Kon-Tiki auf dem Murmelsee - Fritz Leverenz - E-Book

Kon-Tiki auf dem Murmelsee E-Book

Fritz Leverenz

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Beschreibung

Vor einiger Zeit hattet Ihr den hübschen Einfall, ein Floß zu bauen, dass Euch alle trägt. Wir haben oft darüber gestritten, ob sich Euer Abenteuerwunsch erfüllen lässt oder nicht. Euch schien es ein Leichtes zu sein, während ich skeptisch war. Mir erschien es unmöglich, dass Jungen in einer Großstadt wie Berlin eine solche Idee verwirklichen können. So schrieb ich eine Geschichte, in der ein Junge dieses Floßabenteuer träumt. Diese Traum-Geschichte hat Euch ganz und gar nicht gefallen. Mike stiegen gar Zornestränen in die Augen. Ich musste versprechen, eine Geschichte zu schreiben, in der Kinder dieses Floß nicht träumen sondern bauen. Also setzte ich mich hin und begann von neuem zu schreiben.

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Seitenzahl: 157

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Fritz Leverenz

Kon-Tiki auf dem Murmelsee

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Bevor ihr weiterblättert,

Das erste Kapitel erzählt

Das zweite Kapitel erzählt

Im dritten Kapitel erfahrt ihr

Im vierten Kapitel lest ihr

Das fünfte Kapitel erzählt

Das sechste Kapitel erzählt

Das siebente Kapitel erzählt

Das achte Kapitel erzählt

Das neunte Kapitel beantwortet

Im zehnten Kapitel

Das elfte Kapitel

Worte zum Ausklang

Impressum neobooks

Bevor ihr weiterblättert,

erfahrt ihr etwas über Gedankenschmetterlinge; davon,

dass Gänseblümchen und frisch getrimmte Pudel stören;

von klappernden Zähnen und

weshalb Frosch Max plötzlich verschwand.

Amselwerder

Irgendwann muss ich Euch von meinem Floßbau erzählt haben, der kläglich scheiterte, als ich in Eurem Alter war. Sicher erinnert ihr euch. Zwei Äste einer Kiefer hatte ich mit wenigen Brettern zu einem Floß verbunden, auf einem Handwagen drei Kilometer weit zur Havel gefahren und auf das Wasser gesetzt. Als ich mich draufstellen wollte, tauchte es unter. Mit Mühe hielt es sich selbst über Wasser. Traurig schob ich es auf den Fluss hinaus und blickte ihm nach, bis es hinter der nächsten Biegung Richtung Hennigsdorf verschwand.

