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Der finale Kampf rückt immer näher. Ihre Reise führt Evelyn und die anderen weiter über Afrika nach Maine - durch die Katakomben unter den Pyramiden Ägyptens bis zum Ende des Appalachian Trails. Mythen und Horrorgeschichten über den Trail scheinen sich zu bewahrheiten, was sie einmal mehr an die Grenze ihrer Belastbarkeit führt. Ihre Liebe und Loyalität zueinander sind das einzige, was ihnen bleibt. Dem Tod näher als gewollt geht das Gefecht gegen die Opposites in die letzte Runde. Werden sie ihre Feinde endlich stoppen können?
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Seitenzahl: 492
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Panik stieg in Evelyn auf.
Nein.
Liam. Jemand musste ihm helfen.
Ohne weiter darüber nachzudenken, ließ sie mithilfe des Ventils die Luft aus ihrer Schwimmweste entweichen. Dabei verfolgte sie den immer noch sinkenden Liam aufmerksam mit ihrem Blick.
Er sank und sank immer weiter. Immer tiefer.
Das konnte er nicht überlebt haben. Niemals.
Tränen liefen Evelyn die Wange hinunter und sammelten sich in ihrer Taucherbrille.
Erst ganz wenige, dann endlos viele.
Bitte. Er durfte nicht sterben. Er musste überleben. Sie brauchte ihn. Sie brauchte ihn mehr als alles andere auf dieser Welt.
Plötzlich schien alles so unglaublich irrelevant. Alles war so egal. Egal, dass er sie vielleicht oder vielleicht auch nicht betrogen hatte. Egal, dass sie sich gestritten hatten. Egal, dass sie nicht wusste, was sie wollte.
Denn eigentlich wusste sie es ganz genau.
Hier und jetzt. In diesem Moment wusste sie mehr als alles andere, dass Liam immer das gewesen war, wonach sie sich sehnte.
Sie ließ immer mehr Luft aus ihrer Weste entweichen und sank so tiefer in die Dunkelheit.
Ihre Ohren schmerzten, denn sie sank so schnell, dass sie keine Zeit dazu hatte, einen Druckausgleich zu machen.
Doch sie musste es versuchen. Sie konnte nicht riskieren, dass ihr Trommelfell platzen und sie die Mission nicht zu Ende bringen könnte.
Ihre Maske füllte sich mit etwas Wasser, weshalb sie schnell den Kopf in den Nacken legte, und sie auspustete.
Dabei hatte sie nicht all das Wasser herausbekommen, doch das war ihr vollkommen egal.
Wichtiger war es, dass sie den Druck auf ihren Ohren irgendwie ausgleichen konnte und das hatte sie geschafft.
Alles andere - Nebensache.
Liam sank immer weiter.
Die Dunkelheit um sie herum gab ihr ein unheimlich schlechtes Gefühl. Sie hatte Angst. Angst vor dem, was sie nicht sehen konnte und Angst um Liam. Gerade in diesem Moment hatte sie vor allem Angst.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es eigentlich an der Zeit war, aufzutauchen. Die Lünette zeigte an, dass sie bereits eine Stunde im Wasser waren.
Ein eindringlicher Piepton riss Evelyn aus ihren Gedanken.
Was war das?
Sie sah sich um. Doch weit und breit nichts als Dunkelheit.
Schnell wurde Evelyn klar, was für ein Geräusch sie da gerade gehört hatte.
Die Anzeige an ihrer Sauerstoffflasche warnte sie davor, dass bald kein Sauerstoff mehr da sein würde.
Der Sauerstoff, der sie am Leben hielt. Der einzige Grund, wieso sie unter Wasser atmen konnte.
Erneut stieg Panik in ihr auf. Ein Gefühl, mit dem sie mittlerweile mehr als nur vertraut war.
Beinahe ein Dauerzustand.
Evelyn überlegte, wie sie es schaffen könnte, noch schneller zu sinken.
Ihr blieb keine andere Wahl, als die gesamte Luft aus ihrer Weste entweichen zu lassen.
Sie traute sich gar nicht, einen Blick auf ihre Uhr zu richten und nachzuschauen, wie tief sie mittlerweile gesunken waren.
Blut trat aus einer klaffenden Wunde an seinem Kopf aus. Das Wasser um ihn herum färbte sich in ein dunkles Rot. Er schwebte im Wasser. Arme und Beine von sich gestreckt.
Gott. So leblos wie er aussah. Wie eine Leiche.
Noch wenige Meter und Evelyn hatte ihn erreicht. Noch wenige Sekunden und sie war endlich bei ihm.
Ihre Sauerstoffflasche warnte sie immer noch ununterbrochen mit einem eindringlichen Piepen davor, dass ihr Sauerstoff bedrohlich knapp war.
Und endlich. Sie war auf Liams Höhe.
Sie packte ihn und rüttelte an ihm.
Wie gerne hätte sie ihn angeschrien, dass er sofort aufwachen sollte. Dass er die Augen öffnen und ihr sagen sollte, dass er noch lebte.
Doch mit dem Mundstück brachte sie keinen Ton heraus.
Evelyn führte ihre zitternden Finger an seinen Hals und versuchte seinen Puls zu ertasten.
Nichts.
Sie spürte rein gar nichts.
Inständig hoffte sie, dass sie gerade einfach keinen Puls spürte, weil sie unter Wasser waren, weil sie viel zu tief waren, weil sie zitterte, weil die Situation es gerade nicht zuließ.
Und jetzt?
Wie sollte sie jetzt wieder nach oben kommen?
Sie trieben viele Meter, viel zu viele Meter, unter der Oberfläche und hatten keine Chance wieder hochzutreiben.
Evelyns Atmung wurde schneller und immer unregelmäßiger.
Sie verbrauchte dadurch viel mehr Sauerstoff. Viel zu viel. Viel mehr, als ihr noch blieb.
Ein letztes, langes Piepen verriet ihr, dass nun auch die letzte Reserve an Luft in ihrer Flasche aufgebraucht war.
Sie konnte nicht mehr atmen.
Panisch nahm sie das Mundstück heraus und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen.
Doch durch den Sauerstoffmangel, der sie die letzten Meter begleitet hatte, durch den unglaublichen Druck auf ihren Ohren und in ihrem Kopf, war es ihr unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen.
Gerade, als sie aufgeben wollte. Gerade als sie die Luft, die sie mit einem letzten Zug aus der Sauerstoffflasche eingeatmet hatte, entweichen lassen wollte, entdeckte sie an der Wasseroberfläche ein Motorboot, welches mit unglaublicher Geschwindigkeit auf die beiden zukam.
Es kam über ihnen zum Stehen. Madison musste zurückgeschwommen sein und Fred geholt haben.
Sie hatte Hilfe geholt.
Evelyn erkannte, wie ihre Freundin vom Boot aus etwas ins Wasser schmiss. Es glitt in Windeseile auf die beiden zu.
Evelyn packte die große viereckige Matte, die ungebremst auf sie zu raste.
Es war ein Unterwasser-Hebekissen. Sie zog an einer Schnur, sodass sich die Matte in Sekundenschnelle mit Luft füllte, und Liam und Evelyn hoch an die Wasseroberfläche beförderte.
Beim Auftauchen spuckte Evelyn ihr Mundstück aus und rang nach Luft. Fred und Madison halfen sofort, Liam aus dem Wasser in das Rettungsboot zu hieven.
Mittlerweile waren auch Riley und Sienna dazugestoßen. Sie hatten aus der Entfernung erkannt, dass etwas schiefgegangen sein musste, als sie Fred und das Rettungsboot gesehen hatten.
„Was ist passiert?“, fragte Sienna vollkommen außer Atem, während sie auf die anderen zu schwamm.
„Oh Gott. Evelyn. Alles in Ordnung? Geht es dir gut?“, fragte sie, als sie erkannte, dass Evelyn nach Luft rang.
„Atmet er?“, schrie Evelyn, während sie sich die Taucherbrille vom Kopf riss und ihre Tränen nun ungebremst ins Wasser flossen.
„Atmet er? Ich habe gerade keinen Puls gespürt. Ich konnte unter Wasser keinen Puls spüren“, schrie sie verzweifelt und konnte sich nur mit Mühe über Wasser halten.
Sienna schwamm zu ihr und stützte sie, als sie erkannte, dass Evelyn gerade keinen Gedanken daran verschwendete sich ordentlich zu sichern. Ihr Gedanke galt einzig und allein dem Leben von Liam.
Fred legte Liam gerade auf den Boden des Bootes, die Sauerstoffflasche hatte er zuvor abgenommen. Er legte dessen Kopf in den Nacken, öffnete den Mund und beugte sich über ihn, sodass sein Ohr unmittelbar über seinem Mund-Nasen-Bereich war und er freien Blick auf seinen Oberkörper hatte. So konnte er sowohl seine Atmung hören als auch sehen, ob sich sein Brustkorb hob und senkte.
