In 80 Töpfen um die Welt - Max Christian Graeff - E-Book

In 80 Töpfen um die Welt E-Book

Max Christian Graeff

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Beschreibung

Der Eintopf hatte nicht immer ein leichtes Los. Zwar darf er wohl als klassische Zubereitungsart angesehen werden, doch gilt er als einfache Speise. Max Christian Graeff und Ina Lessing verhelfen ihm wieder zu Ehren und zeigen, wie variabel, lecker und einfallsreich Eintöpfe sein können. Eingebettet sind die »grenzenlos genießbaren« 81 Gerichte in eine unterhaltsame Reisefantasie, die der »Reise um die Erde in 80 Tagen« von Jules Verne einige Beachtung zollt. Sie führt den Leser von Topf zu Topf, Land zu Land, bis er sich am Ende mit der Gewissheit, dass auch fremder Herd Goldes wert ist, am eigenen wiederfindet. Nebenbei verweisen die Autoren auf Zusammenhänge zwischen Zutaten und Kochgewohnheiten sowie auf Möglichkeiten zur eigenen Gestaltung klassischer Gerichte. Nicht das Gramm zählt, sondern das Gefühl, nicht die Pflicht, sondern die Laune, nicht das Können, sondern das Lernen. Denn wer vom Eintopf lernt, lernt von der Welt.

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Über dieses Buch

Der Eintopf hatte nicht immer ein leichtes Los. Zwar darf er wohl als klassische Zubereitungsart angesehen werden, doch gilt er als einfache Speise. Max Christian Graeff und Ina Lessing verhelfen ihm wieder zu Ehren und zeigen, wie variabel, lecker und einfallsreich Eintöpfe sein können. Eingebettet sind die »grenzenlos genießbaren« 81 Gerichte in eine unterhaltsame Reisefantasie, die der »Reise um die Erde in 80 Tagen« von Jules Verne einige Beachtung zollt. Sie führt den Leser von Topf zu Topf, Land zu Land, bis er sich am Ende mit der Gewissheit, dass auch fremder Herd Goldes wert ist, am eigenen wiederfindet. Nebenbei verweisen die Autoren auf Zusammenhänge zwischen Zutaten und Kochgewohnheiten sowie auf Möglichkeiten zur eigenen Gestaltung klassischer Gerichte. Nicht das Gramm zählt, sondern das Gefühl, nicht die Pflicht, sondern die Laune, nicht das Können, sondern das Lernen. Denn wer vom Eintopf lernt, lernt von der Welt.

Die Autoren

Max Christian Graeff, geboren 1962, lebt als Autor und Lektor in Kriens bei Luzern.

Ina Lessing, Jahrgang 1967, studierte Philosophie, Psychologie und Pädagogik. Sie lebt in Wuppertal.

Max Christian Graeff / Ina LessingIn 80 Töpfen um die Welt

Internationale Eintopfgerichte

Edition diá

Inhalt

Was darf’s denn sein?

Topf, die Wette gilt!

19 Eintöpfe aus Deutschland, Frankreich, der Schweiz, Spanien, Portugal, Irland, Schottland, England und den Niederlanden

Kochende soll man nicht aufhalten

19 Eintöpfe aus Osteuropa, vom Balkan, aus Ungarn, Österreich, Italien, Griechenland, Mauretanien, Ghana und der Türkei

Was man nicht im Topf hat …

17 Eintöpfe aus Palästina, Israel, der Ukraine, Georgien, Persien, Indien, China, Thailand, Indonesien, Singapur, Vietnam und Japan

Mit dem Topf durch die Wand!

15 Eintöpfe aus Chile, Argentinien, Brasilien, Südamerika, Panama, Mexiko und Nordamerika

Zu viele Töpfe verderben den Brei

11 Eintöpfe aus Schweden, Finnland, von Saaremaa, aus Russland, Polen, Dänemark und Deutschland

Das Eintopfjahr

Glossar

Impressum

Die Mengenangaben eines Eintopfgerichtes unterscheiden sich grundsätzlich von denen der Nouvelle Cuisine. In diesem Kochbuch wird nicht mit der Briefwaage gemessen; die Angaben sind Richtwerte und nach eigener Vorliebe und Erfahrung veränderbar. Die Gerichte sind in der Regel für vier Personen angelegt, die jedoch ruhig hungrig sein dürfen. Das heißt, sollten sich Ihre Nachbarn vom Duft aus Ihrer Küche angezogen fühlen und zufällig zu einem spontanen Besuch erscheinen, weisen Sie ihnen nicht die Tür. Ein Eintopf lässt sich mit wenigen Umständen entsprechend verlängern.