Vor einiger Zeit hattet ihr den hübschen Einfall, ein Floß zu bauen, dass Euch alle trägt. Wir haben oft darüber gestritten, ob sich Euer Abenteuerwunsch erfüllen lässt oder nicht. Euch schien es ein Leichtes zu sein, während ich skeptisch war. Mir erschien es unmöglich, dass Jungen in einer Großstadt wie Berlin eine solche Idee verwirklichen können. So schrieb ich eine Geschichte, in der ein Junge dieses Floßabenteuer träumt. Diese Traum-Geschichte hat Euch ganz und gar nicht gefallen. Mike stiegen gar Zornestränen in die Augen. Ich musste versprechen, eine Geschichte zu schreiben, in der Kinder dieses Floß nicht träumen sondern bauen. Also setzte ich mich hin und begann von neuem zu schreiben. ihr wisst ja, schreiben ist keine Spielerei. Es ist mindestens so schwer wie träumen. Da ich am Tage als Lehrer an einer Schule unterrichtete, glichen meine Gedanken häufig Schmetterlingen auf einer bunten Wiese, und dazu summte und brummte mein Kopf wie von einem Bienenschwarm. Die Schmetterlingsgedanken erzählten mir eine Geschichte, die fleißigen Bienen aber summten mahnend von Schulaufgaben. Was sollte ich tun? Ich ließ zuerst die Bienen fleißig Honig sammeln, danach ließ ich die leichtsinnig-fröhlichen Schmetterlinge tanzen. So schrieb ich bis zum Schuljahresende einige wenige Zeilen. Am ersten Ferientag aber wollte ich loslegen, mir drei Bleistifte greifen, einen Anspitzer, den Anfang der Ge­schichte und einen Stoß Schreibpapier unter den Arm klemmen und mich zum Schreiben in den Garten setzen. So rasch aber kam ich nicht zum Schreiben. Da war noch meine Familie: mein Sohn, meine Tochter, meine Frau, die außer mein Schreiben noch anderes erleben wollten. Wir fuhren für zwei Wochen nach Thüringen in ein Kinderferienlager. Als wir zurück in den Garten kamen, ging es los, nein, noch immer nicht mit dem Schreiben. Ihr ahnt ja nicht, wie schwer es ist, einen Platz zum ungestörten Nachdenken zu finden. Die Kinder laufen mit Indianergeheul oder mit Fußballgeschrei durch den Garten; meine Frau zeigt mir alle Augenblicke ein neu aufgeblühtes Gänseblümchen; die linke Nachbarin erklärt lauthals ihrer Freundin äußerst dringliche Kochrezepte oder ein neues Zopfstrickmuster; die rechte Nachbarin stellt mir dreimal wöchentlich ihren frisch getrimmten Pudel “Bobby von Hohenfels” vor, und ihr Mann möchte mit mir die Tabelle der Fußball-Bundesliga anzweifeln, obwohl schon jedes Kind davon spricht, dass der 1.FC Huckebein in die zweite Liga absteigen wird. Den schönen langen Tag so viel bunte Abwechslung, dass man sich die Ohren mit Watte verstopfen möchte. Dann bleibt man aber auch taub für das Zwitschern der Vögel. Da half nur ein Gewaltstreich. Ich stand täglich im Morgengrauen auf, frühstückte leise in der Küchenecke, zog mir einen dicken Pullover über, nahm meine Schreibutensilien, schlich in den morgenkühlen Garten, setzte mich an den taufeuchten Gartentisch und be­gann zu schreiben. Oft klapperten mir zwar vor Kälte die Zähne wie eine Schreibmaschine und meine Finger malten krakelige morgensteife Buchstaben, doch ich saß gern zu dieser Zeit hier draußen. Anglern am Boddensee muss es ähnlich gehen. Es ist herrlich, zu wissen, dass sich Störenfriede zu dieser frühen Stunde selten aus dem Bett wagen. So saß ich also bibbernd in der aufgehenden Sonne und schrieb. Das Plätzchen, an dem ich saß, wurde mein Lieblingsplätzchen. Der Tisch kippelte zwar ein wenig, obwohl ich ein Stück Kiefernborke unter sein Bein schob, dafür aber stand er vor einem winzigen Teich, in dem Stichlinge schwammen. Reste einer Tierfangexpedition meines Sohnes. Ein Gartenzwerg mit farbentblättertem Gesicht bemühte sich vergeblich, sie zu angeln. Hinter dem Teich schützten mich Silberfichten und Birken vor neugierigen Blicken von der Straße her. Gleich am ersten Morgen schloss ich Freundschaft mit einem Laubfrosch, der unter den Fichten hervorhüpfte. Ich nannte ihn Max und begrüßte ihn jeden Morgen mit “Hallo, mein grüner feuchter Freund!” Max schien sich am Teich wohl zu fühlen wie ein Froschkönig. Er sprang ins Wasser, wann es ihm beliebte, und schien die Sonne, döste er den halben Tag auf einem Seerosenblatt oder einem warmen Stein. Eines Morgens blieb Max verschwunden. Statt seiner schlängelte eine silbergraue Ringelnatter am Teich. “Armer Max”, dachte ich, “passe gut auf dich auf, dein Leben ist voller Gefahren.”

