Immer den Fluss entlang - Fritz Leverenz - E-Book

Immer den Fluss entlang E-Book

Fritz Leverenz

0,0

Beschreibung

Wie schon in seinen Erzählbänden "Lied der Grasmücke", "Du hoffst, und ich gehe" und "Aus den Notizen eines Angepassten" erzählt Fritz Leverenz in kurzen Texten von Menschen im Alltag der jüngeren deutschen Vergangenheit: von dem ehemaligen Fernsehmechaniker, der noch heute die Installation für Wasser an seinem Bungalow beenden möchte, als er unliebsamen Besuch erhält; von dem NVA-Soldaten, der Lehrer werden möchte, und dem zur Aufnahmeprüfung nicht einmal der Text von "Hänschen klein" einfällt; von dem jungen Mann, der ein kleines fleckiges Foto betrachtet, und der wünscht, er hätte den Vater über seinen Werdegang fragen und der Vater hätte ihm antworten können; von Ronny, den die Gewalt gegen einen Schwächeren nächtelang nach Auswegen und Lösungen grübeln und nicht schlafen ließ … … von dem alten Mann, der immer den Fluss entlanggeht, da er ihn an die Oder im alten Stettin erinnert.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 221

Veröffentlichungsjahr: 2019

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Fritz Leverenz

Immer den Fluss entlang

Erzählungen und Skizzen

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1 Damenbesuch

2 Das Insekt

3 Das Mädchen auf dem Monitor

4 Das Mädchen auf dem Zeltplatz

5 Das Naheliegende und das Schreiben

6 Der Zeitungsverkäufer

7 Die Fahrt nach Jedlovà

8 Die Frau am Fenster

9 Die Hürde

10 Die Musterstrecke

11 Was wäre aus uns geworden

12 Du, mein trunkener Bruder

13 Eine Zufallsbekanntschaft

14 Festvorbereitung in Schwichten

15 Gegen den Strom

16 Das Leben hinter diesem leisen Fingerdruck

17 Im Bett des Prokrustes

18 Immer den Fluss entlang

19 Karpfen

20 Monikas Tränen

21 Nicht Geld, nicht Kaufen oder sonst was

22 Sein Boot

23 Tiefe Wurzeln

24 „… und dennoch tanzt man …“ *

25 Und drinnen lesen sie jetzt den „Nuschelpeter

26 Wanderung in Arnstadt

27 Zärtlichkeit

28 Zufriedenheit

29 Ein schwer zu lösender Fragenkomplex bei der Entsorgung von hellem Sand

30 Die Welt ohne dich

31 Der Weg der Menschen

Impressum neobooks

1 Damenbesuch

Die jungen ausladenden Kiefern vor dem Bungalow stehen verschleiert vom milden Licht der Herbstsonne. Die Birke am Nachbarzaun lächelt in rötlichem Gelb. Doch Günter Plinski, der solche Herbstmorgen mag, darf sich diesen Anblick jetzt nicht gönnen. Er kniet auf den Fliesen in der Toilette unter dem provisorisch angebrachten Handwaschbecken und müht sich, die Rohrstücken vom Siphonbogen bis zum Anschlussstück, das zur Sickergrube führt, probeweise zusammenzupuzzlen. Er schwitzt, denn sein berufliches Fachgebiet als Fernsehmechaniker kennt solche groben und zugleich sensiblen Arbeiten nicht. Noch heute möchte er die Installation für Wasser, Abwasser und Armaturen beenden und die Grillparty für den nächsten Abend vorbereiten. Mit seinem Trabant Kombi ist er von seiner Wohnung in der Schönhauser Allee vorausgefahren. Seine Frau und seine drei kleinen Söhne werden morgen mit der S-Bahn, sein vierter Sohn, schon fast erwachsen, wird mit dem Motorrad folgen.

Plinski hört das anheimelnde Nörgeln der S-Bahn. Es klingt so nah, als führe sie durch den Garten. Ein Anzeichen dafür, dass sich das Wetter ändern wird. Schade. Doch es wäre ja noch schöner, sich vom Wetter seine gute Stimmung vermiesen zu lassen. „Immerhin haben wir jetzt die D-Mark, und ich kann zum Baumarkt nach Wilhelmsruh fahren um den Bungalow zu sanieren“, denkt er und singt die Melodie von Mozarts Vogelfänger. Des Erfolges seines Tuns noch ungewiss, lässt er die Melodie nicht hören, singt sie in Gedanken und versucht sie dem Arbeitstakt seiner Hände anzupassen. Die Fernsehwerkstatt, die ihn seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigt, hatte ihn und sechs seiner neun Kollegen im Juli wegen mangelnder Aufträge entlassen. Schon im Frühjahr begannen sich erste Probleme zwischen Service und neuer TV-Technik abzuzeichnen. Seine Erwartungen und Wünsche von vor einem Jahr haben sich mit ungewissen Ängsten gepaart und entfernen sich unaufhaltsam von seinen Erinnerungen. Vom Arbeitsamt vermittelt, besucht er einen Weiterbildungslehrgang und hofft, in naher Zukunft in die Verkaufsbranche zu wechseln, und dass alles sein gutes Ende finden werde.