Alle waren vollkommen still.
Jeder wartete gebannt darauf, ob Fred ihnen gleich sagen würde, dass Liam atmete oder ob er die Herz-Druck-Massage einleiten würde.
„Er atmet. Ich spüre einen Puls“, rief er erleichtert.
„Hilf ihm!“, befahl Evelyn Fred und signalisierte ihm, dass er ohne sie losfahren sollte.
Madison sagte, dass sie sofort zurückkommen und sie abholen würde, sobald sie Fred und Liam am Boot abgesetzt hatte. Am Boot angekommen hievten sie Liam, der immer noch bewusstlos war, an Bord. Während Fred ihn in die stabile Seitenlage brachte, fuhr Madison zurück zu den anderen.
„Es wird schon alles gut gehen. Du hast so schnell geholfen, wie du nur konntest“, versuchte Sienna Evelyn zu beruhigen, die immer noch unter Schock stand.
Ehe Madison ihnen aufs Rettungsboot geholfen hatte, begann Evelyn, sie mit Fragen zu durchlöchern.
„Habt ihr den IFS kontaktiert? Er muss sofort in ein Krankenhaus?! Und ist er zu sich gekommen?“
Madison nickte. „Ja, natürlich haben wir den IFS gerufen. Er ist schon unterwegs. Sie holen ihn ab. Es wird alles wieder gut“, sagte sie und strich Evelyn beruhigend über die Schulter, während diese gerade ihre Ausrüstung ablegte.
Der IFS hatte natürlich auch seine Leute in Argentinien, die Fred kontaktiert hatte.
In weniger als einer halben Stunde waren sie mit einem Rettungshubschrauber gekommen und kreisten nun über ihnen.
Evelyn zog sich sofort an Bord der Titania, als Madison davor anlegte und eilte zu Liam. Er lag immer noch in der stabilen Seitenlage und bewegte sich nicht.
Sie griff seine Hand und strich ihm ein paar nasse Haare aus dem Gesicht.
„Du wirst schon wieder. Hörst du? Du musst das schaffen, Liam. Du musst überleben. Bitte“, winselte sie und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Tränen rannen ihr ungebremst die Wange herunter. Sienna hockte sich hinter Evelyn und umschloss sie mit ihren Armen.
„Du zitterst ja völlig“, sagte sie und schmiegte sich näher an sie.
„Komm. Wir ziehen uns um. Du kannst jetzt nichts mehr für ihn tun, Evelyn. Er wird ins Krankenhaus geflogen und dort bekommt er die beste Behandlung, das weißt du“, erklärte Sienna und versuchte, ihr aufzuhelfen.
Fred wies derweil den Rettungshubschrauber ein, der gerade die Trage herunterließ.
Riley half ihm, Liam auf die Trage zu rollen und schnallte ihn an.
„Alles Gute, Bruder. Du wirst schon wieder“, flüsterte Riley und gab dem Hubschrauber das Signal, dass er Liam hochziehen konnte.
Sienna half der vollkommen aufgelösten Evelyn aus ihrem Neoprenanzug und begleitete sie unter die heiße Dusche.
„Wir müssen deine Temperatur erhöhen“, sagte sie und rieb vorsichtig Evelyns Arme.
Evelyn sagte kein Wort. Sie starrte einfach nur so ins Leere, während aus ihren grünen, immer noch glasigen Augen, Tränen flossen.
Die Tränen vermischten sich jetzt mit dem heißen Wasser. Es perlte an ihrem Körper ab und langsam konnte Evelyn ihn wieder spüren.
Langsam spürte sie wieder, wie alles an ihr schmerzte.
Sie wandte sich zu Sienna und sah sie aus verweinten Augen an.
„Er darf nicht sterben“, flüsterte sie.
„Er wird nicht sterben!“, betonte Sienna und nahm sie in den Arm.
Es klopfte. Riley kam herein. „Ich unterbreche euch nur ungern, aber wir sollten weitersuchen. Ich weiß, es ist schrecklich, was mit Liam passiert ist, und glaubt mir, es nimmt mich genauso mit wie euch. Vor allem, dass wir noch nicht einmal wissen, was er hat und wie es ihm geht…aber wir sollten weitersuchen.
Nein, wir müssen weitersuchen. Wir müssen das Portal vor den Opposites finden und wir haben immer noch keine Ahnung, wo es sein könnte. Liam hätte nicht gewollt, dass wir jetzt aufgeben.
Er hätte gewollt, dass wir weitersuchen. Das Ganze soll doch nicht umsonst passiert sein“, versuchte Riley sie zu motivieren und dabei so mitfühlend wie möglich zu sein.
Seine Ansprache wäre gar nicht nötig gewesen. Sowohl Sienna als auch Evelyn wussten, dass sie weitersuchen mussten und genau das hatten sie auch vor.
Einige Stunden vergingen.
Stunden, in denen sie den See weiter nach dem Portal abtauchten.
Sie wussten jetzt, dass sie sich besser von den Gletschern fernhielten und machten daher einen großen Bogen um diese.
Doch sie suchten überall vergebens.
Selbst nach stundenlanger Suche und mehreren Pausen, in denen sie sich wieder aufwärmten, fanden sie nichts.
Nicht mal etwas, was auf das Portal hinweisen könnte, wie ein orangefarbener Schimmer oder etwas Ähnliches.
„Ich habe ja gesagt, dass ich glaube, dass es an dem Steg ist, von dem ich euch erzählt habe“, brachte Riley während des Abendessens an.
„Wir sollten morgen mal dahinfahren und dort suchen!“ Die anderen stimmten ihm nickend zu.
Alle, außer Evelyn. Evelyn war mit ihren Gedanken ganz woanders. Sie dachte einzig und allein an Liam.
Wie es ihm wohl ging?
Was er wohl hatte?
Wieso hatte sich eigentlich noch niemand gemeldet und sie über die derzeitige Situation aufgeklärt?
„Findet ihr es auch komisch, dass uns noch niemand wegen Liam kontaktiert hat?“, warf sie plötzlich ohne jeglichen Zusammenhang in den Raum und unterbrach Fred in seinem Redefluss.
Sienna legte ihre Gabel hin und sah sie mitfühlend an. „Ja, du hast recht. Vielleicht solltest du Marco gleich nach dem Essen mal anrufen“, schlug sie vor und strich ihr beruhigend über die Schulter.
Evelyn nickte.
Eine gute Idee.
„Hey“, meldete sich Marcos Stimme am anderen Ende des Hörers.
Evelyn stand draußen an der Reling. Es war bereits dunkel. Eine glasklare Nacht. Keine einzige Wolke und die vielen Sterne erhellten den Nachthimmel.
Der Vollmond strahlte auf das Wasser, schimmerte und spiegelte sich darin.
Wie lange sie seine Stimme schon nicht mehr gehört hatte.
Wenn sie auf Mission war, vergaß sie alles um sich herum. Sie vergaß, dass es auch noch eine Welt außerhalb der Mission gab.
Sie vergaß, dass es auch noch andere Menschen außerhalb der Missionsgruppe gab.
„Hey Marco, hier ist Evelyn. Alles gut bei dir?“, fragte sie und strich dabei über die nasse Reling.
„Hey Evelyn, ja, bei mir ist so weit alles gut. Im Moment alles etwas hektisch hier, aber deshalb wollte ich euch eh noch anrufen. Und wie ist es bei euch? Du willst sicher wissen, wie es Liam geht? Oder hat dein Anruf einen anderen Grund?“ Evelyn schämte sich beinahe ein bisschen. Natürlich war Liam der einzige Grund gewesen, wieso sie Marco anrief. Noch nie hatte sie darüber nachgedacht, ihn zu kontaktieren, um sich darüber zu erkundigen, wie es ihm so ging. Dabei war Marco über die vielen Jahre hinweg, die sie sich jetzt schon kannten, ein wirklich guter Freund geworden. Einer der besten Freunde.
Genau wie Tarek. Er war und würde immer einer ihrer besten Freunde sein und trotzdem hatte sie seit Wochen kein einziges Mal wissen wollen, wie es ihm ging.
Schuldgefühle kamen in ihr auf. Das Gefühl, dass sie ihrer Pflicht als Freundin nicht nachgekommen war. Auch bei ihrer Mutter hatte Evelyn eine Ewigkeit nicht mehr angerufen oder sich erkundigt, wie es ihr ging. Sie war wahrscheinlich krank vor Sorge. Das würde sie als erstes tun, wenn sie wieder einen Zwischenstopp im IFS machten.
Sie war mit ihren Gedanken vollkommen woanders, als Marco sie zurück in die Realität holte.
„Evelyn?“, fragte er, um herauszufinden, ob sie überhaupt noch am anderen Ende des Hörers war.
