In China zu Hause - Frank Sieren - E-Book

In China zu Hause E-Book

Frank Sieren

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Beschreibung

Sie leben zwischen den Kulturen – oft seit Jahrzehnten. Ihre Heimat ist Deutschland, ihr zu Hause China. Meist hat der Beruf diese "Expatriots" nach China verschlagen und der Aufenthalt wurde länger als geplant. Fern der Heimat sind sie kein Teil Deutschlands mehr und werden doch nie Chinesen sein. Der Perspektivwechsel ist ihr Alltag. Ihre Rolle als Kulturvermittler lässt sie Stärken und Schwächen der eigenen Kultur erkennen, und zugleich verstehen, warum und wann Chinesen anders handeln und denken als wir. Sie sind Zeitzeugen des Aufstiegs einer neuen Weltmacht, die auch Europas Zukunft bestimmen wird. Von diesen Pionieren der Globalisierung können wir viel lernen, von ihren Erfahrungen profitieren. Der Bestseller Autor Frank Sieren, einer der führenden deutschen China-Experten, hat einige von ihnen getroffen und mit ihnen gesprochen.

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Frank Sieren

IN CHINA ZU HAUSE

Gespräche mit deutschsprachigen Expats, die ihr Leben im boomenden Reich der Mitte verbringen

Für

„Mr. Transrapid“ Hartmut Heine.

Einer der großen deutschen China Pioniere. Im Dezember 2022 in Peking mit 68 Jahren viel zu früh verstorben.

Titel:

In China zu Hause. Gespräche mit deutschsprachigen Expats, die ihr Leben im boomenden Reich der Mitte verbringen

Text:

Frank Sieren

Lektorat Büro Sieren:

Donata Hardenberg

Lektorat:

Maya-Katharina Schulz und Nora Frisch

Redaktion:

Nora Frisch

Covergestaltung:

Hermann Kienesberger

Layout und Satz:

Datagrafix GSP GmbH, Berlin

E-Book-Herstellung:

Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Anmerkung: Kürzere Versionen der Interviews sind im China.Table erschienen, dem einzigen deutschen, täglichen Chinabriefing, das von dem Berliner Medienhaus Table. Media herausgegeben wird. Den Newsletter können Sie hier abonnieren: https://table.media/china/

Wenn Sie den Newsletter abonnieren wollen, schreiben Sie bitte Sebastian Gehr: [email protected]

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2022 Drachenhaus Verlag, Esslingen

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-943314-75-5

Leferbares Programm und weitere Informationen:

www.drachenhaus-verlag.com

INHALT

Die ersten Weltbürger

Hartmut Heine „Es war nie einfach, in China Geschäfte zu machen“

Rudolf Scharping „Die Welt technologisch zu spalten, macht nur Ideologen glücklich“

Dr. Michaela Heinke „Abwarten und Durchhalten können die Chinesen besser“

Matthias Schroeder „Beim Datenschutz ist der Geist aus der Flasche“

Jens Hildebrandt „Es geht zunehmend auch um das Management von Risiken“

Niels Peter Thomas „Von Abschottung kann keine Rede sein“

Benjamin Wahl „Entwicklungshilfe für den Fußball“

Patrick Chou „Wir leben in goldenen Zeiten“

Christian Sommer „Unternehmen wollen Geschäfte machen, keine Politik“

Ruth Schimanowski „Mehr China-Kompetenz auch abseits der Sinologie“

Feng Xingliang „Deutschland ist für China weiter attraktiv“

Adrian Emch „Mehr fortschrittlicher Wettbewerb“

Ilja Poepper „Wir müssen uns in China stets etwas Neues einfallen lassen“

Dr. Michael Schaefer „Wir können und sollten eine rote Linie setzen“

Forest Liu „Zähe Aufklärungsarbeit“

Gregor Wateler „Den direkten Austausch kann man nicht ersetzen“

Ulrich Reichert „Die Politik sollte glaubwürdig bleiben“

Stefan Stiller „Der Lockdown wird noch viele Menschen an ihre Grenzen bringen“

Jörg Wuttke „Immer neu austarieren“

Georg Hoffmann-Kuhnt „Es gibt immer mehr Rechte für Behinderte“

Bettina Schön-Behanzin „Es ist härter geworden.“

DIE ERSTEN WELTBÜRGER

Die ganz wenigen Deutschen, die schon vor 50 Jahren dauerhaft in China gelebt haben, sind inzwischen verstorben. Damals, 1972 haben die Bundesrepublik und China diplomatische Beziehungen aufgenommen.

Allerdings leben heute noch Deutsche in China, die seit mehr als einer Dekade, manche sogar mehr als zwei oder drei Jahrzehnten, dort zu Hause sind. Es sind mehr als man auf den ersten Blick vermuten würde. Einige von ihnen habe ich in diesem Buch interviewt. Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Berufen. Ein Fußballmanager ist dabei, ein Anwalt und Drilling, der sogar in China geboren ist. Ein ehemaliger Botschafter mit chinesischer Schwiegertochter, ein Ingenieur, der in China nur Mr. Transrapid heißt. Eine Ärztin, die schon Generationen von Deutschen in China behandelt hat, aber auch ein ehemaliger Spitzen-Politiker. Ein Verbandschef mit fast 40 Jahren China auf dem Buckel ist auch dabei und natürlich der ein oder andere Manager von deutschen Hidden Champions, egal, ob sie nun die besten Filmkameras der Welt herstellen oder führend bei Straßenbaumaschinen sind. Auch dabei ist ein auf Unterschenkel spezialisierter Prothesenbauer, der Chinesen mit Behinderung neue Lebenschancen gibt. Oder ein Sternekoch, von dem die Chinesen gar nicht glauben können, dass Deutsche auch kochen können – nicht nur die Franzosen.