Das erste Mal war er im Sommer, gleich nach der Währungsunion mit der S-Bahn zum Baumarkt gefahren. Auf dem Weg zum Bahnhof konnte er sich vor Freude und Zuversicht kaum bremsen und schritt, so rasch es ging. Er überholte ein Mädchen, das einen Schulrucksack trug und Schritt zu halten suchte. „Sie laufen aber schnell“, sagte es außer Atem, „ich habe noch nie jemanden so schnell laufen sehen.“ „Gehen“, antwortete er, „ich gehe“, und er fühlte sich um Jahrzehnte jünger und zurückversetzt in die Vormauerzeit. Etliche Male ist er seit dem mit dem Trabant, wie er es nannte, zu „Abenteuerkäufen“ gefahren, hat fröhlich wie lange nicht mehr Farbe, Holzlasur, ein neues Toilettenbecken, Armaturen, Wasser- und Abwasserrohre, mit allem Drum und Dran für die Toilette und für den Rohrabzweig zur Sickergrube in den hinteren Garten gekauft; hat Profilbretter für die Veranda und Fliesen für die Küchenecke und sogar ein Toilettenbecken erworben, eine neue Stromleitung gelegt und vorhin die neue Klingelanlage angeschlossen. Nun muss er noch das Handwaschbecken mit dem Schwenkarm festschrauben und dann die Zu- und Abflussrohre, tropfdicht zusammensetzen. Das neue Toilettenbecken steht bereits. Er bestreicht den Außenring der Rohrenden mit einem Spezialkleber, steckt sie behutsam aneinander, stützt sie mit Holzkeilen ab, erhebt sich, in der Enge vorsichtig die Füße setzend, dreht behutsam am Wasserhahn, lässt das Wasser laufen. Atmet auf. Die Verbindungsstellen halten dicht. Heute Abend wäre der Kleber hart. Und er könnte sich zur „Brombeere“ begeben, einem winzigen Gartenlokal in der Summter Straße, wohin er sich mit Heinz Eltermann und Horst Rentscheid auf zwei, drei Bier und einige Kurze verabredet hat. Vielleicht auch holten sie ihn ab.Er musste nur aufpassen, dass er nicht wieder versackte, sonst fiele der Grillabend ins Wasser. Er freute sich kindisch darauf, mit den beiden auf das sanierte Klo anzustoßen und auf die deutsche Einheit, obwohl ihm diese Tatsache noch recht abstrakt erschien, noch von keiner anderen Wirklichkeit bestätigt, als von seinem diffusen Empfinden: Er wusste einfach nicht, wie er sich zu geben hatte. Was man ihm offenbar ansah. Erst kürzlich standen er und seine Frau auf dem S-Bahnhof Wollankstraße. Sie schauten zur Ostseite, schauten zur Westseite, schauten nach der ausbleibenden S-Bahn und unterhielten sich leise, als sie unvermittelt ein verwahrlost aus­sehender Mann, der auf einer Bank saß, hasserfüllt ansprach: „Blöder Ossi, du.“ Plinski war entsetzt, verblüfft. Was hatte er dem Mann getan? Und woran hatte der erkannt, dass er aus dem Osten kam?

Das vorige Staatsgebilde war fort, und das jetzige spielte sich ab wie ein Theaterstück auf bekannter Bühne mit neuen Kulissen und neuem Vorhang. Täglich hatte er sich fremden Begriffen und Gewohnheiten zu beugen, so dass er sich mitunter wunderte, dass seine Arme, Beine, sein Kopf, sein Denken noch zu ihm gehörten. Er war sich nicht sicher, wie er zu sein hatte, und was von seinem bisherigen Wesen noch galt. Sein Fachwissen wirkte antiquiert, seine Freundlichkeit naiv, er selbst, verfallen wie die alte Ostwährung. Was er aussprach, passte oft nicht mit dem überein, was von ihm an Worten erwartet wurde. Es zählte nicht mehr, und das, was zählte, gehörte noch nicht zu ihm, hatte er früher von weitem bewundert, im Westrundfunk und Westfernsehen.

