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Trotz aller Fortschritte der modernen Wissenschaft umgibt den Planeten Mars nach wie vor eine Aura des Geheimnisvollen. Wohl nirgendwo sonst sind Fakten, Legenden, Sehnsüchte und Träume so dicht ineinander verwoben wie in den Werken ganzer Schriftstellergenerationen über den roten Planeten. Der vorliegende Band fasst nun erstmals sämtliche eigenständigen Marsgeschichten von Frank W. Haubold aus den letzten 25 Jahren zusammen, die ihre Inspiration durch Ray Bradburys legendäre »Mars-Chroniken« nicht verleugnen, darüber hinaus jedoch auch eine Brücke schlagen zu den Herausforderungen und Konflikten des 21. Jahrhunderts.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Frank W. Haubold
Im Zeichen des Mars
Story-Sammlung
Neuausgabe
Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv
Cover: © by Frank Haubold mit einem eigenen Motiv KI-generiert, 2025
Korrektorat: Bärenklau Exklusiv
Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang
Die Handlungen dieser Geschichte ist frei erfunden sowie die Namen der Protagonisten und Firmen. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.
Alle Rechte vorbehalten
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Inhaltsverzeichnis
Impressum
Das Buch
Im Zeichen des Mars
Odyssee in Rot
Die weißen Schmetterlinge
Die Frau im Schatten
Der Bibliothekar
Warchild
Die Tänzerin
Die alten Männer
Der traurige Dichter
Kalte Nacht
Der Autor Frank W. Haubold
Trotz aller Fortschritte der modernen Wissenschaft umgibt den Planeten Mars nach wie vor eine Aura des Geheimnisvollen. Wohl nirgendwo sonst sind Fakten, Legenden, Sehnsüchte und Träume so dicht ineinander verwoben wie in den Werken ganzer Schriftstellergenerationen über den roten Planeten. Der vorliegende Band fasst nun erstmals sämtliche eigenständigen Marsgeschichten von Frank W. Haubold aus den letzten 25 Jahren zusammen, die ihre Inspiration durch Ray Bradburys legendäre »Mars-Chroniken« nicht verleugnen, darüber hinaus jedoch auch eine Brücke schlagen zu den Herausforderungen und Konflikten des 21. Jahrhunderts.
***
Eine Story-Sammlung
Alles lief nach Plan – so perfekt, dass es John Edison manchmal fast unwirklich erschien.
Sie hatten acht Monate Zeit gehabt, sich auszumalen, was alles schiefgehen könnte, und dabei war ihnen eine Menge eingefallen. Doch nichts davon war eingetreten – bis jetzt jedenfalls.
Gestern hatten sie die Rückstartstufe und vor sechs Stunden das Habitat abgesetzt. Beide Module waren nahezu punktgenau niedergegangen und ruhten jetzt nicht einmal eine halbe Meile voneinander entfernt wie erschöpfte Reisende auf den weißen Kissen ihrer Airbags.
Auch der Lander hatte die wohl schwierigste Phase, den fast ungebremsten Flug durch die oberen Atmosphäreschichten, bereits hinter sich. Der Funkkontakt war nur für wenige Minuten abgerissen. Jetzt signalisierten grüne Leuchtanzeigen, dass die Verbindung wieder stabil war. Gerade eben hatte die Landefähre ihren Hitzeschild abgeworfen und schwebte an drei riesigen Fallschirmen ihrem Zielort in der Meridiani-Ebene entgegen.
Obwohl die Aufgabenverteilung von Beginn an klar gewesen war, fiel es dem Piloten zunehmend schwerer, sich mit seiner Rolle abzufinden. Siebzig Jahre war es nun her, dass Neil Armstrong als erster Mensch seinen Fuß auf den Mond gesetzt hatte. Inzwischen gab es eine komplett eingerichtete Forschungsstation dort, die regelmäßig von Versorgungsschiffen angeflogen wurde, aber Armstrong würde immer derjenige bleiben, der den ersten Schritt getan hatte. Heute trat Mart in seine Fußstapfen. Der erste Mensch auf dem Mars. Nicht, dass John seinem Kommandanten den Ruhm tatsächlich missgönnte, dennoch wäre er gern an dessen Stelle gewesen.
Noch 60 Sekunden. Die Heckkamera übertrug jetzt im Halbsekundentakt Bilder des Landegebiets auf den Hauptmonitor. Der rote Marsboden näherte sich rasch, zu schnell, wie es Edison schien, obwohl ihm die Messwerte das Gegenteil versicherten.
Jetzt! flüsterte der Pilot angespannt, als der Leuchtbalken des Höhenmessers die 200-Meter-Marke passierte. Im gleichen Augenblick zündeten die Bremsraketen, und das Bild verschwamm in einer Wolke aus Abgasen und aufgewirbeltem Staub. John hatte mit nichts anderem gerechnet, dennoch atmete er erleichtert auf, als die Instrumente den Erfolg des Manövers bestätigten.
Noch 5 Sekunden. Gleich musste die Automatik den Fallschirm absprengen … Trennung bestätigt … 3, 2, 1 … Touch down.
