie auf Provokation.

»Ich bin ein ehrlicher Mensch, Delphine. Ich bin von allem überzeugt, was ich so von mir gebe.«

»Dass es keine Künstliche Intelligenz gibt …«

»Zumindest nicht das, was ich für eine wahre Künstliche Intelligenz halte. Nimm zum Beispiel James.«

»Mr. Schnitzer? Was kann ich für Sie tun?«, erklang die Stimme der E-Mobil-KI.

»Das ist ein grandioses Beispiel dafür, dass er nur auf spezielle Reize programmiert wurde. Er hört seine Bezeichnung und reagiert sofort. Ein Mensch, ein intelligentes Wesen, hätte es einfach ignoriert. Ich bezweifle sogar, dass die so bezeichnete KI in der Lage ist, aus Fehlern zu lernen. Vorfälle, Unfälle, unangebrachte Reaktionen werden ausgelesen, von Menschen ausgewertet und durch neue Programmierung ersetzt. Das ist keine Künstliche Intelligenz.«

»Wen kümmert es?«

»Uns alle, Delphine. Wir verlassen uns zu sehr auf das, was landläufig unter den Begriff der KI subsumiert wird. Jeder denkt, da stünde eine wirkliche Intelligenz dahinter. Doch in Wahrheit sind es Menschen, die die Programme geschrieben haben. Im besten Fall enthalten die Softwarezeilen ein paar Fehler, was menschlich wäre. Im schlimmsten Fall bezwecken die Hersteller etwas damit. Profit, Machthunger, Kontrolle. Such dir das Passende aus. Machthaber aller Jahrhunderte hätten sich ein Volk gewünscht, das so einfach zu manipulieren und kontrollieren ist. Und wir tappen in die Falle. Ich betätige lediglich die Alarmsirene. Hören muss jeder selbst.«

Delphine behielt einen stoischen, zweifelnden Gesichtsausdruck bei. Unterbrochen hatte sie seine Predigt nicht, was Jeremiah wohlwollend zur Kenntnis nahm. Aus den Augenwinkeln heraus sah er es blauer im Display aufleuchten. Er wandte sich um und sah mit leichtem Schrecken, dass James das Mobil weiterhin in Richtung Nordsee steuerte. Irgendwo in Fahrtrichtung würde die Abbruchkante kommen.

»Ich hoffe mal, dass wir nicht so einer fehlerhaften Programmierung zum Opfer fallen werden«, versuchte er es mit betonter Munterkeit.

Es war nur ein flüchtiger Blick, den Delphine der Anzeige widmete. »Wir sind auf dem richtigen Weg, Jerry. Du solltest den dummen Maschinen vertrauen.« Sie musterte ihn erneut.

»Bin ich unpassend gekleidet?«, fragte Jeremiah.

»Nein.« Sie hob einen Handschuh hoch, betrachtete eine Verfärbung im Handrückenbereich und legte ihn wieder zurück. »James!«, rief sie. »Ist der Radar aktiv?«

»Natürlich, Ms. Dessert.«

»Schalte mal bitte den Infrarotbereich dazu. Ich will ein Wärmebild der Umgebung.«

Jeremiah atmete mehrfach tief durch, um seine Ungeduld und seine Irritation zu verbergen. Die Inbesitznahme durch die nahezu Unbekannte verwirrte ihn, ihre offenkundige Vertrautheit mit der Ausstattung des Mobils ließ nun wirklich darauf schließen, dass sie eine Mitarbeiterin Raggs war. Jeremiah versuchte, sich mit dem Netz zu verbinden, um weitere Informationen zu recherchieren, aber nach wie vor fehlte es an der notwendigen Signalstärke.

Aus der Konsole hob sich ein zusätzlicher Monitor im Zwanzig-Zoll-Format. Das Infrarotbild bewies, dass es draußen recht kühl war. Vereinzelt sah man kleinere Flecken, die sich am Boden aufhielten, Tiere, deren Körper Hitze abstrahlten. Die Kamera vollführte mehrere 360-Grad-Schwenks.