„Oh, tut mir leid. Ich war mit den Gedanken gerade ganz woanders. Ja, ich rufe wegen Liam an. Wie geht es ihm? Ist er aufgewacht? Liegt er bei uns im Krankenhaus?“ So viele Fragen, die den ganzen Tag in ihrem Kopf kreisten und Unruhe stifteten, seitdem Liam von dem Rettungshubschrauber abgeholt worden war. Endlich bekam sie eine Antwort auf all ihre ungeklärten Frage.
„Ja, er ist bei uns. Er wurde im Rettungshubschrauber von einem Arzt untersucht und anschließend in ein Flugzeug umgelegt, das ihn hierher brachte. Ich war bereits bei ihm und der Arzt hat es mir so erklärt, dass sich das Tauchen sowohl auf das äußere, mittlere und innere Ohr auswirken kann. Und Liam hat durch das schnelle Sinken viel zu viel Druck auf den Ohren gehabt, den er nicht ausgleichen konnte. Er hat dadurch ein Barotrauma erlitten, also sein Trommelfell ist gerissen. Der Arzt meinte jedoch, dass keine Operation nötig wäre. Er bekommt nun Antibiotika zur Vorbeugung einer bakteriellen Infektion, da es sehr wahrscheinlich ist, dass Wasser durch den Trommelfellriss in sein Ohr gelangt ist. In 95% der Fälle heilt das gerissene Trommelfell aber innerhalb von ein paar Tagen von selbst. Der Arzt ist sich sicher, dass das bei Liam auch der Fall sein wird. Und naja, dann kommt halt noch die Kopfverletzung dazu, die er durch den Aufprall des Gletschers erlitten hat. Da hat er sich eine Gehirnerschütterung zugezogen.
Auch dahingehend muss er sich ein paar Tage schonen. Gegen die Kopfschmerzen, den Schwindel und die Übelkeit bekommt er Medikamente.“
Evelyn fiel mehr als nur ein Stein vom Herzen. Er war aufgewacht. Er lebte. Und anscheinend war alles halb so wild.
Hoffentlich war er dann in ein paar Tagen wieder einsatzklar und konnte mit ihnen zum nächsten Portal reisen.
„Gott sei Dank geht es ihm gut“, sagte Evelyn erleichtert und strich sich eine Strähne, die ihr ins Gesicht gefallen war, zurück hinters Ohr.
„Ja. Ich bin auch sofort zu ihm ins Krankenzimmer gegangen, als ich gehört habe, was passiert ist. Ihr müsst wirklich vorsichtiger sein. Eigentlich wisst ihr doch, dass von den Gletschern Teile abbrechen und ins Wasser fallen können“, ermahnte Marco sie besorgt.
Ja, er hatte recht. Eigentlich wussten sie das. Aber nur, weil man es mal gelernt hatte, konnte man nicht automatisch alles umsetzen. Sie mussten Tag für Tag auf so Vieles achten, Rücksicht nehmen und vorsichtig sein, da konnte man schon einmal den einen oder anderen Fehler machen. Zumal ihnen in dieser Situation nicht einmal bewusst gewesen war, dass sie so nah bei den Gletschern getaucht waren.
„Ja, ich weiß. Das ist mir auch schon aufgefallen, aber man denkt nicht immer an alles, das ist leider so“, erklärte sie.
„Ich weiß. Hauptsache es ist alles gut gegangen und Liam geht es auch den Umständen entsprechend gut. Er hat direkt nach dir gefragt, als ich das Zimmer betreten habe…“ Evelyn wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Beschämt sah sie zu Boden und spielte mit ihrem Schuh in einer der Wasserpfützen.
„Was läuft denn da wieder zwischen euch? Oder immer noch? Seid ihr wieder zusammen?“, hakte Marco nach, als er feststellte, dass Evelyn lieber nichts dazu sagen wollte.
Und wieder blieb es still.
Naja, diese Frage konnte sie sich nicht einmal selbst beantworten, wie sollte sie diese dann jemand anderes beantworten können.
„Nein, wir sind nicht wieder zusammen. Aber ja, wir haben wieder etwas miteinander. Was genau das ist, kann ich nicht definieren und ich kann dem auch keinen Namen geben. Ob wieder etwas daraus wird, kann ich erst recht nicht sagen…“
„Aber willst du denn, dass wieder etwas daraus wird? Liebst du ihn noch?“, hakte Marco nach.
„Natürlich liebe ich ihn noch. Wie könnte ich nicht? Er war es immer und er ist es auch noch. Ich kann ihm nur nicht mehr glauben, geschweige denn vertrauen. Was er gemacht hat…ich kann ihm das vergeben, aber ich kann es niemals vergessen“, erklärte Evelyn und sah hoch in die Sterne.
Selten hatte sie so eine klare Nacht gesehen. Jeder einzelne Stern am Himmel strahlte unglaublich hell. Der Mond schimmerte und erweckte etwas Mystisches.
Ihre Augen wurden glasig und füllten sich mit Tränen. Sie blinzelte sie weg.
Liam ging ihr unter die Haut.
Das, was er getan hatte, verletzte sie so sehr. Es tat weh. Alles tat weh, wenn sie daran dachte, wie er es mit einer anderen trieb.
Am liebsten würde sie sich jedes Mal bei diesem Gedanken übergeben. Sie wurde dann so unfassbar wütend. Wütend auf Liam, auf Joleen, auf alles und jeden. Am liebsten hätte sie Liam in diesen Momenten eine reingehauen.
Wut und Trauer überwogen einfach. Diese Gefühle waren stärker als jede Liebe, die sie für ihn übrig hatte und das war eine Menge.
„Willst du meine Meinung dazu hören?“, fragte Marco zurückhaltend.
„Ja“, sagte sie und nickte.
„Ich kenne Liam jetzt auch schon sehr lange und ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass er das wirklich getan haben soll. Aber mal abgesehen davon, ob er es wirklich getan hat oder nicht. Du liebst ihn. Du liebst ihn und es quält dich, nicht mit ihm sein zu können. Meiner Meinung nach solltest du bei ihm bleiben. Du solltest bei ihm bleiben, wegen allem, was er richtig gemacht hat und nicht wegen dieser einen Sache, die er vielleicht falsch gemacht hat.“
Seine Worte verschlugen Evelyn die Sprache. Er hatte so recht.
Er hatte wirklich so Vieles richtig gemacht. Er hatte sie immer so gut behandelt und sie so sehr geliebt. Liam war gut zu ihr gewesen. Immer.
Dennoch stand ihr etwas im Weg. War es ihr verletztes Ego oder einfach die Tatsache, dass sie das niemals vergessen könnte? Sie wusste es nicht.
„Du wirst schon das Richtige tun. Hör auf dein Herz. Das wird immer das Richtige sein“, fügte Marco hinzu, als von Evelyn keine Antwort kam.
Seit wann konnte man so gut mit ihm über so etwas reden? Oder generell mit ihm reden, ohne, dass er einen dummen oder unnötigen Kommentar einwarf?
„Danke“, sagte sie und zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis ganz nach oben, sodass sie ihr Gesicht darin vergraben konnte.
„Es wird hier auch langsam wirklich kalt. Ich sollte schlafen gehen, damit ich morgen fit bin. Immerhin haben wir das Portal immer noch nicht gefunden“, erklärte Evelyn und wollte gerade das Gespräch beenden, als Marco sie aufhielt.
„Ach Moment. Wo du jetzt Portal sagst. Ich muss euch noch etwas erzählen. Das Gespräch über Liam hat mich völlig abgelenkt und aus dem Konzept gebracht. Tarek hat mich angerufen. Die Opposites kommen dieses Mal wohl mit sechs Männern und vor allem mit Alexander. Tarek hat mir von ihm erzählt und mir mehrfach aufgetragen, euch eindringlich zu warnen. Alexander ist der bekannteste und gefährlichste Auftragskiller Russlands. Er ist gemeingefährlich. Tarek hat, obwohl er meinte, dass ihr die Besten seid, wirklich ernsthafte Zweifel daran, dass ihr diesen Angriff der Opposites überleben werdet. Ihr müsst euch was einfallen lassen. Es darf zu keinem Kampf zwischen euch und den Opposites kommen, zumal ihr jetzt auch noch einer weniger seid und damit absolut in der Unterzahl. Ihr würdet diesen Kampf verlieren und das können wir nicht zulassen. Nach Tareks Anruf haben wir sofort eine Versammlung einberufen und überlegt, was ihr tun könnt, um einen Angriff zu verhindern. Leider können wir euch keine Verstärkung schicken, da so gut wie jede Missionsgruppe gerade unterwegs ist und die Auszubildenden können wir einer solchen Gefahr keinesfalls aussetzen“, erklärte Marco. Und wieder raubte er mit seinen Worten Evelyn den Atem. Was sollte denn noch alles passieren? Was konnte auf dieser Mission eigentlich noch alles schiefgehen?
„Aber Emilia ist auf eine wirklich gute Idee gekommen. Sie ist Forscherin und hat sich viel mit den Portalen beschäftigt.