»Auf geht’s, Jungs«,murmelte John, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. Immerhin war er der Einzige, der den großen Augenblick live miterleben würde. Es würde acht Minuten oder noch länger dauern, bis die Bilder das Kontrollzentrum auf der Erde erreichten.
Laut Programm hätte der Videokanal längst auf die Kabinenkamera umschalten müssen, aber der Monitor blieb dunkel. Entweder war die Kamera ausgefallen, oder es gab ein Problem mit der automatischen Steuerung. An andere Möglichkeiten wollte John nicht einmal denken …
In diesem Augenblick begann die Verbindungsanzeige zu blinken, Grün wechselte zu Orange und schließlich zu Rot. Der Funkkontakt zur Landefähre war abgerissen.
Verdammt, das kann doch nicht … John spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach, aber er zwang sich zur Ruhe. Seine Hände zitterten nicht, als er das Diagnoseprogramm startete und parallel dazu die Teleskopkamera aktivierte. Sekunden später erhielt er das Resultat der Überprüfung: Die Sende- und Empfangsmodule der Kontrollkapsel arbeiteten fehlerfrei. Die Funksignale vom Lander waren dagegen schlagartig abgebrochen, von voller Feldstärke auf Null. Dennoch unternahm der Pilot den vorgeschriebenen Versuch einer Kontaktaufnahme über Sprechfunk: »CEV an Landeeinheit, bitte melden. Over.«
Keine Antwort. Es rauschte nicht einmal in den Kopfhörern. John versuchte es ein zweites Mal und gab dann auf. Nun war kein Zweifel mehr möglich: Die Sendeanlagen des Landers waren komplett ausgefallen. Oder aber …
Mit einem flauen Gefühl im Magen gab John die Zielkoordinaten zur Ausrichtung des Teleskops ein und schaltete die Kamera auf den Hauptmonitor. Ein paar Sekunden lang war nur farbiges Flimmern zu sehen, doch als sich das Bild schließlich stabilisiert hatte, glaubte John Edison seinen Augen nicht zu trauen: Auf dem Bildausschnitt war nicht die geringste Spur des Landers zu erkennen!
Hatte er etwa die Koordinaten verwechselt? Der Pilot glaubte nicht daran, dennoch überprüfte er die Eingaben doppelt und dreifach, ohne jedoch auf einen Fehler zu stoßen. Schließlich schaltete er das Teleskop in den SRC-Modus, doch selbst die hochauflösende Darstellung zeigte nichts weiter als völlig unberührten Marsboden. Die Landefähre war verschwunden, als hätte sie nie existiert …
Das Einzige, was John jetzt noch einfiel, war der im Grunde überflüssige Abgleich mit den letzten Aufnahmen des Landers. Dennoch führte er ihn durch, mehr, um überhaupt etwas zu unternehmen als in der Hoffnung auf einen Fehler. Es gab auch keinen. Die Korrelationsanalyse lieferte mit einer Übereinstimmung von 96% die Bestätigung: Es war das gleiche Areal.
Vergeblich suchte der Pilot Ordnung in das Chaos seiner Gedanken zu bringen. Die Situation war und blieb absurd: Sechs Sekunden vor der Landung hatte die Landefähre das letzte Bild gesendet und noch bis zum Aufsetzen Daten übertragen. Danach war der Funkkontakt abgebrochen. Maximal zwei Minuten und fünfzehn Sekunden später – das war der Zeitpunkt der ersten Kameraaufnahmen – war sie spurlos verschwunden!
In den Jahren der Vorbereitung und während des achtmonatigen Flugs hatten sie alle nur denkbaren Szenarien durchgespielt, von der Überlastung des Hitzeschildes über den Ausfall der Steuerung bis hin zum Versagen der Bremsraketen. Sie kannten die Bedien- und Auslösemechanismen der Reservefallschirme und Havarie-Airbags und alle Varianten zur Reaktivierung lebenserhaltender Systeme. Sie wussten, was im Falle plötzlichen Druckverlusts zu tun war und wie sie dem Ausfall der Temperaturregelung begegnen konnten. Doch weder das Havarietraining noch die bis zum Überdruss absolvierten Notfall-Simulationen hatten John Edison auf eine Situation wie diese vorbereiten können.
Zum ersten Mal seit Beginn der Mission war der erste Pilot und Navigator des Mars Exploration Teams ratlos. Und – was vielleicht noch schlimmer war – er begann an seinen Wahrnehmungen zu zweifeln. Eine Landefähre von acht Tonnen Gewicht konnte nicht einfach verschwinden, erst recht nicht auf einem Areal, dessen Bodenbeschaffenheit mehrfach überprüft worden war. Die Radarmessungen hatten bis zu einer Tiefe von 500 Metern keinerlei Besonderheiten erkennen lassen …
Etwas stimmte hier nicht – entweder mit den Geräten oder mit ihm selbst. In den Psychologieseminaren hatte man ihnen erklärt, wie Halluzinationen entstanden und dass sie für den Betroffenen nicht von der Realität zu unterscheiden waren. Allerdings hatte er noch nie davon gehört, dass man dabei etwas nicht sah, das in Wirklichkeit vorhanden war. Und was war mit der Korrelationsanalyse? So sehr sich John auch das Hirn zermarterte, ihm fiel keine auch nur annähernd plausible Lösung ein. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so hilflos gefühlt. Dennoch musste er etwas unternehmen.