Jeremiah bemerkte, dass die Route des Mobils nun parallel zum Meer verlief. Keine Gefahr, über die Abbruchkante zu stürzen. Doch die Stille ging ihm auf den Geist. Der Regen hatte geendet, hoch oben zeigten sich stetig größere Lücken in der Wolkenformation. Es war jedoch spät geworden und nur wenig Helligkeit drang herunter.

»Suchst du nach jemandem?«, fragte Jeremiah. »War das der Grund, warum du in diesem Wetter unterwegs warst?«

»Schalt ab, James«, befahl Delphine der KI und schüttelte den Kopf. »Es geht dich nichts an, Jerry. Also frag bitte nicht weiter.«

Das war deutlich gewesen, auch wenn er Müdigkeit oder gar Erschöpfung aus ihrer Stimmlage herauszuhören glaubte.

Jeremiah schwieg, blickte hinaus und sah im Licht der Scheinwerfer eine hohe Mauer auftauchen. Mindestens zehn Meter, schätzte er, schraubte sich die Konstruktion in die Höhe. James hielt direkt darauf zu, bog erst dicht vor ihr nach rechts ab und holperte entlang eines schmalen Weges voran.

Nach rund zehn Minuten langsamer Fahrt, die Delphine mit geschlossenen Augen in ihrem Sitz lehnend verbracht hatte, erreichten sie ein Tor, dessen doppelte Flügel sich automatisch öffneten.

Jeremiah freute sich, endlich das Ziel zu erreichen, und war gespannt, was das Anwesen Raggs, von dem nicht einmal Satellitenaufnahmen existierten, an Überraschungen bereithielt.

Während sie das Tor passierten, verdunkelten sich plötzlich die Scheiben. »Hey!«, rief Jeremiah überrascht. »Was soll das?«

Delphine reagierte. »Eine Führung wird es später geben, Jerry. Es ist ein Automatismus. Genau wie die Deaktivierung von James.«

Da registrierte Jeremiah erst, dass alle Monitore ausgefallen waren und das Bereitschaftsblinklicht der KI rot leuchtete.

»Wer steuert das Mobil?«

»Selbstverständlich die Hausanlageneinheit. Nicolas legt Wert auf Privatsphäre. Aufzeichnungen von E-Mobilen, die mit der Zentrale verbunden sind, wären da eher kontraproduktiv.«

»Er will nicht, dass es Aufnahmen von dem Grundstück gibt?«, meinte Jeremiah.

»Korrekt, Jerry. Keine Aufnahmen, Streams oder Übertragungen. Seine Anweisungen gehen sogar so weit, dass er einen elektronischen Sichtschutz einsetzt, der Luftaufnahmen verhindert.«

»Deswegen der weiße Fleck in den Geomaps-Programmen«, murmelte Jeremiah im Selbstgespräch. Dieses Rätsel hatte sich gelöst. »Das klingt paranoid.«

»Sagt gerade der Richtige. Ihr werdet euch verstehen.« Delphine erhob sich. »Wir sind gleich da.«

»Du kennst den Weg?«

»Sicher. Ich wohne hier.«

Das Mobil stoppte. Die Fensterscheiben wurden wieder durchsichtig.

Jeremiah sah sich um. Eine Halle in eisigem Betongrau wurde sichtbar. Verteilt in verschiedenen Nischen parkten rund ein Dutzend Mobile unterschiedlicher Größen. Lichtleisten in der Deckenkonstruktion leuchteten die Garage mit eiskaltem Licht aus. Dabei schien es, als würden die Wände es zusätzlich verstärken.

Jeremiah schrak ein wenig zusammen, als sich die Tür des E-Mobils öffnete. James blieb weiterhin stumm. Delphine hielt sich nicht mit Höflichkeitsgeplänkel auf und stiefelte hinaus.

Jeremiah folgte. Von der langen Fahrt fühlten sich seine Beine schwer und steif an. Er beugte mehrfach die Knie, reckte sich und dehnte die Muskeln.

Delphine wartete mit amüsiertem Gesichtsausdruck, bis sie sich räusperte. »Fit genug?«

Jeremiah sah an ihr vorbei, da sich etwas hinter ihr bewegte. Eine goldene Rüstung auf zwei Beinen stakte auf sie zu.

»Soll das ein Witz sein?«, fragte Jeremiah.