Sobald sie angegriffen werden, aktivieren sie ja für eine Woche ihren Selbstschutz. Also haben wir uns überlegt, wie es wäre, wenn ihr einen Angriff auf das Portal simuliert, sodass es seinen Selbstschutz aktiviert, ohne dass die Opposites es überhaupt jemals erreicht haben. Vorausgesetzt ihr findet es, bevor die Opposites euch finden“, sagte Marco.
„Ja, das ist eine wirklich gute Idee. Aber wie sollen wir das Portal denn angreifen ohne es zu zerstören?“, fragte Evelyn.
„Mhh, das haben wir auch noch nicht so ganz herausgefunden.
Sucht ihr erst einmal nach dem Portal und findet es so schnell wie möglich und wir machen uns darüber weiter Gedanken. Ich werde mich bei euch melden und euch über alles weitere auf dem Laufenden halten“, sagte Marco, verabschiedete sich und beendete damit das Telefonat.
Evelyn ließ den Hörer sinken und blickte auf das Wasser. Das Gespräch mit Marco über Liam hatte ihr richtig gut getan.
Sie musste sofort den anderen von dem erzählen, was Marco ihr gerade erzählt hatte.
Schnell ging sie zu den anderen runter in die Schlafkabine und berichtete ihnen von den Opposites und von Alexander. Davon, dass sie diesen Kampf verlieren würden und dass sie sich etwas anderes einfallen lassen sollten, damit es nicht zu einem Kampf gegen die Opposites kommen würde. Evelyn erzählte ihnen auch von der Idee, dass sie das Portal angreifen und so den Selbstschutz aktivieren sollten.
„Wir sollten morgen unbedingt an dem Steg suchen. Da finden wir das Portal, da bin ich mir so sicher“, sagte Riley und ließ sich zurück in sein Kopfkissen fallen.
Auch Evelyn legte sich in ihr Bett, schloss ihre Augen und schlief sofort ein. Sie brauchten nun alle Kraft, die sie hatten, und Schlaf war das Wichtigste.
Am nächsten Morgen schien das Licht der aufgehenden Sonne durch das Bullauge und kitzelte Evelyn im Gesicht.
Verschlafen rieb sie sich die Augen und setzte sich auf. Ihr Rücken schmerzte und wirklich gut hatte sie auf diesem kleinen Bett, was man aus der Wand ausklappte, nicht geschlafen. Es war hart und unbequem. Doch das spielte keine Rolle. Wie alles andere. Das einzige, was eine Rolle spielte, war die Suche nach dem Portal heute und die Aktivierung des Selbstschutzes. Wie auch immer sie das machen sollten.
Fred war bereits auf den Beinen und löste den Anker, der das Schiff davor bewahrte, wegzutreiben.
„Guten Morgen. Nehmt euch Frühstück! Ich habe bereits alles auf den Tisch gestellt und fahre euch in der Zwischenzeit schon mal zu dem Steg, von dem Riley erzählt hatte. Ich glaube ich weiß, welchen Steg er meint. Dann könnt ihr sofort anfangen zu suchen, sobald ihr mit dem Frühstück fertig seid. Soweit ich es gestern mitbekommen habe, wird die Zeit knapp und das Portal zu finden hat höchste Priorität“.
Evelyn bedankte sich bei Fred und setzte sich mit den anderen an den Tisch. Sie schmierte sich drei Scheiben Brot mit Marmelade und besprach mit den anderen den heutigen Tauchgang.
Nach einer guten halben Stunde blieb das Boot stehen. Riley sah über die Schulter hinaus aus dem Fenster. Vor ihnen befand sich ein langer Steg, der einige Meter über den Lago Argentino reichte. Er war mit einer Schneeschicht bedeckt, doch Riley erkannte sofort, dass es genau der Steg war, an dem er vor wenigen Jahren in die Ären gelangt war.
„Ja, das ist der Steg. Hier war das Portal“, rief er und sprang auf.
„Heute ist das Wetter deutlich schlechter als gestern. Es ist bewölkt und es sieht so aus, als würde es bald regnen. Es ist windig und das Wasser ist unruhig. Seid vorsichtig!“, sagte er und verschwand mit diesen Worten im Badezimmer.
Auch Evelyn und die anderen verschwanden wieder in ihrer Kabine und zogen sich ihre Taucherausrüstung an. Wenige Minuten später waren sie bereits im Wasser und begannen ihren Tauchgang.
„Denkt dran: Nach einer Stunde tauchen wir wieder auf und wärmen uns auf, bevor wir weitermachen“, sagte Evelyn.
Sie warf einen letzten Blick auf ihre Uhr, nahm das Mundstück in den Mund und tauchte ab.
Fred hatte recht. Das Wasser war heute deutlich unruhiger und noch kälter. Es war eine halbe Stunde vergangen, als Evelyn erneut auf ihre Lünette blickte. Sie waren direkt zu dem Steg getaucht. Fred hatte in einigen Metern Entfernung geankert, sodass sie noch eine kurze Strecke zurücklegen mussten. Evelyn tauchte unter dem Steg hindurch und erkannte plötzlich unmittelbar vor sich einen orangefarbenen Schimmer. Das Wasser glänzte an dieser Stelle und tauchte den Steg in ein leuchtendes Orange.
Das Portal.
Sie hatte es gefunden. Sie hatte es wirklich gefunden. Aufgeregt drehte Evelyn um und wandte sich den anderen zu. Sie gestikulierte wild mit den Armen, um ihnen irgendwie zu signalisieren, dass sie das Portal gefunden hatte. Das erwies sich als deutlich schwerer, da sie weder sprechen noch rufen konnte.
Nicht einmal ein Geräusch konnte sie von sich geben, was die anderen auf sie aufmerksam gemacht hätte, denn das Mundstück machte es ihr unmöglich, auch nur einen Ton herauszubringen.
Nach einer kurzen Weile richtete Sienna ihren Blick auf Evelyn und entdeckte dessen Versuche, auf sich aufmerksam zu machen.
Schnell stieß sie sowohl Riley als auch Madison an, die ganz bei ihr in der Nähe tauchten und immer noch Ausschau nach dem Portal hielten.
Evelyn zeigte mit dem Finger nach oben und wies sie an, aufzutauchen.
Aufgeregt spuckte sie ihr Mundstück aus. „Ich habe es gefunden. Das Portal. Es ist ein ganzes Stück unter dem Steg.
Riley, du hattest recht“, rief Evelyn und begann dabei zu lächeln.
Endlich. Ein Hoffnungsschimmer.
„Ja, ich wusste es. Ich wusste, dass das Portal hier ist“, sagte Riley triumphierend.
„Gut, das Portal haben wir schon mal gefunden, aber was jetzt?“, fragte Sienna und versuchte, sich mit Mühe über Wasser zu halten.
Evelyn schlug vor, dass sie erst einmal zurück zum Boot schwimmen sollten, denn immerhin waren sie jetzt knapp 45 Minuten getaucht und ausgekühlt.
„Wärmen wir uns erst einmal kurz auf. Dann rufe ich Marco noch mal an. Vielleicht haben sie jetzt eine Idee, wie wir den Selbstschutz der Portale aktivieren können“, schlug Evelyn vor und machte sich bereit für den Rückweg.
Auf dem Boot angekommen empfing Fred sie bereits mit heißem Tee und einer wohltuenden Suppe.
„Hey“, meldete Marco sich.
„Hey, wir haben das Portal gefunden“, berichtete Evelyn glücklich.
„Ohh gut! Das ist sehr gut, Leute“, erwiderte Marco erleichtert.
„Ja, aber wie sollen wir es jetzt dazu bringen, seinen Selbstschutz zu aktivieren?“, fragte Evelyn.
Einen Augenblick blieb es still.
„Also…“, begann Marco seinen Satz. „Wir haben alle gemeinsam überlegt, was ihr machen müsstet, damit die Portale ihren Selbstschutz aktivieren. Dabei ist uns aufgefallen, dass es nie zu einem Angriff auf die Portale selbst kam. Immer, wenn die Opposites eintrafen, haben sie gegen euch gekämpft, nicht aber gegen das Portal. Wir haben uns daher überlegt, dass das Portal womöglich wahrnimmt, wenn in einem gewissen Umkreis ein Kampf stattfindet. Ob nun gegen das Portal selbst oder zwischen anderen. Daraufhin aktiviert es seinen Selbstschutz“, erklärte Marco.
Sienna nickte. „Ja, das könnte wirklich sein“, rief sie so laut, dass auch Marco es ohne Lautsprecher deutlich hören konnte.
„Ja, Sienna hat recht. Das könnte wirklich funktionieren. Ich habe nie darüber nachgedacht, dass die Opposites das Portal nicht selbst angegriffen haben und sich der Selbstschutz trotzdem aktiviert hat. Aber es stimmt. Weder im Aokigahara, noch an der Villa oder im Hartwood Hospital in Schottland haben die Opposites das Portal selbst angegriffen.
