Immer den Nüstern nach - Lotta Lubkoll - E-Book

Immer den Nüstern nach E-Book

Lotta Lubkoll

0,0
17,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Unterwegs in den wilden Bergen des Balkans Seit ihrer Alpenüberquerung sind Lotta und Jonny unzertrennlich. Klar, dass der putzige Esel mit von der Partie ist, als Lotta mit ihrem Freund Stefan im umgebauten Van Richtung Montenegro reist, um dort auf dem »Peaks of the Balkans«, einem spektakulären Fernwanderweg, auf alten Hirtenpfaden im Grenzgebiet nach Albanien zu wandern. Ein liebenswertes Trio Doch schnell stellen die drei fest, dass nicht alle Routen für ihre kleine Herde geeignet sind: So mancher Aufstieg ist zu steil für Jonny, das Queren von Wasserläufen ist ihm nicht geheuer und ein geeigneter Schlafplatz muss schließlich auch gefunden werden. Während ihres Abenteuers geraten die drei in einen Waldbrand, in überraschende Grenzkontrollen auf einem Schmugglerpfad und werden aus einem Sprenggebiet evakuiert. Doch mit Enthusiasmus und Improvisationstalent meistern sie selbst die schwierigsten Situationen und werden belohnt mit fantastischen Panoramen, emotionalen Begegnungen und vollkommenen Momenten unter funkelndem Sternenhimmel. »Ihre Tierliebe steckt an und bringt Sonne und viel Freude in graue und kalte Tage.« Münchner Merkur über »Sonne, Meer und lange Ohren«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:

www.malik.de

Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Immer den Nüstern nach« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

Mit 59 farbigen Abbildungen, elf Zeichnungen und einer Karte

© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Antje Steinhäuser, München

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Coverabbildung: Stefan Schiele

Illustrationen: Lotta Lubkoll

Bildteilfotos: Lotta Lubkoll, außer anders angegeben

Karte: Sophia Ulbrich, Berlin

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

((Text bei Büchern mit inhaltsrelevanten Abbildungen und Alternativtexten))

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Karte

Prolog

Teil 1

Planänderung

Sackgasse

Der wilde Westen der Via Dinarica

Hürde in der Dämmerung

Neuer Tag, neues Glück

Teil 2

Bergparadies

Ohne Erwartungen

Erste Hilfe für Jonny

Plattfuß und tierische Straßen

Teil 3

Disteln zum Frühstück

Neuer Plan, neues Glück

Hills of the Balkans

Jonnys Eselsbrücke

Hoch hinaus

Teil 4

Auf Hirtenpfaden

Zwischen Kühen und Schafen

Das Wifi-Fire

Das Leben im albanischen Bergdörfchen

Der Fast-Stierkampf

Teil 5

Eseliges Charisma

Viel Fläche, kein Schlafplatz

Begehbare Brücke, bitte

Albanische Wassermelonen-Milch

Teil 6

Ra(s)tlos

Die größte Couch Europas

Ein wild wuseliges Spektakel

Keine Pause

Teil 7

Ein Auf und Ab

Erleuchtete Pause

Üble Nachwirkungen

Ein bäriger Abstieg

Teil 8

Strandüberraschungen

Ein Eselhintern für Grenzbeamte

Explosive Sanddüne

Feuer und Flamme

(K)ein Absturz

Teil 9

Paradiesische Herausforderungen

Das Heu im Nadelhaufen

Schlaflos unterm Schlafbaum

Teamwork

52 Kochtöpfe

49 Müllsäcke

Teil 10

Tierische Heimreise

Im Tunnel der Eisenerzfabrik

Eseliges Willkommen

Eselsmilch und Herdentrieb

Ein Herz für Straßenwolf Monty

Auf der Landebahn

Epilog

Bildteil

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Karte

Prolog

»Woran denkt ihr beim Stichwort Balkan, speziell bei Albanien?«, hatten wir Freundinnen und Freunde sowie die Familie gefragt.

»Der Balkan sagt mir nicht viel. Ich weiß, dass dort Krieg war. Und ich würde gerne mehr darüber wissen. Bald reisen wir mal hin. Albanien öffnet sich ja dem Tourismus.«

»Ich denke an gastfreundliche Menschen. Früher war das Land kommunistisch, es ist EU-Beitrittskandidat.«

»Jugoslawien war damals unser erstes weit entferntes Urlaubsziel.«

»Unberührte Natur, hohe Berge, einsame Strände, leckeres Essen.«

»Abenteuerliche Straßen mit metertiefen Schlaglöchern.«

»Ein Volkstanz, bei dem man die Beine schwingt.«

»Meine Musiklehrerin ist Albanerin.«

»Wir waren dort wandern, es war traumhaft.«

Dies ist nur eine kleine Auswahl aus vielen Antworten, die wir bekamen. Sie haben uns umso neugieriger auf das kleine Land am Ionischen Meer gemacht.

Ein Jahr darauf liege ich auf einem staubigen Wanderweg in den Bergen des Prokletije-Massivs von Montenegro, habe die Beine angewinkelt und halte mir den Unterleib. Es ist heiß, obwohl die Sonne bereits hinter den hohen Fichten verschwunden ist. Ich bin erschöpft und verschwitzt und fühle mich schmutzig und kraftlos. Ich drehe mich über meine rechte Seite und krabble auf allen vieren zu meinem Wanderrucksack, den ich an den Wegrand geworfen habe. Nach kurzem Wühlen in der Deckeltasche rufe ich Stefan zu: »Ich hab welche gefunden. Gleich helfe ich wieder mit, gib mir ein paar Minuten.« Mit vor Schmerzen zusammengekniffenen Augen schraube ich meine Trinkflasche auf, öffne die Packung mit einem Fingernagel und quetsche eine Ibuflam 400 heraus. Runter damit!

Ich muss wieder aufstehen und Stefan helfen, diese depperte Eselsbrücke zu bauen. Was bleibt uns anderes übrig? Bald wird es dunkel, und wo Jonny jetzt steht, können wir auf keinen Fall campieren. Die einzige Alternative wäre, umzukehren und die langersehnte Wanderung bereits am zweiten Tag abzubrechen.

Dadurch, dass wir seit Stunden Steine schleppen, tut mir alles weh. Die unzähligen Versuche, Jonny durch den rauschenden Bach zu führen, der uns gerade voneinander trennt, waren anstrengend. Momentan steht Jonny zwischen zwei Wasserläufen. Es muss also weitergehen. Vor oder zurück. Doch leider ist Jonny wasserscheu. Als ob das alles nicht genug wäre, habe ich gerade meine Regel bekommen und mit ihr Bauch- und Rückenschmerzen, die durch den körperlichen Einsatz noch heftiger sind. Ich lege mich zurück auf die Erde, atme tief durch und warte, bis das Schmerzmittel wirkt. Währenddessen beobachte ich meinen Freund Stefan, der unermüdlich von einem Geröllhaufen aus der Nähe Steine zum Bach schleppt. Zwischendurch watet er durchs knietiefe Wasser zu unserem Eselchen und geliebten Reisebegleiter Jonny, um ihm gut zuzureden, ob er es noch einmal versuchen möchte.