Delphine lächelte. »Nicolas findet es witzig. Es ist die Empfangsdame.«

»Hallo«, sprach der goldene Roboter, als er bei ihnen war. »Ich bin C2-Lt, Mensch-Roboter-Kontakter. Sie müssen Jeremiah Hilarius Schnitzer sein.«

»Der bin ich.«

»Sehr schön. Dann folgen Sie mir bitte, ich würde Ihnen gerne Ihr Quartier zeigen. Ms. Dessert? Ihr Vater erwartet Sie im Labor.«

»Vater?«, hakte Jeremiah nach. »Wessen Tochter bist du?«

Delphine grinste. »Geduld, Jerry. Du wirst es noch früh genug erfahren.« Sie wandte sich an C2-Lt. »Im Mobil sind die kontaminierten Klamotten. Lass sie abholen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie. In einer Wand öffnete sich eine versteckte Tür, hinter der sie verschwand.

»Mein Quartier, C2-Lt?«, fragte Jeremiah. »Werde ich nicht zu meinem Gastgeber geführt?«

»Mr. Ragg ist zu seinem Bedauern beschäftigt. Er bittet, dies zu entschuldigen. Ich würde Ihnen daher gerne zunächst Ihr Quartier zeigen.«

»Nur zu.«

2

Ein Experte für Raumbeduftung musste sich ausgetobt haben. C2-Lt führte Jeremiah zu einem Horizontallift. Die Videoinstallation auf den Innenwänden vermittelte den Eindruck, dass sie sich innerhalb eines Waldes bewegten. Harzgeruch, frischer Wald- und moosiger Bodenduft bedrängten Jeremiahs Nase. Es war beinahe zu viel. Als die Türen sich öffneten, gelangten sie in einen Flur, in dem es abwechselnd nach Orangen und Zitronenverbene roch.

Der schmucklose Gang endete in einem kreisrunden Saal mit einem Durchmesser von rund sechs Metern. In gleichmäßigen Abständen sah Jeremiah zehn Türen mit fortlaufenden Nummern in der Wand.

C2-Lt dirigierte ihn zur Tür mit der Nummer 7.

»Das ist Ihr Quartier für die Dauer Ihres Aufenthalts. Bitte treten Sie vor.«

Jeremiah folgte der Aufforderung. Das Display seiner Armbanduhr blinkte auf. Ein Signalton von Seiten der Tür ertönte und sie glitt in die Wand, gab so den Durchgang frei.

»Die weitere Einweisung wird die Haus-KI vornehmen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.« C2-Lt stakte davon.

Jeremiah sah ihm nicht nach, ahnte, dass er dem Roboter erneut begegnen würde. Ragg schien wirklich über einen seltsamen Sinn für Humor zu verfügen.

Das Quartier entpuppte sich als eine Suite. Hinter dem Eingang befand sich zunächst ein acht Schritte langer Schlauch, an den sich ein geräumiges Zimmer anschloss. Die Gegenwand, halbrund geformt, wirkte wie ein Fenster nach draußen. Jeremiah blickte auf das aufgepeitschte Meer. Die Sonne versank gerade am Horizont, Wolkenformationen an einem brennenden Himmel, die dem Esprit und Talent eines fantastischen Künstlers entsprungen waren, leuchteten zum Teil in Orange-Rot oder drohten mit tiefdunklen Ballungen.

Jeremiah trat näher, umrundete dabei die Sitzgruppe, eine Sofalandschaft, in der gut und gerne zehn Menschen Platz finden würden. Davor ein Couchtisch, auf dem eine Vase mit vermeintlich echten Blumen stand. Ein Sideboard mit einem Monitor darüber an der rechten Seitenwand komplettierte die Einrichtung.

Auf der linken Seite sah man zwei Türen. Wahrscheinlich das Bad und der Schlafraum.

Jeremiah stellte sich vor das Fake-Fenster. Ein Schwall salzigfrischer Luft traf ihn von oben. Er sah hoch. Ein Schlitz in der Decke belüftete den Raum.

