Immanuel Kant – Was bleibt? - Reinhard Brandt - E-Book

Immanuel Kant – Was bleibt? E-Book

Reinhard Brandt

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Beschreibung

Das Frage-Buch von Reinhard Brandt beginnt mit einer fulminanten Entdeckung: Die Raum-Zeit-Lehre der Kritik der reinen Vernunft enthält als Subtext einen Gottesbeweis. Welche Rolle spielt die Theologie in der Grundlage der kritischen Philosophie? Rettet sie die Anwendung der euklidischen Geometrie auf den Raum der reinen Anschauung? - Der zweistufige kategorische Imperativ ist konzipiert auf der Folie der Stufung von »status naturalis« der Maximen und »status civilis« der autonomen Gesetzgebung, er zielt auf keine Verallgemeinerung oder Universalisierung der Maxime (wozu auch?), sondern auf die Freiheit unter der eigenen Gesetzgebung. Ist jedoch die Gleichsetzung von sittlicher Freiheit und Gesetzgebung haltbar, oder gibt es in Extremsituationen eine Erlaubnis und gar eine Pflicht zu lügen? - Ist Kants Definition eines empirischen Naturprodukts in der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« möglich, gemäß der alles in ihm Mittel und Zweck ist? - Kann der Vertrag in der »Rechtslehre« als Besitz der Willkür eines anderen gefasst werden oder scheitert Kants Innovation an inneren Widersprüchen? Ist das Kantische Ehe- und Strafrecht zu retten? Unhinterschreitbar sind die Prinzipien der Aufklärung und der Würde des Menschen. Wie sind sie genau begründet? In seinem neuen Buch geht es Reinhard Brandt nicht um die Bewahrung des Kantischen Erbes, sondern um das, was – mit Kant und im Anschluss an ihn – auch heute noch zu denken bleibt! Der Fragen-Traktat folgt also einer Tradition, die mit der Publikation der »Kritiken« beginnt und in die Zukunft weiter gereicht wird. Im Gegensatz zu poetischen Werken wird in philosophischen Abhandlungen etwas Theoretisches behauptet und begründet, und mit der Begründung wird der Leser aufgefordert, der Argumentation kritisch zu folgen und sie zu akzeptieren oder sie mit Gründen abzulehnen. Eben dies wird in diesem Traktat bei einigen ausgewählten Lehrstücken Kants versucht und damit nichts anderes getan, als die Rolle zu spielen, die der Autor seinem philosophisch interessierten Leser zuweist.

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Reinhard Brandt

Immanuel Kant – Was bleibt?

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. eISBN (PDF) 978-3-7873-2120-9eISBN (ePub) 978-3-7873-3027-0

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2010. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Umschlaggestaltung: Jens-Sören Mann. Konvertierung: Bookwire GmbH.

Inhalt

Vorspann

I. Probleme der »Transzendentalen Ästhetik«

1. Die »Transzendentale Ästhetik« und die Gottesbeweise

2. Die Entstehung der Raum-Zeit-Problematik

3. Geometrie in der »Transzendentalen Analytik«

4. Schwierigkeiten, die bleiben?

Anhang I: Vorstellungsfähige, nichtmenschliche Lebewesen

Anhang II: Zeit und Zahl

5. Was bleibt?

II. Kant versucht, das Böse zu retten – vergeblich?

1. »Die Wirklichkeit des Moralisch-Bösen in der Welt«

2. Die Möglichkeit des freien bösen Handelns

3. Willkür und Wille

4. Die intelligible Tat

5. Das Böse und das Hässliche

6. Was bleibt?

III. Der kategorische Imperativ – gültig überall und immer?

1. Der kategorische Imperativ – kein Prinzip der Universalisierung von Maximen

2. Maximen

3. Allgemeines Gesetz

4. Maxime und Gesetz

5. Eine chimärische Ethik

6. Grenzprobleme

7. Ethisch-rechtliche Aporien

IV. Aporien der Rechtslehre

1. Die Einheit von Rechts- und Tugendlehre

2. Haben und Erwerben

3. Das auf dingliche Art persönliche Recht

4. Was »im Grunde unrecht« ist

5. Recht und Gerechtigkeit

6. Das Strafrecht

7. Was bleibt?

V. Zwecke der Natur

1. Die Argumentationslinie

2. Der Naturzweck

3. Erstes Problem: Die Form des Naturzwecks

4. Zweites Problem: Alles ist Mittel und Zweck

5. Drittes Problem: Die Finalität der Natur in der Geschichte der Menschheit

6. Vorsehung und Theodizee

7. Drei Stufen der Sittlichkeit

8. Was bleibt?

VI. Kritik und Aufklärung

1. Zum Begriff der Aufklärung

2. Die Emanzipation des theoretischen Verstandes.

3. Praktische Aufklärung I

4. Praktische Aufklärung II

5. Was bleibt? Wohl nicht die »Dialektik der Aufklärung«

6. Was bleibt?

a. Selbst denken und die kritische Distanz zu Sprache und Bildern

b. Erkenntnis gegen Praxiswahn und Hedonismus

c. Die Gefährdung der Rechtsidee durch die Demokratie

d. Die mediale Lenkung der Öffentlichkeit

e. Kritik der politischen Ökonomie

VII. Die Würde des Menschen

1. Vorüberlegungen

2. Der Mensch als Zweck an sich

3. »Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive)«

4. Epilog und Anfang: Kant als Rebell gegen die Gesellschaft sordnung

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Vorspann

Unsere geschichtsbedachte Kultur sorgt dafür, dass jedes Werk von Kant und jedes Wort, das wir noch auffinden können, erhalten bleibt – von Kant bleibt alles, was da ist. Seine Schriften, seine Probleme und Lösungen sind darüber hinaus einer der meist frequentierten Treffpunkte aus allen Richtungen auf den unterschiedlichsten Gebieten der Wissenschaften; hier bleibt alles in einer permanenten Neubelebung unter wechselnden Gesichtspunkten. Dasselbe gilt für den philosophischen Unterricht, in dem Mustertexte benötigt werden; Kant gehört weltweit zu den Favoriten der Erziehung an Schulen und Universitäten.

Die Titelfrage »Was bleibt?« zielt auf etwas anderes. Es gibt Lehrstücke der Kantischen Philosophie, die problematisch sind, und es gibt andere, die sich leicht verteidigen lassen. Unser Frage-Buch beginnt mit Problemen der Raum-Zeit-Theorie, die seit Beginn angegriffen und selten verteidigt wurde. Es wird zunächst gezeigt, dass die Argumentation der »Transzendentalen Ästhetik« nach dem Muster von Gottesbeweisen konzipiert ist. Mit dieser Erkenntnis wird die Auseinandersetzung um die Raum-Zeit-Lehre erneuert und die Frage verfolgt, ob Kants Argumentation haltbar ist oder nicht. In der Spannung von eigenständiger Anschauung und getrennt eingeführtem Denken liegt ein Problem, das bis zur modernen Physik die Theoretiker intensiver anzieht als die empiristischen und einheitlich-idealistischen Lösungen.

Können wir aus einer gesetzlich bestimmten Freiheit gesetzwidrig und damit böse handeln? Kant lehrt, dass wir selbst in einer »intelligiblen Tat« der Ursprung des Bösen sind; aber wie ist diese Tat als unsere eigene zu verstehen?