Sie haben immer nur uns angegriffen“, sagte Evelyn.
„Ja, genau so ist es. Und deshalb haben wir gedacht, wenn ihr einen Kampf simuliert, also ihr euch gegenseitig angreift, dass das Portal seinen Selbstschutz aktiviert“, schlug Marco vor.
Evelyn nickte.
Sie beendete das Gespräch und sie machten sich fertig, um am Steg anzulegen.
„Müssen wir den Kampf nicht eigentlich unter Wasser simulieren? Immerhin liegt das Portal ja auch dort“, fragte Riley, während er vom Boot auf den Steg kletterte.
„Ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht. Aber ich wüsste nicht, wie. Auf dem Land ist es deutlich einfacher einen Kampf zu simulieren als unter Wasser. Deshalb dachte ich, dass wir es erst einmal so probieren und falls das nicht funktionieren sollte, tauchen wir noch einmal und probieren das Ganze unter Wasser“, erklärte Evelyn ihr Vorhaben.
„Ja, das Ganze ist unter Wasser wohl deutlich schwieriger, aber wir sollten beides versuchen. Wir wissen immerhin nicht, wann die Opposites hier auftauchen und ich bin auch nicht scharf darauf, das herauszufinden. Ich möchte, dass dieses Portal seinen Selbstschutz aktiviert und dann nichts wie weg hier. Ich bin dafür, dass Sienna und ich den Kampf an Land simulieren und ihr beide unter Wasser. Ihr seid die besten Taucher“, schlug Riley vor und signalisierte Evelyn und Madison, dass sie mit dem Rettungsboot zurück zu Fred fahren und sich die Taucherausrüstung anziehen sollten.
Evelyn wusste, dass er recht hatte, doch hatte sie leider wenig Lust zu tauchen, geschweige denn einen Kampf unter Wasser nachzustellen.
Etwas widerwillig fuhren Evelyn und Madison zurück zum Boot und warfen sich in ihre Taucherausrüstung.
Wenige Minuten später, nachdem sie sich fertig gemacht hatten, kamen sie wieder zum Steg zurück.
Sie konnten schon aus der Ferne beobachten, wie Riley und Sienna gegeneinander kämpften.
Es sah wirklich echt aus.
Kein Wunder. Immerhin hatten sie drei Jahre nichts anderes gemacht, als Kämpfe zu simulieren, um so die Verteidigung zu üben.
„Uhh, das tat bestimmt weh“, sagte Madison, während sie ihr Gesicht schmerzhaft verzog, als Riley einen heftigen Tritt von Sienna abbekam.
„Wie sehen wir eigentlich, ob das Portal seinen Selbstschutz aktiviert hat?“, fragte Madison und sah Evelyn unsicher an.
Diese zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, das habe ich mich auch schon gefragt. Aber ich denke wir sehen es, wenn es so weit ist oder einer von uns muss ins Portal gehen.“
Madison sah sie erschrocken an und dachte, sie mache eine Scherz. Doch Evelyn meinte es todernst.
Am Steg angekommen befestigte Evelyn das Boot, nahm das Mundstück in den Mund und setzte sich auf den Rand des Bootes.
Sie formte mit ihren Fingern das Zeichen für „Okay“, woraufhin Madison und Evelyn sich rückwärts vom Boot ins Wasser fallen ließen.
Evelyn brauchte einen kurzen Augenblick, um zu verstehen, wo oben und unten war, doch als sie sich wieder gefangen hatte, erkannte sie Madison, die bereits auf das Portal zu schwamm.
Sie folgte ihr und erkannte nach wenigen Metern schon aus Entfernung das orangefarbene Schimmern des Portals.
Madison hielt an und wandte sich Evelyn zu.
Evelyn meinte ein: „Und was jetzt?“ von Madison gehört zu haben, doch sie war sich nicht sicher.
Auch Evelyn hatte keine Ahnung, wie so ein Kampf unter Wasser aussehen sollte.
Sie schwamm ein Stück auf Madison zu, bis sie unmittelbar vor ihr war, und begann, auf sie einzutreten.
Erst etwas leichter und dann fester. Mit Beinen und Armen schlug sie auf sie ein.
„Aua“, rief Madison und wehrte sich.
Es musste unglaublich ulkig aussehen, wie sie sich gegenseitig unter Wasser mehr streichelten als schlugen.
Evelyn hielt inne und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
Madison hob ihren Zeigefinger und signalisierte ihr, dass sie auftauchen sollten.
„Das ist doch dämlich“, sagte Evelyn, nachdem sie das Mundstück herausgenommen hatte. Madison nickte und begann zu lachen.
Als Riley zum Schlag ausholte, duckte Sienna sich und wollte ihn im selben Moment grätschen, so dass er den Halt verlor und zu Boden ging.
Riley fiel zu Boden und schnitt sich dabei an einem spitzen Stein den Arm auf.
„Ahh“, rief er und hielt sich schmerzerfüllt die Wunde.
„Alles gut?“, fragte Sienna und kam schnell auf ihn zu. Sie packte ihn am Arm und machte die Wunde frei.
Eine kleine Schnittwunde.
„Schon okay, lass uns das hier zu Ende bringen. Es geht schon“, sagte er und ließ sich von Sienna hochhelfen.
„Na gut, aber das bringt hier doch nichts. Noch ist doch rein gar nichts passiert“, sagte sie und zuckte mit den Schultern.
„Ja, da hast du recht. Vielleicht sind wir zu weit vom Portal weg.
Vielleicht müssen wir näher dran“, schlug Riley vor und ging in Richtung des Stegs.
Sienna folgte ihm.
„Los, schlag mich“, befahl Riley ihr und stellte sich breitbeinig vor sie. Er hob die Arme zur Abwehr und machte sich bereit zum Kampf.
Sienna befolgte seine Anweisung und holte zum Schlag aus.
Riley wehrte ihn ab, doch der Schlag traf ihn direkt an dem Arm, an dem er die Wunde hatte, sodass er kurz inne hielt und seine Finger darauf drücken musste.
Sienna bekam von alldem nichts mit und holte zum Tritt aus.
Mit einem heftigen Tritt in Rileys Magengrube, der vollkommen ohne Deckung dastand, trat sie ihn vom Steg, sodass er mitten ins eiskalte Wasser fiel.
Evelyn und Madison, die derweil wieder abgetaucht waren, schreckten zusammen, als sie hörten, wie etwas über ihnen ins Wasser fiel.
Sie richteten ihren Blick nach oben und erkannten, dass einer der beiden ins Wasser gefallen sein musste. Doch ob es Riley oder Sienna war, konnten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau erkennen. Eine Minute später waren die Luftblasen, die sich durch den Fall ins Wasser gebildet hatten, verschwunden und gaben den Blick auf Riley frei.
Evelyn stieß Madison an und machte sie auf die Wunde an Rileys Arm aufmerksam. Es handelte sich dabei zwar nur um eine kleine Schnittwunde, die jedoch höllisch blutete.
Das Wasser um seinen Arm herum färbte sich leicht rot. Schnell schwamm Riley wieder an die Wasseroberfläche. Evelyn und Madison folgten ihm. Sie wollten wissen, wieso Riley ins Wasser gefallen war.
Gerade, als Evelyn auftauchen wollte, hielt sie inne. Sie erkannte im Augenwinkel, dass der ihr so bekannte Schimmer des Portals verschwunden war. Sie verengte ihre Augen zu Schlitzen, um so erkennen zu können, wo das Portal war. Doch es war weg.
Das einzige Erkennungsmerkmal des Portals war sein orangefarbener Schimmer gewesen.
Doch der war nicht mehr da.
Wieso? Wo war er? Eilig tauchte Evelyn auf, riss sich die Brille vom Kopf und fiel Sienna, die Madison gerade von der Situation erzählte, mitten ins Wort.
„Ey, Leute“, brachte sie schwer atmend heraus. „Das Portal. Es schimmert nicht mehr. Aus irgendeinem Grund ist der orangefarbene Schimmer, nicht mehr da.“
Ungläubig tauchte Madison ab, um sich selbst davon zu überzeugen, dass der Schimmer nicht mehr da war.
„Ja, natürlich“, sagte Riley und Evelyn konnte ihm genau ansehen, dass er gerade einen Geistesblitz hatte.
„Was natürlich?“, wollte sie wissen und sah ihn erwartungsvoll an.
„Das Portal hat seinen Selbstschutz aktiviert“, sagte er.
„Aber wieso sollte es? Das war doch kein Kampf zwischen euch? Habt ihr selbst gesagt“, fragte Madison, die gerade wieder aufgetaucht war. Sienna nickte. „Ja, das stimmt. Ich habe dir einen Tritt verpasst und gut, du bist ins Wasser gefallen, aber das war‘s auch schon. Das war wirklich kein richtiger Kampf“, sagte Madison zustimmend.
„Darum geht es auch gar nicht“, widersprach Riley ihr.