In den Rezepten dieses Buches mögen die gut bemessenen Mengen des verwendeten Fleisches manchen Leser erstaunen. Jeder Eintopf lässt sich jedoch auf den persönlichen Geschmack und individuelle Gepflogenheiten einstellen. Viele der Gerichte funktionieren mit ein paar Änderungen auch mit weniger oder sogar ganz ohne Fleisch.

Seit der Erstausgabe des Buches hat sich die Verfügbarkeit einiger Zutaten verändert. Viele Supermärkte haben ihr Sortiment »optimiert«, das heißt eingeschränkt. Zahlreiche saisonale Zutaten sind durch Ausbau der Importe das ganze Jahr über erhältlich. Einige Leser mögen sich Selteneres inzwischen mühelos im Onlinehandel besorgen, und gelegentlich hat es ein einst fast vergessenes Gemüse oder Kraut – beispielhaft genannt sei der Bärlauch – wieder auf die Wochenmärkte geschafft. Lassen Sie sich bei aller Armut oder Vielfalt nicht den eigentlichen Spaß wegnehmen: Der wahre Eintopf wird immer aus dem bereitet, was es hier und heute zu kaufen gibt.

Zur Zeitangabe: In der Gegenwart unserer Geschichte – also im Erscheinungsjahr 2000 – beziehen sich die Autoren auf ein Geschehen »vor 128 Jahren«. Gemeint ist damit die Handlung von Jules Vernes Roman »Le tour du monde en quatre-vingts jours«, der am 30. Januar 1873 erschien; die erste deutschsprachige Ausgabe erschien im selben Jahr unter dem Titel »Reise um die Erde in 80 Tagen«.

Was darf’s denn sein?

»Teltower Rübchen?«, fragte Frau Kallenbach konsterniert und fuhr sich kurz mit ihren Fingern durchs graukrause Haar, was sie wirklich selten tat. Dann blickte sie uns energisch in die Augen und zischte: »Haben wir nicht. Kriegen wir auch nicht. Ich möcht sagen: Teltower Rübchen, die wollen wir hier nicht.«

Gute dreieinhalb Stunden lang hatte sie uns nun auf das Zuvorkommendste bedient, hatte alle unsere Wünsche mit klassischer einzelhändlerischer Souveränität zu erfüllen gewusst, vom Couscous bis zum Angeldorsch, vom Topinambur und den recht seltenen Morcillas und Luganegas bis zu den Taros, Biber dolmas, Shiitakes und Konnyakus. Die 350 Gramm Chili hatte sie uns genauso regungslos eingepackt wie die sieben Kilo Schnittpetersilie, die Aale, das Wildschweingulasch, den Fasan und das gut durchwachsene Stück vom Elch; nur als sie die je zwei grünen, geräucherten und gesalzenen Heringe zu den geflämmten Schweinsfüßen legte, hatte sie fast unmerklich den Kopf geschüttelt.