Hier also saß ich und schrieb an der Geschichte von Tim Brausewetter. Anfangs glaubte ich, es müsste eine urkomische Geschichte werden, bei der ihr vor Lachen vom Hocker rutscht. Dann aber begegnete ich in der Schule Tim Brausewetter und fand mein Vorhaben albern. Tim wuchs bei seinen Großeltern auf, weil seine Mutter kurz nach seiner Geburt gestorben war. Damit er die Bindung zu seinem Vater nicht ganz verlor, trug er auch dessen Namen. Sein Vater aber hatte, außer dem Unterhaltsgeld für Tim, nie etwas von sich blicken lassen. Tim liebte seine Großeltern und hätte sie um nichts in der Welt verlassen. Abends im Bett aber kam es vor, dass er eine unerklärliche Sehnsucht spürte und still ins Deckbett weinte. Denn in der großen Stadt lebte ein Mann, der sein Vater war, und den er nicht kannte. Seit Tim die ersten Buchstaben hatte lesen können, suchte er stundenlang im dicken Berliner Telefonbuch unter B den Namen seines Vaters, oder durchblätterte Berliner Zeitungen, weil er glaubte, unter den vielen gedruckten Namen müsste er irgendwann einmal den Namen Brausewetter lesen. Den Namen Brausewetter aber fand er weder im Telefonverzeichnis, noch druckte ihn die Zeitung. Tim aber war ein tatendurstiger Junge und erlebte tagsüber noch andere Aufregungen, als nur die Suche nach seinem entlaufenen Vater. Seit er mit seinen Großeltern im Neubauviertel Amselwerder wohnte, war er täglich auf der Suche nach Abenteuern. Denn Abenteuer, das muss ich euch nicht sagen, sind ja ebenso wichtig, wie die Schule. Aber das braucht ihr nicht eurer Lehrerin oder Eurem Lehrer zu sagen. Sie könnten meine Worte missverstehen und euch in komplizierte Gespräche verwickeln. Es kann nämlich sein, dass sie sich an ihre Kindheit gar nicht mehr erinnern, entweder haben sie vergessen, dass sie selbst einmal Kind waren, oder sie hatten sie aus Bequemlichkeit einfach abgelegt, wie eine noch brauchbare aber nicht mehr moderne Jacke, oder sie war ihnen wie eine ihrer ersten Krakelzeichnungen hinten runtergerutscht, ganz nach hinten unten, hinter die unterste Gedächtnisschublade. Vielleicht stoßen sie einmal darauf, wenn die anderen Schubladen klemmen, weil sich das Holz verzogen hat oder die Kügelchen aus dem Gleitlager herausgefallen sind. Sind sie dann noch ein klein wenig neugierig, ziehen sie das Schubfach heraus, knien sich hin, greifen weit nach hinten und halten ein zerknautschtes, zusammengeschobenes vergilbtes Papier in der Hand. „Mein Gott“, werden sie dann zu sich sagen, oder „du lieber Himmel“, falls sie über ihre Herkunft weniger nachdenken, „ach, du liebe Zeit“. „Dieses Häuschen mit der Wiese und dem Baum davor, und die blauen Wolken. Weshalb hat mir damals niemand gesagt, dass Wolken weiß oder grau aussehen. Ja,...und dann waren wir rausgegangen und sind auf den Baum geklettert. Eine Kiefer war es, oder...? Wie lange ist das her. War das überhaupt einmal? Ach, ja, unsere kleinen Abenteuer. Sie hätten ruhig größer und viel mehr sein dürfen...“ Und diese Abenteuer hielten Tim so sehr in Bewegung, dass er darüber beinahe die Suche nach seinem Vater vergaß.

Das erste Kapitel erzählt

von der Idee eines Wellensittichs,

vom Foto eines Bärtigen,

davon, dass ein Müllschlucker außer Gerüche, noch andere

schlimme Nachrichten verbreitet,

und dass eine wichtige Beratung verschoben wird.