So unterschiedlich ihre jeweiligen Einschätzungen und Erfahrungen auch sein mögen, so sind sie doch einzigartige Zeugen einer dramatischen Verbesserung der Lebensumstände für die meisten Chinesen. Einige Zahlen lassen erahnen, von welch dramatischem Wandel die Menschen in China geprägt sind. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen in dem riesigen Land hat sich in den gut 30 Jahren zwischen 1990 und 2022 um zehn Jahre auf 78 Jahre verlängert. Allein seit 2003 hat sich das Prokopf-Einkommen in China verzehnfacht, während es sich in Deutschland im selben Zeitraum nur verdoppelt hat. Dennoch ist das deutsche Prokopf-Einkommen noch rund vier Mal so hoch wie das Chinas. Es wächst in China also sehr viel dynamischer. Dennoch sind die Menschen noch weitaus ärmer als in Deutschland. Im Durchschnitt bewegt sich das Prokopf-Einkommen etwa auf dem Niveau von Rumänien. Noch nie in der Geschichte der Menschheit sind so viele Menschen so schnell aus der Armut katapultiert worden. Das Lebensgefühl der Chinesen, die diesen enormen Aufschwung in der kurzen Zeit erlebt haben, prägt auch die Eindrücke und Erlebnisse der Deutschen, die schon lange in China zu Hause sind und mit denen ich diesem Buch spreche.

Und sie überlagern durchaus die kurzfristigen massiven Einschränkungen durch die 0-Covid Politik, die bemerkenswerten landesweiten Proteste dagegen und die politischen Machtkämpfe um die 20. Parteitagung der Kommunistischen. Kaum jemand geht in China trotz dieser Krise davon aus, dass der Aufstieg der neuen Weltmacht zum Erliegen kommt. Im Gegenteil: Je mächtiger China politisch und wirtschaftlich wird, desto offensichtlicher werden für uns die großen politischen und kulturellen Unterschiede. Dazu gehört unter anderem die enorme Bevölkerungszahl von 1,4 Milliarden Menschen, oder auch, dass China zu den ältesten Nationen der Weltgeschichte gehört, während Deutschland zu den jüngeren Nationen zählt.

Diese und viele andere Unterschiede führen dazu, dass die in China lebenden Expatriates selbstverständlich einen anderen Blick auf die Welt haben als ihre in Deutschland verbliebenen Landsleute. Diese Unterschiede lassen aber auch erahnen, wieviel Mut und Neugier dazu gehören, Deutschland zu verlassen, um für lange Zeit in China, das in fast jeder Hinsicht fremd ist zu bleiben, auch wenn man dort inzwischen Nutella oder Radeberger Pils kaufen kann und die Freunde oder Familie online praktisch kostenlos verfügbar und nur einen Klick weit entfernt sind.

Dass manche Deutsche sich entscheiden, einen großen Teil ihres Lebens dort zu verbringen, hat mit Neugier nichts mehr zu tun, sondern macht deutlich, wie attraktiv und spannend die aufsteigende Weltmacht für die Menschen, die in diesem Band zur Sprache kommen, ist. Denn niemand derjenigen, die länger als eine Dekade in China leben wurde wird gezwungen in China zu bleiben. Im Gegenteil. Die Firmen holen ihre Expats gerne spätestens nach 4 bis 5 Jahren zurück.

Auf manche übt das Land eine so große Anziehungskraft aus, dass sie es zu ihrem neuen zu Hause erklären. Doch egal wie lange sie auch bleiben, Chinesen werden sie nie. Das ist in China anders als den USA. Jemand, der 20 oder 30 Jahre in den USA wohnt, beginnt fast selbstverständlich zu sagen: Ich bin Amerikaner deutscher Herkunft. Keiner der Deutschen, die lange in China leben, käme je auf die Idee, sich mit den Worten ‚Ich bin Chinese deutscher Herkunft` vorzustellen. Selbst, wenn sie wie manche in diesem Buch bereits mehr als drei Jahrzehnte in China wohnen oder sogar dort geboren sind. Wenn sie als Chinesen deutscher Herkunft vorstellen, würden sie von Chinesen erstaunte Blicke ernten. Kurz: Weder fühlen sich die Deutschen in China als Chinesen, noch kämen die Chinesen jemals auf die Idee, sie als solche zu bezeichnen. Unter den Interviewten finden sich auch zwei Deutsche chinesischer Herkunft. Für sie ist es kein Problem das selbstverständlich so zu formulieren.

Für einen der Interviewten, ein Deutscher mit einer deutschen Mutter und einem amerikanischen Vater chinesischer Herkunft mit amerikanischen Pass ist es ein wenig schwieriger. Aber am Ende ist der Bezug zu Deutschland am stärksten.

Immerhin ist es für Deutsche, die lange in China leben inzwischen einfacher geworden, eine Greencard zu erhalten. Doch einen chinesischen Pass zu bekommen und Chinese zu werden, ist so gut wie unmöglich. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet sich China von den USA. Das Reich der Mitte ist kein Einwanderungsland. Das möchte die Regierung nicht. Über 1,4 Milliarden Chinesen sind genug – zumindest solange die Gesellschaft nicht überaltert.