Der kategorische Imperativ wird von den Gegnern als leer bezeichnet, von Anhängern aber fälschlich als Universalisierungsprinzip der Maximen ausgegeben. Unsere These ist, dass Kant sich mit dem Maximen- und Gesetzesbegriff auf eine Zweistufigkeit von Regeln bezieht, deren Herkunft und Systematik bisher nicht durchschaut wurde. Aber läßt sich der Gesetzesanspruch durchgängig halten? Kant vergleicht den kategorischen Imperativ mit einem Kompaß. Der Kompaß verliert jedoch seine Orientierungsfunktion am Nord- und Südpol. Setzt die Orientierung des kategorischen Imperativs in gleicher Weise in bestimmten Extremsituationen aus? Wird nicht vielmehr, wer sich in ihnen gesetzeskonform verhält, von der sittlichen Gemeinschaft und idealiter auch dem eigenen Gewissen verachtet?

Die »Rechtslehre« ist höchst tiefsinnig und zugleich problematisch. Kant will das gesamte Privatrecht als Besitzrecht fassen, auch das persönliche oder Vertragsrecht. Dazu interpretiert er den Vertrag als den Besitz der Willkür des anderen. Ist das möglich, oder ist es eine Sackgasse? Es gibt in der »Rechtslehre« noch andere Elemente wie z. B. das Ehe- oder Strafrecht, die problematisch sind und bestritten werden können.

In der Ästhetik der KdU ist zu vermerken, dass das Schönheitsurteil nur im positiven Fall gilt; die Negation kann, entgegen Kants eigener Überzeugung, keine Notwendigkeit der Beistimmung beanspruchen. Läßt sich in der Teleologie die These, in einem Naturprodukt (Organismus) sei alles wechselseitig Mittel und Zweck, angesichts der empirischen Objekte aufrechterhalten? Die Blätter der Pflanze sind im Herbst kein Zweck mehr, sondern werden abgestoßen. Wie verhalten sich die Finalität der Natur und der (Natur-)Geschichte der Menschheit zueinander? Kant versucht, die Zwecklehre der theoretischen reflektierenden Urteilskraft in die der praktischen reflektierenden Urteilskraft zu überführen und so Natur und Moral bzw. Freiheit zu verbinden. Aber die erstere bleibt immer subjektiv, während das Wissen der Moral absolut sein soll. Kommt am Ende die Einheit nur zustande durch den einen Schöpfergott, der schon bei Descartes »res extensa« und »res cogitans« verbinden musste?

»Kritik und Aufklärung« sind Stichworte, auf die kein Selbstverständnis des Menschen mehr verzichten kann. Die Kantische Aufklärungsforderung von 1784 ist nicht theoretischer Natur (wie in der parallelen Schrift von Moses Mendelssohn), sondern dezidiert praktisch; sie wendet sich gegen Th ron und Altar und plädiert für die Autonomie der Bürger und Menschen in Recht und Ethik. Wie ist dieses Aufklärungsgebot in die heutige Zeit zu übersetzen?

»Die Würde des Menschen ist unantastbar« – hier ist der Kantischen Grundlegung vorbehaltlos zuzustimmen. Die Emphase der menschlichen Würde geht bis in die sechziger Jahre zurück – damit befasst sich der Epilog, der damit den Anfang der Kantischen Freiheitsphilosophie beleuchtet.

Die öffentliche Debatte um das Haltbare und das Unhaltbare in der kritischen Philosophie begann kurz nach der Publikation der KrV 1781 und wird bis heute fortgeführt. Kant selbst wollte die Philosophie genau diesem Streit entziehen und führte dazu zwei Argumente an. Einmal war es die Idee, die Metaphysik endlich als Wissenschaft neben anderen Wissenschaften außer Zweifel gesetzt zu haben, so dass es zwar noch kleine Ergänzungen und verbale Klarstellungen geben könnte, der Grundbestand jedoch ebenso gesichert war wie die Aristotelische Logik, die Geometrie Euklids und Newtons Physik. Zum anderen sollte die KrV einen Gerichtshof darstellen, der die anarchischen Zustände der Vorkritik in eine staatliche Ordnung brachte und jeden Streit sicher entscheidbar machte. Die Opposition bestritt beides und kehrte zu den beiden Lehren zurück, die Kant für widerlegt hielt, den Rationalismus der deutschen Schulmetaphysik und den zur Skepsis führenden Empirismus von Locke und Hume. Dazu folgende Erinnerung:

Die Konzeption der Philosophie als neuartiger Wissenschaft ist gebunden an die Lehre vom synthetischen Urteil a priori, die sich sowohl gegen den Empirismus wie auch den Rationalismus wandte und in einer Aufhebungsfigur beide in sich zu vereinigen suchte. Der Empirismus von Autoren wie Locke und Hume sichte nur das Material, so lautet die Kritik, und ordne es historisch; bei diesem »quid facti« fehle jedoch jede begriffliche Begründung, die die Philosophie als Wissenschaft auszeichne. Die gesuchte wissenschaft liche Notwendigkeit sei andererseits keine nur analytische, nur begriffliche, wie sie von den Rationalisten der Schulphilosophie, etwa Christian Wolff, vertreten werde, sondern solle einen außerbegrifflichen Inhalt erfassen. »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen) als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen).« (A 51) Rationalisten gäben ihren Gedanken keinen wirklichen Inhalt, die Empiristen verharrten in der blinden Anschauung; es sei die paradoxe Aufgabe des synthetischen Urteils a priori, beides, den faktischen Inhalt und die begriffliche Notwendigkeit, in sich zu enthalten; kritische Philosophie sei die Begründung und Begrenzung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori. Dies ist die Grundidee der Kantischen Kritik der Vernunft in ihren drei Formen der Kritik der reinen Vernunft (1781, 1787), Kritik der praktischen Vernunft (1788) und der Kritik der Urteilskraft (1790).

Sofort kam es zu dem alten Kampf auf dem Streitfeld, das Kant befrieden und in den Zivilzustand überführen wollte.1 Zu den frühesten Anhängern gehörte Christian Gottfried Schütz (1747–1832), der Jena für Kant einnahm und das Wirken Schillers und Fichtes vorbereitete; er sprach als erster von der erkenntnisfördernden Revolution, die Kant vollbracht habe,2 während die Gegner Kant als Diktator einschätzten; beides hellsichtig, denn Kant revolutionierte die Metaphysik, indem er eine Verfassung der Vernunft erließ, nach der und deren Gerichtshof sich künft ig alle zu richten hatten.3 Sodann der Arzt und Schrift steller Johann Benjamin Erhard (1766–1827), der Marburger Protokantianer Johannes Bering (1748–1825), Karl Leonhard Reinhold (1758–1823), der die Verbindung nach Weimar herstellte. Ein Kantianer erster Stunde war der Hofprediger und Mathematiker Johann Schultz in Königsberg (1739–1805), den Kant in Kenntnis seiner Anhänglichkeit an ihn als besten Kopf der Gegend bezeichnete (X 133,25–26). Kants verständnisvoll-kluge Politik bei den frühen Schülern in Briefen und öffentlichen Hinweisen führte zur Propagierung und Stärkung des Kantianismus auf Lehrstühlen, in Büchern und ZeitSchriften und in der Berliner Aufklärung, in der Kant durch seinen Schüler Marcus Herz (1747–1803) nach 1770 wirkungsvoll präsent war. Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wurden Kantische Überlegungen vielfach in die Literatur und Wissenschaften integriert; der wichtigste Kantianer der Literatur war Friedrich Schiller.