Das wuchtige Zufallen einer Autotür reißt Plinski aus seinen Gedanken. Alles wandelt sich, denkt er und lächelt, sogar das Zufallen von Autotüren, da er an die widerspenstigen Türschlösser seines Trabant denken muss. Als es kurz darauf klingelt, kniet Plinski unter dem noch provisorisch angebrachten Handwaschbecken und müht sich schweißtriefend das Anschlussstück zur Sickergrube einzupassen. Zuerst glaubt er, Heinz und Horst wollten ihn schon jetzt zur „Brombeere“ abholen und ruft: „Immer mit der Ruhe, Jungs. Moment!“, obwohl ihn von hier aus an der Gartentür niemand hören kann. Er blickt auf die Uhr. Zehn nach drei. Nee, die beiden haben erst um vier Feierabend. Noch einmal klingelt es. „Moment, Moment!“ Der Ton der neuen Klingelanlage, beunruhigt ihn, klingt so hysterisch. Behutsam legt er die Rohrmuffe, deren Verbindungen er eben mit einem Kleber bestrichen hat, auf das Abwasserrohr, erhebt sich ächzend, die Hände verschmutzt und klebrig, drückt die Türklinke mit dem Ellenbogen, geht zum Terrassenfenster des Zimmers und blickt zur Gartentür. Durch die graue verblühte Goldraute und die tiefhängenden Äste der Kiefer schimmert es rötlich, als hätten die Nadeln Feuer gefangen. Er hört das zögerliche aber bestimmte Rufen einer hellen Stimme und sieht jemand an der Gartentür stehen. Eine Frau. Weiter links sieht er eine weitere Frau, die wie suchend am Zaun entlangschlendert. Stirnrunzelnd geht er hinaus, betritt zögerlich die Terrassenstufen und nähert sich dem Zaun. Da haben die beiden Frauen bereits den Garten betreten. Vor dem Grundstück neben dem ungepflasterten Gehweg parkt ein geräumiger beigefarbener PKW. Plinski erkennt das Audi-Zeichen.

„Guten Tag, Herr Plinski.“

„Guten Tag. Sie wünschen ...?“

„Entschuldigen Sie, dass wir gleich hereinkommen.“

„Ja, das sehe ich ...“

„Ich bin Elfriede Langenfeld aus Heidenheim - die Eigentümerin dieses Grundstücks, und dies ist Frau Rosenbach, meine Anwältin. Wir würden gern mit Ihnen sprechen.“

Plinski fährt ein eisiger Schreck in die Glieder. In die Richtung „Eigentum“ hatte er bislang nicht gedacht. Auch das Wort Rechtsanwalt ist ihm wenig geläufig. Klingt bedrohlich. Er möchte freundlich sein, doch erst einmal bleibt ihm die Luft weg, und er weiß nichts zu antworten. Frau Rosenbach, kleiner als Frau Langenfeld mit kurzem dunklen gescheiteltem Haar in dunkelblauem Kostüm, eine kompakte Videokamera am Band um den Hals, die sie wie eine Maschinenpistole im Anschlag hält, nickt beiläufig, taxiert mit gleichmütiger Mine das Grundstück. Sie grüßt mit einem Sekundenlächeln, und blickt sogleich wieder ernst und beobachtend, als sie Günter Plinski die Hand reicht und hält sich einen halben Schritt hinter ihrer Mandantin. Frau Langenfeld, eine dünne Person Mitte fünfzig mit graublondem gewelltem Haar trägt eine goldverzierte Brille von der Größe eines Kinderfahrrades. Ihren mageren Hals umhüllt ein voluminöses rubinrotes Seidentuch, über dem Arm trägt sie eine schwarze Handtasche, in die sie umständlich ihren Autoschlüssel steckt.

Plinski atmet endlich durch und versucht Raum und Zeit mit seinen persönlichen Koordinaten in Einklang zu bringen; fühlt sich aber in seinen verschwitzten blauen Arbeitsklamotten mit seinen schmutzigen Händen wie nackt in der Savanne, in der plötzlich ein Löwenrudel auftaucht. Was jetzt? Was ist zu tun? Was zuerst? Er stammelt mehr als spricht: „Bin gerade bei - bei der Sanierung der Toilette, kann Ihnen leider nicht die Hand geben, ziehe mich rasch um - Moment, bitte.“