Unter diesen besonderen Umständen haben die deutschen Auswanderer eine Distanz zu Deutschland entwickelt, ohne gleichzeitig eine entsprechende Nähe zu China aufbauen zu können.

Sie haben es sich zwischen den Stühlen so bequem wie nur möglich gemacht, auch wenn es nicht immer einfach ist. Denn China hat viele Gesichter: Die Faszination kann schon im nächsten Moment in Ablehnung umschlagen. Besonders wenn Chinesen in einer Weise handeln, die unseren Wertvorstellungen nicht entspricht, oder der berechtigte Stolz auf den Wiederaufstieg Chinas in Nationalismus oder zuweilen sogar in Ausländerfeindlichkeit umschlägt.

Die Interviews fallen in die Zeit der Null-Covid-Politik zwischen Sommer 2021 und Dezember 2022 als in China die Restriktionen nach der 20. Parteitagung der Komunistischen Partei und der Trauerfeier für den verstorbenen ehemaligen Staats- und Parteichef Jiang Zemin abrupt beendet wurden. Die Maßnahmen haben das Wechselbad zwischen Faszination und Ablehnung so extrem zugespitzt wie seit der blutigen Niederschlagung der Protestbewegung 1989 nicht mehr. In den ersten beiden Jahren hat es China einerseits geschafft mit seiner Null-Covid Politik viele Tote zu verhindern – anders als etwa die USA. Peking hat nüchtern erkannt, dass das noch rückständige chinesische Gesundheitssystem viele Menschen nicht vor dem sicheren Tod bewahren konnte. Inzwischen ist die Lebenserwartung der Chinesen nach westlichen Berechnungen um zwei Jahren höher als die der Amerikaner, die bei 76 Jahren liegt. Während des Lockdowns in Shanghai und in anderen Städten hat China anderseits auf erschreckende Art gezeigt, wie wenig das Individuum zählt, wenn es darum geht, die Gemeinschaft zu schützen, zuweilen mit einer Brutalität, die an die Kulturrevolution erinnert hat.

Das, was deutsche Auswanderer aus China erzählen, was sie erleben, auch Null-Covid betreffend, weist oft weit über ihre persönlichen Eindrücke, über Anekdotisches und flüchtig Aktuelles hinaus. Als ständige Beobachter müssen sie sich notgedrungen stets in der Kunst des Perspektivwechsels üben. Manche sind sogar Meister darin geworden. Eine Tugend, die in einer multipolaren Weltordnung immer wichtiger wird.

Ihre Einschätzungen in diesem Band zeigen deutlich, dass sie in einem großen, globalen Geflecht von Menschen verwoben sind, das sich permanent wandelt. Sie schwimmen wie Fische in einem Schwarm – individuell und doch Teilchen einer gigantischen Bewegung. Ohne dies zu beabsichtigen, prägen sie den globalen Wandel mit und werden gleichzeitig von ihm geprägt. Ein Wandel, den man durchaus als epochal bezeichnen kann, wie ein Blick in die Geschichte zeigt.

Vor 100 Jahren noch, also 1922, gehörte ein Viertel der Bevölkerung und der Landfläche der Welt zum British Empire, darunter auch Teile Chinas. Es war der Höhepunkt der Kolonialzeit, die zuvor von Portugiesen, Holländern, Spaniern, Franzosen und am Rande auch von den Deutschen bestimmt wurde.

Das British Empire war stolz, aber schon brüchig. Es hatte sich überdehnt. Für das Königshaus wurde es zu aufwendig, schwierig und teuer, die rund 460 Millionen Menschen und die riesigen Landflächen in Schach zu halten. Die kolonialisierten Länder spürten diese Schwäche und begannen sich zu wehren. Noch im Jahr 1922 befreite sich Ägypten als erste afrikanische Kolonie und nach den USA (1776) als erstes nicht-westliches Land von den Briten und wurde unabhängig. Dies gilt als der Anfang des Endes der britischen Kolonialzeit, die das Leben von Queen Elizabeth II. bestimmen sollte und die 1997 mit der Rückgabe Hongkongs an China besiegelt wurde. Damit fand die Schmach der Chinesen, vom Westen teilkolonialisiert zu sein, ein Ende. Für China war es ein Ausdruck der neuen Stärke, für die Briten ein Eingeständnis ihrer Schwäche.

Das Leben der Briten war in den vergangenen 100 Jahren vor allem geprägt vom langen, stetigen Abstieg des British Empire zu einer Mittelmacht, die nicht einmal in Europa mehr eine zentrale Rolle spielt, seit England aus der EU ausgetreten ist. Immerhin ist London noch der zweitgrößte Finanzplatz der Welt.

Die Queen starb also genau 100 Jahre, nachdem das British Empire seine größte Ausdehnung erreicht hatte. Sie wird als eine maß- und würdevolle Konkursverwalterin dieses Vermächtnisses in die Geschichte eingehen. Mit dem Ende des British Empire ging auch eine jahrhundertelange globale Vorherrschaft Europas zu Ende. Es sollte allerdings vorerst noch nicht das Ende der Vorherrschaft des Westens sein. Denn die USA hatten wirtschaftlich schon Ende des 19. Jahrhunderts und politisch spätestens nach dem 2. Weltkrieg ab Mitte des 20. Jahrhunderts die Briten als postkoloniale Weltmacht abgelöst. Seitdem ist der US-Dollar Weltwährung, die USA haben die größte Volkswirtschaft und das stärkste Militär.