Der Angriff gegen die kritische Philosophie kam aus beiden Lagern.4 Auf der empiristischen Seite behauptete Aenesidemus Schulze (1761–1833), Kant habe David Hume nicht widerlegt,5 auf der rationalistischen Seite stand u. a. Johann August Eberhard (1738–1809) mit der hartnäckigen These, das Wahre an der Kantischen Philosophie sei schon bei Leibniz und Wolff zu finden. Ausder gleichen Richtung opponierten Johann Georg Heinrich Feder (1740–1821) oder Christian Garve (1742–1798), für Kant allesamt Verfassungsfeinde, die sich weiterhin im Naturzustand der Vernunft aufh alten wollten. Sie wandten sich gegen einzelne Lehrstücke der bis dahin vorliegenden Schriften. Sodann befeindeten ihn Originalgenies wie Johann Georg Hamann (1730–1788) und Johann Gottfried Herder (1744–1803). In der Polemik mit Gegnern war Kant unbarmherzig. Feder musste Göttingen verlassen, nachdem Kant ihn in den Prolegomena zum Schuljungen degradiert hatte, die barocken Äußerungen von Hamann wollte er übergehen, Herders Ideen jedoch rezensierte er vernichtend und testierte seinem früheren Schüler poetisches Vermögen, aber Unkenntnis in elementaren Operationen der Erkenntnis (VIII 43–66). »Unvernunft und absichtliche Täuschung ist Aushängeschild Herders«, lautet eine Notiz im Opus postumum (XXI 225,10).

In der Philosophie zeichnete sich in den neunziger Jahren die vermittelnde Tendenz ab, die kritische Philosophie en bloc zwar als Epochenzäsur zu akzeptieren, aber zugleich über sie hinauszugehen. Bekannt ist Fichtes Diktum, Kant sei ein »DreiViertelsKopf«6, er habe sich selbst nicht verstanden, ich, Fichte, vollende das kritische Geschäft durch das Ich. Die Romantiker Novalis und Friedrich Schlegel nehmen einen kantischen Ausgangspunkt ein, um sich dann über ihn zu erheben. Hegel sieht in Kant und Fichte einseitige Verstandesphilosophen, deren Gedanken allererst in eine Vernunft philosophie zu überführen seien;7 Fichtes Herabsetzung Kants zum Dreiviertel eines Philosophen und die vertikale Halbierung von Fichte und Kant als einseitiger Philosophen verkündet die Absicht, das fehlende Viertel oder die fehlende Hälft e nun selbst hinzuzufügen und so den toten Torso zum Leben zu bringen. Beim schweren Schritt in die Wirklichkeit, den der späte Schelling, Bakunin und Marx und Engels wagen, wird alle Philosophie von Kant bis Hegel zur weltfremden Reflexion erklärt, die die Wirklichkeit nicht erreicht, sondern wegphilosophiert. Kierkegaard klagt, er selbst komme in dieser Philosophie gar nicht vor. Hermann Cohen, der bedeutendste Neukantianer (1842–1918), reißt Kants Philosophie bis auf die Grundmauern nieder, um auf ihnen ein neues Gebäude zu errichten. 1924 stellte Julius Ebbinghaus dagegen programmatisch fest, dass die ganze Bewegung der »über Kant Hinausgehenden [von Fichte bis zum Neukantianismus, sc. von Kant bis zu ihm selbst, RB] fortwährend mit einer großen Unbekannten rechnete, und daß diese Unbekannte niemand anders als Kant selbst sei.«8 Dies ist die immer wahre Losung eines bis in die Gegenwart reichenden Kantianismus, der die Kantforschung inspiriert, aber Gefahr läuft , die Kritik an der »Kritik« für apriori unkritisch zu halten. Die Klärung der historischen und systematischen Sachverhalte, die zu immer neuen Detailforschungen und Querverbindungen führt, hat dann die Wirkung eines Kokons, der die Lehre Kants umgibt und sie mit weiteren Aufsätzen und Büchern immunisiert. Diese Kantforschung geht auf geheimnisvolle Weise vom »is« zum »ought« über und hält die richtige Interpretation für die Interpretation des Richtigen.

In der Forschung selbst gibt es zwei Tendenzen. Die eine neigt dazu, die kritischen Schriften für ein in sich kohärentes System zu interpretieren, die andere setzt eher auf ein »work in progress«, das im tantalischen Schmerz des Opus postumum endet. Die erste Position sieht im Aufweis von Inkongruenzen in der Lehre den Mangel des Interpreten, der nicht bis zum eigentlichen Gedanken Kants vorgestoßen ist. Die zweite Position sieht im Fortgebäude der Kantischen Schriften eine Auseinandersetzung mit Fremdkritik, aber auch mit den eigenen publizierten Überlegungen, die kritisch revidiert, ergänzt, verkürzt, modernisiert, jedenfalls geändert werden. Unsere These: Kant läßt sich vom Anfang bis zum Ende nur entwicklungsgeschichtlich interpretieren (anders als vielleicht Platon). Beide Seiten können sich auf den Autor berufen. Einerseits garantiert nach dem Autor selbst das richtige Systemganze die Korrektheit aller Einzelstücke (A 832 ff.; B XLIV u. ö.); andererseits gibt es so offenkundige Revisionen in der Sache, dass auch eine tausendjährige Interpretationsbemühung nicht zu einer Übereinstimmung der Lehrmeinungen gelangen kann. Glücklicherweise ist Kant selbst der erste kritische Interpret, der seine Schriften mit der Frage begleitet: »Was bleibt?« Alles vor 1770 Publizierte wurde von ihm aus einer geplanten Sammlung von Schriften ausgeschlossen (XII 208,1–4). Ein Fehlurteil, so die einhellige Meinung der verschiedenen Richtungen, man denke nur an die noch heute bewunderte Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755).

Im Folgenden soll die Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie fortgesetzt werden; unser Fragen-Traktat reiht sich also in eine Tradition ein, die mit der Publikation der »Kritiken« beginnt und in die Zukunft weiter gereicht wird. Im Gegensatz zu poetischen Werken wird in philosophischen Abhandlungen (die in Dichtungsform abgefasst sein können) etwas Theoretisches behauptet und begründet, und mit der Begründung wird der Leser aufgefordert, der Argumentation kritisch zu folgen und sie zu akzeptieren oder sie mit Gründen abzulehnen. Eben dies wird im Folgenden bei einigen ausgewählten Lehrstücken versucht und damit nichts anderes getan, als die Rolle zu spielen, die der Autor seinem philosophisch interessierten Leser zuweist.

Unsere Auseinandersetzung beschränkt sich im Wesentlichen auf Gesichtspunkte, die auch zu Kants Lebzeiten hätten vorgetragen werden können. Das Unternehmen der Beurteilung im Pro und Contra stellt sich nicht gegen, sondern neben die unüberschaubare Menge höchst qualifizierter Untersuchungen, die die Herkunft und innere Verknüpfung der Lehrmeinungen im Kantischen System klärt, sich jedoch schon aus Gründen der Arbeitsteilung der systematischen Stellungnahme enthält. Das Buch nimmt nicht teil an der Gigantomachie in der gegenwärtigen Strategiedebatte, sondern verwickelt Kant eher mikrologisch in eine Auseinandersetzung um einige seiner Lehren. Der Titel ist angeregt durch die Publikation von Maurizio Ferraris Goodbye Kant. Cosa resta oggi della »Critica della ragion pura« (2004) und die wichtigeren Antworten in der Vortragssammlung von Alfredo Ferrarin Congedarsi da Kant? Interventi sul Goodbye Kant di Ferraris (2006).