»Warum hast du dir ausgerechnet das sturste Tier der Welt ausgesucht, um mit ihm wandern zu gehen? Und was bringt dir das eigentlich?«, wurde ich gefragt, als ich 2018 verkündete: »Ich werde meinen Job aufgeben und mit einem Esel wandern gehen.« Drei Monate waren wir zu Fuß unterwegs, von München über die Alpen bis ans Mittelmeer. Nur Jonny und ich. Nachdem mein Papa gestorben ist, ohne dass er sich seinen großen Traum von einer Reise mit dem Traktor und einem Zirkuswagen rund ums Mittelmeer erfüllen konnte, habe ich mir fest vorgenommen: Wenn ich eines Tages sterbe, möchte ich nicht denken müssen: Eigentlich wollte ich immer … Sondern: Ich hab’s gemacht! Durch den Zeichentrickfilm Shrek ist mein Kindheitstraum entstanden, eines Tages mit einem Esel zu reisen, wie der grüne Oger im Film.

Mein Traum von einer Wanderung bis an den Strand mit eseliger Begleitung wurde wahr und noch viel mehr als das: Ich habe mein komplettes Leben umgekrempelt. Jonny ist mittlerweile ein festes Familienmitglied, wir leben zusammen auf einem Hof in der Nähe von München mit anderen Eseln und Menschen, wie in einer besonderen WG, und fahren gemeinsam in den Urlaub.

Nach unserem Alpenabenteuer hat uns meine Neugier zum Wandern nach Spanien und Portugal gezogen, auf der Suche nach einem beeindruckenden Ort meiner Kindheit.

Unsere Routen wähle ich stets Jonny-gerecht aus. An oberster Stelle steht, dass mein Esel dabei alles hat, was er zum Glücklichsein braucht. Mit ihm zu wandern, bedeutet für mich keinesfalls, selbst kein Gepäck zu tragen oder gar schneller unterwegs zu sein. Es erfordert Kompromisse, Geduld und Einfühlungsvermögen. Schließlich ist Jonny ein eigenständiges Lebewesen. Ich genieße die Entschleunigung, die mein Esel bewirkt. Mit Jonny zu wandern, kann meditativ sein. Bin ich nicht ganz bei der Sache, merkt er es sofort und lässt sich Unsinn einfallen. Sein pures Dasein, seine minimalistische Lebensweise und seine Freude, wenn ich ihn mitnehme, inspirieren und erfüllen mich. Er zaubert mir und anderen täglich ein Lächeln ins Gesicht, und wir schenken uns gegenseitig unsere Zeit und Liebe. Was gibt es Wertvolleres im Leben?

Inzwischen sind wir nicht mehr nur zu zweit. Es ist die erste Reise, auf der Stefan von Beginn an dabei ist. Wir haben uns vor knapp zwei Jahren beim Kitesurfen kennengelernt. Er lebt eine Stunde entfernt in der Nähe des Ammersees und arbeitet als Konstrukteur im Maschinenbau. Stefan ist einen Kopf größer als ich, was bei meinen 159 Zentimetern nicht schwer ist, und hat schulterlange, gelockte Haare. Im Gegensatz zu mir besitzt er einen tiefenentspannten, pragmatischen Charakter und lässt sich nur selten aus der Ruhe bringen. Er ist für jeden Spaß zu haben. Mit unserer ersten gemeinsamen Wanderreise werden wir uns alle besser kennenlernen, und ich bin gespannt, welche Dynamiken sich dabei entwickeln. Besonders Stefan und Jonny sind dabei, sich zu beschnuppern und hoffentlich anzufreunden. Wir sind eine richtige Herde. Drei Esel auf dem Balkan.

Gerade befinden wir uns mitten im Prokletije-Gebirge, auf dem Weg zu Fuß von Montenegro nach Albanien. Wir sind neugierig, was diese Gegend für uns bereithält. Als Kind habe ich sie als Krisenregion wahrgenommen, doch wie sieht es heute dort aus? Hoffentlich schaffen wir es überhaupt dorthin, denn gerade steht Jonny wie angewurzelt vor dem zweiten Bachlauf, und wir kommen seit Stunden weder vor noch zurück.

Sind Esel wirklich stur? Nein, sie denken nur mit. Alles, was ich möchte, sieht Jonny erst einmal als Vorschlag an und entscheidet anschließend selbst, ob es Sinn für ihn macht oder nicht. An dieser Stelle hat er beschlossen, dass er die Situation mit dem laut rauschenden Gewässer nicht gut genug einschätzen kann, und rührt sich deshalb nicht vom Fleck, egal, wie geduldig ich bin. Jonny hat Angst. Die haben wir alle mal. Aber stur ist mein langohriger Kumpel nicht!

Teil 1

Planänderung

Bitte wie im Vorgängerband in die rechte obere Ecke als »Eselsohr« einfügen

Esel sind keine Fluchttiere. Droht Gefahr, bleiben sie erst mal stehen.

Sackgasse

21. Juni−1. Juli | Von München (Deutschland) bis in die Nähe von Jelašci (Bosnien)

»Unsere nächste Reise planen wir gemeinsam«, hatte Stefan im Februar 2021 verschmitzt schmunzelnd verkündet, während er unseren Campervan-Eseltransporter »Eddy« über die Autobahn in Richtung Heimat gelenkt hatte. Jonny und ich waren gerade aus Spanien zurückgekehrt, und Stefan war uns nach Freiburg entgegengereist, um uns auf der letzten Strecke Gesellschaft zu leisten. Ich hatte auf dem Beifahrersitz gesessen und vergnügt meinen Blick zwischen Jonny in seinem rollenden Reisestall und Stefan, meinem Freund am Steuer, tanzen lassen.

Ein Jahr und vier Monate später beginnt unsere erste gemeinsame Reise zu dritt – diesmal in Richtung Südosteuropa – exakt so, wie unser Spanien-Abenteuer endete. Stefan sitzt am Steuer, während ich meinen Blick erneut gut gelaunt zwischen unserem eseligen Reisegefährten und Stefan schweifen lasse.

Ich habe Eddy, meinen Campervan, vor zwei Jahren so konstruiert, dass ich hinten ein Doppelbett habe. Dieses kann ich in der Hälfte auseinandernehmen und die rechte Seite nach oben klappen. Somit entsteht eine Trennwand in der Mitte des Vans und rechts Platz für eine Pferdebox. In den Boden habe ich mit Stefans Hilfe eine Wanne eingelassen, falls Jonny pinkeln muss während der Fahrt. In der Wanne sind Antirutschmatten verklebt. So hat Jonny einen festen Stand in Fahrtrichtung. Eine Brust- und eine Po-Stange gibt es auch, und eine Einstiegsrampe kann aus dem Boden ausgeklappt werden. So können wir gemeinsam und flexibel in den Wanderurlaub fahren.

Jonnys Box ist mit einem halbhohen Raumteiler und einem stabilen Gitter von unseren Sitzen getrennt, sodass wir während der Fahrt sogar mit ihm sprechen können. Der Transporter ist besser abgefedert und leiser beim Fahren als ein Anhänger, was besonders Jonny zusagt. Er ist unkomplizierter in der Handhabung, und wir sind in direktem Kontakt. Ich merke sofort, wenn bei Jonny etwas nicht stimmt. Dies macht die Reise für alle entspannt, auch wenn wir nur kurze, Jonny-gerechte Etappen zurücklegen. Jonny steht hinter uns und vertreibt sich die Zeit damit, Heuhalme aus dem Netz zu zupfen, das ich neben ihm aufgehängt habe.

Stefans und mein Blick treffen sich: »Jetzt geht’s los. Wir drei zusammen. Ab ins Balkangebirge!« Wir strahlen übers ganze Gesicht voller Vorfreude.