Die Nordsee war jedoch nicht das Einzige, was zu sehen war. Jeremiah wurde der Abbruchkante gewahr und der mit Dünengras bewachsenen Sandlandschaft, die sich bis an die scharf konturierte Grenze erstreckte. Eine Dünenlandschaft, wie sie von den acht Jahrhundertstürmen nahezu ausgelöscht worden war, diente als Kulisse für die Videoinstallation. Dünne Grashalme bogen sich im abklingenden Wind, dazwischen wuchsen flache Bodendecker, an denen vereinzelt weiße und pinkfarbene Blütenköpfe hin- und herschwankten. Eine Mixtur aus aktuellen Daten und einer längst überlebten Vergangenheit. Nirgendwo war der allgegenwärtige Müll zu sehen, den die ewigen Westwinde mit sich schleppten und über der Landschaft abluden.

»Willkommen«, grüßte eine tenorlastige Männerstimme wie aus dem Nichts. Die Lautstärke war geradezu perfekt gewählt, um Jeremiah nicht zu erschrecken und eine angenehme Atmosphäre zu erzeugen.

Er drehte sich um. So begann offenbar die versprochene Einweisung durch die Hauseinheit. »Vielen Dank«, sagte er halblaut und wartete.

»Ich werde als Hausanlagenlenkung bezeichnet oder kurz HAL. Sie dürfen mich aber mit jedem Namen ansprechen, der Ihnen recht ist, Mr. Schnitzer.«

»HAL ist in Ordnung«, antwortete Jeremiah und verkniff sich ein Grinsen. Ragg musste ein Faible für antike Filme haben.

»Sehr wohl, Mr. Schnitzer. Ihre Armbandeinheit ist bereits mit dem hauseigenen Netz synchronisiert worden. Sie haben unbegrenzten Zugang zur vollen Bandbreite. Für die maximale Nutzung der technischen Einrichtungen empfehle ich Ihnen jedoch den Wechsel auf eine Armilla, die ich für Sie im Sideboard deponiert habe.«

»Eine Armilla?«, wiederholte Jeremiah erstaunt. Die Prototypen dieses neuartigen Armbands mit zahllosen Features, die kolportiert wurden, geisterten als Fake News durchs Netz. Offenbar leistete sich Ragg den Luxus, den kommenden Blockbuster einer seiner Firmen hier im Sanktuarium zu testen.

»Ja, Mr. Schnitzer. Die Armilla muss lediglich noch auf Sie geprägt werden.«

»Okay. Später vielleicht«, wiegelte Jeremiah ab, dem der Begriff der Prägung nichts sagte. Er vermutete jedoch, dass der hochtechnische Nachfolger seiner Smartwatch zu einer stärkeren Überwachung durch den Gast- und Auftraggeber führen konnte.

»Wie Sie wünschen.« HALs Tonfall veränderte sich nur in Nuancen. »Darf ich Ihnen das Bad und Ihr Schlafzimmer zeigen?«

Um die beiden Türen leuchtete ein grünes Lichtband auf. »In den Räumen selbst müssen Sie mich jedoch explizit zum Zugang berechtigen. Es gilt dort absolute Privacy.«

»Gut. Gibt es irgendetwas zu beachten?«

»Dem Prinzip nach nicht, Mr. Schnitzer. Die Dusche ist Standardausstattung. Die Schlafkabine beinhaltet reguläre Features, die Sie bereits kennen dürften.«

»Also möchtest du nur höflich sein«, bekräftigte Jeremiah.

»Das ist korrekt.«

»Danke, HAL. Ich weiß das zu schätzen. Sag mir bitte, von wann die Aufnahmen sind, die ich auf der Stirnwand sehen kann.«

HAL legte tatsächlich eine spürbare Kunstpause ein. Endlich antwortete er. »Dies ist ein Fenster, Mr. Schnitzer, keine Videowand. Sie sehen, was Sie sehen.«

Jeremiah wusste natürlich, dass Hauseinheiten autonomer Gebäude nicht auf Lügen programmiert waren. Warum sollten sie auch? Die Antwort stellte daher eine Überraschung dar.