Markus Schmitz (†) danke ich für die Lektüre einer frühen Fassung des ersten Kapitels des Buches, Ulrike Santozki (Hameln) für Diskussionen verschiedener Probleme; ich verweise hier auf ihr Standardwerk Die Bedeutung antiker Theorien für die Genese und Systematik von Kants Philosophie (2006). Die Wege zur Antike führen jetzt über diese Brücke. Die freundliche Hilfe von Thomas Kloppenburg und Steffen Simon wurde ermöglicht durch eine Sachbeihilfe der DFG, vielen Dank. Vanessa Kayling (Aachen) half bei der Korrektur der vorletzten Fassung. Heiner F. Klemme veranstaltete am 5. Juni 2009 ein Symposium zu einer früheren Fassung des Manuskripts; es referierten Dietmar H. Heidemann, Luxemburg (»Gilt Kants erstes Raumargument auch für vorstel lungsfähige Tiere?«); Michael Wolff, Bielefeld (»Bleibt etwas von Brandts Einwänden gegen Kants Raumtheorie?«); Marcus Willaschek, Frankfurt a. M. (»Was bleibt vom kategorischen Imperativ?«); Bernd Ludwig, Göttingen (»Am Ende doch etwas mehr! Eine Antwort auf die Frage, was von Kants Zurechnungslehre bleibt«); Pauline Kleingeld, Leiden (»Das Böse bleibt … unbegreiflich.«); Heiner F. Klemme, Mainz (»Chancen und Risiken der Kantischen Rechtslehre«). Ich danke allen Kollegen, auch denen, die an der Diskussion teilnahmen, und hoffe, ihren Einwänden gerecht zu werden und mit diesem Experiment eines Frage-Buches der kritischen Kant-Forschung einen Dienst zu erweisen. Eine Kurzfassung des Buchs ist schon in dem Band Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, hrsg. von Heiner F. Klemme, Berlin 2009, 500–542, publiziert worden. Irrtümer werden hier stillschweigend korrigiert.

I. Probleme der »Transzendentalen Ästhetik«

Es sollen im Folgenden vier Komplexe erörtert werden. Im ersten Schritt wird die Argumentfolge sowohl in der Raum- wie auch der Zeittheorie bezogen auf die rationale Theologie und ihre Beweisschritte, so wie sie von Kant an anderer Stelle in der KrV vorgestellt werden und offensichtlich 1781 als Vorlage für die Lehre von Raum und Zeit dienen. Im zweiten Teil kehren wir zur Genese der Kantischen Raumspekulation im Jahr 1768 zurück und verfolgen die Opposition von Anschauung und Begriff, die sich aus der Leibniz-Kritik von 68 ergibt. Drittens wird dann erörtert, wie die geometrische Erkenntnis in der »Transzendentalen Analytik« und wie das Verhältnis von »Ästhetik« und »Logik« konzipiert ist. Abschließend wird gefragt, ob Kants Raum-Zeitlehre überzeugt oder ob sie dasselbe Schicksal erleidet wie die von Kant selbst als unzulässig abgelehnten Gottesbeweise.

1892 beendete Hans Vaihinger den 2. Band seines Kommentars zu Kants »Kritik der reinen Vernunft «, der der »Transzendentalen Ästhetik« gewidmet ist. Die Fülle der schon 1892 von Vaihinger angeführten Publikationen ist so überwältigend, dass es aussichtslos ist, den »status quaestionis« gar im Jahr 2009 erklimmen und darlegen zu wollen. Ich verweise stellvertretend nur auf die grundlegende Studie von Darius Koriako, »Kants Philosophie der Mathematik« (1999) und einen scharfsinnigen Aufsatz von Michael Wolff, »Absolute Selbstähnlichkeit in der euklidischen Geometrie. Zu Kants Erklärung der Möglichkeit der reinen Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori«.9 Wolff wendet sich gegen Interpretationen wie u. a. die von Albert Einstein, die den Anspruch der Kantischen Raum-Zeit-Lehre verkennen würden; nur unter Einbeziehung der »Transzendentalen Analytik« lasse sich Kants Lehre beurteilen, und dieses Urteil gebe Kant rundum Recht. Es sollen gegen diese Kant-Bestätigung wiederum einige umstürzende Bedenken angeführt werden.

1. Die »Transzendentale Ästhetik« und die Gottesbeweise

Wir orientieren uns an der A-Auflage der KrV; auf die B-Auflage wird eingegangen, wenn die Änderungen für unsere Überlegungen relevant sind. Die Argumente der Raum-Zeitlehre werden von Kant in fünf Abschnitte geordnet. Unter Ziffer 1 wird gezeigt, dass die Vorstellung von Raum und Zeit den Platzierungen sei es von äußeren Gegenständen, sei es von inneren Zuständen zu Grunde liegen. Äußere und innere Erfahrung werden also nur durch die vorgängige Vorstellung von Raum und Zeit möglich. Ziffer 2 enthält erstens den verallgemeinernden Schluß aus Ziffer 1 und zweitens ein weiterführendes Argument. Erstens gelte dies für alle Lokalisierungen in Raum und Zeit, und damit seien Raum und Zeit notwendige Vorstellungen a priori. Zweitens gelte darüber hinaus, dass man sich keine Vorstellung davon machen könne, dass kein Raum und keine Zeit seien; aus ihrer Vorstellung ließen sich alle Gegenstände und Zustände aufh eben, nicht jedoch die genannte, somit für sich notwendige Vorstellung selbst. Ziffer 3 schließt an diese absolute Notwendigkeit an: »Auf diese Notwendigkeit a priori gründet sich die apodiktische Notwendigkeit aller geometrischen Grundsätze […]« und parallel dazu dieselbe Behauptung der »Möglichkeit apodiktischer Grundsätze von den Verhältnissen der Zeit, oder Axiomen von der Zeit überhaupt.« Ziffer 4 schließt eher an 2 als an 3 an. Die Raum- und Zeitvorstellungen seien keine Begriffe, sondern reine Anschauungen bzw. »reine Form der sinnlichen Anschauung«. Alle Räume und Zeiten seien als Teilräume und –zeiten in der reinen Anschauung von Raum und Zeit. Als solche, so schließt Ziffer 5, würden sie als unendliche gegebene Größen vorgestellt.

Nun gibt es eine bisher übersehene Parallele des Beweisganges in der Raum- und Zeiterörterung, sie findet sich in der vorkritischen Theologie und ist eingegangen in die KrV. Kant unterscheidet in der »Transzendentalen Dialektik« drei Gottesbeweise. Am Anfang steht der kosmologische Beweis, auf ihn folgt der ontologische, und von ihm aus läßt sich, so die Behauptung der rationalen Theologie, das notwendige Wesen als »omnitudo realitatis« erweisen. Der kosmologische Beweis geht von etwas kontingent Existierendem aus (der Kosmos; das Ich10) und schließt von ihm auf ein notwendiges Wesen, das der letzte Grund der kontingenten Existenz ist. Dieser Grund selbst, so der ontologische Beweis, ist nicht nur relativ notwendig, sondern ist absolut notwendig aus seinem eigenen Begriff. Die nähere Bestimmung führt drittens zum Begriff Gottes als der allbefassenden unendlichen Realität, in der alles Seiende bzw. alle Möglichkeit gedacht werden muß.