Washington verfolgte eine andere Strategie als London, um seine globale Macht auszubauen: Die Amerikaner marschierten, wenn es ihren Interessen nutzte, auch im Alleingang in andere Länder ein, die sich gegen ihre Interessen stellten. Sie entmachteten die jeweilige Regierung und setzten Politiker ein, die die machtpolitischen Ziele der USA teilten. Danach zogen sie, anders als das Militär des British Empire, ihre Soldaten wieder zurück.

Die Staaten, die – je nach Blickwinkel – von den USA überfallen oder befreit wurden, blieben eigenständig. Sie wurden kein Teil der USA. Das galt auch für das von Hitler befreite Deutschland.

Diese Strategie funktionierte im Fall von Deutschland gut. Sie bescherte Deutschland ein Wirtschaftswunder und eine stabile Demokratie. Generell jedoch waren die USA in dieser Hinsicht weniger erfolgreich als gewünscht. Entweder gelang es den USA nicht, militärisch die Kontrolle zu übernehmen, wie beispielsweise in Vietnam. Oder die von Washington eingesetzten Regierungen waren nicht stabil oder stark genug wie im Irak. Oder es war gar beides der Fall, wie in Afghanistan.

Trotz dieser Reihe von Niederlagen bleiben die USA nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im letzten Jahrzehnt des 20. und dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts unangefochtene Weltmacht mit weiterhin der größten Wirtschaftskraft, der stärksten Armee, der stabilsten Weltwährung, dem bedeutsamsten Finanzplatz in New York, mit Hollywood dem wichtigsten globalen Zentrum der Massenkultur, mit dem Silicon Valley, dem globalen Innovationszentrum, und mit Weltmarken wie McDonalds, Google und Apple.

Doch schon im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts begann die Macht der USA und damit des Westens insgesamt zu bröckeln.

Denn nach rund 500 Jahren Kolonial- und Postkolonialherrschaft findet sich keine Macht mehr im Westen, die in die Fußstapfen der USA und des British Empire treten könnte. Die EU ist zu schwach dazu. Russland hat sich selbst ins Knie geschossen. Deutschland, immerhin die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt und mit Abstand die größte Europas, hat schon Mühe, seine Position innerhalb Europas durchzusetzen. Nach dem Abtritt von Angela Merkel mehr denn je.

Die aufsteigenden Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika werden derweil immer selbstbewusster und machen deutlich, dass sie nun selbst bestimmen wollen, was richtig und was falsch ist und keine Lust mehr haben, sich das vom Westen weiterhin vorschreiben zu lassen. Allen voran China, das an der Kaufkraft gemessen (noch nicht in absoluten Zahlen) schon vor einigen Jahren die USA als die größte Wirtschaft der Welt abgelöst hat und international immer wichtiger wird.

Das ist nun das Umfeld, in dem sich die Zeitzeugen in diesem Buch bewegen: Sie sind von den großen Umbrüchen unserer Zeit, die China maßgeblich mitgestaltet, geprägt, auch wenn ihnen das im Alltag vielleicht nicht immer bewusst ist.

Die westlich dominierte Weltordnung wird neu verhandelt. Dazu zwingt die globale Mehrheit der Aufsteiger die Minderheit der Etablierten im Westen, die nur gut zehn Prozent der Weltbevölkerung ausmachen.

Der Ukrainekrieg, der 2022 begann, hat diesen Trend beschleunigt. Knapp 170 der über 190 Länder haben sich den Sanktionen des Westens gegen Russland nicht angeschlossen. Auch das beschäftigt die Menschen in diesem Band. Denn sie sind nun gezwungen, die Welt aus zwei Blickwinkeln zu betrachten: Aus dem der Aufsteiger und aus dem der Etablierten.

Der eine neigt eher der einen, die andere der anderen Perspektive zu. Und viele sind intuitiv in der Lage, den Blickwinkel zu wechseln. Die Tatsache, dass China nie ihre Heimat werden wird, Deutschland aber zugleich nicht (mehr) ihr Zuhause ist, haben sie sich eine Distanz zu beiden Ländern zueigen gemacht, die sie die aktuellen Entwicklungen mit etwas Abstand und somit deutlicher sehen lässt. So erkennen sie zum Beispiel eher als die Menschen in Deutschland, dass wie gesagt die aufsteigenden Länder – zunächst vor allem die in Asien, aber eben auch jene Südamerikas und Afrikas – sich in diesem Machtkampf zwischen den USA und Russland nicht mehr wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf eine Seite zwingen lassen wollen und schon längst nicht mehr den Zumutungen der einstigen Kolonialherren beugen mögen.