Am Ausgang stapelte sich die von uns erstandene Ware: 22,5 Pfund fest- und knapp 24 Pfund mehligkochende Kartoffeln, diverse Kürbisse, Rettiche und Melonen, Ingwer, Mais und Bambussprossen, Knollen-, Bleichsellerie, Säcke voll weißer, brauner, roter Bohnen und Linsen, Hirse und Graupen, eine Schüssel Hühnertalg, ein Fass Rinderbrühe, große Büschel Liebstöckel und Kerbel, Stielmus, Nierenfett und Kandelnuss, ein bunt schillerndes Universum der für unser Vorhaben unentbehrlichsten Zutaten. Über allem thronte der von Frau Kallenbach mit einem so kurzen wie lässigen Lächeln hinter der Theke hervorgezauberte zweipfündige Taschenkrebs und knabberte, wenn niemand hinsah, an der Kilotüte mit den Safranfäden. Es wäre also ein friedlicher, erfolgreicher Einkauf geworden, hätten nicht als Letztes noch diese Rübchen, Teltower Rübchen, auf unserem Zettel gestanden. Wir schauten uns ratlos an. Zwei Stück hätten wir gebraucht, lächerliche zwei der kleinen hellbraunen, würzig-süßen, in den brandenburgischen Sandböden zufrieden aufgewachsenen Delikatessrübchen. Nichts zu machen. Es würde ohne sie gehen müssen. Zur Not geht es immer ohne. Zumindest ohne Teltower Rübchen …

Topf, die Wette gilt!

19 Eintöpfe aus Deutschland, Frankreich, der Schweiz, Spanien, Portugal, Irland, Schottland, England und den Niederlanden

Wie hatte all das begonnen? Vorgestern, am 2. Oktober, um 11.29 Uhr morgens klingelte das Telefon – auf die Minute genau 128 Jahre nach der Einstellung des Kammerdieners Jean Passepartout in die Dienste des Phileas Fogg Esq. Der war eines der seltsamsten und zugleich prominentesten Mitglieder des Reform-Clubs von London.

Ein Anruf, nicht aus der Vergangenheit (das Telefon war damals, oh herrliche Zeiten, noch nicht entdeckt), sondern aus verzweifelter Gegenwart: Theodor W. Schärer, Präsident der ITAB, International Trend Art Bank of Lucerne, meldete sich mit splitternder Stimme. Es dauerte eine Weile, bis ich zu begreifen begann, worum es ging. Die ITAB, ein weltweit tätiges Konsortium einflussreicher Finanzinstitute, hatte mir die Aufgabe der zentralen Revision übertragen – ein von Grund auf zweckloses Unterfangen, das mich deshalb bisher auch nicht weiter belastet hatte. Doch mit der Ruhe schien es nun vorbei zu sein. Am kommenden Wochenende stand die Generalversammlung aller Direktoriumsmitglieder ins Haus. Etwa 350 hoch bezahlte Nichtsnutze, Lumpen und Taugenichtse aus aller Welt waren nach Wuppertal eingeladen, in die kleine Stadt am schwärzesten Fluss unseres Planeten. Von dort aus sollten sie die globalen wirtschaftlichen Zeitläufte der kommenden Jahre entscheidend zu beeinflussen versuchen. Verköstigt werden sollten sie so einfach wie erlesen. Und, kaum wollte ich glauben, was unser Präsident mir stockend berichtete: Die einzigartige Sammlung sämtlicher (ungelogen: sämtlicher) Ölsardinensorten aller Herren Länder, etwa 3500 Dosen – denn vorgesehen war eine Degustation von zehn ausgelosten Sorten pro Person –, war drei Tage zuvor auf unerklärliche Weise aus dem Schalterraum unseres Hauptkassierers in der Luzerner Zentrale, Zürichstrasse 1, erster Stock, verschwunden. Auf die Stunde genau 128 Jahre nach dem mysteriösen Diebstahl jener 55.000 Pfund Sterling aus der Bank of England. Auf die Stunde genau 128 Jahre nach dem Coup, der von Phileas Fogg im Londoner Reform-Club so heftig wie folgenreich diskutiert worden war – eine weitere, zugegebenermaßen nicht unbedenkliche Übereinstimmung der nackten Wahrheit mit Jules Vernes zur Legende gewordenen Fiktion.

Die Milch soll mir anbrennen bis ans Ende meiner Tage, wenn nicht alles genau so geschah, wie es hier geschrieben steht. Mit der Erzählung von der »Reise um die Erde in 80 Tagen« des ehrwürdigen Visionärs und Romanciers hat dieser Bericht nur am Rande zu tun, auch wenn einige kleine Begebenheiten das Gegenteil belegen.