Die formale Anlage der Ziffern 1 bis 4 bzw. 5 der Raum- und Zeiterörterungen folgt den drei Beweisschritten der rationalen Theologie. Es lassen sich drei genaue Korrespondenzen ausmachen:

1. Der Raum bzw. seine Vorstellung liegt allen Verortungen, auch meiner selbst, »zum Grunde«, sie sind nur »durch« ihn möglich;11 dasselbe gilt für die Zeit im Hinblick auf die Relationen des Zugleich und Früher bzw. Später.12 Diese Grund-Folge-Beziehung impliziert die allgemeine Notwendigkeit der Vorstellung des Raumes bzw. der Zeit.13

Dem korrespondiert der kosmologische Beweis: Es gibt ein kontingentes Dasein der Welt oder auch meines Ich; diesem Dasein liegt ein nicht mehr verursachtes Wesen zu Grunde, dem damit eine relative Notwendigkeit zukommt.

2. Die Raum- und Zeitvorstellung ist jeweils für sich notwendig, auch wenn aller Inhalt aus der jeweiligen Vorstellung entfernt wird. »Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, dass kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden.« (A 24; analog bei der Zeit A 31) Das Nichtsein von Raum und Zeit ist nicht vorstellbar, sie sind damit absolut notwendige Vorstellungen, deren Notwendigkeit nicht mehr von ihrer Funktion, allen Erscheinungen zu Grunde zu liegen, abhängt.

Dem korrespondiert der ontologische Gottesbeweis, der die Notwendigkeit Gottes für sich, also ohne Rekurs auf die Schöpfung, nachweist.14

3. (Ziffer 4) Was sind die für sich inhaltsleeren notwendigen Vorstellungen von Raum und Zeit? Sie sind keine Begriffe, sondern reine Anschauungen oder Formen der Anschauung, in denen qua Anschauungen alle Teile koordiniert, nicht subordiniert sind. Hier tritt an die Stelle des »durch« von Ziffer 1 das »inesse«.

Dem korrespondiert, dass sich das notwendige Wesen (ontologischer Beweis) als »omnitudo realitatis« erweist, in der alle besondere Realität bzw. alle Möglichkeit liegt.15 Von Gott als dem All oder Inbegriff der Realität wird gesagt, er sei »nicht bloß ein Begriff, der alle Prädicate ihrem transzendentalen Inhalte nach unter sich, sondern der sie in sich begreift ; und die durchgängige Bestimmung eines jeden Dinges beruht auf der Einschränkung dieses All der Realität, […].« (A 577)16 Kant selbst verweist auf die Parallele zum Raum (A 578), die Begriffe »in sich«, »allbefassend«, »Einschränkung« begegnen sowohl beim Raum (s. a. die Zeit) wie auch bei der Erörterung der »omnitudo realitatis«.

Nun kommt hinzu, dass Kant die drei Schritte in der »Transzendentalen Ästhetik«, deren theologischen Nebentext wir hier aufdecken, ausdrücklich für die Gottesbeweise festlegt: »Dieses ist nun der natürliche Gang, den jede menschliche Vernunft , selbst die gemeinste, nimmt, obgleich nicht eine jede in demselben aushält. Sie fängt nicht von Begriffen, sondern von der gemeinen Erfahrung an, und legt also etwas Existierendes zum Grunde [vgl. A 23: »auf etwas in einem andern Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde«, RB]. Dieser Boden aber sinkt, wenn er nicht auf dem unbeweglichen Felsen des Absolutnotwendigen ruht [A24: »Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, dass kein Raum sei«, RB]. Dieser aber schwebt ohne Stütze, wenn noch außer und unter ihm leerer Raum ist, und er nicht selbst alles erfüllt und dadurch keinen Platz zum Warum mehr übrigläßt, d. i. der Realität nach unendlich ist [A 25: der einige allbefassende Raum, RB].« (A 584, dieselben drei Schritte A 586–587) Dies ist »der natürliche Gang« der menschlichen Vernunft . Also: 1. Kosmologischer Beweis, 2. Ontologischer Beweis, 3. Gott als »omnitudo realitatis«.17

Ich denke, es ist nicht möglich, diese Korrespondenzen zu leugnen. Dem Zweifler sei empfohlen, noch einmal folgenden Weg zu gehen: Ziffer 4 stellt die reine Anschauung deklarativ in eine Parallele zur »omnitudo realitatis«, belegbar durch wörtliche Übereinstimmungen. Nun fällt bei einem so reflektierten Autor wie Kant die theologische Korrespondenz nicht einfach vom Himmel, sondern ist – notwendig – eingebettet in einen entsprechenden Zusammenhang; ihn aufzudecken ist Aufgabe des Interpreten. Tatsächlich gibt es sichere Indizien, dass die Ziffern 1 und 2 in einer Parallele zum kosmologischen und ontologischen Beweis konzipiert sind. So tritt die »omnitudo realitatis« nicht in abwegiger Isolation auf, sondern gehört in einen Dreischritt, der in Ziffer 1 beginnt.

Die Parallelführung ist sicher nicht so zu denken, dass die Argumentation in der »Transzendentalen Ästhetik« entlastet wird und man sie ohne den Subtext nicht versteht. Sie hat sich selbst als schlüssig zu erweisen; aber es ist gegenüber der bisherigen Interpretationsgeschichte eine neue Frage aufgetreten: Welche Rolle spielt die rationale Theologie in der Kantischen Beweisstrategie?

Strittig wird wohl jede Interpretation der Doppelbödigkeit der »Transzendentalen Ästhetik« sein. Soll sich der Leser, der den Subtext mitliest, mit den bloß formalen, beweistechnischen Parallelen begnügen? Oder soll er die theologische Ebene so interpretieren, dass die Sinnlichkeit nobilitiert wird und gegen den Skeptizismus das Höchste stift et, die Notwendigkeit der Grundsätze von Raum und Zeit und das absolut gewisse Anschauungsfeld aller synthetischen Erkenntnisaussagen? Soll sich der Leser an das Scholium der Dissertation erinnern, in dem die metaphysischen Gedankenfiguren der räumlichen »omnipraesentia phaenomenon« und zeitlichen »aeternitas phaenomenon« zu Malebranche und dessen »nos omnia intueri in Deo« führen (II 409,27–410,16)?18 Man wird wohl festhalten dürfen, dass die Sinnlichkeit, speziell die reine Anschauung, durch die unsichtbare Gotteshand geadelt wird und dass sie gegen die platonisierende, allgemein rationalistische Abwertung jetzt dem Verstand auf gleicher Augenhöhe begegnen kann. Aber wie, so fragen wir schon hier, ist gewährleistet, dass zwischen Anschauung und Denken keine Konflikte entstehen? Unter welcher Einheit ist die geforderte Harmonie notwendig?

Wir können aus dem theologischen Subtext schon ein negatives Argument gewinnen: Es ist bei Kant sicher keine Überlegung dazu intendiert, wie wir psychologisch zu den ausgezeichneten Vorstellungen von Raum und Zeit kommen. Wir bewegen uns in der Begrifflichkeit der puren Metaphysik.19 Ob wir dabei abstürzen, wird zu prüfen sein.

Der theoretische Gottesbeweis endet beim kritischen Kant von 1781 in dem Nachweis, dass es sich zwar jeweils um notwendige Gedanken handelt, aber um keine Erkenntnis Gottes als eines wirklich seienden Wesens; eben diese Erkenntnis war jedoch das vorkritische Ziel der Rationaltheologie. Verfällt die »Transzendentale Ästhetik« Kants, des Allzermalmers, demselben Schicksal wie die vorkritische Theologie? Oder rettet sich das Göttliche in der reinen Raum- und Zeit-Anschauung, deren wir alle teilhaft ig sind?