„Lassen Sie sich Zeit, Herr Plinski. Wir schauen uns derweil ein wenig um“, sagt Frau Langenfeld eindringlich freundlich und geht mit ihren Blicken bereits spazieren. Plinski stapft zurück ins Häuschen, steht unendlich lange Augenblicke starr im Raum. Eine Bilderchronik von zwanzig Jahren durchläuft seine Gedanken: die Frühlinge, Sommer, die Mühen seiner Frau, seine heranwachsenden Jungen, das Stück Heimat, die Kiefernwälder, die Havel, das Briesetal; seit neunzehnhundertzweiundsiebzig hatten sie hier die DDR überdauert, waren nie verreist, doch, eine FDGB-Reise nach Usedom. Er blickt, zitternd am ganzen Körper, schwer atmend wie leer auf die frische Holzverkleidung, geht, als er sie erkennt, ziellos einige Schritte hier hin und dort hin; hat endlich eine leise Ahnung, wo er sich befindet, dreht am Wasserhahn in der Kochnische, sich die Hände zu waschen. Das Wasser aber ist hier noch nicht angeschlossen. Er sucht einen Putzlappen, zwängt sich in seine Toilettenbaustelle, sucht, findet ihn im Hängeschrank. Sieht dabei in der Spiegeltür die beiden Frauen im hinteren Garten. Das Rubinrot züngelt um Schuppen, Reisighaufen, Blumenrabatten, Tischtennisplatte, um das Baumhaus seiner Jungen. Die Rechtsanwältin bewegt sich zielsicher protokollierend mit der Kamera vor dem Gesicht. Plinski schüttelt unwillig den Kopf, dreht sich weg vom Fenster. Was soll daraus werden? Tritt in seiner Erregung auf das frisch verklebte Rohr, das auseinanderbricht; ein Teil splittert, beinahe stürzt er, vertritt sich den Fuß, reißt, als er sich zu halten sucht, das neue Toilettenbecken aus der Verankerung, greift wie schlaftrunken das Stück Seife vom Magnethalter, dreht am Wasserhahn. Das Wasser fließt auf den Fußboden zwischen die zertretenen Rohre. Er weint, flucht, wischt sich die Hände an der Hose, zieht hastig eine andere Jacke über, sucht einen Kamm, fährt sich, als er keinen findet, mit der feuchten Hand durchs Haar, wischt sich die Augen, zwängt sich ins Zimmer, geht schleppend langsam zurück in den Garten, trifft die Damen an der Terrasse.

„Ja, Herr Plinski“, spricht Frau Langenfeld, „ich habe schon mal durch Frau Rosenbach den Garten filmen und fotografieren lassen. Ich möchte Ihnen sagen“, sie betrachtet pikiert Plinskis schmutzverwischtes Gesicht, vertieft sich in den Anblick seiner keck geformten Nase, „ich beanspruche den Garten wegen Eigenbedarfs. Meine alte Mutter möchte herziehen, später werde ich dazuziehen. Wir wollen hier ein Haus bauen.“ Sie streckt sich und deutet mit weiter Geste auf den hinteren Garten und den Bungalow und verschränkt die Finger fast bittend vor ihrem rubinroten Schal. „Sollten wir dies nicht verwirklichen können, werde ich das Grundstück verkaufen. Dann lasse ich von dem Geld unser Haus in Heidenheim sanieren.“

„Wann?“, hört Plinski sich fragen.

„Sobald als möglich.“ Sie schlendern zu dritt durch den Garten.

„Können Sie uns das Grundstück nicht noch einige Jahre verpachten – ich meine, bis unsere Kinder größer sind? Wissen Sie, … wir waren so lange Jahre darauf angewiesen, und jetzt so plötzlich ...“

„Ich verstehe Sie, Herr Plinski, aber das ist leider nicht möglich.“ Plinski versteht, dass sie nichts versteht. „Ich brauche eine neue Hüfte.“ Sie hinkt einige Schritte.

„Muss man sich die kaufen?“, fragt Plinski ehrlich verwundert, erntet von der Rechtsanwältin einen fragenden Seitenblick. Frau Langenfeld blickt ihm nur flüchtig in die Augen. „Und, wie ich schon erwähnte, meine Mutter möchte herziehen - in ihre alte Heimat …“

„Wie alt ist Ihre Mutter?“

„Darauf muss ich nicht antworten. - Anfang Achtzig.“

„Und da soll sie herziehen...?“

„Ich denke, das geht Sie herzlich wenig an, nicht wahr, Susu?“ Frau Rosenbach nickt, sagt dann: „Richtig! Herzlich wenig, Herr Plinski, nämlich gar nichts“ und geht wieder schweigsam, beobachtend neben ihnen. Frau Langenfeld sucht angestrengt zwischen den Feldsteinen an der Terrasse nach weiteren Worten. „Außerdem möchte meine Stieftochter, Tochter aus der ersten Ehe meines Mannes, das Geld sofort. Sie verkehrt mit mir nur über einen Anwalt. Und schließlich müssen wir, wie ich schon erwähnte, dringend unser Haus in Heidenheim sanieren. Doch genau wissen wir noch nicht, was werden soll, wie es weitergeht...“