„Oh mein Gott.“ Evelyn sah ihn erleichtert an. „Natürlich geht es nicht darum! Es geht darum, dass du mit einer blutenden Wunde ins Wasser gefallen bist“, erklärte sie.
Riley nickte.
„Was hat denn eine blutende Wunde mit dem Selbstschutz des Portals zu tun? Zumal diese Wunde wirklich lächerlich klein ist“, sagte Madison beinahe etwas spöttisch, woraufhin Riley ihr einen bissigen Blick zuwarf.
„Darum geht es gar nicht. Egal wie groß oder klein seine Wunde war. Riley hat recht. Das ergibt Sinn. Es geht nur darum, dass durch Blut in der Nähe des Portals vergossen wird“, erklärte Evelyn. „Aber wenn wir natürlich auf Nummer sicher gehen wollen, dann schwimmt einfach einer von uns rein“, fügte Evelyn hinzu und zuckte mit den Schultern.
Sie setzte ihre Taucherbrille wieder auf und tauchte ab.
Entschlossen darüber, dass das Portal seinen Selbstschutz aktiviert hatte und sie nicht damit in die Ären reisen konnte, schwamm sie darauf zu.
Dort, wo vorher der orangefarbene Schimmer gewesen war, war jetzt nur noch eine harte Steinwand.
Kein orangefarbener Schimmer und was viel wichtiger war, auch kein Portal.
Sie hatten es geschafft. Sie hatten den Selbstschutz des Portals aktiviert.
Evelyn legte ihre Tasche auf dem Bett ab.
Sie war so unglaublich müde nach der langen Heimreise, doch an Schlaf war kaum zu denken. Sie musste unbedingt zu Liam, bevor sie die nächste Reise der Mission antreten würden.
Bei dem Gedanken daran, wie es ihm gerade wohl ging, begann sie nervös an ihren Fingernägeln zu kauen. Sienna riss sie, als sie ins Zimmer kam, aus ihren Gedanken.
„Was machst du noch hier, Evelyn?“, fragte sie und sah ihre Freundin fragend an. „Du solltest endlich zu Liam gehen. Die ganze Heimreise hast du uns allen die Ohren voll geheult, dass du dir solche Sorgen um ihn machst und dass du unbedingt wissen musst, wie es ihm geht. Also los. Geh hin und sieh nach ihm.“
Gerade als Evelyn ihr zustimmen wollte, klopfte es an der Tür.
Evelyn sah in die Richtung der Tür und ihre Miene verfinsterte sich bei dem Anblick der Person, welche im Türrahmen stand und sie erwartungsvoll ansah.
Joleen.
Wenn es eine Person gab, der sie in der kurzen Zeit, in der sie sich im IFS aufhalten mussten, nicht begegnen wollte, dann war es Joleen.
An Siennas abwertendem Blick, erkannte sie, dass auch sie von ihrer Anwesenheit sichtlich angewidert und vor allem irritiert war.
Schon oft hatte Evelyn das Gefühl, dass Sienna Joleen beinahe mehr hasste als sie selbst es tat. Aber na gut, beste Freundinnen hassten immer mehr als die betroffene Person.
Sienna musterte sie von oben bis unten. „Was willst du hier?“, fragte sie schnippisch.
„Ich würde gerne mit Evelyn reden“, sagte Joleen und schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter. „Hast du bitte eine Minute für mich? Ich würde dir gerne etwas erzählen…“ Evelyn überlegte eine kurze Minute. Eigentlich war das das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Sie konnte Joleen weder sehen noch ihre nervige piepsige Stimme hören. Das ertrug sie heute wirklich nicht. Nicht nur heute, eigentlich ertrug sie es niemals. Immerhin hatte Liam sie mit ihr betrogen. Jedes Mal, wenn sie wieder daran dachte, stieg der Hass in ihr und am liebsten hätte sie dann jeden um sich herum angeschrien und alles um sich herum kaputtgeschlagen.
Doch etwas in ihr hielt sie heute davon ab.
Neugier.
Neugier darauf, was Joleen ihr zu sagen hatte.
Evelyn nickte Sienna zu und signalisierte ihr, dass sie das Zimmer verlassen solle, damit Joleen reinkommen konnte.
„Ja, dann lass ich euch mal allein. Ich wollte sowieso noch mal zu Marco gehen und mit ihm über die nächste Resie quatschen“, sagte Sienna und vergewisserte sich noch mit einem letzten Blick in Evelyns Richtung, dass es wirklich das war, was sie wollte.
Einige Sekunden herrschte eine erdrückende Stille zwischen den beiden. Joleen war derweil ins Zimmer gekommen und fuhr sich nervös durch die Haare.
„Ich weiß, dass das jetzt wahrscheinlich alles viel zu spät kommt und ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst. Ich würde dich niemals um Verzeihung bitten, aber ich habe noch einmal über alles nachgedacht, was passiert ist und ich kann das so wie es jetzt gerade ist, nicht einfach stehen lassen. Es tut mir wirklich sehr leid, Evelyn. Alles, was passiert ist und was du meinetwegen durchmachen musstest und wahrscheinlich immer noch durchmachst, tut mir wirklich leid. Und noch viel mehr tut mir leid, dass das, was ich dir erzählt habe, was zwischen mir und Liam nach der Ära alles passiert wäre, gar nicht stimmt. Ich habe mir das alles nur ausgedacht.“ Joleen zögerte und schluckte, bevor sie weiterredete. „Und dafür schäme ich mich wirklich sehr. Aber dich leiden zu lassen und, dass du mit Liam Schluss gemacht hast, wegen etwas, was überhaupt nicht passiert ist, das konnte ich einfach nicht mehr mit mir vereinbaren. Ich muss dir einfach die Wahrheit sagen, auch wenn das alles mehr als nur unangenehm für mich ist“, erklärte Joleen stotternd.
Nach diesen Worten hielt Evelyn inne. Sie hatte sich schon auf diese typische Entschuldigungs-Floskeln eingestellt und hatte nur darauf gewartet, dass Joleen ihr davon erzählte, wie schlecht sie sich mit all dem, was passiert war, fühle und wie unglaublich leid ihr alles tue und, dass Evelyn ihr das alles bitte verzeihen solle.
Aber damit? Nein, damit hatte sie keinesfalls gerechnet.
Hatte sie sie wirklich richtig verstanden? Hatte sie gerade ernsthaft zugegeben, dass alles, was sie ihr von Liam und ihr erzählt hatte, gelogen war? Evelyn wusste nicht was schlimmer war. Dass sie gedacht hatte, dass Liam sie betrogen hatte oder, dass sie den Worten dieser dahergelaufenen Schnepfe mehr Glauben geschenkt hatte als den Worten ihres eigenen Freundes?
„Wie bitte?“, brach es aus ihr heraus. „Was genau war gelogen? Wovon redest du da bitte?“, hakte Evelyn entsetzt nach.
Joleen schluckte den schwer und erklärte Evelyn, dass alles bis hin zu der Affäre mit Liam gelogen war.
Ja, das, was in den Ären damals zwischen ihr und Liam passiert war, das war wahr. Das gab sie zu. Aber alles darüber hinaus war niemals passiert.
Entsetzt, enttäuscht, verwirrt, traurig und vor allem wütend sah Evelyn sie an. Am liebsten hätte sie sie auf der Stelle gepackt und ihr den Hals umgedreht.
All der Schmerz, den Evelyn die letzten Wochen durchlitten hatte, all die Wut, die Tränen, der Streit, all das, vollkommen umsonst.
Vollkommen ohne Grund.
Sie konnte kaum fassen, dass all das, was sie Liam vorgeworfen hatte und wie sie ihn behandelt hatte, all das war vollkommen unberechtigt gewesen.
Ihr Gefühl von Entsetzen, Enttäuschung, Verwirrtheit, Trauer und Wut schlug in Scham um.
Sie schämte sich.
Sie schämte sich so sehr für all das, was sie Liam gesagt hatte.
Wie sie ihn behandelt hatte und das, obwohl er ihr von Anfang an beteuert hatte, dass das alles niemals so passiert war und dass er ihr das niemals angetan hätte. Aber sie…sie hatte seinen Worten keinen Glauben geschenkt. Lieber hatte sie Joleen geglaubt, die sie nicht einmal kannte.
Schon verrückt, was ein paar kleine Worte in einem Menschen auslösen und kaputt machen konnten. Nach den gesagten Worten von Joleen war Evelyn so verunsichert gewesen und wusste nicht, wem oder was sie glauben sollte und so hatte sie ihrem Gefühl von Unwohlsein und Unbehagen geglaubt und Liam, zu Unrecht und viel zu voreilig, als Fremdgeher abgestempelt.
„Es tut mir wirklich unglaublich leid. Ich weiß selbst nicht, was da in mich gefahren ist, dass ich dir solch eine Lügengeschichte erzählt habe. Ich war eifersüchtig und es war wirklich alles ganz schön dumm von mir“, versuchte Joleen sich noch einmal bei Evelyn zu entschuldigen.