Stefan ist für mehrere Monate unbezahlt freigestellt, und ich habe es gerade noch geschafft, mein zweites Buch als Hörbuch einzusprechen, bevor wir Richtung Südosteuropa düsen. Wir drei, zum ersten Mal gemeinsam unterwegs. Über mehrere Monate auf 4,5 Quadratmetern und weniger, wenn wir mit dem Zelt unterwegs sind. Wir sind gespannt, wie das funktioniert!

Auf unser Ziel, das Prokletije-Massiv – auf Deutsch »Verwunschene Berge« – in den Dinariden im Westbalkan, wurde ich aufmerksam, als ich hörte, dass es dort einen sogenannten Friedensweg gibt, der die drei Länder Albanien, Kosovo und Montenegro miteinander verbindet.

Der Peaks of the Balkans existiert als Fernwanderweg erst seit 2011. Er soll interkulturellen Austausch sowie die Zusammenarbeit zwischen den Ländern fördern, die in unmittelbarer Vergangenheit von Konflikten betroffen waren. Somit werden Frieden und Stabilität in der Region gestärkt, was sich für mich besonders jetzt, zu Zeiten des Ukrainekriegs, nach einem wundervollen Ziel anfühlt. Zudem unterstützt der Tourismus die Einheimischen, ihr traditionelles Leben weiterzuführen. Der Friedensweg führt auf alten Hirtenpfaden durch die spektakulärsten Gebirgslandschaften des Balkans sowie durch historische Dörfer, die das ursprüngliche Leben in der Bergregion zeigen.

Wir nehmen uns drei Monate Zeit für diese Reise, mit Pausen für Entdeckungen auf dem Weg, für die Fernwanderung sowie das Land Albanien. Aus Erfahrung weiß ich, dass sich mit Jonny gelegentlich unerwartete Hürden auftun können – Zeitdruck können wir nicht gebrauchen. Je mehr Zeit wir uns nehmen, desto besser können wir auf unserer Reise ankommen und Land und Leute kennenlernen. Im Moment zu leben, flexibel, ohne Uhrzeit oder festen Plan zu sein, das lehrt mich Jonny, wenn wir 24/7 gemeinsam unterwegs sind. Ich freue mich auf eine Auffrischung. Gleichzeitig bin ich gespannt, wie Stefan das Wandern mit Jonny wohl findet.

Zwei Wochen brauchen wir, um durch Österreich und Slowenien zu reisen, inklusive kleiner Abstecher mit Wanderpausen. Wir überraschen meine Oma Anneliese im Seniorenstift, machen auf einem Bauernhof am Traunsee Rast, wandern mit Jonny am 40. Geburtstag von unserem Freund David den Prater in Wien entlang, lauschen dem ersten Auftritt seiner Band Andi200, retten Hühner vor einem Fuchs in Slowenien und finden zu Jonnys Freude einen gigantischen Sandkasten zum Wälzen auf einem Waldcampingplatz im Norden Bosniens.

Dann erreichen wir die Berge von Bosnien-Herzegowina. Südöstlich von Sarajevo folgen wir einer schmalen, kurvigen Straße in die Dinarischen Alpen. In einem Wäldchen rasten wir, bis es am Nachmittag etwas abkühlt. Nun dämmert es bereits, doch noch sind wir zuversichtlich, dass wir es bis zu dem angepeilten See schaffen. Die Straße auf meiner Offline-Karte führt genau daran vorbei und endet in Montenegro. Zu Beginn ist sie geteert und verläuft in unendlich vielen Serpentinen weit hinauf und schließlich bei rosafarbener Sonnenuntergangsstimmung über eine Hochebene mit traumhafter Aussicht. Die Landschaft erinnert mich an Schweden. Überall ragen Felsen unter dem dünn begrünten Boden hervor, und vereinzelt haben sich flach wurzelnde Nadelbäume einen Platz erkämpft. In der Ferne erkenne ich einen Gebirgszug, der dunkelblau hervorsticht, während die Sonne einen hellblau-lila leuchtenden Himmel hinterlässt.

Der Asphalt ist holprig und lässt unsere Köpfe wackeln. Doch eigentlich machen wir nur Bekanntschaft mit den »ganz normalen Straßen« Bosniens. Ich sitze am Steuer. Schon bald verwandelt sich die wie ein Flickenteppich geteerte Straße in eine einspurige Schotterpiste. Immer wieder manövriere ich unseren rollenden Stall Eddy in Schrittgeschwindigkeit um tiefe Schlaglöcher.

»Hier müssen die Entfernungen ganz anders berechnet werden. Schau, wie lange wir für die letzten zwanzig Kilometer gebraucht haben. Die Straße wird immer schlechter, wo in aller Welt kurven wir hin?«, teile ich meine Bedenken mit Stefan, der erneut auf unserer Karte den Weg checkt. Handynetz haben wir seit der Grenzüberquerung nicht mehr.

Von Minute zu Minute wird es düsterer. Im Dunkeln mit Jonny einen Platz zu finden, wo wir seine Weide abstecken können, ist nicht erstrebenswert. Die letzte Ortschaft ist bereits weit entfernt. Nur einzelne Höfe finden sich am Straßenrand. Das letzte Anwesen, bevor die Piste in den Wald führt, gleicht einer Westernkulisse. Vier Männer sitzen auf der hölzernen Veranda, die zur Straße zeigt. Wir zuckeln an ihnen vorbei in Richtung Wald. Der Untergrund wird grober und steiniger, sodass ich befürchte, die Reifen könnten beim nächsten Anstieg durchdrehen. Gestrüpp ragt auf den Weg. Ich mache ein verkniffenes Gesicht, während wir den Ästen lauschen, die Eddys Lack von vorne bis hinten zerkratzen. Der Vollmond leuchtet uns zwischen den Baumwipfeln zu. Rechts von der Straße ist ein Abgrund. Links geht es steil nach oben.

Noch immer zeigt unser Navi 23 Kilometer bis zu dem See an, was für uns mindestens weitere zwei Stunden Fahrt bedeutet. »Das ist unmöglich. Wir müssen umkehren. Das ist kein Weg für Eddy. Die Reifen drehen durch, und Jonny wird müde. Wir müssen einen anderen Platz zum Übernachten finden«, verkünde ich und trete auf die Bremse.

Stefan stimmt mir zu. Er steigt aus, um mir beim Wenden auf dem schmalen Weg zu helfen. Wenn es eng wird, klopft er heftig aufs Blech. Vor, zurück, vor, zurück. Nach etlichen Rangierzügen ist Eddy bereit zurückzufahren.

Im Dunkeln kommen wir erneut an dem Hof im Westernstyle vorbei. Noch immer sitzen die vier Männer bei Laternenlicht auf der hölzernen Veranda. Dahinter befindet sich eine Wiese, und ich entdecke tatsächlich ein unscheinbares Schild, auf dem »Camping« steht. Das muss hier nicht dasselbe wie bei uns bedeuten. Meist ist mit einem »Campingplatz« nur ein Stückchen private Wiese gemeint. Doch das wäre perfekt für uns. Wir sind müde, haben den heutigen Plan verworfen und wollen nur noch irgendwo ankommen. Wenn nicht an dem Bergsee, dann eben woanders.