Die erdfarbene schneelose Zeit, die noch immer Winter genannt wurde, ging vorüber. Mit kräftigen Flügelschlägen flogen drei Schwäne das Krumme Fließ entlang zum Murmelsee. Es war ein regnerischer Tag und die Leute blickten misstrauisch aus ihren warmen Hochhausfelsennestern in die graugrüne Landschaft. Auch Tim Brausewetter war an diesem Nachmittag zu Hause. Er lag ausgestreckt in seinem Zimmer auf dem Fußboden und las in einem Buch. An spannenden Stellen stupste er mit der flachen Hand seine Stupsnase in die Höhe, oder wühlte aufgeregt in seinem dunklen Haar, das sich in zerzausten Girlanden um seinen Kopf ringelte. Was ist mit dem Jungen bloß los?, dachte Großmutter, die aus der Küche herüber sah. Liegend kannte sie Tim nur abends im Bett. Er wird doch nicht krank sein? Vielleicht war das Aprilwetter zu kühl. Ich weiß nicht, was ich dem Bengel bei diesem Wetter anziehen soll. Morgens Schneeflocken, mittags Frühlingssonne, nachmittags Herbstregen. “Möchtest du warmen Tee trinken?”, fragte sie Tim. “Hmm, ja, nur nicht zu krümelig.” “Wie bitte? Krümelig? Der Pfefferminztee?” Großmutter blickte besorgt. Es wird doch nichts Ernstes sein. Sie kannte ihren Enkel. Wenn der sich erkältete, dann richtig. Fieber. Husten. Tagelang im Bett. Doch seit einigen Wochen hatte Tim ein Fieber gepackt, das sie noch nicht kannte, eine Unrast, die ihn nicht einmal im Schlaf zur Ruhe kommen ließ. Es kribbelte Tim in Kopf, Händen und Füßen, sobald er aus der Schule kam. Selbst jetzt, während er las, schwebten seine Gedanken außerhalb des Buches wie ein Netz, in dem sich Abenteuerideen verfangen sollten. Tim hätte es nicht sagen können. Er suchte unbestimmte, überraschende, verblüffende Einfälle. Er sah die Welt voll der unglaublichsten Wunder und buntschillernder Dinge. Er wollte das Leben so sehen, dass ihm am Morgen beim ersten Augenaufschlag das Herz rascher klopfte, die Füße wie von selbst aus dem Bett sprangen und sein Gesicht jede aufkommende Schlechtwetterwolke verscheuchte. Er brauchte eine Idee, die Tobi begeisterte. Sollte er weiße Mäuse mitnehmen zu Tobis Meerschweinchen? Nein, das hatten sie schon probiert. Das gab kein bisschen Aufregung. Mäuse und Meerschweinchen vertrugen sich blendend. Eine Katze? Nee, das brachte Ärger. Sollten sie Knallplätzchen knallen lassen vor der Tür des dürren Herrn Zauselnies? Auch Quatsch! Knallplätzchen zischten bloß, davon erschrak sich Herr Zauselnies in zehn Jahren nicht. Tims Blicke glitten durchs Zimmer und blieben am hellblauen Wellensittich Jacki hängen. Jacki müsste ein Raubvogel sein. Er kramte Papier und Bleistift aus seinem Basteltisch und zeichnete eine erregende Jagdszene: Ein Riesenwellensittich stürzt sich mit harkenähnlichen Krallen auf ein Tier, das einen Fuchs darstellte. “Sieh, mal, Oma!” Tim lief mit dem Zeichenblatt wedelnd auf den Flur und schlug die Zimmertür hinter sich zu. Frau Neumann guckte erstaunt über den Rand ihrer Brille. “Der Vogel Greif? Wie kommst du darauf?” Vertieft in seinen fehlgedeuteten Raubvogel, ging Tim zurück in sein Zimmer. Da hörte er es rascheln. Neugierig warf er sich hin und blickte auf dem Boden umher. Jacki tippelte vor der Tür hin und her, vergeblich bemüht, mit einem Papierschnipsel durch den dielenfreien Spalt zu gelangen. Tim lag auf dem Bauch und sah dem Vögelchen interessiert zu. Er stupste sich einige Male gegen die Nase und schnitt ein Gesicht, als stünde er kurz vor einer wichtigen Entdeckung. “Ich hab’s!”, rief er plötzlich, “ich habe es!” und sprang auf. ”Ich rufe nur rasch Tobi an.” Seine Augen glänzten, als er ans Telefon ging. Großmutter atmete auf, als sie ihren Enkel munter wie immer sah. “Bitte, wenn es so dringend ist.” Tobi, Tobias Krumbiegel, war Tims bester Freund und saß in der Schule eine Bank vor ihm.

Tim ruft Tobias an

Hatte Tim eine neue Idee, erfuhr Tobi sie zuerst. “Tobi? Du. Ich habe einen tollen Plan. Ja. Gleich morgen früh. Hole mich zehn Minuten früher ab als sonst. Unten an den Briefkästen, tschüs!”