John Edison vergewisserte sich noch einmal, dass der Monitor tatsächlich Echtzeitbilder zeigte, dann aktivierte er das Kommunikationsterminal: »CEV an Pasadena Control Center«, meldete er sich mit mühsam beherrschter Stimme. »Wir haben ein Problem.«
»Wo bin ich?«
Der Mann erwartete keine Antwort und erhielt auch keine.
Er war allein, auch wenn er sich nicht erinnern konnte, wie er an diesen verlorenen Ort gelangt war.
Rotes Licht flutete vom roten Himmel auf rotes Land. Die Welt um ihn herum leuchtete wie das Abendrot vor einer stürmischen Nacht.
Eher irritiert als erschrocken hatte der Mann festgestellt, dass er nicht einmal die Umrisse seines eigenen Körpers erkennen konnte. Dabei war er durchaus vorhanden, wie ihm seine tastenden Hände bestätigten. Offenbar überstrahlte das rote Licht alle anderen Farben. Dass er nackt war, kam dem Mann unter diesen Umständen weniger merkwürdig vor, auch wenn er sich aus einem Reflex heraus nach allen Seiten umsah.
»Ist da jemand?« rief der Mann und lauschte dem dumpfen Klang seiner Worte nach.
Niemand antwortete.
Der Mann schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren.
Auch wenn er sich im Augenblick nicht erinnern konnte, irgendwie musste er doch hierhergekommen sein. Er durchforschte sein Gedächtnis nach einem Anhaltspunkt, nach etwas, das gestern, vorgestern oder letzte Woche geschehen war. Nichts.
Es ist gerade so, als wäre es nie gewesen.
Kapitän Hollis in »Der illustrierte Mann«. Sein Langzeitgedächtnis war also noch intakt. Was fehlte, waren persönliche Erinnerungen. Der Mann wusste nicht einmal seinen Namen. Nicht, dass er ihn sehr vermisst hätte, aber befremdlich war die Tatsache schon. Ausgesprochen befremdlich.
Im Augenblick benötigte er allerdings weniger seinen Namen als vielmehr einen Orientierungspunkt oder eine Idee, wohin er sich wenden sollte. Hatte es überhaupt Sinn weiterzugehen, wenn weder Weg noch Ziel erkennbar waren?
Der Mann erwog die Alternativen und setzte sich in Bewegung. Die Tatsache, dass er den Boden unter seinen Füßen spüren konnte, minderte das Gefühl der Verlorenheit. Immerhin waren zwei Dinge real: der Boden und er selbst.
Und wenn ich nun im Kreis laufe?
Die Vorstellung war nicht beängstigender als die endlos rote Wüste vor ihm. Der Mann lief weiter und wunderte sich nur wenig darüber, dass er weder Hunger noch Erschöpfung spürte. Manchmal blieb er stehen, ging in die Hocke und berührte mit seinen Fingerspitzen den Boden. Der Sand war festgebacken und fühlte sich warm an. Nein, eigentlich war es das Fehlen jeglicher Temperaturwahrnehmung, das der Mann als Wärme empfand. Deshalb fror er auch nicht, obwohl er nackt war.
Der Mann lief weiter, seine Beine hatten mittlerweile ihren Rhythmus gefunden, so dass es beinahe schien, als liefe er von selbst.
Wie lange bin ich eigentlich schon unterwegs?
Da der Mann sich nicht am Stand der Sonne orientieren konnte, die sich irgendwo hinter den leuchtenden Dunstschleiern verbarg, blieb die Frage unbeantwortet. Offenbar fehlten in dieser Welt nicht nur die Kontraste, sondern auch der gewohnte Wechsel zwischen Tag und Nacht. Wenn es keine Möglichkeit gab, die Zeit zu messen, dann war sie letztendlich bedeutungslos. Der Mann dachte darüber nach und erschrak.
Dennoch lief er weiter. Seine Beine trommelten ihren Rhythmus auf den roten Sand, der irgendwo da vorn in einen ebenso roten Himmel überging.
Der Mann war schon einige Zeit unterwegs, als er in der Ferne einen dunklen Fleck wahrzunehmen glaubte. Er blieb stehen, rieb sich die Augen und schaute wieder nach vorn. Der Fleck war immer noch da.
Mit neuer Hoffnung lief der Mann weiter. Dabei ließ er den dunklen Fleck nicht aus den Augen.
Schließlich war es nicht mehr nur ein Fleck, sondern ein quaderförmiges Gebilde, das aussah, als schwebe es frei in der Luft. Näherkommend erkannte der Mann, dass es sich um eine Art Wagen handelte, einen Wohnwagen vielleicht oder einen fahrbaren Verkaufsstand.
Ungeduldig beschleunigte er seinen Schritt, bis er schließlich Einzelheiten erkennen konnte. Vor ihm, beinahe zum Greifen nah, stand ein bunt gestrichener Verkaufswagen, über dessen Fenster ein schwarzes, mit goldenen Lettern bemaltes Schild prangte: »Emilio Francetti – Seifenblasen«.