Ich rufe den Männern auf Englisch vom geöffneten Fenster aus zu: »Hallo. Können wir hier campen?« Einer der vier nickt uns einladend zu. »Wir haben aber einen Esel dabei.« Die Männer schauen sich fragend an. Also mache ich den typischen Esel-Laut »Ih-ah! Ih-ah!« Sie brechen in lautes Gelächter aus. Einer steht auf, öffnet das schmiedeeiserne Tor und winkt uns herein.

Der Mann trägt ein rotes verwaschenes T-Shirt und eine alte graue Schildmütze. Er hat eine drahtige Figur, und ich würde ihn auf rund 75 Jahre schätzen. Wir folgen ihm in Schrittgeschwindigkeit quer über den Hof zwischen einem kleinen Steinhaus und einem Holzhüttchen auf die Wiese. »Jetzt sind wir da, Jonny«, drehe ich mich ermunternd um, bevor Stefan und ich aussteigen und den Besitzer begrüßen. Sein Name ist Dragen, und er gibt uns gestikulierend zu verstehen, dass wir überall unser Lager errichten dürfen. Als Jonny aussteigt, macht Dragen große Augen und heißt auch ihn herzlich willkommen.

Dragen hat sich die Westernkulisse mit viel Holz- und Schnitzarbeit gebaut und bietet Übernachtungsplätze in alten Holzfässern an. Doch wer kommt hier vorbei? Es ist eine Sackgasse und eine lange Serpentinenstraße bis hier hoch. Trotz Hochsaison sind wir seine einzigen Gäste.

Am Abend sitzen wir auf der Dachterrasse unseres Campers. Wir genießen die Ruhe und die angenehm kühle Höhenluft. Der Sternenhimmel über uns funkelt so hell, dass wir die Milchstraße sehen können. Wir sind im wundervollen Nirgendwo gelandet. Eine Sternschnuppe zischt in hohem Bogen über uns hinweg. Ich überlege, was ich mir wünschen möchte.

Jonny hat sich auf seiner abgesteckten Weide direkt vor der Schiebetür des Vans zufrieden und müde hingelegt. Sobald ich etwas sage, dreht er das linke Ohr in meine Richtung, sonst bewegt er sich nicht. Stefan sitzt vor mir im Kerzenschein und grinst mich zufrieden an. Ich lächle dankbar: Ich wünsche mir, dass ich nie vergesse, wie glücklich ich gerade bin. Und dass dieses Gefühl möglichst lange anhält.

Stefan reißt mich aus meinen Gedanken: »Eigentlich schade, den Bergsee hätte ich gerne gesehen.« Dann funkeln seine Augen: »Ich hab’s! Wir fahren erst mal nicht weiter! Sondern bleiben und starten hier die erste Mehrtageswanderung. Eddy parken wir hier. Ich will so gern zu diesem Bergsee.«

Das ist ein super Plan. Stefan und ich sind uns einig, mal sehen, wie es Jonny zusagt. Ein gemeinsamer Übungstreck, bevor wir auf den Peaks of the Balkans starten, fühlt sich sinnvoll an. Besonders weil wir bisher noch nie zu dritt über mehrere Tage mit Zelt und Sack und Pack wandern waren.

Der wilde Westen der Via Dinarica

2. Juli | Bei Jelašci (Bosnien)

Am Morgen weckt uns das plötzliche Wackeln und Schaukeln unseres Bettes. Ich schrecke auf, werfe einen Blick zur geöffneten Seitentür und lasse mich mit einem erleichterten »Ach« wieder zurück neben Stefan plumpsen.

Unser langohriger Freund hat seinen Kopf unter dem Fliegennetz durchgesteckt und schubbert seinen Hals so doll am Küchenblock, dass er den gesamten Van zum Schwanken bringt. Als Jonny bemerkt, dass wir wach sind, spitzt er seine Ohren und gibt ein paar kurze »Üh – üh – üh«-Laute von sich, um auf sich aufmerksam zu machen. Der volle und inbrünstige Guten-Morgen-Gruß mit schallendem »Üh-üh-üh-üüüh« folgt knapp darauf. Ich robbe übers Bett, liege auf dem Bauch und strecke meinen Arm zu ihm hinunter. »Guten Morgen, du Rabauke. Hast du gut geschlafen?«

Zum ersten Mal sehe ich bei Tageslicht, wo wir gestern im Dunkeln gelandet sind. Vor uns liegt eine große, brache und sonnenverbrannte Wiese und dahinter wild wachsendes Buschland. Links neben der Schiebetür ist die schmale Schotterpiste, auf der wir gekommen sind. Ein Maschendrahtzaun trennt das Grundstück ab. Direkt daran angrenzend haben wir Jonnys Weide vom Van aus mit mobilen Zaunpfeilern abgesteckt und diese mit einer Weideschnur verbunden. Jonny akzeptiert seinen Zaun ohne Strom. Rechts von uns sind alte Fässer als Übernachtungsmöglichkeiten platziert. Dahinter steht ein angerosteter Oldtimerbus, eine Holzhütte mit spartanischem Waschraum und ein kleines Steinhaus, in dem Dragen und seine Frau Meliza leben.

Jonny schiebt seinen Kopf weiter in den Van hinein und kratzt sich erneut. »Ich zieh dir gleich deine Fliegenmaske über, und frisches Heu bekommst du auch«, kündige ich ihm an, während er sich zufrieden an den Ohren kraulen lässt. In dem Moment ertönt lautes Gebimmel. Jonny schreckt auf, dadurch zucke auch ich zusammen. »Was ist los?«

Da sehe ich schon die ältere Dame, die mit lauten Rufen eine Schafherde direkt an unserem Schlafplatz vorbeitreibt. Jonny hat sich in Richtung der Herde gedreht, spitzt die Ohren und ist angespannt. Aufmerksam beobachtet er das rege Treiben auf der anderen Seite des lose befestigten Drahtzauns des Grundstücks. Die Dame bleibt stehen und streckt Jonny ihre Hand hin. »Magarac!«, lacht sie und treibt ihre Schafe weiter. Ich verstehe das Wort zwar nicht, winke ihr aber freundlich zu und lasse meinen Kopf zurück ins Kissen plumpsen. Was für ein lebhafter Morgen! »Jetzt brauch ich ’nen Kaffee.«

Während kurze Zeit später die Mokkakanne blubbert, werde ich von Bosniens wundervoller Natur begrüßt. Stefan ist aufgestanden und bereitet das Frühstück vor. Er hat den Fliegenvorhang abgehängt, und so bequemt sich ein kleiner Schmetterling auf meinen linken Zeigefinger und erkundet ihn in aller Ruhe. Das zauberhafte Wesen hat einen haarigen Körper, von dem ein seichtes Hellblau vom Körper weg bis über ein Drittel der Flügel reicht. Im sanften Übergang geht die Farbe seiner Flügel ins Weiß hinein, und mit einer klaren Linie getrennt sind die runden Ränder in einem knalligen Orange. Die weißen und orangenen Flächen sind mit schwarzen Punkten übersät. Ein wunderschöner Kronwicken- oder Geißklee-Bläuling.

Wir genießen Müsli mit Obst auf dem Stalldach. Eine leichte Brise lässt es uns noch in der Sonne aushalten. Obwohl wir in den Bergen sind, wird es gegen Mittag brütend heiß. Kein Vergleich allerdings zum Tal, denn dort hatte es bis zu 42 Grad. Wir konnten nur sehr früh am Morgen oder am Abend fahren. Tagsüber war es für uns alle drei zu heiß im Auto, deshalb kamen wir gestern auch erst so spät an.