Den Rest des Abends beschäftigten Tim noch eine Reihe wichtiger Besorgungen: Ein Blick ans Schlüsselbrett, eine alte Zeitung, die er zu Heftgröße gefaltet in seine Gesäßtasche steckte und langes Kramen in seinem Basteltisch. Am nächsten Morgen klingelte Tobi wie verabredet. Tim begrüßte ihn stürmisch durch den Türlautsprecher, griff seine Schultasche und rannte die Treppen der acht Stockwerke mehr fliegend als laufend hinunter, um einiges schneller als der Fahrstuhl. Unten landete er außer Atem und mit gewichtiger Miene, als wüsste er ein Geheimnis und könne es nur schwer verbergen. Tobi blinzelte ihn an und fragte: „Na, was haste?“ Er ahnte Gewaltiges. Tim reichte ihm mit unbewegtem Gesicht einen schweren Schlüssel und sagte: “Komm’ mit in den Keller!” Tobi folgte ihm. Vor einer grauen Stahltür hielt Tim. “Schließ’ bitte auf!”, forderte er. Tobi schloss die Tür auf. Dumpfer Gestank drang ihnen entgegen. “Pfui, Teufel! Das ist der Müllraum”, rief Tobi und rümpfte enttäuscht die Nase. “Dafür bin ich zehn Minuten eher gekommen?” “Bitte, schließe mich jetzt hier ein“, sagte Tim unbewegt, „und geh‘ zur Schule. In zwei Minuten komme ich hinterher.” “Einschließen? – Aha, du hast einen zweiten Schlüssel.” “Nein, Ehrenwort, du kannst den Schlüssel ja außen stecken lassen.” Tobi glaubte nicht an Zauberei. “Willst du durch den Müllschlucker klettern?” “Bin ich ein Stinktier? – Außerdem, passe ich da nicht durch.” Tobi war sprachlos. Tim konnte sich doch nicht in Nebel verwandeln und wie ein Flaschengeist durchs Schlüsselloch kriechen. Mit gerunzelter Stirn schloss er Tim in den stinkenden Raum und klinkte probeweise. Ein wenig tat sein Freund ihm leid. “Soll ich wieder aufschließen?”, fragte er. “Nein!”, kam es von drinnen, “geh‘ endlich! Sonst kommen wir zu spät zur Schule.” Zögernd stieg Tobi einige Stufen hoch, blieb nachdenklich stehen und kehrte rasch um. “Ich weiß, wie du rauskommst. Du wartest, bis jemand in den Keller geht, und dann rufst du um Hilfe.” “Die Leute sind arbeiten, oder geht dein Vater so früh am Morgen in den Keller?” „Stimmt“, dachte Tobi, „so leicht kommt Tim bis zum Unterrichtsanfang nicht frei“. Im Müllraum raschelte es. “Kramst du in den Abfällen nach einem Schatz? Oder ... du wartest auf die Müllautos.” “Quatsch! – Reite endlich los!” “Na, schön. Wenn ich aus der Schule komme, schließe ich wieder auf”, tröstete Tobi seinen Freund und ging. Es wurde Zeit. Sollte Tim schmoren und den Unterricht versäumen.