Mit Bangen denkt Plinski daran, dass er keinen Anwalt hat. „Sie hätten uns doch schon früher schreiben können, anfragen, wie es uns mit dem Grundstück ergangen ist, wie wir es kultiviert haben … Und - damit wir nicht mehr investieren und so.“

„Das hätte nichts geändert, nur alles verzögert. - Und, da Sie es erwähnen, Herr Plinski, ich muss Sie bitten, ab jetzt weder am Grundstück, noch am Bungalow etwas zu verändern ...“

„Ich saniere gerade die Toilette und den Zulauf zur Abwassergrube ...“

„Das ist Ihr Risiko, ich kann Ihnen nur raten, investieren Sie hier nichts mehr. Für eine Entschädigung zählt der Stand dritter Oktober neunzig.“ Frau Langenfeld spitzt zuckend die Lippen, bemüht, ihrem Gegenüber nicht in die Augen zu sehen. Frau Rosenbach nickt tief und heftig. Günter Plinski ängstigen die Gesichter der beiden Frauen, die er nicht zu lesen vermag, diese Arten von Lächeln und beobachtender Mimik, die Gefühlsregungen verbergen.

Er nimmt all seinen Mut zusammen und sagt: „Ich glaube nicht, dass Sie so einfach kündigen können. Sie müssen doch erst einmal die neuen Gesetze abwarten.“

„Ach, Herr Plinski“, Frau Langenfeld senkt mütterlich ihre Stimme und lächelt mitleidig, „die neuen Gesetze sind unsere alten Westgesetze, ich bin die Eigentümerin, daran ändert kein Gesetz etwas, - und – es gibt den freien Markt, auch daran ändert sich nichts. Daran müssen Sie sich gewöhnen.“

„Sie kennen doch die politische Entscheidung des Einigungsvertrages“, sagt die Rechtsanwältin.

„Nein, um welche Entscheidung handelt es sich?“

„Um Rückgabe vor Entschädigung.“

„Nein, davon habe ich noch nichts gehört. Das sagt mir gar nichts. - Wir haben einen Pachtvertrag mit der Gemeinde.“

„Ja, ja, das galt bis vor drei Wochen. Der Pachtvertrag ist ab dritten zehnten neunzig hinfällig.“

„Das müssen wir erst noch sehen. Sooo einfach geht das nicht ...“

„Noch einfacher, Herr Plinski.“ Die Eigentümerin schaltet sich ein: „Sollten wir vom Kauf zurücktreten, Herr Plinski, können Sie das Grundstück selbstverständlich erwerben. Den Preis werden wir noch errechnen, nach unserer vorläufigen Schätzung dürfte der Verkehrswert im Berliner Umland etwa bei einhundert D-Mark pro Quadratmeter liegen.“

„Sie sind spaßig, Frau Langenfeld, oberspaßig! Woher sollen wir von einem Tag zum anderen dermaßen viel Geld auftreiben?“

„Das ist Ihre und nicht meine Angelegenheit, Herr Plinski.“

„Durch einen Kredit, beispielsweise“, wirft Frau Rosenbach ein.

„Übrigens“, Frau Langenfeld blickt sich um, „das Grundstück erscheint mir für tausend Quadratmeter recht klein. Haben Sie etwa ein Stück davon dem Nachbarn – veräußert?“

Plinski gelingt es nicht so rasch, zu Trauer, Ratlosigkeit und Wut auch noch seiner Entrüstung Platz einzuräumen, ehe er antwortet: „Im Gegenteil Frau Langenfeld, zwei Meter auf der rechten Seite gehören diesem Nachbarn. Die drei Grundstücke waren neunzehnhundertsiebzig falsch vermessen worden, lagen ja seit Kriegsende ohne Nutzer und ohne Zaun.“

„Also, ich weiß nicht“, antwortet Frau Langenfeld und zupft ihren Schal zurecht das die Funken fliegen, „ich war neunzehnhundertzweiundvierzig als Kind mit meiner Mutter hier, da erschien mir der Garten wesentlich größer. Na, wir werden ins Grundbuch schauen und dann nachmessen. - Guten Tag, Herr Plinski, wir wollen Sie nicht länger aufhalten. Sie hören von uns. Wir werden Ihnen die Kündigung zustellen und den Zeitpunkt, zu dem Sie hier räumen müssen.“

Nach dem die beiden Damen abgefahren sind, sitzt Günter Plinski vor dem Panoramafenster, raucht, betrachtet die vielen vertrauten Details im Zimmer, am Häuschen, im Garten – und fühlt sich nahe einer Ohnmacht.