Obwohl der Mann noch nie eine Fata Morgana zu Gesicht bekommen hatte, begann er in diesem Augenblick an der Glaubwürdigkeit seiner Wahrnehmungen zu zweifeln. Sein Gemütszustand und der bunte Jahrmarktswagen inmitten der roten Wüste schienen alle Voraussetzungen für ein derartiges Phänomen zu besitzen. Gleich würde das Trugbild verschwinden …
Doch nichts dergleichen geschah.
Ungläubig strich er mit der Hand über die lackierten Bretter, fühlte Nagelköpfe und die zarten Streifen, die der Malerpinsel hinterlassen hatte. Dass seine Hände ebenso unsichtbar blieben wie der Rest seines Körpers, minderte sein Hochgefühl nur unwesentlich.
Die Klappe des Verkaufsfensters war offen, so dass der Mann in den Innenraum sehen konnte. Der Anblick verschlug ihm beinahe den Atem, denn die Wände des Wägelchens waren mit schwarzem Samt ausgeschlagen, und auf den stufenförmigen Auslagen schillerten Hunderte von Glaskugeln in allen Farben des Regenbogens. Zudem hatte er den Eindruck, als befänden sich hinter dem Verkaufsraum noch weitere Räume, deren Wände ebenfalls bis an die Decke mit blitzenden Kugeln vollgestopft waren. Die Anordnung erinnerte ihn an ein Bild, das er irgendwo gesehen hatte, auf dem ein gemalter Spiegel das gleiche Bild mit einem wiederum gemalten Spiegel zeigte, und auf diese Weise eine enorme Tiefe suggerierte. Wahrscheinlich beruhte die Anordnung der Kugeln auf einer ähnlichen optischen Täuschung.
Was den Mann allerdings noch mehr faszinierte, war das Innere der gläsernen Kugeln. Irgendetwas schien sich darin zu bewegen, auch wenn er auf Grund der Entfernung nicht erkennen konnte, was.
Das Knattern eines Motors riss ihn aus seinen Betrachtungen. Der Mann fuhr herum und erblickte ein merkwürdiges Gefährt, das sich in zügiger Fahrt seinem Standort näherte. Die Räder hinterließen keinerlei Spuren, so dass der Eindruck entstand, als schwebe der Wagen irgendwo zwischen Himmel und Erde. Das Trommelfeuer aus dem Auspuff des altertümlichen Rennwagens wurde rasch lauter, und bald konnte der Mann Einzelheiten erkennen: Die Sitze des schwarzen Cabriolets waren mit rotem Leder gepolstert, und am Steuer saß ein elegant gekleideter Mann mit Lederkappe und Rennfahrerbrille, die den größten Teil seines Gesichts verbargen.
Einige Meter vor dem Verkaufswagen verstummte das infernalische Geräusch, und das Gefährt rollte langsam aus. Der Fahrer schob seine Brille nach oben und winkte dem Mann zu.
Wieso kann er mich sehen? fragte sich der Mann, winkte aber dennoch halbherzig zurück.
»Benvenuto, amico mio, willkommen in meiner bescheidenen Hütte!« grüßte der Fremde ebenso lautstark wie überschwänglich und machte Anstalten, den Mann zu umarmen.
Sein braungebranntes Gesicht wirkte freundlich und offen, auch wenn der forschende Ausdruck in seinen Augen nicht recht zu seiner herzlichen Begrüßung passen wollte. Das Alter des Fremden war schwer zu schätzen, seine schlanke Gestalt und das dichte schwarze Haar ließen ihn vermutlich jünger erscheinen, als er in Wirklichkeit war.
»Guten Tag«, erwiderte der Mann höflich. »Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo wir uns hier befinden?«
»Oh ja, das kann ich, lieber Freund«, verkündetet der Fremde großspurig. »Im Augenblick befindest du dich unmittelbar vor Emilio Francettis grandioser Seifenblasenschau und der Chance deines Lebens, ha ha. Ich hoffe, du siehst mir die vertrauliche Anrede nach, aber unsere Zeit ist zu wertvoll, um sie mit Förmlichkeiten zu verschwenden. Du möchtest dir doch sicher ein paar von meinen Ausstellungsstücken ansehen?«
»Gewiss doch«, murmelte der Mann verlegen. »Aber für den Augenblick interessiert mich eher, was das für eine seltsame Landschaft ist und weshalb ich mich an nichts erinnern kann.«
Der Fremde lächelte und erwiderte freundlich: »Ich fürchte, dafür gibt es einen recht unerfreulichen Grund, mein armer Freund: Du bist leider schon ein Weilchen tot, und Tote haben nun einmal gewisse Schwierigkeiten mit ihren Erinnerungen.«
»Unsinn«, erwiderte der Mann, aber sein Widerspruch klang wenig überzeugend. Bis zu diesem Augenblick war es ihm gelungen, seine Ängste zu verdrängen. Er hatte versucht, vor ihnen davonzulaufen, hatte sich keine Pause gegönnt, um nicht über seine Situation nachdenken zu müssen …
Das bedeutete allerdings nicht, dass er die Worte des Fremden ernstnahm. Unter anderen Umständen hätte er ihn einfach ausgelacht und wäre seiner Wege gegangen. Aber was waren seine Wege?