»Lass uns heute unser Gepäck sortieren, und morgen starten wir in Richtung Bergsee.« Stefan schenkt mir einen Schluck Kaffee nach. Ich bin voller Vorfreude. Jonny ist weniger entspannt, denn plötzlich bimmelt es wieder. Er nimmt seine Habachtstellung ein und beobachtet aufgeregt. »Jonny, keine Angst, da kommen nur ein paar Kühe.« Wir können sie bereits von der Dachterrasse aus sehen. Jonny verharrt stocksteif am Zaun. Doch als eine Kuh plötzlich ebenfalls am Zaun stehen bleibt, ihn anstarrt und ein lautes »Muh!« von sich gibt, zuckt Jonny zusammen und hastet hinter Eddy, um sich zu verstecken. Ich klettere runter und kraule meinen Angsthasen beruhigend, bis das »gefährliche Tier« weitergezogen ist. »Du kennst doch Kühe. Das wird spannend auf unserer Wanderung.«

Stefan streckt den Kopf nach unten: »Worüber ich mir mehr Sorgen mache, sind die Hütehunde in den Bergen. Die sind abgerichtet und so groß wie Wölfe.« Nicht nur die Hütehunde könnten eine Herausforderung werden, auf dem Balkan leben auch vereinzelt Bären. Für diesen Fall haben wir ein Bärenspray dabei, das bis zu einer Entfernung von fünf Metern pfeffersprayartig für Verteidigung sorgen kann, und Jonny wird auf den Wanderungen eine Bärenglocke tragen. Mit der macht er beim Laufen Geräusche, und so erschrecken wir hoffentlich keinen Bären am Wegesrand.

Am Nachmittag breiten wir all unser Gepäck für die Bergwanderung auf einem großen Tuch im Schatten eines Olivenbäumchens aus. Jonny möchte jedes Teil beschnuppern. »Weißt du, wo die Stirnlampe ist?« Ich wühle in einer Kiste. Stefan sucht nach dem Verschluss der zweiten Trinkblase. Die beste Ordnung haben wir noch nicht. Und kaum haben wir uns von unseren Wohnungen auf den Campervan minimalisiert, sortieren wir erneut aus, um nun wirklich nur noch das wirklich Wichtige dabeizuhaben. Denn ab morgen geht es mit den Rucksäcken zu Fuß weiter.

Am Ende ist das Picknicktuch in der Größe eines Doppelbetts bedeckt mit Ausrüstung. Egal, ob wir vier Tage oder vier Wochen unterwegs sind, das Equipment ist dasselbe, nur der Proviant variiert.

Jonny scheint den Topf, der in der Mitte liegt, besonders spannend zu finden, läuft mitten hinein und bringt alles durcheinander. »Jonny!« Ich springe auf das Tuch und versuche, den Lauser zurückzumanövrieren. Er steht mit dem rechten Vorderhuf nur Zentimeter von meiner Powerbank entfernt, der linke Vorderhuf zerquetscht gerade die Plastiktüte mit dem Porridge, und als ich Jonny zurückschiebe, nimmt er den Stapel Klamotten mit den Hufen mit. »Ich glaub, wir haben alles, Stefan. Und der Elefant im Porzellanladen ist auch am Start, stimmt’s, Jonny?« Wir lachen.

Am Nachmittag zieht ein Gewitter auf, und wir werden von Dragen zum Billard in einem Holzunterstand eingeladen. Auch Jonny darf sich dort vor dem Regen schützen. Ohne ihn hätten wir ohnehin nicht vorbeikommen können, denn sobald wir ohne ihn unseren Platz verlassen, zum Beispiel um zur Dusche zu gehen, quietscht er uns hinterher. Es klingt, als würde er jämmerlich rufen: »Hallo. Wo geht ihr hin? Vergesst mich nicht!« Er ist ein sehr anhängliches Kerlchen. Solange wir da sind oder er mitkommen darf, entspannt er sich, legt sich hin, wälzt sich, futtert, beschnuppert die Umgebung oder lauscht unseren Stimmen. Ich lasse ihn oft frei umherstreifen. Ans Weglaufen denkt er nicht.

Einige von Dragens Nachbarn sind ebenfalls zum Billard vorbeigekommen, sodass es eine lustige Runde wird. Wir sind unter Einheimischen, die leider wenig Englisch verstehen. Wir kommunizieren mit Händen und Füßen, was beim Billard nicht schwierig ist. Eine Dame mit feschem blondem Kurzhaarschnitt gesellt sich neugierig dazu. Sie heißt Dijana und spricht ein klein wenig Deutsch. Sie freut sich, dass sie es mit uns üben kann.

»Dragen, Meliza und ich sind Freunde. Die beiden besitzen das Grundstück mit Übernachtungsmöglichkeiten schon seit Jahrzehnten. Seit Neuestem haben sie Schlaffässer, und in dem Holzhäuschen ist ein Raum mit Stockbetten.«

Angesichts der fehlenden Gäste und der Abgelegenheit wundere ich mich: »Aber wer findet hier hoch? Wir haben den Platz nur zufällig entdeckt.«

Die Dame lacht: »Hier führt ein bekannter Fernwanderweg vorbei. Die Via Dinarica. Die Route erstreckt sich von Slowenien bis Albanien und führt hier über die Berge nach Montenegro. Dort oben liegt der Orlovačko-Bergsee, ein wundervolles Ziel.«

»Genau dort wollten wir vorbeifahren. Aber keine Chance. Morgen werden wir aufbrechen und dorthin wandern. Mit Jonny sind wir sicher mehrere Tage unterwegs. Woher kannst du so gut Deutsch?«, hake ich nach.

Dijana erzählt uns, dass sie Deutsch spricht, weil sie im Jugoslawienkrieg, der 1991 begann, nach Wien geflohen war. Bosnien und Herzegowina hatte 1992 seine Unabhängigkeit von Jugoslawien erklärt, wie zuvor Slowenien und Kroatien. Daraufhin nahmen serbische Truppen ein Drittel des Gebiets von Bosnien und Herzegowina unter Kontrolle. Der grausame Bosnien-Krieg brach aus, in dessen Verlauf mehr als die Hälfte der 4,4 Millionen Einwohner und Einwohnerinnen Bosnien und Herzegowinas vertrieben wurden. Besonders schlimm war das Massaker von Srebrenica 1995. Trotz Anwesenheit von UN-Blauhelmen wurden Tausende muslimische Bosniaken ermordet. Ende 1995 konnte der Krieg mit dem Dayton-Abkommen, einem Friedensvertrag, beendet werden. Daraufhin wurde ein Kriegstribunal gegründet, das Kriegsverbrechen verfolgte. Grausame Taten kamen ans Licht.

Das Jahr 1998 wurde als das Jahr der »Rückkehr der Flüchtlinge« deklariert. Jedoch blieben zahlreiche Bosnien-Flüchtlinge unter anderem in Österreich, Deutschland, Schweden, den Niederlanden oder wanderten weiter in die USA, nach Kanada oder Australien aus. Heute gibt es zwei Entitäten in Bosnien: die Föderation Bosnien und Herzegowina sowie die Republik Srpska, wo mehrheitlich bosnische Serben leben. Das Miteinander funktioniere bisher wohl nur bedingt.