Als es klingelt, schreckt er aus einen Albtraum. Es dämmert bereits. Er muss eingeschlafen sein. Heinz und Horst kommen in den Garten, zur Terrasse. Rufen: „Hallo, Günter!“, treten ins Haus. Heinz duckt sich. Er ist lang und stößt sich fast den Kopf, knipst das Licht an. „Na, ausgeschlafen?“ Horst folgt ihm. Er öffnet eine Flasche Bier, die er in der Hand trägt und reicht sie Plinski. „Hier, alter Junge, kannst schon mal vorkosten.“

Plinski erhebt sich von der Liege, greift die Flasche. „Danke.“ Er freut sich, seine Freunde zu sehen und lächelt müde, fühlt sich wie zerschlagen.

„Feierabend!“, sagt Heinz. - „Wir sahen deinen Trabbi und das Licht am Schuppen ...“

„Hab'n Nickerchen gemacht.“

„Haah.“ Heinz atmet hörbar durch, fährt sich durchs gelockte Haar. „Dein Zimmer riecht wie‘n Fichtenwald. Hast du sauber hinbekommen, ehrlich.“ Er begutachtet die holzverkleideten Wände. „Toll! Sehr gemütlich!“ „Musst die Bretter jetzt nur noch lasieren“, sagt Horst und schaut in die Toilette. „Bist du fertig mit der Baste­lei?“ Er zuckt zurück. „Günter, was ist hier los?“ Jetzt schaut auch Heinz in die Toilette. „Halloo! Wieso ist alles zertrampelt?“ Die beiden Freunde stehen mit fragenden Gesichtern. Plinski setzt die Flasche an den Mund und trinkt. „Ich hatte Damenbesuch.“ Dann zieht er sich eine Jacke über, geht zur Tür und knipst das Licht aus.

2 Das Insekt

Ich sitze unter‘m Pflaumenbaum und schreibe. Eine Fliege stört mich, wie ich so sitze und grüble. Ich schlage sie tot. Werfe sie mit Abscheu, weil ich‘s im Zorn tat, auf den Boden. Im Zorn erhält jede Tat eine neue Dimension.

Wie ich die Fliege so betrachte und über meine Tat nachsinne, kommt eine Wespe und trennt der Fliege den Kopf ab.

Ich bin entsetzt über diesen widerlichen Kompagnon und zertrete ihn.

1978

3 Das Mädchen auf dem Monitor

Vom Bahnhof begab sich Florina durch das Gewühl der Jugendlichen zur Telefonzelle und wartete dort länger als eine halbe Stunde. Doch ihr Freund kam nicht. So ließ sie sich betrübt zwischen Mädchen und Jungen treiben, die außer erfrischenden Plätzen keine bestimmte Richtung zu suchen schienen und wohl nur auf den kühleren Abend mit Feuerwerk und Fackelzug warteten. Der gewittergrünlich gefärbte Himmel schickte vagen Trost auf Linderung der Hitzequa­len.

Florina wurde geschoben von der Menschenmenge, rauchte, nahm mehrere Anläufe, zum Bahnhof hin auszubrechen. Die Unruhe der Stadt jedoch übertrug sich auf sie, hielt sie zurück. So überließ sie sich träumend dem Strom aus selbstversessenen Schritten, Rufen, Gesprächen, Rempeleien, vertrauend auf Zufälligkeiten.

Lachen klang von den Wasserspielen her, die dicht umdrängt, an den Rändern voll besetzt waren. Man lag, saß oder stand, bekleidet in Jeans und Blauhemden, im Wasser oder unter Fontänen. Ihre Körpertemperaturen gesenkt, mischten sich die triefenden Gestalten unter das Gewühl, bis alle Fäden am Körper getrocknet waren. Jede Art von Erfrischung war gefragt, die leiseste Andeutung eines Schat­tens wurde belagert wie eine Oase. Man lehnte an Stämmchen junger Linden, den Kopf unter der winzigen Kugelkrone, oder saß an den Wänden der Marienkirche. Kein Lufthauch. Schwüle. Jeder mühte sich, zu den wenigen Getränkeständen, zur eventuell kühleren Bahnhofshalle, zu den Springbrunnen zu gelangen.