Tim lauschte den verklingenden Schritten, bis die Haustür ins Schloss fiel. Er hatte die Zeitung aus seiner Hosentasche sorgsam entfaltet. Wie er sie jetzt mit der Hand glatt strich, fiel sein Blick auf das Foto einer Gruppe Männer in Arbeitskleidung. “Getränkefirma Müller & Meyer” stand unter dem Foto zu lesen. Tim kniete auf der Zeitung und las wie gewöhnlich die Namen. Er las sie zweimal, dreimal und noch einmal und schluckte an einem Kloß. Der dritte Mann von links hieß – Brausewetter. Sollte dieser vollbärtige Mann, der seine Kollegen um Kopfeslänge überragte, sein Vater sein? Tim zitterten die Hände. Stimmte es, sah er seinen Vater jetzt zum ersten Mal. “Mein Vater”, flüsterte er. „Vater“. Wie ungewohnt das Wort klang. Er drückte seine Nase beinahe ans Foto, um dem bärtigen Brausewetter in die Augen zu sehen. Doch das Foto war unscharf, und der Mann verbarg seine Augen hinter einem Grauschleier. Tim wollte das Foto gut aufbewahren. Vielleicht kam er irgendwann einmal zur Getränkefabrik. Nur Tobi wollte er das Foto zeigen. Tim schreckte aus seinem Nachdenken. O, je, die Schule. Wie lange saß er schon hier unten? Tobi würde sich bereits freuen. Er blickte auf die Stahltür. Hoffentlich ging es hier auch so glatt, wie zur Probe an seiner Zimmertür. Er nahm die ausgebreitete Zeitung und schob sie durch den Spalt unter der Tür, bis nur noch ein schmaler Rand hervor sah. In der Stille hörte er sich selbst atmen. Da, mit einem Mal ein Höllenlärm im Müllschacht. Scheppernd und polternd, wie Gespenster mit schweren Ketten, stürzte es aus der Höhe und zerschellte klirrend im Stahlcontainer. Tim presste sich erschrocken an die Tür. Jetzt hörte er Männerstimmen. Sie schallten dumpf, als steckten die Männer kopfüber im Schacht. Tim verstand jedes Wort. Nahe der Öffnung die knarrende Stimme gehörte Herrn Zauselnies. Der also warf Flaschen in den Müll, dieser Knausel. Jetzt rückte die zweite Stimme näher, und Tim erkannte die Stimme von Herrn Piepenbusch. Dieser ungemütliche Dicke. Da haben sich die beiden Richtigen getroffen, dachte er. Sie wohnten einander gegenüber in der dritten Etage. Erneut rauschte eine Ladung in den Container. Diesmal eine leisere. “Wissen Sie ... unerhört ... bodenlose Frechheit ... Zum dritten Mal in dieser Woche keine Zeitung. ... aus dem Briefkasten ... Ventile aus den Fahrradreifen ... “ Herr Piepenbusch stöhnte entrüstet. “Wer weiß”, knarrte die zweite Stimme, “ wie viele Briefe schon entwendet worden sind ... nichts ... der heutigen Jugend heilig ... dieser Tim Brausewetter ... dieser andere Lümmel ... dieser ...” “Tobias”, ergänzte Herr Piepenbusch. “ ... sagte ich ... gestern zu meiner Frau ... Hildchen, sagte ich, wenn das nicht dieser Tim Brausewetter ... stiftet noch unseren Hans-Martin an ...”

Oben schlug dumpf die Klappe zu, und Tim hörte nur noch unverständliches Gemurmel. Sprachlos und zornig lehnte er an der Tür. So eine Gemeinheit. Na, denen würde er es noch zeigen. Er guckte auf seine Taschenuhr. “Ach, du liebe Zeit ...” Nun käme er wohl doch verspätet. Hastig fummelte er aus seiner Hosentasche eine Drahtrolle, bog ein Stück davon gerade und stocherte damit im Schlüsselloch den Schlüssel in die richtige Lage. “Sachte! Sachte! Fall‘ bloß nicht neben die Zeitung!”, redete er dem Schlüssel leise zu. “Bitte, Bitte! Sonst muss ich hier im Gestank schmoren, bis Tobi mir großmütig die Tür aufschließt, und die ganze Klasse wird mich auslachen.“ Tim ächzte vor Anstrengung und drückte schließlich den Schlüssel mit leichtem Stoß aus dem Schloss, der mit leisem Klirren in den Kellergang fiel. Tim hielt den Atem an. Die Postfrau, die eben Zeitungen in die Briefkästen steckte, hielt inne. Vorsichtig zog Tim die Zeitung unter der Tür zu sich und atmete erleichtert auf: Fein säuberlich lag der Schlüssel darauf. Rasch steckte er die Zeitung wieder ein und schloss erleichtert die Tür auf.

Indessen hatte Tobi siegesgewiss im Klassenraum von einem zum anderen schlendernd geheimnisvoll verkündet, er ahne, was Tim beträfe, heute noch Unangenehmes. Zumindest würde Tim einige Unterrichtsstunden schwänzen, wenn er sich heute überhaupt noch sehen ließe. “P! Tim schwänzt nie”, rief Katja entrüstet, und blickte Tobi verächtlich an. Sie konnte es nicht leiden, dass Tobi so von ihrem Freund sprach. Jetzt kam er ihr zwar nicht mehr so nahe. Schade! Seit sie in der ersten Klasse oft mit Tim Hand in Hand nach Hause gegangen war, nahm sie ihn, wo sie konnte, in Schutz. Tobi setzte sich rechthaberisch auf seinen Stuhl und sagte: “Na, ihr werdet ja sehen!” Noch war Tims Stuhl hinter ihm leer.