Bis Joleen anfing zu reden und sie so aus ihren Gedanken riss, hatte Evelyn vollkommen vergessen, dass sie überhaupt noch neben ihr stand.
Sie war so in ihren eigenen Gedanken versunken, dass sie sie vollkommen vergaß.
Jegliche Entschuldigung war ihr absolut egal. Es interessierte sie nicht, weshalb Joleen sich schlecht fühlte und was ihr leid tat oder auch nicht.
Das Einzige…wirklich das absolut Einzige, was sie in diesem Moment überhaupt interessierte, war, wie es Liam ging und wie sie das alles wieder gutmachen konnte.
Sie konnte nur hoffen, dass er ihr all das vergeben würde und dass sie das einfach vergessen würden und genauso weitermachen würden wie zuvor. Bevor Joleen das alles in die Welt gesetzt und damit alles zwischen ihnen kaputt gemacht hatte.
„Hör zu. Mir ist das alles wirklich vollkommen egal. Solange das, was du mir jetzt sagst, wirklich der Wahrheit entspricht.
Stimmt es, dass zwischen dir und Liam, bis auf das, was in der Ära passiert ist, niemals etwas gelaufen ist?“, vergewisserte Evelyn sich noch einmal und sah sie erwartungsvoll an.
„Ja, das stimmt. Ich schwöre es“, sagte Joleen.
Evelyn nickte und mit diesen Worten drückte sie sich an Joleen vorbei, verließ wortlos das Zimmer und ließ Joleen allein zurück.
Schneller als ihre Beine sie trugen, rannte Evelyn in den Krankenflügel. Sie musste unbedingt mit Liam reden.
Sie erkundigte sich bei einer der Schwestern darüber, wie es Liam ging.
Liam sei, kurz nachdem er eingeliefert worden war, schon wieder vollkommen bei Bewusstsein gewesen. Im Flugzeug habe man ihn aufgewärmt und seine Temperatur reguliert.
Alles, was er davontragen habe, sei war ein Barotrauma und eine Gehirnerschütterung. Und jetzt sei er mittlerweile wieder richtig gut zurecht. Erleichtert atmete Evelyn aus.
„Ein Glück“, sagte sie und ließ die Luft, die sie vor Anspannung angehalten hatte, zwischen ihren Lippen entweichen.
„Kommen Sie, Miss O’Grady. Ich bringe Sie hin“, sagte Teresa, die Krankenschwester, die für Liam zuständig war. Gerade, als Evelyn die Hand hob, um an die Tür zu klopfen, hielt sie inne.
Sie wusste gar nicht, was sie jetzt sagen sollte.
Sie wusste gar nicht, wie sie ihm begegnen sollte.
Alles in ihr war vollkommen wirr und ungeordnet. Sie wusste, dass Liam sie nicht betrogen hatte und doch spürte sie es noch nicht. Sie fühlte sich dennoch so betrogen und hintergangen.
Gleichzeitig verspürte sie Scham und war unendlich traurig darüber, was sie Liam alles an den Kopf geworfen hatte.
Dass sie ihm nicht geglaubt hatte, war ihr unendlich peinlich. Er war ihr Freund, ihre Liebe, er war alles für sie und dennoch hatte sie an seinen Worten gezweifelt.
An seiner Ehrlichkeit.
Wieso? Lag es an ihrer eigenen Unsicherheit? Sie schob jeglichen Gedanken beiseite, atmete tief ein und aus und klopfte gegen die Zimmertür.
„Ja, herein.“ Hörte sie seine Stimme aus dem Inneren des Zimmers. Sofort durchströmte sie eine wohlige Wärme.
Liam saß aufrecht im Krankenbett und aß einen Schokoladenpudding als Evelyn das Zimmer betrat.
„Oh, hey, Evelyn. Du bist es. Wie schön“, sagte er und stellte seinen Joghurt auf den Nachttisch neben sich.
„Hey“, sagte sie zögerlich und begutachtete ihn von oben bis unten, so als würde sie sich vergewissern wollen, dass noch alles an ihm dran war und ihm wirklich nichts fehlte, bis auf das Barotrauma und die Gehirnerschütterung.
„Wie geht es dir?“, fragte sie und setzte sich auf die Kante seines Krankenbetts. Er rückte einige Zentimeter zur Seite, sodass Evelyn genug Platz hatte, sich richtig hinzusetzen.
„Also, tatsächlich geht es mir recht gut. Mein Kopf dröhnt immer noch extrem, aber die Schmerzmittel machen es erträglich. Ich darf heute sogar wieder zurück auf mein Zimmer“, erzählte er ihr. „Ich habe gehört, dass du mich gerettet hast…danke!“, flüsterte er und griff nach ihrer Hand, mit der sie sich auf dem Bett abstützte.
„Ist doch klar. Ich hätte niemals zugelassen, dass dir irgendetwas passiert. Aber als du da gesunken bist, das war das Schlimmste, was ich je gesehen habe. Das Schlimmste, was ich je gefühlt habe…ich dachte wirklich, ich hätte dich verloren.
Niemals hätte ich gedacht, dass du so glimpflich davonkommst.
Wirklich. Ich habe gedacht, du wachst nie mehr auf…“, flüsterte sie und bei dem Gedanken daran durchfuhr sie ein Schauer.
„Ich kann mir gut vorstellen, wie du dich gefühlt haben musst, wenn ich mir vorstelle, wie ich mich gefühlt habe, als ich gesehen habe, wie du im Aokigahara fast gestorben wärst. Das war auch wirklich einer der schlimmsten Momente meines Lebens“, sagte er und strich behutsam mit seinem Daumen über ihren Handrücken.
„Apropos schlimmster Moment deines Lebens…einer der schlimmsten Momente meines Lebens war es, als ich erfahren habe, dass du mich mit Joleen betrogen hast.“ Bei diesen Worten verdrehte Liam kaum erkennbar die Augen. Vor ein paar Stunden noch wäre Evelyn auf diese Reaktion hin unglaublich wütend geworden und hätte ihn wahrscheinlich angeschrien oder wäre einfach gegangen, aber jetzt. Jetzt da sie wusste, dass alles eine Lüge war und er einfach nur genervt und verzweifelt darüber war, dass sie seinen Worten sowieso keinen Glauben schenkte, verstand sie ihn.
„Joleen war bei mir“, fügte sie zusammenhangslos hinzu.
Verwirrt sah Liam sie an. „Was hat sie dir diesmal erzählt? Dass sie für eine schnelle Nummer an mein Krankenbett gekommen ist, als du noch auf Mission warst?“, fragte er sarkastisch. Seine gesamte Körperhaltung änderte sich von gelassen und entspannt zu vollkommen angespannt und wütend.
Und zum ersten Mal konnte sie seine Wut auf sie wirklich nachvollziehen. Wie frustrierend es für ihn gewesen sein musste bei ihr quasi gegen eine Wand zu reden und dabei auch noch zu wissen, dass man mit dem, was man sagt, vollkommen im Recht war. „Nein, tatsächlich war sie bei mir, um sich für alles zu entschuldigen und vor allem dafür, dass alles, was sie über dich und sie gesagt hat, gelogen war“, erklärte Evelyn und atmete dabei schwer ein.
Liams Augen blitzten auf. Und seit Langem konnte sie etwas darin erkennen.
Hoffnung.
Die Hoffnung darüber, dass Evelyn ihm und seinen Worten, seinen Versprechungen, endlich Glauben schenken würde.
„Ehrlich?“, fragte er verwirrt nach und vergewisserte sich, dass er ihre Aussage richtig verstanden hatte.
Evelyn nickte.
Liam sah sie erwartungsvoll an.
„Es fällt mir trotzdem schwer, bei den ganzen Geschichten zu erkennen, welche gelogen und welche die wahre ist. Ich versuche aber zu glauben, dass sie mir jetzt die Wahrheit gesagt hat und falls das so ist, dann tut es mir unendlich leid, dass ich dich all die Wochen zu Unrecht beschuldigt, beleidigt, angeschrien und von mir weggestoßen habe…ich war einfach so verletzt. Ich war so verwirrt. Ich wusste nicht, wem ich was glauben sollte und ja, im Endeffekt, hätte ich nur deinen Worten Glauben schenken sollen und das tut mir aufrichtig leid“, sagte Evelyn und ergriff seine Hand. Sie umfasste sie und schloss sie fest in ihre. Ihre Finger fügten sich, wie, als wären sie füreinander bestimmt, von selbst zusammen.
Auf Liams Gesicht machte sich ein Lächeln breit.
Evelyn war sich nicht sicher, wann sie ihn zuletzt so hatte strahlen sehen.