Das gilt für China ebenso wie für Indien, aber auch für die zehn südostasiatischen ASEAN Staaten mit ihren knapp 670 Millionen Menschen. Weder die USA allein noch „der Westen“ gemeinsam haben nunmehr noch die Macht, diese Länder weiterhin zu bevormunden, und das, obwohl sie alle zusammengenommen nicht mehr als die Wirtschaftskraft von Japan haben. Nicht nur für das autoritäre System Chinas, sondern auch für Indien, die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt, ist diese neue Unabhängigkeit vom Westen sehr wichtig. Für Indien ist sie vielleicht sogar noch wichtiger als für China. Denn Indien wurde von den Briten überhaupt erst als autonomer Staat geschaffen. Unter der Führung von Mahatma Gandhi hat es 1947 mühsam seine Unabhängigkeit von London erkämpft. Nun ist Delhi – trotz des Ukrainekrieges – weiterhin bestrebt, gute Beziehungen sowohl zu den USA als auch zu Russland und ebenso soweit es möglich ist, zu China, zu unterhalten. Und mehr denn je ist Indien heute in der Lage, diese austarierende Position unter dem Druck der alten Weltmacht USA und der neuen Weltmacht China zu behaupten. Das war der Grund, warum US-Präsident Joe Biden bei seiner Asienreise im Frühsommer 2022 unverrichteter Dinge nach Washington zurückkehrte: Bis auf Japan wollte sich kein asiatisches Land auf Bidens Antichina- und Antirusslandpolitik einlassen. Das gilt auch für den G20-Gipfel auf Bali. Und selbst den pazifischen APEC Gipfel zwischen Asien inklusive China und Russland auf der einen Seite und der USA auf der anderen. China ist mitnichten isoliert, sondern in guter Gesellschaft anderer Aufsteiger, in Asien, Afrika und Südamerika. Mehr noch: China führt diese Bewegung an und sie manifestiert sich in RCEP, der größten Freihandelszone der Welt, die China mit Asien bildet und bei der selbst die Japaner, die engsten Alliierten der USA in Asien, Mitglied sind.

Für chinesische Politiker ist es die wichtigste Aufgabe, China, dieser alten, stolzen Nation, die im 19. Jahrhundert so schwach war, dass der Westen – darunter zeitweilig auch Deutschland – Teile überfallen und kolonialisieren konnte, wieder zu ihrer alten Größe, Einheit und vor allem Selbständigkeit zu verhelfen und als Wachstumsmotor für die Region zu fungieren. Je mehr das gelingt, desto selbstbewusster werden die Chinesen, manche sagen auch nationalistischer. Auch das ist etwas, was den Alltag der Deutschen in China prägt. Dieses Selbstbewusstsein ist etwas, was einem in ganz Asien begegnet, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl der asiatischen Aufsteiger hat dazu geführt, dass China gemeinsam mit anderen asiatischen Staaten die größte Freihandelszone der Welt gegründet hat. Die Inder zögern noch.

Deutlich zeichnet sich nun ab, dass es zu Beginn des 21. Jahrhunderts drei große Entwicklungsschübe sind, die den Lauf der Welt bestimmen: Der Klimawandel, die Digitalisierung und der Druck in Richtung vermehrter globaler Mitbestimmung: Das, was wir bisher lapidar als „multipolare Weltordnung“ bezeichneten, nimmt unter der Führung Chinas zunehmend Gestalt an.

Mit den beiden ersten Megatrends beschäftigen sich auch die Deutschen in China intensiv. Der dritte ist für viele im Westen erstaunlicherweise noch nicht so offensichtlich, obwohl dieser Trend nicht minder relevant für die Zukunft der Welt ist: Die Zeit, in der die Minderheit des Westens über Jahrhunderte die Spielregeln bestimmen konnte, scheint zu Ende zu gehen. Das spiegeln auch die vorliegenden Gespräche wieder. Denn den in China lebenden Deutschen ist längst klar: Den Kampf gegen den globalen Klimawandel kann der Westen nur noch gemeinsam mit Ländern wie China gewinnen. Die Entwicklung der weltweiten Digitalisierung nur noch gemeinsam mit China voranbringen.

Manche Beobachter sind inzwischen sogar überzeugt, dass China in beiden Fragen bereits den Takt vorgibt. Ein dramatischer globaler Wandel innerhalb relativ kurzer Zeit. Das ist die zeitgeschichtliche Kulisse, vor der diese Gespräche stattfinden.

Diese Auswanderer, die Chinas Entwicklung seit Jahrzehnten aus unmittelbarer Nähe beobachten, bekommen dieses Einfordern von mehr Mitbestimmung bei den großen Fragen der Welt besonders stark zu spüren. Nicht nur, weil China die Bewegung anführt. Sondern vor allem, weil sie aufgrund der historischen Schuld, die sie als Deutsche nach zwei angezettelten Weltkriegen und dem Holocaust fühlen, ein besonderes Gespür für die Bedeutung und die Kraft westlicher Werte entwickelt haben. Ihr Frühwarnsystem schlägt früher und eindringlicher Alarm, wenn diese Werte verletzt oder umgedeutet werden. Gleichzeitig spüren sie jedoch nicht minder intensiv, dass die USA, Europa und eben auch Deutschland, sich mit den aufsteigenden, immer selbstbewusster werdenden Stimmen im Süden der Welt abstimmen sollten. Die Frage, wie sie ihre westlichen Werte mit den neuen, und zuweilen durchaus eigensinnigen Wertvorstellungen der Chinesen in Einklang bringen können, zerrt täglich an ihnen. Das wird in diesen Gesprächen deutlich. Denn die neuen Interessen und Ziele Chinas unterscheiden sich mitunter erheblich von den traditionellen Vorstellungen des Westens. Sie haben früher als die Menschen in Deutschland verstanden, dass es nicht etwa um gut und böse geht, darum, dass Deutschland werteorientiert handelt und China nicht. Sondern, ihnen ist klar: Der chinesische Wertekanon ist ein anderer und die Bedeutung verschiedener Werte hat eine eigene Rangfolge. Zum Beispiel fordert China mehr Mitbestimmung für die Welt, kritisiert die amerikanischen Alleingänge, die Versuche der westlichen Minderheit, der Mehrheit der Welt ihren Willen aufzuzwingen. Dafür bekommt Peking unter den aufsteigenden Ländern große Zustimmung.