Florina hatte anfangs geglaubt, ihren Freund zu sehen mit einem gewaltigen Strohhut, an der Hand ein Mädchen. Jetzt sah sie ihn im Springbrunnen sitzen, das Mädchen auf seinen Knien. Obwohl sie wusste, dass ihre Fantasie sie belog, stockte ihr mehrmals der Atem. Doch sicher, wie schon häufig, arbeitete er noch schweißgebadet in der Emailliererei, weil ein Kollege der Nachmittagsschicht fehlte.

Unter einem Strebepfeiler des Fernsehturms saßen gedrängt Mädchen und Jungen und sangen Volkslieder, zu denen sie ein junger Mann mit verwegen zottigem Haar aufforderte, der dabei Gitarre spielte. Schonungslos schlug er auf die Saiten und versuchte, die dumpfe Reglosigkeit zu besiegen. Im Takt schlugen seine Zuhörer die Hände auf ihre Schenkel, klatschten, sangen, als spürten auch sie, aus ihren Körpern sei durchaus Begeisterung herauszuklopfen.

Florina war indessen zum Eingang des flachen Glas-Stahl-Baus geschoben worden, vor dem mit Megaphon ein Auktionator unermüdlich kleine Antiquitäten versteigerte. Hier schien sie an der Peripherie des Gewimmels angelangt. Das Drängen hörte auf, man stand. Ein vietnamesischer Chor hatte sich vor den Wasserspielen eingefunden und sang deutsche Volkslieder. Der Auktionator verstummte. Das heitere Lächeln der Vietnamesen, ihr feinstimmiges gebrochenes Deutsch, mit dem sie „Am Brunnen vor dem Tore“ sangen, rührten die Umstehenden, und mit glänzenden Augen klatschten sie, bis das Lied endete.

Florina folgte alsbald einem steten Menschenrinnsal, das in den flachen Bau floss. Die Frau zwischen den Glastüren musterte sie streng durch ihre Brille, als müsste sich das Mädchen erst würdig erweisen, von ihr mit dem Zählwerk registriert zu werden, welches sie mit stolzer Unauffälligkeit in der Hand hielt. Langsam trommelnder Rhythmus empfing sie. Im Sonderpostamt neben der Tür hämmerte ein Sonderstempel Ersttagsbriefe. Dem Postamt gegenüber ein Buchbasar. Hinter einem der Tische kündete eben ein Autor beliebter Schwänke und Volksstücke seine Pfingstmeinung in ein dargereichtes Rundfunkmikrofon und verzierte anschließend Tücher und Bücher seiner Gäste mit seinem Autogramm.

Florina kannte den Namen des Schriftstellers und verharrte. Vor kurzem hatte sie mit ihrem Freund ein Theaterstück von ihm angeschaut. Nun traf sie des Schriftstellers Lächeln. Dieses Lächeln lächelte ganz für sich, galt dem Mikrofon, dem Gedränge vor seinem Tisch und den Ohren, die er vor den Radiogeräten vermutete. Florina aber schien es, als lächelte er nur für sie, dieses Lächeln – mit den großen Zähnen und der unreinen Haut. Sie dachte an den glücklichen Abend nach dem Theaterbesuch. Nun fühlte sie sich betrachtet von diesem Mann, beachtet, angelächelt, und ihr Selbstbewusstsein hob sich. Und so kam es, dass sie dank der gehobenen Stimmung, das schmale Hinweisschild an der Treppe nicht übersah, an der vorüber sie den Raum verlassen wollte. „Wir suchen Fernseh­ansagerinnen. Bewerben Sie sich! Deutscher Fernsehfunk. Außenstudio.“

Zweimal las sie das Schild und fühlte sich angesprochen. Ein wenig erblasste sie bei dem Gedanken der zu erklimmenden Höhe, aber schon begann sie, die ersten Stufen zu überwinden. Blanker geriffelter Stahl. Blauer Teppich, sandig. Orangefarbene Schnipsel. Sie ließ das Gewimmel unter sich und die Gedanken an gestern, und steckte ihren Kopf erwartungsvoll in die erste Etage, eine weite ovale Halle. Ein Ventilator mit Hubschrauberrotoren wehte mit sanfter Frische ein Fluidum großer Entscheidungen entgegen. Flüstern. Gedämpftes Sprechen. Sie fühlte sich angelangt in den Wolken. An der Seite zwischen weiten Fenstern das Studio: Kameras, Scheinwerfer, Tische auf denen Schreibmaschinen standen, begrenzt durch ein locker gespanntes Seil.

„Nummer zweiunddreißig bitte in die Maske!“, rief ein schlanker rotwangiger junger Mann mit Bärtchen. Er winkte mit einem Hefter und verschwand neben der Treppe hinter einer grauen Tür.