»Ein friedliches Leben in Bosnien war damals unmöglich. Deshalb sind meine zwei Kinder und ich in Österreich geblieben. Mein Mann ist kurz darauf gestorben. Die Kompanie sagte, es sei ein Arbeitsunfall gewesen, doch ich glaube nicht daran. Es war alles so unübersichtlich zu dieser Zeit. Aber wir haben uns aufgerappelt, und ich bin mit meinen Kindern zurück nach Hause gekommen. Als ich 37 Jahre alt war, ist meine Tochter an einer Lungenkrankheit gestorben. Das war eine harte Zeit.« Wir haben uns eine Bank gesucht, und ich höre Dijana mitfühlend zu. »Allerdings ist es hier nicht leicht, eine Arbeit zu finden. Es gibt viel Armut, und die jungen Leute ziehen in die Stadt oder wandern aus. Wir freuen uns sehr über Touristen. Also, herzlich willkommen! Erkundet das wunderschöne Bosnien!« Dijana breitet mit einem lebenserfahrenen Lächeln ihre Arme aus. Und dann sagt sie noch: »Eins habe ich gelernt im Leben: Wenn du negativ denkst, kommt es negativ. Iss gesund, schätze Liebe, Freundschaft und arbeite an positivem Denken, dann geht alles Schlechte vorbei.« Ich danke ihr für ihre Offenheit, und wir umarmen uns lange.

Dragen lädt uns zum Abendessen in seinem Haus ein. Wir freuen uns und sagen zu. Innen steht eine riesige Couch: »Große Familie, große Couch. Kleine Familie, kleine Couch«, lacht Meliza. Sie stellt uns zwei Teller mit Bockwurst und Kartoffelsalat auf den Tisch. »Heute gibt es keine Milch zum Kaffee, die Kuh hat keine gegeben«, erklärt sie uns trocken, wünscht uns mit einer netten Geste einen guten Appetit und lässt uns allein.

Ich schaue verwirrt zu Stefan: »Ich dachte, wir wären bei der Familie eingeladen?« Stefan sieht ebenso überrascht aus: »Ich glaube, das war keine Einladung. Sie haben uns wohl nur angeboten, für uns zu kochen.« Das haben wir völlig falsch verstanden, aber egal. Am Ende zahlen wir jeweils sieben Euro für unser Dinner.

Der Abend endet mit einem Regenbogen, der über unserem Plätzchen den Himmel bunt färbt, während Jonny entspannt darunterliegt. Ein guter Ausklang des Tages.

Hürde in der Dämmerung

3. Juli | Bei Jelašci (Bosnien)

Aufgeregt starten wir in den Tag. Auch Jonny spürt unsere Vorfreude. Er steht aufmerksam neben mir und weicht mir nicht von der Seite. Laufe ich zum Waschhaus, jammert er mir hinterher: »Üh-üh-üüüh!« Der kleine Schlawiner spürt, dass etwas bevorsteht, und hat Sorge, vergessen zu werden.

Ich muss schmunzeln. Egal, wie oft ich ihm zeige, dass ich ihn nicht zurücklasse, er ist stets erneut sehr erleichtert, wenn ich ihm endlich sein Halfter anlege. Das bedeutet: Er darf mit. Ich schließe die Schnalle.

Stefan rollt die Weidezaunspule auf. Schließlich bekommt Jonny seinen Packsattel aus Holz aufgesetzt. Ich erkläre Stefan, wo genau er sitzen sollte: »Das Praktische daran ist, dass er nur links und rechts der Wirbelsäule Körperkontakt mit Jonny hat.« Das Gestell reicht um seinen Rücken und wird mit einem Brustgurt, zwei Bauchgurten und einem Pogurt stabilisiert. Dabei entsteht ein luftiger Raum zwischen Jonnys Rücken und dem Gepäck, damit nichts scheuert, wodurch es aber nach mehr aussieht, als es ist. Esel sind keine Lastentiere und sollten nie mehr als zwanzig Prozent des eigenen Körpergewichts tragen. Damit es fair ist, tragen wir alle zehn bis zwanzig Prozent unseres eigenen Körpergewichts, je nach Wassermenge. So ist es gerecht aufgeteilt. Schließlich wollte ich Jonny nie als Packesel dabeihaben, sondern als gleichwertigen Wanderbegleiter. Jonny trägt hauptsächlich sein eigenes Equipment, wie den Weidezaun, Wasser und Heu. Stefan und ich verteilen unseres auf beide Rucksäcke. Wären wir ohne Jonny wandern, müsste es schließlich auch gehen.

»Wir müssen Jonny zu beiden Seiten gleich schwer beladen. Der Packsattel reagiert beim Wandern wie eine Waage.« Gleichzeitig klicken wir die roten Fahrradgepäcktaschen links und rechts ein. Dies geht zu zweit leichter als allein. Stefan beobachtet genau, wie ich die Gurte schließe. »Nächstes Mal bist du dran. Wetten, nach unserer Reise bist du Eselprofi?«, zwinkere ich ihm zu. Nun hucken auch wir unsere Rucksäcke auf. »Fertig! Auf geht’s!« Ich klopfe Eddy auf die Hecktüre. »Ciao Eddy, halt die Stellung. In ein paar Tagen sind wir zurück.« Bepackt verlassen wir das Grundstück. Dragen, Meliza und Dijana winken uns amüsiert hinterher.

Hoch motiviert folgen wir der Schotterpiste, die wir bereits mit Eddy im Dunkeln angegangen waren. Nach etwa hundert Metern macht sie eine steile Linkskurve, und sofort sind die letzten Häuschen verschwunden. Rechts von uns, hinter einer Böschung, wiegen sich hohe Gräser im warmen Sommerwind, dahinter befindet sich ein Wald. Wir sind froh, als wir in den Schatten der ersten Bäume gelangen, denn in der Sonne hat es bereits jetzt, um neun Uhr morgens, gefühlte 28 Grad. Jonny läuft in einem – für seine Verhältnisse – flotten Tempo. »Du freust dich auch, dass wir jetzt wieder zu Fuß unterwegs sind, was?« Ich streichle unserem Kumpel den Hals. Auch Stefan grinst: »Ja, endlich zu Fuß. Ich bin gespannt.«

Stefan hat uns bisher nur auf Tagesetappen begleitet, aber eine mehrtägige Wanderung haben wir noch nicht gemeinsam geschafft. Ich weiß bereits in etwa, auf was ich mich bei einer Wanderung mit Jonny einstellen muss, Stefan hingegen unterschätzt meine bisherigen Berichte und plant enthusiastisch unsere Route.

Ich bin gespannt, wie wir uns aufeinander eingrooven. Amüsant finde ich schon jetzt, wie Stefan mit Jonny spricht. Dabei setzt er unwillkürlich stets seine höchste Piepsstimme ein, als würde er mit einem zuckersüßen Welpen sprechen. Ich veräpple ihn ein wenig, wenngleich ich mich doch freue über die Annäherung: »Ob Esel Tinnitus bekommen können?« Wir folgen dem Weg, und Stefan spricht wieder mit normaler Stimme zu mir: »Bald müsste rechts ein Pfad Richtung See führen. Auch eine Quelle liegt am Weg.«

Wie wundervoll es ist, so unterwegs zu sein. Nur das Allernötigste haben wir dabei. Genau das liebe ich an unserer Art zu reisen. Es zeigt mir, was ich wirklich zum Leben brauche und was zusätzlicher Luxus ist, den ich mir sonst gönne. Wir sind durchgehend in der Natur und leben mit dem Sonnenlicht. Das Essen haben wir streng rationiert, und es schmeckt umso besser, weil wir bewusst und dankbar damit umgehen. Über jede Quelle sind wir froh, denn plötzlich sind die wichtigsten Dinge nicht mehr selbstverständlich. Sie sind überlebensnotwendig und fühlen sich dadurch an wie ein langersehntes Weihnachtsgeschenk.