Sie räusperte sich. „Aber nur, weil ich versuche ihr zu glauben, heißt das nicht, dass ich das alles einfach vergessen kann. Ja, es ist alles niemals passiert, aber trotzdem habe ich all den Schmerz durchlebt und trotzdem ist da noch irgendetwas in mir, was noch nicht zu 100% damit abgeschlossen hat. Ich brauche einfach noch etwas Zeit…“, sagte sie vorsichtig und sah ihn erwartungsvoll an. Liam löste seine Hand aus ihrer und blickte sie fassungslos an. „Du brauchst noch Zeit? Evelyn…ich hatte die letzten Wochen viel Verständnis für dich und habe immer geschaut, dass es dir gut geht, obwohl ich wusste, dass ich rein gar nichts falsch gemacht habe. Und jetzt, wo du sogar weißt, dass ich keinen Fehler gemacht habe und dich niemals betrogen habe, brauchst du Zeit? Hast du bei all dem auch nur eine Sekunde an mich gedacht? Dass ich auch gelitten habe die letzten Wochen? Dass es mir auch miserabel ging?“ Evelyn rutschte von einer auf die andere Seite und sah ihn entgeistert an.
Mit so einer Reaktion hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.
Natürlich dachte sie auch an ihn, aber was sollte sie tun, wenn sie einfach noch nicht so weit war? Wenn da in ihr einfach noch etwas war, mit dem sie zu 100% abschließen wollte?
„Bitte geh jetzt“, sagte er und wandte seinen Blick ab.
Jetzt wusste sie überhaupt nicht mehr, wie ihr geschieht. Wieso sollte sie jetzt gehen? Was hatte ihn jetzt so sehr getroffen von dem, was sie gesagt hatte?
„Aber“, begann sie ihren Satz, doch Liam fiel ihr ins Wort.
„Bitte Evelyn. Komm auf mich zu, wenn du dir sicher bist, was du willst“, sagte er beinahe schnippisch, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Sprachlos und enttäuscht über seine Worte verließ sie das Krankenzimmer.
Evelyn blieb auf dem Flur des Krankenbereichs stehen und dachte über seine Worte nach.
Wieso? Wieso musste alles zwischen ihnen so unglaublich kompliziert sein? Nur schwer konnte sie ihre Tränen zurückhalten. Sie sah sich um, um sich zu vergewissern, dass sie niemand so sah.
Was sollte sie jetzt tun? Sie musste einfach mit Sienna und Madison darüber reden.
Ohne weiter darüber nachzudenken, lief sie aus dem Gebäude in Richtung des Strandes. Sie wusste, dass sie sich für heute Nachmittag am Strand verabredet hatten.
Gedankenversunken ging sie zum Strand und sah sich um. Sie scannte den gesamten Strandabschnitt nach Sienna und Madison. Als sie sie entdeckte, zog sie ihre Schuhe aus und winkte ihnen hektisch zu.
Der Sand war heiß und sie rannte zu ihnen hinüber, um sich nicht die Füße zu verbrennen. Die Sonne kribbelte auf ihren Wangen und das Geräusch der sich brechenden Wellen im Sand beruhigte sie ein wenig.
Sie setzte sich auf Siennas Handtuch und schob sie beiseite, womit sie sie etwas unsanft aus dem Dösen riss. Erschrocken fuhr Sienna hoch und linste über die Gläser ihrer Sonnenbrille.
„Oh Evelyn, hast du mich erschreckt“, sagte sie und fasste sich panisch ans Herz. Madison lachte nur.
„Was ist passiert? Hat diese Dumme schon wieder irgendwas zu dir gesagt?“, fragte Sienna, als sie Evelyns Gesichtsausdruck sah und erkannte, dass sie etwas beschäftigte.
Sienna richtete sich auf und setzte die Sonnenbrille auf ihren Kopf. Erwartungsvoll und unglaublich genervt von Joleen wartete sie darauf, dass Evelyn ihr alle Einzelheiten erzählte.
„Moment mal“, fiel Madison Evelyn jedoch ins Wort, bevor diese anfangen konnte zu erzählen. „Die Dumme? Joleen? Du hast mit Joleen gesprochen? Wieso das denn?“, fragte sie empört und blickte Evelyn fassungslos an.
„Ja, sie stand vor unserem Zimmer und wollte mit mir reden“, erklärte Evelyn schulterzuckend.
„Ja und, was wollte sie?“, hakte Madison nach.
„Sie hat sich bei mir entschuldigt. Sie hat mir gesagt, wie leid ihr das alles tue und am meisten leid täte ihr, dass alles, was sie über sich und Liam erzählt habe, erfunden sei.“
Evelyn blickte in empörte Gesichter.
Sienna räusperte sich. „Ich wusste es“, sagte sie ganz lässig, als ob sie von Anfang an gewusst hätte, dass Joleen nur Mist erzählt hatte.
Evelyn sah sie ungläubig an. „Wie du wusstest es?“
„Ja, mal ehrlich. Jeder Blinde mit einem Krückstock sieht, wie sehr Liam dich liebt. Niemals hätte er dir sowas angetan“, erklärte Sienna sich. Madison sah immer noch misstrauisch zwischen Evelyn und Sienna hin und her.
„Ach komm, Sienna. Du hast auch teilweise daran gezweifelt, dass Liam die Wahrheit sagt“, erwiderte Evelyn.
Sienna nickte. „Ja, das stimmt. Vor allem am Anfang war ich mir sicher, dass Joleen die Wahrheit erzählt und dass Liam dich betrogen hat. Aber mit jedem Tag und jedem verzweifelten Versuch von ihm, dir zu erklären, dass das niemals passiert ist, zweifelte ich an ihren Worten.“
Madison nickte. „Ja, das stimmt. Er hat wirklich von Anfang an gesagt, dass das niemals passiert ist und so überhaupt nicht stimmt“, fügte sie bei.
„Und jetzt? Glaubst du auch, dass alles, was sie dir erzählt hat, gelogen war? Warst du schon bei Liam?“, fragte Sienna.
Evelyn nickte. „Ja, ich war bei Liam. Es geht ihm übrigens gut.
Er denkt, dass er zur nächsten Mission wieder mitkommen kann“, erklärte Evelyn.
„Ja, ich weiß. Ich war ja bei Marco, als Joleen da war und der hatte mir genau dasselbe erzählt.“
„Ich habe ihm gesagt, dass ich Joleen glaube, aber dass ich trotzdem noch etwas Zeit brauche. Nachdem, was alles passiert ist, muss ich erst mal meine Gedanken und Gefühle sortieren.
Immerhin dachte ich jetzt eine ganze Weile, dass er mich betrogen hat und dieses Gefühl und diese Schmerzen, die sind nicht einfach so weg, nur weil ich jetzt weiß, dass das alles doch nicht passiert ist. Ich kann das gar nicht erklären, das klingt so paradox, weil es ja niemals passiert ist, aber trotzdem bin ich einfach noch so durcheinander“, erklärte Evelyn. Die Verzweiflung in ihrer Stimme war kaum zu überhören.
Mitfühlend sah Sienna sie an und amtete schwer aus.
„Und wie hat er darauf reagiert? Nicht so gut, oder?“, fragte sie.
Evelyn schüttelte den Kopf. „Nein, er war beinahe etwas zickig.
Er konnte gar nicht verstehen, wieso ich noch Zeit brauche, um mit der neuen Situation klarzukommen. Er meinte, dass er viel Verständnis in den letzten Wochen hatte, obwohl er wusste, dass das alles niemals passiert ist, er nichts falsch gemacht hat und ich seinen Worten überhaupt keinen Glauben geschenkt habe…er hat mich weggeschickt und meinte, dass ich auf ihn zukommen soll, wenn ich dann zu 100% weiß, was ich will.“
„Hä, aber du weißt doch zu 100%, dass du ihn willst, oder nicht?“, fragte Madison verwirrt.
„Ja, ich brauche einfach nur etwas Zeit, um alles zu verarbeiten, aber ganz eventuell habe ich das vorhin bei ihm nicht so zum Ausdruck gebracht und es hat sich mehr so angehört, als wenn ich mir unsicher bin, ob ich ihn will“, erklärte Evelyn und versuchte dabei so unschuldig wie nur irgend möglich auszusehen.
„Oh Evelyn“, sagte Sienna genervt.
„Du musst das klar stellen!“, sagte Madison.
„Ja, auf jeden Fall. Ich mein, ich kann ihn sogar verstehen. Er hat nie etwas falsch gemacht und musste sich die letzten Wochen von dir so viel anhören. So viele Vorwürfe, Beleidigungen und er hat sie alle hingenommen, damit es dir gut geht und das, obwohl er absolut im Recht war und immerhin hat er dich auch verloren. Er hatte genauso Herzschmerzen wie du, das darfst du nicht vergessen. Aber natürlich kann ich dich auch verstehen, du wusstest einfach nicht, was du glauben sollst. Ich verstehe euch beide und das macht es nicht gerade leichter“, erklärte Sienna.
Evelyn nickte gedankenversunken.