Was also war zu tun? Die Sicherheitsabteilung hatte unverzüglich die nötigen Schritte zur Rückgewinnung des kostbaren Gutes eingeleitet. Doch die bankeigenen Terminatoren waren selbstverständlich mit dem Detektiv Fix des Romans nicht im Geringsten zu vergleichen. Wie sollten wir nun die aus aller Welt herbeigereiste ausgehungerte Direktorenmeute einigermaßen zufriedenstellen? Die verwöhnten Herren Kollegen forderten von uns nicht nur Exklusivität und Variantenreichtum, sondern auch eine moderate, eben branchenübliche Überreizung ihrer rein quantitativen Aufnahmekapazitäten.

Direktor Schärer und ich überlegten kreuz und quer sämtliche Möglichkeiten, entwarfen telefonbuchstarke Wildmenükarten und landebahnlange Salatbuffets, alpenseetiefe Consommébrunnen und doppelhaushälftengroße Dessertgebäude, doch selbst für unser bestens organisiertes Institut zeigten sich schnell die Grenzen des Machbaren. Schließlich landeten wir im provokant-erlebnisorientierten Trendfoodsektor, bei Cremes, Pasten und Tütensuppen. Spontan zitierte ich eine bestechend formulierte Botschaft aus einer vorjährigen Pressemeldung des Deutschen Suppeninstituts: »Der klassische Luxuskonsum ist einer subtileren Form der Exklusivität gewichen: Die Suppe erfüllt den Anspruch einer ›neuen Bodenständigkeit‹. Die Suppe verkörpert perfekt den Zeitgeist einer komplexen, globalisierten Multioptionsgesellschaft. Sie ist kulinarisches Abbild einer immer undurchschaubareren, aber dennoch in ihrem Gesamtbild faszinierenden Welt.«

Schweigen am anderen Ende der Leitung.

»Theo?«

Stille.

»Nun sag doch was …«

»Ihr Deutschen …«

»Ja bitte?«

»Ihr wart schon immer ganz schön pervers!«

Ehe wir’s uns versahen, steckten wir bis über die Köpfe in einem Disput, der lange vernarbt geglaubte Wunden wieder aufriss. Folglich begann der Dialog auch auf der Stelle ins Irrationale zu gleiten: »Soso. Und eure selbstmitleidige Brösmeliplörre, ist die denn besser? Zwei Löffel Paniermehl in drei Liter Wasser einstreuen, jodeln, salzen und ran an den Feind – da waren ja die Spartaner mit ihrer Blutsuppe besser bedient!«

So kamen wir nicht weiter, das merkten wir rasch. Die ernährungssoziologischen Problemzonen unserer Länder schienen gleichermaßen reichlich vorhanden zu sein. Eine Weile fochten wir noch um Sonntagsritualbreie und Kurze-Arbeitspausen-Zweckmahlzeiten, um Gulaschkanonen und Henkelmänner und um die Auslegung der in einem Topf zubereiteten Massenspeisungen als Ausdruck von Heim und Herd, Hof und Scholle, von Vergangenheitsbeschwörung oder Zukunftsverheißung.

Wir hatten uns so heißgeredet, dass wir nicht merkten, dass die Lösung unseres Problems längst vor uns lag. Im gesamten Einflussbereich der modernen Welt mit ihren Nouvelles Cuisines und Produktpaletten knuspriger Functional-Food-Single-Snacks schien das Kochen einer kompletten Mahlzeit in einem einzigen Topf unter vergleichbaren Vorurteilen zu leiden: Ehemals effektiver Proteinlieferant und Rettungsanker für kalte Tage, soziales Bindeglied und Allheilmittel für eine Vielzahl persönlicher wie gesellschaftlicher Sorgen, erfuhr der Eintopf eine ungerechtfertigte Politisierung und danach die dünkelhafte Verurteilung als Ausdruck von Mangelernährung und geschmacklicher Unterentwicklung.

Aber was für ein internationaleres, aufregenderes und letztendlich auch politisch korrekteres Mahl konnten wir finden, wenn nicht ihn? Und während Theodor in seiner ganzen direktoralen Erfahrung noch eine gewisse Skepsis walten ließ, wagte ich mich leichtfertig vor.