Wenden wir uns noch einmal den drei Argumenten der »Transzendentalen Ästhetik« zu, ermuntert zu deren Kritik durch die Kantische Kritik an den Gottesbeweisen.

1. Die Raum- bzw. Zeitvorstellung liegt den empirischen Verortungen zum Grunde. Denn damit ich diese Verortungen nicht als bloß verschieden (»praeter se«20 wie z. B. Natur und Freiheit oder zwei beliebige Begriffe), sondern als »extra se« und »extra me« oder »post« und »simul« unterscheiden kann, muß ich auf etwas zurückgreifen, was nicht mehr Gegenstand einer empirischen Erfahrung eines bestimmten Sinnes oder mehrerer bestimmter Sinne (Empfindungen) sein kann, nämlich auf die Vorstellung von Raum bzw. Zeit.21 Erst durch diese nicht-empirische, gewissermaßen übersinnliche Vorstellung sind empirische, den verschiedenen Sinnen gegebene Vorstellungen als »extra me« und »extra se« und »simul« oder »post se« (II 398,34) möglich.

Würde ich Raum und Zeit aus der bloßen Empirie als deren inhärente Voraussetzung gewinnen wollen, könnte und müsste ich beim Allgemeinsten des Empirischen bleiben, etwa den Raumstellen überhaupt oder auch der cartesischen »extensio«, die bei allen äußeren Erfahrungen angetroffen wird und die bleibt, wenn ich von allen bestimmten Inhalten (z. B. dem Wachs) abstrahiere.22 Kant dagegen: Ich ermögliche das »extra me« durch die allgemeine Raum- und Zeitvorstellung, durch die das empirische Außereinander möglich wird und das nicht deren sinnlich erfaßbarer Teil sein kann. Descartes’ »extensio« oder »res extensa« ist dagegen ein ontologisches und empirisches Grundfaktum in allen einzelnen Dingen, nicht deren Ermöglichungsgrund. Also: Nicht »in«, sondern »per«.

Die Kantische Raum- und Zeitvorstellung ist nicht durch die Sinne und ihre einzelnen Empfindungen erwerbbar. Das räumliche und zeitliche Außereinander ist die Bedingung der Möglichkeit empirischer raum-zeitlicher Sinneserfahrungen. Alle Empirie muß sich also eintragen in eine Ordnung, die sie selbst nicht per Empfindung liefert, die also nicht empirisch ist.

Die Überlegungen der Ziffer 1 finden ihren Abschluß im ersten Satz der Ziffer 2: »Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt.« (A 24) Und: »Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt.« (A 31) Die Notwendigkeit bezieht sich auf die Ermöglichung aller empirischen Empfindungen und Erfahrungen: Die Raum- und Zeitvorstellungen liegen ihnen zum Grunde; a priori, weil notwendig nicht empirisch. Damit wird ausgeschlossen, dass irgendwelche innersinnliche Totalitäten, die ihren Teilstücken zu Grunde liegen (etwa die Systeme der Farben), an die Stelle von Raum und Zeit treten; alle Bereiche der sinnlichen äußeren und inneren Erfahrung überhaupt setzen die nicht erfahrbaren Vorstellungen von Raum und Zeit voraus, die damit gegen sie ein Apriori bilden und notwendig sind.

Im kosmologischen Parallelgedanken: Allem Kausalgeschehen, allen Dingen und Ereignissen in der Welt liegt eine Ursache zum Grunde, die nicht durch Abstraktion innerweltlich gefunden werden kann, die jedoch die Welt erst ermöglicht.

Es ist nachzutragen, dass es nichts gibt, wovon die Vorstellung oder Anschauung Raum und Zeit ihrerseits Vorstellungen oder Anschauungen wären.23 Es gibt keine möglichen Gegenstände, etwa den Raum und die Zeit selbst, auf die sich ihre Vorstellung oder Anschauung beziehen könnte; beides ist identisch. Raum und Zeit sind dem »transzendentalen Subjekt« (hier nicht so genannt) einverleibt und bilden nichts anderes als einheitliche Formen der Disposition eines vorräumlichen, vorzeitlichen Mannigfaltigen, das auf das Subjekt durch Empfindungen einwirkt. Die Formen sind für sich leer, jedoch durch gewisse Merkmale identifizierbar. Die reine Anschauung oder Form des Raumes ist dreidimensional, die der Zeit eindimensional; beide sind ins Unendliche teilbar.

Exkurs

Wir ergänzen diese Interpretation durch folgenden Gedanken: Kann man die Grund-Folge-Beziehung nicht zur Beziehung einer Wechselwirkung erweitern, so dass Kants Überlegung zugestanden, aber ergänzt wird? Der Grund wäre dann reziprok auch von dem, was er begründet, abhängig. Ohne Gegenstände im Raum und Zustände in der Zeit wären dann der Raum und die Zeit nicht möglich, das eine wäre jeweils eine Funktion des anderen. Eine reziproke Abhängigkeit wird in der modernen Physik genauer bestimmt.24 Daß sie widerspruchsfrei denkbar ist, bezeugt Kant selbst in seiner Schätzung der lebendigen Kräft e (I 23–25): Wenn die Substanzen anders wären, müsste auch der Raum anders dimensioniert sein, denn er liegt nicht nur unseren Raumverortungen zum Grunde, sondern es ist umgekehrt der Raum eine Funktion seiner Inhalte.

Wir beobachteten, hiervon zunächst unabhängig, in Kants Text in Ziffer 1 einen Übergang vom Raum selbst zur Vorstellung vom Raum. Wenn es heißt, gewisse Empfindungen würden bezogen »auf etwas in einem anderen Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde« (A 23), dann kann hier offenbar nicht der Raum durch die Vorstellung vom Raum ersetzt werden, und daß ich mich an einem bestimmten Ort befinde, ist nicht identisch mit der Vorstellung hiervon etwa in der Erinnerung oder Erwartung oder im Traum, so wenig wie der unmittelbar gefühlte Schmerz mit der Vorstellung vom Schmerz identisch ist. Das indexikalische »Ich-Hier-(Jetzt)« ist mehr, als die Vorstellung von ihm. Kant wählt es als Grundlage der Raumvorstellung, die ihrerseits in ihrer Notwendigkeit die Geometrie als Wissenschaft und damit (zusammen mit der Logik und dem »Ich denke«) alle Welterkenntnis überhaupt ermöglicht.

Für das Ich, das sich an einem bestimmten Ort im Raum befindet und das die Überlegung nachvollzieht, dass den Verortungen notwendig ein Raum zum Grunde liegt, ist die Überlegung abwegig, ob nicht der Raum bzw. vorgestellte Raum seinerseits eine Funktion der Dinge und Ereignisse in ihm ist. Anders, wenn über vorstellungsfähige Lebewesen reflektiert wird; die Vorstellung vom Raum ermöglicht ihre Lokalisierungen, aber eine weitere Untersuchung könnte zur Erkenntnis führen, dass der Raum, in dem sie sind und den sie sich vorstellen, seinerseits eine Funktion der Inhalte in ihm ist. Der Raum wäre keine Bühne für die Physik (wie bei Kant), sondern selber Thema der Physik.