»Du glaubst mir nicht«, stellte Francetti bekümmert fest. »Womöglich nimmst du sogar an, dass ich mir einen Scherz mit dir erlaube. Einen üblen Scherz, wie ich meine, denn mit diesen Dingen spaßt man nicht.« Das Zucken in seinen Mundwinkeln strafte den Ernst seiner Worte allerdings Lügen.
»Dreh dich um, Martin Lundgren!« befahl der Fremde plötzlich mit einer Stimme, die jeden Widerspruch ausschloss. »Dreh dich um, und dann nenne mich einen Lügner!«
Der Mann zuckte zusammen, als er seinen Namen hörte. Wie war es nur möglich, dass er ihn vergessen hatte?
Martin versuchte, Francettis spöttischem Blick standzuhalten und wandte sich schließlich mit einem gewollt gleichmütigen Schulterzucken um.
Sengende Hitze schlug ihm ins Gesicht.
Die Stadt brannte.
Aber das war nur der erste Eindruck, verursacht durch den heißen Wind und die aschefarbene Rauchwolke, die über der Stadt stand.
In Wirklichkeit existierte nichts mehr, das noch hätte brennen können. Die ausgeglühten Ruinen ragten wie überdimensionale Grabsteine in den grauen Himmel. Lava quoll aus breiten, kirschrot glühenden Rissen, die die Straßen wie ein feuriges Muster durchzogen. Bösartig zischend bahnten sich Kaskaden glühender Dämpfe ihren Weg durch die blasenschlagende Masse. Nur der Fluss wälzte sich träge und unbeeindruckt an der toten Stadt vorbei, trug geduldig die Last der Trümmer und der verkohlten Körper, die der Feuersturm vor sich hergetrieben hatte. Dichter Nebel stieg von seiner Oberfläche auf, der die Toten barmherzig vor den Blicken des Betrachters verbarg.
Martin sank auf die Knie und verbarg sein Gesicht in den Händen. Er hatte die Stadt sofort erkannt. Schließlich hatte er einmal dort gelebt …
»Das ist nicht wahr«, flüsterte er verzweifelt.
»Wirklich nicht?« Die Stimme Francettis klang jetzt sanft, beinahe mitfühlend. »Ich weiß, es tut weh, aber du solltest dir über deine Situation klar werden. Es hat keinen Sinn, Dingen nachzutrauern, die nicht mehr zu ändern sind. Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen!«
»Was?« Martin ließ die Hände sinken und wandte sich vorsichtig um. Die Stadt war verschwunden. Die rote Wüste hatte die schrecklichen Bilder ausgelöscht.
»Nun mach schon, komm!« Der Fremde streckte Martin die Hand entgegen und half ihm auf. »Bevor wir uns meine kleine Sammlung ansehen, sollten wir uns etwas stärken, du siehst etwas blass aus, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.«
Trotz des gerade überstandenen Schreckens musste Martin lächeln. Vorsichtig stieg er die kleine Holztreppe hinauf und trat durch die winzige Tür, die der Besitzer mit übertriebener Höflichkeit für ihn aufhielt. Erstaunt registrierte er, dass der Innenraum wesentlich geräumiger war, als er angesichts der Größe des Wägelchens angenommen hatte. Die Luft war stickig und roch nach heißem Metall und Kräutern. Auf einem kleinen Holztisch stand ein Petroleumkocher mit einer dampfenden Teekanne.
Zwei grob gezimmerte Hocker, Teegläser und eine Keramikschale mit braunem Kandiszucker vervollständigten die spartanische Ausstattung des Wagens, der in der Hauptsache der Präsentation der regenbogenfarbenen Glaskugeln zu dienen schien.
»Nimm Platz, amico mio«, forderte der Fremde Martin freundlich auf und rieb sich die Hände wie jemand, der aus großer Kälte an den heimischen Herd zurückgekehrt war. »Trink einen Schluck Tee mit mir, und dann unterhalten wir uns übers Geschäft.«
»Was bedeuten all diese Kugeln hier?« fragte Martin neugierig. »Seifenblasen sind das bestimmt nicht.«
»Das kommt auf den Standpunkt an, mein Freund«, entgegnete Francetti lächelnd, während er Tee einschenkte und Zucker dazugab. »Leute wie du halten Seifenblasen für etwas Vergängliches, weil sie nach ein paar Sekunden zerplatzen, während sie selbst im Durchschnitt achtzig Jahre alt werden. Ein Lebewesen, eine Mikrobe vielleicht, das nur ein paar Sekunden lang lebt, würde die Seifenblase als einen festen Bestandteil seiner Umwelt ansehen. Genauso ergeht es dir jetzt. Die Seifenblasen hier sind Teil eines anderen Universums und deshalb stabiler und langlebiger, als du dir vorstellen kannst.«
»Und wie lange dauert es, bis sie zerplatzen?« erkundigte sich Martin beklommen.
»Ein paar Sekunden oder hundert Jahre. Trinken wir auf die Vergänglichkeit«, erwiderte der Fremde ernst, »und auf das Leben.«
Zögernd griff Martin nach dem Glas mit der goldbraunen, heißen Flüssigkeit und führte es vorsichtig zum Mund. Der Kräuterduft wurde stärker und mischte sich mit einem fremdartigen, leicht harzig erscheinenden Geruch, der ihn zunächst davon abhielt zu trinken.