Die Amerikaner und die Europäer wiederum fordern mehr Mitbestimmung für die Chinesen innerhalb Chinas und bekommen dafür sehr viel Zustimmung innerhalb der westlichen Demokratien. Sie kritisieren die Alleingänge der Kommunistischen Partei, die ohne freie Wahlen regiert; die Zensur, die stark eingeschränkte zivilgesellschaftliche Beteiligung und das harte Durchgreifen gegen Minderheiten.

Die Deutschen, die lange in China leben, sind hin- und hergerissen zwischen den eingespielten Vorstellungen des Westens und dem neuen Selbstbewusstsein in China. Sie verstehen intuitiv, dass das westliche Narrativ, nach dem die eine Seite Werte besitzt, während die andere diese Werte mit Füßen tritt, zu einfach ist.

Denn sie leben eben in jenem Land, wo die Mehrheit der Aufsteiger und die globale Minderheit der Etablierten nunmehr in einer nie dagewesenen Weise um die Spielregeln für die Weltgemeinschaft ringen. Und während die daheim in Deutschland Gebliebenen auf ihren Vorstellungen beharren, zuweilen gar den Aufsteigern das Recht absprechen, eigene Interessen zu vertreten und sie auffordern, sich an die vom Westen etablierten globalen Regeln zu halten, haben die Expats bereits verstanden, dass die neuen Spielregeln der Weltordnung nur noch im Konsens mit China und den anderen aufsteigenden Ländern möglich sind. Die großen globalen Gipfel wie G20 zeigen das. Auch der Gipfel im November 2022 auf Bali. Die westlichen Vorstellungen lassen sich in diesem Gremium nicht mehr durchsetzen.

Für die Aufsteiger ist offensichtlich, dass das Druckmittel von Sanktionen nicht greift, weil der Westen gar nicht mehr in der Lage ist, globale Mehrheiten für ebensolche zusammenzubringen. Dass Sanktionen – ob sie nun gegen China oder Russland verhängt werden – nur dann effektiv funktionieren, wenn sich die Mehrheit der Welt daran hält, ist für die Deutschen in China manchmal offensichtlicher als für die Deutschen in Deutschland.

Die Expats versuchen, mit durchaus gemischtem Erfolg, ihren Landsleuten zu erklären, dass sich die Zeiten geändert haben. Wegen Chinas strikter Anti-Covid-Maßnahmen ist es für Menschen aus dem Westen besonders schwierig geworden, sich selbst einen Eindruck vor Ort zu verschaffen. Dennoch: Der häufig geäußerte Vorwurf gegenüber den China-Deutschen, sie hätten ihre kritische Distanz verloren, weil sie schon zu lange im Land sind, greift weitgehend ins Leere. Würde man denn einem Herzspezialisten mit 30 Jahren Berufserfahrung vorwerfen, er habe die kritische Distanz verloren, weil er sich zu lange mit dem menschlichen Herzen beschäftigt hat? Wohl kaum. Zunächst würde man seine Erfahrung und seine Kenntnisse loben und dann vielleicht mit großem Respekt anmerken, dass ein frischer Blick im einen oder anderen Fall auch ganz gut sein kann. So sollten wir es auch mit den Menschen halten, die in China leben und sich dort sehr gut auskennen. Denn man kann durchaus feststellen, dass keine andere Gruppe weltweit den Wandel in der globalen Mitbestimmung so stark spürt, wie Menschen aus der alten westlichen Welt, die in der neuen, aufsteigenden Welt leben. Sie sind, ob es ihnen nun bewusst ist oder nicht, einzigartige Zeitzeugen eines epochalen globalen Wandels. Sie sind hin- und hergerissen zwischen den beiden unterschiedlichen Perspektiven. Zwischen dem Erreichten des Westens und dem Erstrebten in China. Aber auch jeweils zwischen Wunsch und Wirklichkeit in beiden Weltregionen, zwischen Fremdbild und Selbstbild. Was sie also vor allem ausmacht, wie auch immer ihre Einschätzungen im Einzelnen ausfallen: Auf keinen Fall zählen sie zu den letzten Kolonialherren und -damen, für die es stets nur einen einzigen richtigen Blickwinkel auf die Welt gab. Aufgrund ihrer starken Prägung durch die aufstrebende chinesische Gesellschaft sind sie als „Weltbürger“ viel mehr Pioniere in einer multipolaren Weltordnung, in der sich nicht mehr ein kleiner Teil der Welt und seine Kultur bedingungslos gegen die Mehrheit durchsetzen kann. Diese Zeiten sind – wahrscheinlich für immer – vorbei. Es ist bitter, eigenen Einfluss schwinden zu sehen, vor allem wenn es um die Verteidigung von Werten geht, von denen man zutiefst überzeugt ist. Gleichzeitig jedoch ist mehr globale Mitbestimmung, auch an westlichen Wertmaßstäben gemessen, ein großer zivilisatorischer Fortschritt. So betrachtet, zählen die Fähigkeiten die Perspektiven wechseln zu können, im Dialog zu bleiben, den Konsens zu suchen und Kompromisse auszuhandeln, zu den wichtigsten, über die diese neuen Weltbürger verfügen.