Gemeinsam unterwegs zu sein, ist ebenfalls ein Geschenk. Jonny in allen Situationen des Tages mitzubekommen, ist wundervoll. Wenn er frisst, schläft, sich ausruht, sich wälzt, etwas erkundet oder beschnuppert, gekrault werden möchte, alles eben. Im Alltag kreuzen sich unsere Wege zwar auch beinahe täglich, aber nur für die Zeit, in der ich ihn aus dem Eselpaddock abhole. Danach machen wir wieder unser eigenes Ding.

Ihn an meiner Seite zu haben, entschleunigt mich. Mit seiner gemütlichen und kontinuierlichen Wandergeschwindigkeit von zwei bis drei Stundenkilometern brauche ich mich selbst nicht zu fragen, ob ich ein bisschen weiter oder schneller vorankommen möchte, um es heute auf den Gipfel zu schaffen. Mit Jonny bin ich gezwungen, ähnlich zu denken wie er. Nämlich hauptsächlich im Hier und Jetzt. Wir müssen sehen, wie der Weg verläuft, welche eseligen Hürden uns begegnen, und spontan einen geeigneten Platz für unser Nachtlager suchen. Ein genaues Ziel für heute haben wir nicht. Zumindest kann ich hier für Jonny und mich sprechen, denn Stefan ist guter Hoffnung, dass wir es bis zum ersten kleinen Bergsee auf etwa der Hälfte der Strecke schaffen. Ob sein Plan aufgeht?

Der Schotterweg unterteilt den Wald. Die Sonne steht nun genau über uns, sodass wir kaum Schatten finden. Stefan checkt die Offline-Karte auf seinem Handy. Zum Glück haben wir diese noch heruntergeladen, denn eine SIM-Karte für Bosnien haben wir nicht, und WLAN gab es bei Dragen auch keines. Niemand zu Hause weiß, wo wir sind. Im Notfall sind wir auf uns gestellt. Doch wir sind zu dritt und füreinander da. »Da vorne ist ein Loch im Gestrüpp, vielleicht der Wanderweg?« Als wir näher kommen, entdecken wir einen zwei Meter breiten Pfad, der in den Wald und den Berg hinaufführt. Wir atmen durch. »Endlich wieder Schatten.«

Doch was wir nicht bedacht haben: Mit dem Schatten kommen die Bremsen, und das sind ganz schöne Oschis. Zuerst versucht Jonny, die Stechfeinde selbst zu schnappen, hierfür lasse ich den Führstrick lang, damit er genug Freiraum hat. Gelingt es ihm nicht, so gibt Jonny Gas, bis er auf meiner Höhe ist, und sieht sichtlich dankbar aus, wenn ich den Quälgeist von seinem Hals, Bauch oder Po verscheuche. Ist das gemeine Ding auf Jonnys rechter Seite, verlangsamt er sein Tempo und schiebt seinen Kopf hinter mir vorbei auf meine linke Seite, sodass ich auf seiner rechten Seite auf die Jagd gehen kann. Es ist amüsant zu sehen, wie klar Jonny kommuniziert. Sein Blick ist eindeutig. Habe ich ihn verstanden und kann die Bremsen vertreiben, entspannen sich seine Augen und Körperhaltung. Aber leider nur bis zur nächsten Attacke.

Der Pfad führt mit einer angenehmen Steigung nach oben, sodass Jonny kaum eine Pause braucht. Kleine Steinchen knirschen unter unseren Sohlen. Durch das grüne Blätterdach blitzt die Mittagssonne. Nach und nach wird unsere Route steiler und der Weg schmaler. Jonny gönnt sich öfter eine Pause, indem er einfach stehen bleibt. »Weiter geht’s, Großer.« Doch in dem Moment ist er nicht vom Fleck zu bewegen. Mit der Zeit bemerke ich: »Wenn wir ihn kurz rasten lassen und auf ihn warten, macht er sich nach wenigen Sekunden von allein wieder auf den Weg.« Obwohl wir bereits über die Alpen gewandert sind und auch in der Sierra Nevada im Gebirge unterwegs waren, ist Jonny kein Bergesel. Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen ihm und Eseln, die zum Beispiel in den Alpen Österreichs groß geworden sind. Sie steigen ganz andere Wege bergauf als Jonny, der ursprünglich aus dem Flachland zwischen Leipzig und Berlin stammt.

»Die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens hat er womöglich nie einen Hügel gesehen. Wir haben zwar bereits viel trainiert, aber Jonny braucht trotzdem Pausen, auch um die Körpertemperatur in der Hitze zu regulieren. Wenn er diese kurzen Momente zugestanden bekommt, sind wir alle glücklich«, verteidige ich Jonny, als wir uns bei einem seiner Päuschen die Beine in den Bauch stehen.

»Daran muss ich mich gewöhnen.« Stefan rückt seinen Rucksack zurecht. »Mit Gepäck auf dem Rücken langsam zu wandern, ist anstrengender als im eigenen Wandertempo. Mir läuft der Schweiß über die Stirn, und mein Rücken ist klatschnass.«

Ich lasse den Strick mit 1,5 Metern Abstand lang, aber nicht zu locker, sodass Jonny versteht, dass wir auf ihn warten und jetzt keine Pause zum Fressen ist. »Nimm dir die Zeit, die du brauchst, und dann geht’s weiter.« Würde ich den Strick loslassen, würde er sich in aller Ruhe den nächsten Grashalm suchen. »Wir gehen noch ein Stück, bis wir ein gutes Plätzchen finden. Dann machen wir Picknick, und du kannst grasen und bekommst Heu.« Jonny scheint mich verstanden zu haben, oder er ist einfach fertig mit Ausruhen, denn er setzt wieder einen Huf vor den anderen. Stefan atmet erleichtert auf.

Nur wenig später bleibt Jonny allerdings erneut stehen. Nicht mal mit einer Karotte lässt er sich überzeugen. Als ich sie ihm zu nah vor die Nüstern halte und eine Sekunde unaufmerksam bin, hat er sie sich flink geschnappt, der kleine Frechdachs. Wir würden gerne bei einem Schattenplatz rasten. »Hier ist eh nichts Gutes zum Grasen. Wir finden was Besseres.« Jonny blickt unglücklich drein. Da entdecke ich eine Bremse, die sich unter seinem Schweif auf der dünnen, samtweichen Haut am Hintern niedergelassen hat, und schlage sie in die Flucht. Das muss sein Problem gewesen sein, denn mit einem Mal setzt Jonny seinen Gang fort. Stefan lacht: »Der Jonny ist echt lustig. Ein Glück, dass du ihn schon so gut kennst. Ich hätte das nie gecheckt.«

Nur wenig später finden wir einen geeigneten Rastplatz. Der Weg hat eine Ausbuchtung, wo staubig trockene, warme Erde geradezu auf Jonny wartet, damit er sich darin wälzt. Nur flott das Gepäck abladen. »Nimm du das Tuch, ich schnalle den Heusack ab.«

Ich zeige auf ein schräges, aber schattiges Fleckchen. Während Stefan und ich unser Tuch als Picknickdecke ausbreiten, taucht eine Horde Wandernde aus dem Gebüsch auf. Flotten Schrittes gehen sie im Gänsemarsch bergab. Ein paar zücken bei Jonnys Anblick im Vorbeigehen ihre Kamera. Zwei Männer bleiben stehen: »Woher kommt ihr? Habt ihr einen Esel gemietet? Wusste nicht, dass das hier geht.«

Ich schmunzle: »Das ist unser Esel. Wir machen gemeinsam Wanderurlaub.«

Der zweite Mann lacht auf. »So was hab ich noch nie gehört. Der Esel macht Urlaub. Aus Deutschland, Almanya!«

Während Stefan sich mit ihm über den Verlauf des Weges und die nächste Quelle austauscht, bemerke ich, dass Jonny beginnt, im staubigen Boden zu scharren. »Warte, Jonny, nicht hinlegen. Du hast noch deinen Packsattel auf.« Flott schnalle ich die beiden Packtaschen ab.