»Trink, mein Junge«, lächelte sein Gastgeber und nahm selbst einen kräftigen Schluck. »Es ist sozusagen ein Geschenk des Hauses.«
Einen Augenblick lang glaubte Martin, ein merkwürdiges Glitzern in Francettis Augen wahrzunehmen, aber das konnte auch ein Lichtreflex gewesen sein.
Vorsichtig kostete er von der dampfenden Flüssigkeit, deren herb-würziges Aroma ihn an exotische Früchte denken ließ. Kaum hatte Martin sein Glas abgesetzt, verspürte er das Verlangen nach mehr, so dass er kaum der Versuchung widerstehen konnte, den Rest des Getränks auf einen Zug auszutrinken. Dankbar genoss er die Wärme, die sich vom Magen her in seinem Körper ausbreitete.
Aber war das wirklich nur Wärme?
Das zufriedene Lächeln seines Gastgebers beunruhigte Martin mehr als das angenehme Schwindelgefühl, das seinen Körper leichter, beinahe schwerelos erscheinen ließ. Vielleicht war das Getränk doch mit Alkohol versetzt gewesen, auch wenn er nichts davon geschmeckt hatte.
Irgendetwas hatte sich verändert, veränderte sich noch immer. Die regenbogenfarbenen Kugeln wurden durchsichtig und verschwanden, selbst die Holzwände um ihn herum verloren ihre Konturen, wurden transparent und gaben schließlich den Blick auf eine völlig veränderte Landschaft frei.
Eine Flut von Farben, Tönen und Gerüchen stürzte auf Martins Sinne ein und löschte innerhalb von Sekunden jeden Gedanken an die rote Wüstenlandschaft und den geheimnisvollen Fremden aus.
Martin saß vor einem kleinen Café, knapp fünfzig Meter oberhalb des Strandes, und genoss den Blick auf das Meer. Kinder warfen sich kreischend in die Gischt der träge heranrollenden Wellen und ließen sich in Richtung Ufer tragen. Eine Dreimastbark glitt mit geblähten Segeln vorbei, gefolgt von einem Schwarm lärmender Möwen. Es roch nach Tang und den blühenden Sträuchern, die rings um das kleine Anwesen der Sonne entgegenwucherten.
Das Bier war wunderbar kühl. Es machte Spaß, mit dem Finger über die beschlagene Oberfläche des Glases zu fahren. Im Vorgarten legte der Koch die ersten Fleischspieße auf den Holzkohlengrill.
Am Nachbartisch saß eine junge Frau vor ihrem Capuccino und las. Das straff nach hinten gekämmte und zu einem Knoten gebundene Haar verlieh ihrem gebräunten Gesicht eine strenge Note, die in reizvollem Gegensatz zu den weichen Schwüngen ihrer dunkel geschminkten Lippen stand. Sie ähnelte jemandem, den Martin kannte, gekannt hatte, aber das war natürlich Unsinn. Beinahe unwillkürlich glitt sein Blick dorthin, wo sich ihre übereinandergeschlagenen Oberschenkel trafen. Der schmale Stoffstreifen ihres Bikiniunterteils war ein wenig verrutscht …
Als die Dunkelhaarige aufsah und ihn durch die verspiegelten Gläser ihrer Sonnenbrille geschützt sekundenlang musterte, schoss ihm die Röte ins Gesicht. Die junge Frau lächelte, nippte an ihrem Glas und wandte sich wieder ihrer Lektüre zu.
Ob sie allein hier war?
»Du bist zwanzig Jahre alt, Martin Lundgren«, flüsterte eine spöttische Stimme in seinem Kopf. »Ist es nicht großartig, so jung zu sein? Und am Leben … ha ha?«
Erschrocken fuhr Martin zusammen.
Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, verblassten der azurfarbene Himmel, die Blüten und das Grün der Weinstöcke. Die Dunkelhaarige ließ ihr Buch sinken und sah erneut zu ihm herüber. Plötzlich gerieten ihre Gesichtszüge in Bewegung, verzogen sich zu einer androgynen Grimasse und verwandelten sich schließlich in die Francettis, der Martins Verwirrung sichtlich genoss.
Schwarz glänzte der Samt an den Wänden, die sich erneut mit schillernden Kugeln füllten, während die rote Wüste draußen Strand und Meer verschlang.
»Kennst du das Märchen vom Fischer und seiner Frau?« lachte Emilio Francetti, und Martin hasste ihn dafür.
Das Lächeln glitt von den Mundwinkeln des Fremden, und seine dunklen Augen musterten Martin ernst und nachdenklich. »Wir sollten zum Geschäft kommen, mein Freund. Nicht, dass mich die Unterhaltung mit dir langweilen würde, aber die Zeit drängt. Mein Angebot kennst du ja nun.«
»Welches Angebot?«
»Ein neue Chance«, versetzte Francetti mit einer Spur von Ungeduld in der Stimme. »Keine ewige Jugend, keine Garantie für Gesundheit und Glück, einfach ein neues Leben in einer Umgebung, die dir etwas vertrauter ist als diese hier.« Unwillkürlich folgte Martins Blick der Geste des Fremden hinaus in die Wüste.