2. Das ontologische Argument. »Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden.« (A 24) und: »Man kann in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbst nicht aufh eben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann.« (A 30) Der dreidimensionale Raum bzw. die relational bestimmbare Zeit können nicht analytisch mit der Vorstellbarkeit als solcher verbunden und damit notwendig sein, denn es gibt durchaus Vorstellungen nichträumlicher und nicht-zeitlicher Art wie etwa die von Vernunftideen. Stellt man sich jedoch den Raum oder die Zeit vor, kann man sie in dieser Vorstellung nicht ohne Widerspruch aufh eben, das ist trivial. Weiter: Wir können uns sowohl anders dimensionierte Räume denken, wie auch Wesen mit anderen Formen der Sinnlichkeit als denen unseres Raumes und unserer Zeit ersinnen, unsere Formen der Anschauung sind also in dieser Hinsicht nicht notwendig, sondern zufällig (I 23–25; B 139, auch XVIII 643,23–24 – Refl. 6323; XX 267,30–33; 272,8–11). Kants These der Unaufh ebbarkeit bezieht sich auf den Raum und die Zeit, von denen im vorhergehenden Text gehandelt wurde und innerhalb deren wir empirische Erfahrungen machen: Ich, Hier, Jetzt.

Mit der These der Aufh ebbarkeit aller Inhalte in der Raum- (und Zeit-)vorstellung, aber nicht dieser selbst stimmt Kant gegen Christian Wolff, der betont: »[…] spatium non datur nisi existentibus simultaneis«, obwohl der Raum etwas von den simultan existierenden Dingen Verschiedenes ist. Dies Letztere habe einige dazu verführt, die Existenz des Weltraumes anzunehmen »sublatis corporibus«25. Kant braucht nicht mehr über den Raum, sondern nur dessen Vorstellung zu entscheiden, aber er ist zögerlich genug, indem er sowohl beim Raum wie auch bei der Zeit ein leicht gehauchtes »ganz wohl« einfügt, man könne es sich »ganz wohl denken« (A 24) und »ganz wohl« die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen (A 31). Unsere Kritik: Das läßt sich wohl denken, vielleicht auch akrobatisch vorstellen, die Frage ist jedoch, ob hiermit ein Erkenntnisgewinn erzielt ist oder ein Irrtum suggeriert wird, der Irrtum nämlich, dass unser Denken und Vorstellen entscheidend ist in der Sache selbst. Wenn es möglich ist, dass Raum und Zeit nicht nur den Gegenständen und Zuständen in ihnen zu Grunde liegen, sondern sie reziprok auch von diesen Inhalten abhängen, dann ist die Lösung der Raum- und Zeitvorstellung von allen Inhalten und die Meinung, ihre bloße inhaltsleere Form sei notwendig, eine irrige Idiosynkrasie. Hier rächt sich dann der nicht explizit reflektierte Übergang vom Raum, in dem wir mit anderen Gegenständen außer uns sind, zur Vorstellung des Raumes in Ziffer 1, denn jetzt tritt die Möglichkeit auf, dass die notwendige Vorstellbarkeit von Raum und Zeit »sublatis corporibus« für Raum und Zeit selbst nichts besagt, weil wir nicht ausschließen konnten, dass sie ihrerseits eine Funktion ihrer Inhalte sind und also die subjektive, vermeintlich notwendige Vorstellung tatsächlich leer ist und in die Irre führt.

Die Aufhebung aller Inhalte aus der Raum- bzw. Zeitvorstellung bei gleichzeitig erhaltener, sogar notwendiger Vorstellbarkeit besagt, so schließen wir, dass in dieser isolierbaren Residualvorstellung nur noch die unverwechselbare Form als solche vorgestellt wird. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten streicht Kant analog alle besonderen Inhalte aus dem Pflichtbegriff und behält nur die Form des Gesetzes (IV 400 u. ö.). Wie läßt sich, so die Frage in der Moralphilosophie, die objektive praktische Realität dieser inhaltsleeren, bloß formalen Vorstellung zeigen? Die KpV antwortet: Sie zeigt sich als Faktum des Bewusstseins oder der Vernunft (V 31,24 u. ö.). Wie steht es analog mit der theoretischen Realität der reinen, weil inhaltsleeren und also nur formalen Raum- und Zeitvorstellung?

Wir merken hier an, dass die Raumvorstellung von Ziffer 1 sich auf den dreidimensionalen und keinen anderen Raum bezog. Diese Eigentümlichkeit der Dreidimensionalität muß die inhaltsleere notwendige Raumvorstellung beibehalten, denn sonst würde sie die Ausgangsbedingungen ändern. Die Dimension ist kein Inhalt, sondern gehört zur unveränderlichen Form, auch bei der Zeit.

Ziffer 4 hat als Subtext die »omnitudo realitatis« des durchgängigen In-Seins aller Teile der homogenen reinen Raum- und Zeitanschauung. Die Reinheit ist gewonnen auf der Grundlage der notwendigen Vorstellbarkeit von Raum und Zeit ohne Inhalte, also rein für sich. Man sieht, wie wichtig die Zwischenstufe von Ziffer 2 mit der notwendigen Raumvorstellung »sublatis corporibus« ist. Was ist diese Vorstellung? Kein Begriff, sondern Anschauung. Kein Begriff, denn viele Räume sind immer nur koordinierte Teile eines und desselben alleinigen (dreidimensionalen) Raumes, während Begriffe einander subordiniert sind.

Es gibt, wie sich schon in Ziffer 1 zeigte, nach Kant keinen subjektexternen Raum, auf den wir uns als Objekt mit unserer reinen Anschauung oder Form der Anschauung beziehen. Seit der stillschweigenden Änderung des Raumes in eine Raumvorstellung ist jede Möglichkeit der Referenz abgeschnitten, somit ist die Anschauung identisch mit dem Raum bzw. der Zeit selbst. Wir wissen hiermit schon: Alle formalen Bestimmungen der reinen Raum- und Zeitanschauung gelten nicht nur für diese reinen Anschauungen selbst, sondern auch automatisch für die inhaltlich erfüllte, empirische Welt und ihre Vorstellung, von der wir in Ziffer 1 unseren Ausgang nahmen. Die reine Anschauung ist entsprechend keine platonische Idee, an der die empirische Welt oder Anschauung nur mühsam partizipiert, sondern sie ist deren identische Form, einmal ohne, dann mit Inhalten.26

Aber gibt es überhaupt die reine Anschauung oder Form der Anschauung von Raum und Zeit? Gibt es Gott als erkennbare »omnitudo realitatis«? Kant verneint die letzte Frage und gesteht dieser »omnitudo« zwar die Denknotwendigkeit, aber nicht das Dasein zu. Und bei der allbefassenden reinen Anschauung? Geschichtlich ist sie eine völlige Innovation, niemand hat sie bislang entdeckt, obwohl sie jedem so nahe ist. Gibt es sie? Erstens: Sie ergab sich schlüssig aus Ziffer 1 und Ziffer 2; sie ist nichts anderes als die notwendige Spezifikation der notwendigen inhaltsleeren Vorstellung mit der Alternative von Begriff oder Anschauung. Wer also der Ausgangsüberlegung in Ziffer 1 zustimmt, muß akzeptieren, dass Raum und Zeit als solche nichts anderes sind als reinen Anschauungen. Zweitens: Sie muß aktualisierbar sein, wir müssen sie ausüben können, andernfalls wird die Kantische Konstruktion chimärisch.27 Aber wie können wir uns dieser Anschauung vergewissern? Können wir die Geometrie und die Zeitaxiome aus Ziffer 3 als selbstgewisse »rationes cognoscendi« bemühen? Oder bewegen wir uns damit in einem Zirkel? So steht man einigermaßen verloren da.