»Der mittlere Familientopf fasst etwa das Volumen, das vier bis fünf unserer nimmersatten Gäste mit Leichtigkeit verschlingen werden. Wir brauchen also eine Gesamtmenge von 80 Einheiten. Natürlich verschiedene, was wir der Internationalität unseres Institutes schuldig sind. Bei einer durchschnittlichen Zubereitungszeit von eineinhalb Stunden brauchen wir zu zweit unter Berücksichtigung der obligaten Nebenarbeiten etwa vier Tage und drei Nächte. Ich würde meinen Topf darauf verwetten, dass das zu machen ist.«

Aus dem Hörer kam meines Direktors glockenhelles Lachen, was mich jedoch nicht mehr sonderlich beirren konnte: »Eine Reise um die Welt in 80 Töpfen. Gekocht auf jeweils einer Flamme oder im Ofen in einem Behälter, dessen Deckel gegebenenfalls mitbenutzt werden darf.«

»Das kannst du dir aus dem Topf schlagen. Das schaffst du nie. Ich setze vier Gebinde Surströmming vom vorvergangenen Jahr.«

»Ich halte dagegen, mit 20 Pfund Dorschleber vom Feinsten.«

»Topf, die Wette gilt!«

Es war 20.45 Uhr, auf die Sekunde genau 128 Jahre nachdem ein Zug der South-Eastern Railways den Bahnhof Charing Cross Richtung Dover verließ.

Nun werden Sie sich vielleicht etwas wundern, warum unsere Generalversammlung ausgerechnet in Wuppertal stattfinden soll. Diesem merkwürdigen, vollkommen unverständlichen Stadtgewächs in der regenreichsten Region des Landes. Die Verklumpung eines knappen Dutzends nicht unbedeutender Kleinstädte zu einer unbedeutenden Nicht-Kleinstadt stellt alles andere als ein internationales Offshore-Zentrum dar und steht höchstens noch für ein schnell rostendes und nur noch schwer zu versicherndes Nahverkehrsmittel, die Schwebebahn, sowie für die Erfindungen des Aspirins, des Heroins und des Lumbeck-Verfahrens, der Buch-Klebebindung, von deren globaler Bedeutung der Buchbinder Emil Lumbeck nichts ahnen konnte, als ihm der Legende nach in seiner kleinen Werkstatt einst das Leimgebinde umkippte und sich über die Auflage des ersten gemeinsamen »Elberfeld-Barmer-Kleinsektenführers« ergoss. Doch das war für unsere Entscheidung ohne Belang; eher ging es um die Herausforderung, den Beweis führen zu können, dass, wenn die Welt zum Dorf geworden ist, ein Dorf zur Welt werden kann.

Die Wolken hingen auf Bordsteinhöhe – ein auch im London des 19. Jahrhunderts recht bekanntes Phänomen –, als ich am Tag danach, am 3. Oktober, meiner alten Küchenfreundin Ina von dem Stand der Dinge berichtete. Ihr liefen unverzüglich alle Kochplatten heiß angesichts der kaum lösbaren Aufgabe. Zur gleichen Zeit wurde im Luzerner Vorort Kriens, im Konferenzsaal des renommierten Hotels Harmonie, der Krisenstab unserer zentralen Verwaltung zusammen- und eine Standleitung in meine Barmer Ersatzküche hergestellt. Genau 24 Stunden Zeit hatten wir für die Ausarbeitung unseres Plans.

Die gute Ina begann sogleich mit der Inspektion meines Haushalts. Ihre Augen glitten an den Regalbrettern entlang, zuckten, verdrehten sich und stolperten über all jene Unentbehrlichkeiten, die sich dort angesammelt hatten, glitten aus auf dem ausgelaufenen Ahornsirup im Oberregal und schlurften durch den Staub gewisser lange nicht in Anspruch genommener dunkler Winkel. Sie stöhnte leise.