Weil sie als Deutsche in China zwischen den Stühlen sitzen, sind sie täglich dazu gezwungen, ihre Vorstellungen und Werte mit denen der Chinesen auszutarieren. In dieser Hinsicht sind sie fortschrittlich. Und deswegen sollten all diejenigen, die zu Hause geblieben sind, sich jedoch für die Zukunft der Welt interessieren, die Eindrücke jener ChinaExperten sorgfältig lesen.

50 Jahre nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen China und Deutschland besteht inzwischen mehr denn je die Möglichkeit, etwas von ihnen zu lernen.

Frank Sieren,

Peking im Dezember 2022.

Hartmut Heine

„ES WAR NIE EINFACH, IN CHINA GESCHÄFTE ZU MACHEN“

Hartmut Heine

Hartmut Heine, 68, hat als Chef von ThyssenKrupp in China von 1989 bis 2004 die chinesische Politik und die deutsche Industrie an einen Tisch gebracht und war für die deutsche Seite federführend beim Bau des Transrapid in Shanghai. Er lebt und arbeitet seit mehr als 40 Jahren in China und stand unter anderem bei Salzgitter Stahl, Georgsmarienhütte und Siemens unter Vertrag. Im Jahr 1984 gründete er die Deutsche Handelskammer mit und war über ein Jahrzehnt im Vorstand der Deutschen Schule. Heute ist er der China-Chef des europäischen Hyperloop-Herstellers Hardt aus Holland.

Eigentlich war der Transrapid politisch längst beerdigt, nicht gewollt. Doch nun geht es plötzlich um den Transrapid 2.0, den Hyperloop, eine Magnetschwebebahn, die mit 800 Kilometern pro Stunde durch einen Vakuumtunnel fährt. Wie realistisch ist das?

Das ist sehr realistisch. Der Klimawandel zwingt die Welt, neu darüber nachzudenken. Denn Flugzeuge verbrauchen zu viel CO2 und die Welt wächst immer enger zusammen. Gleichzeitig gilt: Je weniger Luft im Tunnel ist, desto weniger Widerstand, desto geringer der Energieverbrauch. Dass diese Technologie wieder an Relevanz gewinnt, sieht man daran, dass sowohl in den USA, aber auch in Europa, bei Hardt Hyperloop und gleichzeitig unabhängig davon in China daran geforscht und entwickelt wird. Inzwischen haben wir einige technologische Probleme gelöst, die es beim Transrapid noch gab: Die Weichen sind zum Beispiel nun elektronisch und nicht mehr mechanisch. Sie müssen also nicht mehr aufwendig gewartet werden. Sie fahren sich nicht fest. Das senkt die Betriebskosten.

Wer ist am weitesten in der Hyperloop-Technologie?

Das kann man nicht so einfach sagen. Klar ist jedoch: die Chinesen haben den größten Handlungsdruck.

Wann fahren in China die ersten Hyperloop-Züge?

Die Politik hat den Hyperloop schon fest eingeplant. 30.000 Kilometer bis 2060. Die Frage ist, wie schnell ist es technologisch möglich? Es ist ein Blick in die Kristallkugel. Aber ich denke, in zehn Jahren fahren die Züge in China. Diesen Plan kann man einhalten.

Ergibt es Sinn, dass die Europäer in dieser Frage mit den Chinesen zusammenarbeiten?

In jedem Fall. Die Chinesen werden nun jedoch keinen Prototyp mehr kaufen, sondern sie werden die Technologie gemeinsam mit europäischen Firmen zur Serienreife bringen. Eine solch komplexe Technologie entwickelt heute kein Land mehr alleine. Dafür ist der Zeitdruck wegen des Klimawandels zu groß. Aber inzwischen ist China innovativ genug, um auf Augenhöhe mitzuspielen.

Worin liegt mit Blick auf den Hyperloop die größte Stärke der Chinesen?

Neben der neuen Innovationskraft ist es die chinesische Politik. Sie hat die Macht und das Geschick solche Projekte – wenn es sein muss, sehr zügig – umzusetzen. Mir fällt derzeit kein Land ein, wo das schneller gehen würde. Deswegen bin ich immer noch hier. Die Art wie hier in die Zukunft gedacht und gehandelt wird, ist sehr beeindruckend. Peking legt ein konkretes, aber ehrgeiziges Ziel fest: In dreieinhalb Stunden soll man von Peking aus ganz in den Süden nach Shenzhen gelangen können – mit 800 Kilometern pro Stunde. Und dann geht es an die Umsetzung. Das Geld ist da. Der Handlungsdruck auch, denn viele Menschen müssen irgendwie umweltfreundlich von A nach B kommen.

Warum sollen die Chinesen mit Firmen wie Hardt Hyperloop zusammenarbeiten?

Weil wir und andere europäische Firmen über Know-how verfügen, das die Chinesen brauchen. Mit uns fährt der Zug früher. Chinas Firmen erfüllen damit die Erwartungen der chinesischen Regierung schneller. Und wir kommen schneller zu einem Referenzprojekt. Eine Win-Win-Konstellation also. Die ersten Strecken werden eine Länge von 300 bis 400 Kilometer haben, also in einer halben Stunde Fahrtzeit zu bewältigen sein.