Bei der theologischen »omnitudo realitatis« werden die Attribute des In-seins und der Bestimmung aller Teile durch Einschränkung begrifflich erkannt. Wie vollzieht sich die analoge Erkenntnis bei der reinen, begrifflosen Anschauung? »Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (A 51); wie kann ich diese Blindheit überwinden, wenn doch den Begriffen der Zugang versperrt ist? Wie bewahre ich mich vor Einbildungen, die mir Eigenschaften vorspiegeln, die der notwendigen reinen begrifflosen Anschauung nicht wirklich zukommen? Ist das reine Hinschauen Ausweis seiner selbst wie bei Malebranche die Gottesschau?

Halten wir kurz ein, um über den methodologischen Status Klarheit zu gewinnen. Der Titel weist die Kantischen Reflexionen zur Raum und Zeit gleich doppelt als »transzendental« aus; in beiden Auflagen steht: »Der transzendentalen Elementarlehre / Erster Teil / Die transzendentale Ästhetik« (A 19, B 33). Betrachtet man die Ausführungen zur »Transzendentalen Logik« (A 50, B 74), so fällt jedoch sogleich auf, dass sie über die Titel hinaus durchsetzt sind in jedem einzelnen Schritt vom Vokabular des Transzendentalen, sei es im Gegensatz zum Reinen (der Logik) oder auch des Empirischen. Es gibt »transzendentale Urteile« und »transzendentale Begriffe«. Im Beweisbereich der Ziffern 1 bis 4 bzw. 5 der Raum-Zeit-Erörterung begegnet dagegen kein einziges Mal die Erinnerung, dass wir es doch ja nicht mit empirischen oder reinen, sondern transzendentalen Dingen oder Begriffen zu tun haben. Wenn von der notwendigen, reinen Anschauung von Raum und Zeit die Rede ist, dann nicht mit dem Warnschild »Nur transzendental!« Eine transzendentale Anschauung gibt es hier nicht; Kant scheint nie die Formulierung eines transzendentalen Raumes oder einer transzendentalen Zeit zu benutzen. Man kann also, wenn nach der Verifizierbarkeit der einzelnen Schritte gefragt wird, nicht ausweichen mit dem Hinweis auf die Transzendentalität wie etwa bei der Nachfrage, wie denn das transzendentale »Ich denke« real vollzogen werde. Es wird auch kein Raum-Zeit-Rechtstitel erworben, der sich sowohl der empirischen wie auch der rein logischen Fixierung entzieht. Wir werden also die argumentative Folge von 1 bis 4 oder 5 so betrachten und beurteilen, wie sie sich intern von einer empirischen Situation ausgehend vollziehen. Es ist sicher kein Prozeß der zunehmenden Abstraktion28, auch keine Reflexion über die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, sondern ein besonderer Modus, dessen sich Kant hier bedient. Wir halten noch einmal fest, dass aus dem entwickelten Gedankengang notwendig folgt, dass der Raum der reinen Anschauung unendlich teilbar ist und dass er dreidimensional ist; inkongruente Gegenstücke müssen Gegenstände der reinen Anschauung sein können (s. auch IV 284,20–285,1). Wer die reine Anschauung hiervon dispensiert, löst sie willkürlich von ihrer Genese in Ziffer 1 und kann dann ohne die Zustimmung des Autors mit beliebigen Raumsorten und Geometrien hantieren. Wer die reine Anschauung aus dem Beweiskontext löst, kann den kapitalen Fehler begehen, die Dreidimensionalität des Raumes und die unendliche Teilbarkeit einfach zu streichen und die reine Anschauung als bloßes Substrat oder Material für die Geometriebestimmungen der »Analytik« zur Verfügung zu stellen (mit der ad-hoc-Erfindung einer »formalen Anschauung«). Alle schrecken vor dem simplen Befund zurück, dass der Punkt der reinen Anschauung eine ins Unendliche teilbare Kugel sein müsste, d. h. dass es ihn nicht gibt.

Wer die »Transzendentale Ästhetik« verteidigen will, hat folgende Frage zu beantworten: Raum und Zeit wurden in Ziffer 1 als jeweils nicht-empirischer »übersinnlicher« Grund unserer räumlich und zeitlich strukturierten Empfindungen und Erfahrungen ausgemacht; so konnten ihre Vorstellungen den Status der Notwendigkeit und Apriorizität gewinnen. Als reine Anschauungen wurden sie jedoch in der Weise charakterisiert, dass alle Teilräume und Teilzeiten in den jeweils allbefassenden einigen reinen Anschauungen gedacht werden müssen. Dort das »durch«-Sein, hier das »In«-Sein. Aber steht nicht beides in einem Gegensatz zueinander? Dort Raum und Zeit als nicht-empirische Vorstellungen, für die es keinen zuständigen Sinn geben kann: Wir können die reine Form weder sehen noch hören etc. Als Grund aller Empirie sind sie der Empirie entzogen und können aus ihr nicht per Abstraktion gewonnen, sondern nur als Grund erschlossen werden; auf der anderen Seite ist jeder Teil des Raumes und der Zeit in der reinen Anschauung durch Einschränkung gebbar. In der theologischen Folie: Dort eine deistische, hier eine spinozistische Vorstellung, dort Gott außerhalb der Sinnenwelt, hier Gott in ihr. Ist der Konflikt lösbar?

Die Geometrie in Ziffer 3 und 4

Auf die in Ziffer 2 dargelegte Notwendigkeit der von allen Inhalten entblößten Vorstellung des Raumes bezieht sich die Ziffer 3 (in A): »Auf diese Notwendigkeit a priori gründet sich die apodiktische Notwendigkeit aller geometrischen Grundsätze […]«. Es sollen die »apodiktische Gewißheit« von geometrischen Sätzen und die »Möglichkeit ihrer Konstruktionen a priori« (A 24) auf der zuletzt genannten Notwendigkeit beruhen. Zur Begründung wird nur apagogisch gesagt, dass empirische Wahrnehmungen nicht zur Notwendigkeit geometrischer Sätze führen könnten. Also könne es nur die Notwendigkeit von Ziffer 2 sein. Es handelt sich um die inhaltsleere notwendige Vorstellung, nicht die inhaltsbezogene im Rückgriff fauf Ziffer 1 (ontologisch, nicht kosmologisch). Alle Schritte kehren in der parallelen Zeiterörterung wieder. Das ist wichtig, da das wiederkehrende »gründet sich« (A 24 und A 31) davor warnt, die Notwendigkeit der geometrischen Grundsätze eigentlich erst in der Verstandestätigkeit der »Transzendentalen Analytik« suchen zu wollen. Dann würde das Pendant für die Zeit fehlen, deren Grundsätze nicht noch einmal vom Verstand thematisiert werden. Da Kant nun tatsächlich in der »Analytik« den Anspruch erhebt, alle Notwendigkeit der Geometrie im Verstand zu begründen, ergibt sich ein Riß in der Konzeption. Schon Darius Koriako hat klar gesehen, dass sich hier ein »fundamentales Problem der kantischen Raum- und Mathematiktheorie offenbart. Denn die Rede von der ›Notwendigkeit‹ des Raumes ist doppelsinnig: sie kann einerseits darauf bezogen werden, daß wir den Raum nicht hinwegdenken können […]. Und zum andern kann damit die Notwendigkeit der geometrischen Prinzipien gemeint sein.«29 Beide Formen der Notwendigkeit hätten nichts miteinander zu tun; in der Kantischen Theorie müssten sie jedoch identisch sein. Vereint ein Gott die Notwendigkeit der »extensio« mit der der »cogitatio«?