»Warum sollte ich Ihnen glauben?« erkundigte er sich heiser. »Und was wollen Sie dafür haben – meine Seele?«
Der Fremde lachte. Und das Schlimme daran war, dass Francettis Lachen keineswegs boshaft oder höhnisch klang, sondern einfach nur amüsiert.
»O amico mio, deine … Seele«, brachte der Italiener mühsam zwischen zwei Lachsalven hervor. »das ist wirklich … köstlich.«
»Was verlangen Sie sonst?« Martin mochte es nicht, wenn er ausgelacht wurde. Nicht einmal hier, am Ende der Welt.
Am Ende der Welt?
Martin spürte, wie sein Mund trocken wurde, als der Fremde unvermittelt aufstand und nach ein paar Schritten in einer Öffnung zwischen den samtschwarzen Wänden verschwand. Er beeilte sich, ihm zu folgen und stand plötzlich in einem endlos erscheinenden Gang, dessen Wände allesamt bis an die Decke mit schillernden Kugeln gefüllt waren. Was er von draußen für eine geschickte optische Täuschung gehalten hatte, war in Wirklichkeit der Aufbewahrungsort von Tausenden und Abertausenden jener merkwürdigen Objekte, die Francetti als »Seifenblasen« bezeichnete.
»Du möchtest dir also ein neues Leben verdienen?« erkundigte sich der Fremde lächelnd, der nur ein paar Meter entfernt auf ihn gewartet hatte. »Das ist leider nicht ganz einfach, weil gewisse Umstände dagegensprechen.«
»Welche Umstände?«
»Umstände, die mit der Natur dieser kleinen Wunderwerke zu tun haben«, erwiderte Francetti und reichte Martin eine der schillernden Kugeln. »Greif ruhig zu, sie sind stabiler, als du annimmst.«
Vorsichtig nahm Martin die zerbrechlich scheinende »Seifenblase« entgegen und hätte sie dennoch um ein Haar fallen gelassen.
Die Kugel war körperwarm und elastisch wie ein zu weich aufgepumpter Gummiball. Martin konnte spüren, wie sich die schillernde Hülle unter dem Druck seiner Hände verformte. Obwohl die über die Oberfläche tanzenden Farbschlieren das Innere der Kugel weitgehend verbargen, erkannte er, dass sich etwas darin bewegte. Neugierig beugte er sich über einen transparent erscheinenden Fleck und erkannte zu seiner Überraschung ein winziges, kaum spannengroßes Wesen, das mit verbissenem Gesicht und splitterfasernackt auf der Stelle lief. Die offenkundige Vergeblichkeit seiner Bemühungen schien es nicht zu bemerken, oder es störte sich nicht daran.
»Was ist das?« murmelte Martin verblüfft. »Ein Hologramm?«
»Nicht doch, mein Freund, das ist Steven G. Rodman, 45 Jahre alt, Wertpapierhändler auf seiner morgendlichen Trainingsrunde«, erklärte der Fremde nachsichtig lächelnd. »Die Kriminalität ist in diesem New Yorker Stadtteil erfreulich gering, so dass die Tour durch den Park kein ernsthaftes Risiko darstellt.«
»New York?« erkundigte sich Martin ungläubig. »Ich sehe nur einen nackten Zwerg, den jemand in eine Plastikkugel gesperrt hat.«
»Das liegt daran, dass es kein New York gibt, keinen Stadtpark und nicht einmal den teuren Laufanzug, den unser Freund üblicherweise bei seinen Trainingseinheiten trägt.«
»Dieser Kerl rennt nackt in einer Kugel herum und merkt es nicht einmal?«
»So ist es«, bestätigte Francetti zufrieden. »Aber du solltest ihn erst einmal erleben, wenn er sich daranmacht, seine imaginäre Gattin mit seinem ebenso imaginären Hausmädchen zu betrügen. Ein Bild für die Götter, kann ich dir sagen. Leider findet diese Übung erst in etwa zwei Stunden Rodmanscher Zeit statt.«
»Rodmanscher Zeit?«
»Ja, natürlich. Wenn weder die Stadt noch Rodmans Villa samt Hausmädchen existieren, weshalb sollte dann die von ihm wahrgenommene Zeit real sein? All diese Dinge existieren ausschließlich im Bewusstsein unseres Freundes. Was ihm nichts auszumachen scheint, oder?« Der amüsierte Unterton in der Stimme des Fremden ließ allerdings den Schluss zu, dass ihm die Befindlichkeiten des eingesperrten Zwerges herzlich gleichgültig waren.
Martin hatte das seltsame Ausstellungsstück mittlerweile wieder an seinen Platz gestellt und machte sich mit leicht abwesendem Gesichtsausdruck daran, das Innere der benachbarten Kugeln zu erkunden. Die Erklärung Francettis hatte er zwar zur Kenntnis genommen, weigerte sich aber instinktiv, ihr Glauben zu schenken.