Im selben Moment wird Jonny von einer Bremse geärgert. Er versucht, sie von seiner – ich nenne es mal so – »Penisgarage« zu verscheuchen. Die weiche, fein behaarte Haut an der Stelle, wo sein Penis im Bauch verschwindet, ist der perfekte Ort für Blutsauger. Jonny kommt nur schwer mit dem Kopf dorthin und dreht sich immer mehr ein, damit er mit den Nüstern zwischen seine Hinterbeine gelangt, um nach dem Übeltäter zu schnappen. Es geht alles so schnell, dass ich zwar zuschauen, aber nicht reagieren kann. Da der Platz uneben und Jonny noch mit dem Packsattelgestell beladen ist, verliert unser kleiner Tollpatsch bei der Bremsenjagd das Gleichgewicht, dreht sich zweimal um sich selbst mit dem Kopf am Unterbauch und bollert plötzlich um. »Hupps.«

Jonny bleibt liegen und schaut etwas verdattert drein. Er sortiert sich kurz, sein Blick entspannt sich, und dann bleibt er einfach liegen, als wolle er vertuschen, dass er sich nicht extra hingelegt hat. »Ojemine! Alles okay? Bleib liegen, wenn du magst. Stefan, hilf mir bitte kurz mit dem Packsattel.« Jonny spielt mit seinem Schweif in der staubtrockenen, warmen und weichen Erde. Eine Wanderin wirft uns einen vorwurfsvollen Blick zu, als hätten wir den armen Esel derart überlastet, dass er vor Müdigkeit samt Packsattel umgefallen ist. Zumindest deute ich ihren Blick so.

Dann sind wir wieder zu dritt, befreien Jonny vom Sattel, stellen Wasser und Heu für ihn bereit und genießen Baguette mit Streichcreme, zwei Eier und Müsliriegel. Solange er mit seinem Futter beschäftigt ist, haben auch wir Ruhe für unsere Brotzeit. Rascheln wir aber zu laut mit den Verpackungen beim Öffnen der Müsliriegel, steht Jonny sofort am Picknicktuch und möchte etwas abhaben. Obwohl ich ihm dort nie etwas gebe, probiert er es immer wieder.

»Wieso nimmst du eigentlich immer Heu für Jonny mit, obwohl er auch grasen kann?« Stefan stopft die Reste zurück in Jonnys Heusack. »Esel vertragen zu viel grünes Gras auf Dauer nicht. Es ist zu eiweißhaltig und zu kalorienreich, sodass sie gesundheitliche Probleme bekommen können. Das ist hier in Bosnien im Sommer aber weniger das Problem. Hier frage ich mich, wie viel Gras überhaupt noch wächst in höheren Lagen. Das Heu ist nicht schwer, und Jonny freut sich.« Sein blauer Heusack sieht zwar mächtig groß aus, doch Volumen ist bekanntlich nicht immer gleichzusetzen mit dem Gewicht.

Ein Mittagsschläfchen können wir leider nicht halten, da es um uns herum derart surrt und krabbelt, dass es mich unentwegt juckt und kitzelt. Auch Stefan hat zu kämpfen: »Wahnsinn. Ich habe noch nie eine solche Insektenvielfalt erlebt!«

Ich bin froh, dass wir die Fliegenmaske für Jonny dabeihaben, damit seine Augen nicht tränen. Doch nicht nur Bremsen, Fliegen und Stechmücken schwirren umher. Es gibt unglaublich viele Schmetterlinge. Ganze Schwärme sitzen an den Pfützen am Wegrand. Nähern wir uns ihnen, flattern sie alle davon. Es ist ein wundervoller, farbenfroher Anblick.

Gleich hinter unserem Pausenplatz wird der Weg schlagartig schmaler. Er führt steil hinauf zwischen dicht stehenden Fichten, die mit ihren Ästen in den Weg hineinragen. Der erdige Pfad wurde von starken Regenfällen ausgewaschen. In der Mitte hat sich eine tiefe Rinne gebildet. Der Weg ist schräg und uneben. Wie eine Karawane steigen wir hinauf. Hintereinander, Schritt für Schritt und Huf für Huf. Der Schweiß rinnt mir den Rücken hinunter. Zum Glück gönnt sich Jonny hin und wieder eine Minute Verschnaufpause, die auch ich zum Durchatmen nutze. »Ganz schön steil. Der Untergrund ist ungünstig.« Bei der weichen Erde und dem Geröll muss Jonny mit seinen Hufen bei jedem Schritt erst den richtigen Halt finden.

»Lass uns am nächstmöglichen Platz unser Lager aufschlagen. Nicht, dass Jonny morgen keinen Bock mehr hat«, schlage ich vor. Stefan checkt auf seiner App unseren Standort und seufzt: »Krass. Wir sind schon wieder seit zwei Stunden unterwegs und haben keine fünf Kilometer geschafft. Na gut, lass uns ein geeignetes Plätzchen suchen. Ich hab außerdem schon wieder Hunger.« Stefan, der zu Hause mal eben an einem Tag 140 Kilometer radelt und anschließend tausend Höhenmeter zu einem Gipfel aufsteigt, übt sich in Geduld. Zum Glück ist er die Gelassenheit in Person, denn unser Plan stellt sich als schwieriger heraus als gedacht.

Der Weg bleibt schmal und steil, immer mehr Büsche und Pflanzen versperren uns den Durchgang. Bei einer besonders steilen Stelle feuern wir Jonny an: »Super machst du das, Jonny!« Ich drehe mich scherzhaft zu Stefan: »Super, Stefan! Du machst das auch toll.« Stefan lacht: »Super, Lotta, auf geht’s! Da oben kommt eine Lichtung.«

Wir schleppen uns über eine Kuppe – und blicken auf eine Stelle im Wald, die zwar baumlos, allerdings von mindestens zwei Meter hohem Gestrüpp und Dornenranken überwuchert ist. Eine Sackgasse. Hinter uns liegt der steile Weg, links und rechts von uns der dichte Wald, und vor uns hat die Natur sich ausgetobt. »Aber woher kam die Wandergruppe? Haben wir eine Abzweigung verpasst?« Stefan kramt die Offline-Karte hervor. Ich kraule Jonny an den Ohren: »Ne, ich hab nichts gesehen. Da war zwar ein Minipfad, aber wir sind auf dem breiten Weg geblieben.« Es wird nicht die letzte Gelegenheit sein festzustellen, dass es hierzulande kaum Wandermarkierungen gibt und des Öfteren Wege ins Nichts verlaufen. Ich spreche es schließlich mit einem tiefen Seufzer aus: »Wir müssen umkehren.«