»Zeige mir deine Töpfe, und ich sage dir, wer du bist!«

»Okay, vergessen wir’s.«

Diese drei lakonisch-magischen Worte trafen ins Schwarze. Nicht mehr das Volumen meiner Wette schien sie fortan besonders herauszufordern, sondern vielmehr die rudimentären Bedingungen, die in meiner Cowboyküche herrschten. Shakespeares »King Lear« schien ihr gerade angemessen dafür zu sein: »Sprecht nicht, was nötig ist; der schlecht’ste Bettler hat noch ein ärmstes Ding zum Überfluss. Gebt der Natur nur, was sie braucht, so sind sich Tier- und Menschenleben gleich … – Oh, Pichelsteiner!«

Zielstrebig griff sie zu der ältesten Dose im Regal, zu meiner eisernsten Ration. Die Herstellerfirma dieses klassischen Problemmüll-Entsorgungsgerichtes war bereits vor Jahren von der Staatsanwaltschaft liquidiert worden.

»Über den Pichelsteiner wird fast so etwas wie ein Gelehrtenstreit geführt«, begann sie zu referieren. »Vor seiner flächendeckenden Einführung galt er als Berliner Spezialität. Etymologisch dürfte er hingegen auf das bayrische Büchelstein zurückzuführen sein. Für seine urbane Entwicklung spricht hingegen die gemischte Verwendung von Rind, Schwein und Hammel, manchmal auch Kalb, da sich die Variationen jener Tiere in ländlichen Regionen Deutschlands seltener durchzusetzen vermochten.«

»Aha …«

»Damit fangen wir an. Danach kommt was von hier. Ich würde vorschlagen, ein Schlodderkappes, denn damit präsentieren wir den Kohl und vor allem die Kartoffel als maßgebliche Stütze der fortgeschrittenen Industrialisierung im Ruhrgebiet, wo der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch um 1900 in etwa bei 700 Kilo gelegen haben dürfte.«

»…«

»Und anschließend nehmen wir Gestuvte Linsen, dieses glühende Magma aus dem Innersten unserer Region, den Stoff, aus dem die unverwüstlichen Fundamente unserer weltbekannten Fabrikanlagen …«

»Einweichen oder nicht?«

»Wie bitte?«

»Die Linsen, über Nacht?«

Schlagartig war mir klar geworden, dass die Wette mit einer solchen Küchenchefin tatsächlich zu gewinnen war – wenn wir uns auf das Wesentlichste beschränkten. Doch das schien bei diesem Thema nicht allzu leicht zu werden.

»Tja, eine gute Frage. Wolfram Siebeck meint, das Einweichen von Erbsen, Bohnen und Linsen sei ein überkommenes Ritual aus jener Zeit, als die Hülsenfrüchte noch als jahrealte Lagerware zum Einsatz kamen. Heute genüge es vollkommen, sie in kaltem Wasser aufzusetzen, kurz und heftig aufzukochen, abzugießen, kalt abzuschrecken und abermals in kaltem Wasser auf den Herd zu setzen. Etwa eine Stunde Kochzeit reichten hernach völlig aus. Zwei-Sterne-Koch Johann Lafer hingegen bestreitet das vehement und will auf die Prozedur des Einweichens keinesfalls verzichten.«

»Und deine Mutter?«

»Meine weicht ein.«

»Meine kocht.«

Eine Menge Fragen kamen da auf uns zu. Mit dem Eintopf verhält es sich genauso wie mit dem Leben an sich: Nach einer einzigen Wahrheit zu suchen ist ein vergebliches Unterfangen. Und auch das stand in einem Zusammenhang, kam doch das Wort Topf nicht nur von dem altenglischen »dyppan«, was »eintauchen« hieß, sondern war bereits im 12. Jahrhundert der mittelhochdeutsche Ausdruck für Kreisel, abgeleitet vom altfranzösischen »topet«, das seinerseits vom germanischen »topp« abstammte, was so viel bedeutete wie »Spitze«. Die Welt stand Topf. Das sollte noch jemand begreifen …

Doch heutzutage – und vor allem in unserer Angelegenheit – spielt Geradlinigkeit keine besondere Rolle. Wir breiteten also die Weltkarte auf dem Küchentisch aus und begannen nach der günstigsten Route unserer Reise zu suchen. Phileas Fogg hatte es sich einfach gemacht, indem er von Dover aus über Mont-Cenis und Brindisi direkt in den Vorderen Orient abgedampft war.