Aus der Reihe Mädchen vor dem Studio löste sich eine Blondhaarige und schritt errötend auf das Seil zu. In der Nähe der Treppe auf einem Tisch stand ein Monitor, auf dem bald darauf ihr Gesicht erschien: klein, rundlich, mit unstetem Blick. Die übrigen Bewerberinnen und Neugierige sammelten sich davor und vertieften sich in das Wunder, wie ein Mensch, eben noch schlicht und unbedeutend wie sie selbst, in ein ruhmschaffendes Fernsehporträt verwandelt wurde. Das blasse Gesicht der Blondhaarigen aber hatte keine Chance, das engmaschige Netz der hohen Aufnahmekommission passieren und Anspruch auf dauerhafte Verwandlung anmelden zu können. Schmetterlingsgleich irrte ihr Blick durch die bunte Welt des Ateliers, ohne Kontakt zu dem Auge von Millionen Zuschauern. Des Mädchens Haare waren eine Nuance zu blond gefärbt für ihre Pausbäckchen, ihre Mimik, als ginge es über ihre Würde, zu lächeln, bevor das starre Objektiv ihr diese Freundlichkeit erwiesen hätte.

Florina stand unter den Zuschauern, betrachtete das Gesicht auf dem Bildschirm, sah hinüber zum Studio, las wieder und wieder am Aushang die Bedingungen für eine Bewerbung, rieb sich nervös die Hände, ging hinter den Leuten auf und ab, blickte wieder zum Monitor, hörte den Ruf des jungen Mannes, während die Scheinwerfer verloschen und aufflammten, sah die Maskenbildnerin, die eben der Kandidatin „Nummer dreiunddreißig“ das Gesicht betupfte. Nebenan erhob sich gerade die pausbackige Blondine, ging leicht benommen von der Höhe des Ausblicks aus den Studioseilen, bewundert von den Wartenden als eine Eventuell-oder Beinahe-Ansagerin, ein Minutenfernsehgesicht, hinausgeflimmert, drei Schritte in den Äther.

„Nummer vierunddreißig bitte in die Maske!“, flötete der mit dem Hefter und drückte eine neue Bewerberin auf den Drehstuhl. Indessen saß die nächste Nummer zitternd am Beginn dieser Eintagskarriere und füllte einen Fragebogen aus. Florina wendete sich ab, schlenderte am Studio vorüber ins Rund der Halle, besah sich die dortige Plakatausstellung. Sah die Plakate aber nicht, sah immer nur ihr Gesicht auf dem kleinen Bildschirm.

Fernsehansagerin, dachte sie, und später vielleicht auch Schauspielerin! „Ich werde es versuchen“, hörte sie sich sagen. „Ich versuch’s.“

Hinter einer Plakatwand öffnete sie ihr Handtäschchen, betrachtete sich im winzigen Spiegel, blickte resigniert auf ihre Sommersprossen, hob die Augenlider, lächelte spöttisch, färbte behutsam ihre Lippen nach, durchkämmte ihr Haar.

Hässlich bin ich nicht, dachte sie, doch erinnerte sie sich der hübschen Mädchen vom Bildschirm und der vor den Studioseilen, und ihr Mut sank. Als der Ausstellungsrundgang sie zum Studio zurückführte, schritt sie trotzig, ohne nach links oder rechts zu sehen, auf das Sperrseil zu.

Ein Mann in weißem Kittel und Baskenmütze empfing sie am Tisch und erklärte ihr ausgiebig, er sei für sie nicht zuständig, sondern verkaufe für das Solidaritätskonto originale Programmbilder. Er lächelte dieses Lächeln-für-mich-und-für-jeden und blickte durch sie in die Ferne, als säßen ihre Augen am Kinn. Florina kannte den Mann aus ihrer Kinderzeit. Sonntags hatte er sie zur Märchenstunde vom Bildschirm begrüßt. Nun sah sie, dass es diesen Mann in Wirklichkeit gab, dass dieses Schirmbild lebte, und war verwirrt. Sie legte Geld auf den Tisch, erhielt ein Pappbild und ein Lächeln, das diesmal ihr rechtes Ohr zu treffen schien.

Mit dem Bild in den Händen stand sie schließlich am Start dieses unverhofften Neubeginns und erhielt ein Kärtchen mit einer Zahl. Am Nebentisch empfing sie eine freundliche Dame, die Florinas Namen in eine Liste schrieb und sie dann auf den Stuhl neben sich „in die Maske“ schickte. Hier durfte sie den Kopf zurücklehnen, um von einer gestrengen bleichen Frau mit Haarknoten geschminkt, gepudert und frisiert zu werden. Schließlich nahm sie auf dem Drehstuhl vor der Kamera Platz.