Ist das nicht auch riskant. Stichwort Technologieklau?

Nichts ist ohne Risiko, aber die Chancen sind höher als die Risiken. Und, wo sonst sollen wir eine Anlage bauen, wenn nicht in China. Noch einmal: Nirgends weltweit ist die Konstellation günstiger.

Was ist mit den USA unter Joe Biden? Er plant gigantische Infrastruktur-Projekte.

Das Problem in den USA sind die Grundstücke. Ich habe selbst ein Transrapidprojekt in den USA verhandelt. Es ging um die Strecke Los Angeles – Las Vegas. Das Projekt ist letztendlich an den Grundstückspreisen und der potenziellen Verhandlungsdauer beim Kauf der Grundstücke gescheitert. Das lässt sich irgendwann nicht mehr rentabel rechnen.

Und in Europa?

In Deutschland waren es vor allem politische Widerstände. Die Grünen in der rot-grünen Regierung waren gegen den Bau solcher Strecken. Doch der Klimawandel zwingt auch sie zum Umdenken. Insofern sind die Zeichen in Europa nun viel günstiger. Der erste wichtige Schritt wird sein, zu sehen wie sich die deutsche Politik dazu verhält, dem Wunsch der Chinesen nachzukommen, die alte Transrapid-Teststrecke in Lathen als Hyperloop-Teststrecke auszubauen, statt eine neue anzulegen. Damit würden wir, die Europäer und die Chinesen, viel Zeit sparen. Die Chinesen wollten die neue Technologie in Shanghai auf der Transrapidstrecke außerhalb der Betriebszeiten testen. Das wurde ihnen jedoch nicht erlaubt. Doch gleichzeitig ist der politische Druck, die neuen Züge auch im Alltagsbetrieb zu testen, sehr groß.

Und wie stehen die politischen Zeichen für den Hyperloop in Deutschland?

Ich bin zuversichtlich, dass das klappt. Aber es geht nicht von heute auf morgen. Jetzt sind erst mal Wahlen in Deutschland. Und dann muss man weitersehen. Gut wäre es, wenn man sich auf EU-Ebene zusammentäte. Auch das halte ich nicht mehr für ein reines Wunschdenken. Wir Europäer haben was zu bieten. Die Chinesen auch. Es macht also Sinn, sich zusammenzutun.

Allerdings sind die politischen Probleme zwischen der EU und China so groß wie seit Jahrzehnten nicht mehr. China und die EU haben sich gegenseitig mit Sanktionen belegt. Was bedeutet das für ein solches Projekt?

Genau hinschauen hilft: Deutschland wurde von den Chinesen in dieser Frage nicht offen angegriffen und Bundeskanzlerin Merkel schon gar nicht. Da sehe ich Verhandlungsspielraum. Hinzu kommt der Druck aus der Wirtschaft Chinas und der EU. Die Unternehmen wollen die Sanktionen nicht. Die Einsicht auf beiden Seiten wächst, dass die Sanktionen in eine Sackgasse führen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, das Ganze wieder einzurenken.

Wie konnte es überhaupt so weit kommen?

Peking lässt sich heute viel weniger bieten als noch vor 20 Jahren, hat seine eigenen Vorstellungen und äußert diese auch klar und deutlich. Und plötzlich ist sie da, die Systemkonkurrenz zwischen dem Westen und China. Die Fronten verhärten sich. Wir müssen uns eben erst noch daran gewöhnen, dass die Chinesen nicht mehr das machen, was wir für richtig halten. Deshalb war es auch vernünftig, mit den Chinesen ein Investitionsabkommen zu unterschreiben. Da werden die unterschiedlichen Vorstellungen ja konstruktiv diskutiert und austariert.

Ist das Abkommen gescheitert?

Das glaube ich nicht. Der Trend geht ja aller politischen Querelen zum Trotz hin zu mehr Zusammenarbeit und nicht in Richtung weniger Kooperation.

Aber ist es heute nicht schwieriger mit Chinesen zusammenzuarbeiten als vor 20 oder gar 30 Jahren?

Es ist anders. Es war nie einfach in China Geschäfte zu machen. Das verklären wir heute gern. Damals hatten die Chinesen den großen Markt und wir die Technologie. Das Problem war der Technologieklau. Heute haben sie selbst Technologie und deswegen ist Technologie generell besser geschützt, aber sie haben auch einen viel größeren Erwartungsdruck vonseiten der Menschen. Das bedeutet: Der Zeitdruck, fortschrittlich zu sein, ist größer. Wenn die europäischen Firmen sich darauf einstellen, können sie sehr gute Geschäfte hier machen. Der Hyperloop wird das zeigen.

Hat sich die Art, wie man mit China zusammenarbeitet, über die Jahrzehnte verändert?

Wir müssen akzeptieren, dass die Chinesen eigene Vorstellungen haben und die auch umsetzen wollen. Darauf müssen wir uns einstellen. Aber am Ende ist es wie überall im Geschäftsleben. Ich habe mit Chinesen zusammengearbeitet, die waren und sind loyal und haben sehr hart gearbeitet. Aber es gibt auch andere. Die einen von den anderen zu unterscheiden, darum geht es im Arbeitsalltag. Dazu braucht man kulturelle Kompetenz.

Aber war es damals nicht viel einfacher als heute, als es darum ging den Transrapid schweben zu lassen?