Fasziniert beobachtete er das seltsame Gebaren der zwergenhaften Wesen im Inneren der regenbogenfarbenen Kugeln und fragte sich, mit welchen Tricks Francetti die Illusion ihrer Lebendigkeit erzeugt hatte. Er sah nackte Kinder, die mit selbstvergessener Miene unsichtbare Bälle in unsichtbare Basketballkörbe schleuderten, Männer, die mit starrem Blick auf unsichtbare Computertastaturen einhieben und Frauen, die unsichtbaren Babys die Brust gaben, bevor sie sie in ebenso unsichtbaren Windeln verstauten. Er sah andere Frauen, jüngere und ältere, die sich imaginären Liebhabern hingaben, und Männer, die sich betranken und danach mit unsichtbaren Rivalen prügelten, bis sie aus Mund und Nase bluteten.
Die ganze Zeit über spürte Martin den forschenden Blick Francettis auf seinem Gesicht ruhen, so dass er sich schließlich umwandte und ihn zur Rede stellte: »Dann bilden sich diese Leute das Blut und ihre Schmerzen wohl auch nur ein?! Und was soll dieses alberne Puppentheater überhaupt?«
»Ich hatte gehofft, dass du ein wenig schneller begreifst, Martin Lundgren«, erwiderte der Fremde nachsichtig. »In Wahrheit befindet sich in all diesen Seifenblasen nichts, das du wahrnehmen könntest. Was ich deutlich machen wollte, war, dass sich in jeder dieser Kugeln ein menschliches Bewusstsein befindet, das mit ihr entsteht und vergeht. Hättest du mir das ohne diesen kleinen Kunstgriff geglaubt?«
»Ich glaube Ihnen auch so kein Wort«, versetzte Martin störrisch und schrak zusammen, als unmittelbar vor ihm eine große schillernde Kugel mit einem dumpfen Geräusch zerbarst, ohne die geringste Spur zurückzulassen.
»Rafael Molinos, 23 Jahre alt, CET-Dealer und auch sonst ein ziemlich unangenehmer Bursche«, erklärte Francetti gelassen. »Dieses Mal hat er sich allerdings mit den falschen Leuten angelegt. – Aber wir kommen vom Thema ab. Eigentlich wollte ich dir nur klarmachen, was es mit den ›Seifenblasen‹ auf sich hat. Der Außenstehende mag vielleicht den Eindruck haben, dass es auf eine mehr oder weniger nicht ankommt, aber ich versichere dir, dass dem leider nicht so ist. Tatsache ist, dass ein neues Leben nur im Tausch gegen ein anderes, vor der Zeit beendetes, zu haben ist. Verstehst du, was ich meine?«
»Ich muss also jemanden umbringen«, murmelte Martin heiser, »wenn ich zurückwill.«
»Das ist eine ebenso emotionale wie unzutreffende Sicht der Dinge«, korrigierte ihn der Fremde nachsichtig und zog ein schmales Stilett aus seinem Gürtel. Lichtreflexe tanzten wie glühende Funken über die geschliffene Klinge. »Du ersetzt den Traum eines Fremden durch deinen eigenen, daran ist nichts Verwerfliches. Und ich versichere dir, dass dein Traum ein Leben lang währen wird. Na, was ist?«
Martin schüttelte den Kopf, doch seine Rechte griff – wenn auch widerstrebend – nach dem Dolch, den ihm der Fremde hinhielt. Der Griff des Messers fühlte sich angenehm kühl an, und er genoss die Empfindung ebenso wie die Illusion der Macht, die ihm der Besitz der Waffe verlieh.
Francetti lächelte. Es war das überzeugende Lächeln eines Mannes, der sich seiner Sache sicher ist, und gerade das machte Martin misstrauisch.
»Und was wird aus mir?« erkundigte er sich schließlich. »Ein nackter Zwerg wie dieser Rodman?«
»Du bist ein Narr, Martin«, versetzte der Fremde, »nicht unsympathisch, aber ein wenig schwer von Begriff. Da die äußere Wahrnehmung und die individuell verstreichende Zeit dieser – Wesen eine Illusion ist, besitzen sie auch keinen Körper, obwohl sie natürlich das Gegenteil beschwören würden. Sie sind Teil ihres eigenen Traumes, sonst hätte unser Freund Molinos doch nicht spurlos verschwinden können, oder?«
Das klang plausibel, doch noch war Martin nicht überzeugt.
»Und wer garantiert mir, dass mein Traum Bestand hat? Schließlich kann ich mich ja nicht mehr wehren, wenn ich einmal dort bin …« Martin deutete auf eine Lücke zwischen den schimmernden Kugeln.
»Niemand«, erwiderte Francetti ernst. »Leben bedeutet Risiko, selbst wenn es nur ein Traum ist. Seine Einzigartigkeit besteht ja gerade in der Gewissheit, dass es irgendwann zu Ende sein wird.«
Der Fremde hatte recht, aber das machte Martins Entscheidung nicht leichter. Er musste ein menschliches Bewusstsein auslöschen, um selbst wieder leben zu können. Dass kein Blut fließen würde, war dabei ohne Belang.
Unschlüssig ließ Martin seinen Blick über die samtschwarzen Regalwände schweifen. Manchmal beugte er sich über eine der schimmernden Kugeln betrachtete ihren Inhalt mit einer Mischung aus Mitgefühl und Abneigung.