Er wandte sich wieder der Aussicht zu. Der Sonnenball war hinter der Horizontlinie versunken. Noch leuchteten Himmel und Wolken in allen Farben von Rot bis Violett. »Wo ist der Müll, HAL?«

»Mr. Ragg legt außerordentlichen Wert auf die Reinigung und Pflege des Anwesens, Mr. Schnitzer. Ich verfüge über vielfältige technische Ressourcen, die ich für den Erhalt der Landschaft einsetzen kann.«

Jeremiah verschränkte die Arme vor der Brust, sah kurz hoch zu dem Lüftungsschlitz. »Aber die Luft, die du dem Zimmer zuführst …?«

»Mehrfach gefiltert und sanft bearbeitet, Mr. Schnitzer. Leider ist die Luftqualität nicht ganz so einfach zu beeinflussen wie die Sauberkeit des Ökosystems.«

»Gut. Danke, HAL. Lass mich bitte für einen Moment alleine. Ich melde mich, sobald ich dich brauche.«

»Wie Sie wünschen. Ich darf darauf hinweisen, dass in einer Stunde und 15 Minuten das Abendessen im großen Saal serviert wird.«

»Gib mir bitte zwanzig Minuten vorher Bescheid.«

»Natürlich.«

Jeremiah wartete eine Weile schweigend vor der Fensterscheibe und überlegte, während das Meer sich allmählich in Dunkelheit hüllte, was Nicolas Ragg wohl für ein Mensch sein würde. Bekannt durch den erworbenen Reichtum, die damit einhergehende Verschrobenheit und den sich verstetigenden Rückzug aus der Öffentlichkeit, verbanden viele Menschen mit seinem Namen nur die Plug-ins. Eine Entwicklung, die Ragg deswegen forciert hatte, weil er selbst an einer offenbar unheilbaren, fortschreitenden Erkrankung litt.

In der Landschaft verteilte solarbetriebene Kugellampen begannen ihre Arbeit. Somit entstand eine dezente Beleuchtung des Anwesens, obwohl alles jenseits der Lichtkegel im Dunkeln versank. Einige Senken und Mulden blieben gänzlich verborgen.

Jeremiah glaubte mehrfach, sich dort bewegende Gestalten zu erkennen, aber letztlich hielt er dies doch für Sinnestäuschungen.

Er riss sich vom Anblick los, tippte die Armbanduhr an und löste den Aktivierungsbefehl für seine Augenlinsen, die Opti-Lenses 100, aus.

Sofort erweiterte sich sein Sehvermögen. Die künstlichen Linsen erzeugten eine Art Monitor in seinem Blickfeld.

»Zugriff auf Hausfazilitäten. Anzeige Technik. Besucherzimmer 7«, arbeitete er sich durch die Untermenüs.

»Anzeige der Kameras.«

Erstaunt blickte er sich um. Als Augmented Reality blendeten die Linsen kleine Marker in seinem Sichtfeld ein, die die Positionen der Aufnahmeobjektive in dem Raum verrieten.

»27«, murmelte Jeremiah. »Das ist eine Menge.« Er verließ die Lounge und untersuchte in gleicher Art und Weise das Bad und das Schlafzimmer. Beide Bereiche schienen kamerafrei. Nur die üblichen Bewegungsmelder waren zu finden, die für Licht sorgten und, im Fall des Schlafraums, HAL signalisieren würden, dass der Bewohner wach war. Im Schlafzimmer fand Jeremiah einen Durchgang zu einem begehbaren Kleiderschrank. Neben seinem Koffer, den man irgendwie an ihm vorbeigeschmuggelt und dort deponiert hatte, gab es eine ganze Auswahl an Abend- und Freizeitkleidung, dazu Schuhe und in den Schubladen entdeckte er noch mehr. Sein Koffer war weiterhin originalversiegelt, was Jeremiah mit Genugtuung zur Kenntnis nahm. Nach einer kurzen Überprüfung der von seinem Gastgeber zur Verfügung gestellten Kleidung wusste er, dass man sowohl seine Größe als auch seine Vorlieben, was Farben und Schnittmuster anging, kannte. Nichts blieb geheim, keine Informationen, die man vor dem Netz verbergen konnte. Es sei denn, man hieß Nicolas Ragg und nutzte Geld, Daten und Ressourcen, um das Netz von der eigenen Anwesenheit zu säubern.

Jeremiah kehrte zurück in den Hauptraum, versandte eine Testdatei an die Haussysteme, darin verborgen ein sehr gut versteckter Trojaner, der ihm eine Backdoor einbauen sollte. Doch die Annahme wurde wegen Sicherheitsbedenken verweigert.