In den Himmel will ich nicht! - Hans Scheibner - E-Book

In den Himmel will ich nicht! E-Book

Hans Scheibner

0,0
14,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Hans Scheibner verfasste die legendären Songtexte "Das macht doch nichts, das merkt doch keiner" und "Schmidtchen Schleicher". Als Liedermacher, Autor und Kabarettist begeistert er ein großes Publikum. Bequem ist er dabei nie, Autoritäten, egal welcher Couleur, machen ihm keine Angst. Nach den Kriegsjahren in Hamburg und Ostpreußen arbeitete Hans Scheibner als Verlagskaufmann und Journalist. Seine Liebe aber galt dem Theater und Kabarett. Ob auf der Bühne oder in diversen Fernsehsendungen, oft kam es wegen seiner scharfzüngigen Bemerkungen zum Eklat. Seit 1998 tourt Scheibner mit seiner Frau Petra und Tochter Raffaella durch Deutschland – natürlich mit der besorgten Frage: Wer nimmt Oma?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Hans Scheibner verfasste die legendären Songtexte »Das macht doch nichts, das merkt doch keiner« und »Schmidtchen Schleicher«.

Als Liedermacher, Autor und Kabarettist begeistert er ein großes Publikum. Bequem ist er dabei nie, immer wieder legt er sich mit Autoritäten an. Nach den Kriegsjahren in Hamburg und Ostpreußen arbeitete Hans Scheibner als Verlagskaufmann und Journalist. Seine Liebe aber galt dem Theater und Kabarett. Ob auf der Bühne oder in diversen Fernsehsendungen, oft kam es wegen seiner scharfzüngigen Texte zum Eklat.

Und immer noch tourt Hans Scheibner mit seinen aktuellen Satireprogrammen durch Deutschland – an Weihnachten natürlich mit der besorgten Frage: Wer nimmt Oma?

Der Autor

Hans Scheibner, geboren am 27. August 1936 in Hamburg, ist Satiriker, Liedermacher und Autor. Er wurde mit der Biermann-Rathjen-Medaille und mit dem Osterwold-Hörspielpreis ausgezeichnet. Mit seinen Theater- und Liederprogrammen begeistert er ganz Deutschland, seine humoristischen Weihnachtsbücher sind Dauerseller.

HANS SCHEIBNER

In den Himmel will ich nicht!

Mein Leben in Geschichten

List

Trotz intensiver Recherche war es dem Verlag nicht möglich, alle Rechteinhaber der Fotos im Innenteil zu identifizieren und zu kontaktieren. Wir bitten die Rechteinhaber, sich ggf. beim Verlag zu melden.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-8437-1382-5

© 2016 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: © Sabine Kwauka

Umschlagfoto: © picture alliance/dpa

Autorenfoto: © privat

Fotos im Innenteil: © privat

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für Franca, Gesa, Raffaela und Hannah

Eine Art Vorwort

Hallo, liebes Publikum!

Wenn ich mich richtig erinnere, zählte ich einmal zu den bekanntesten Liedermachern in Deutschland, meine Fernsehsatiren wurden von Millionen Zuschauern gesehen – besonders gern sogar dort, wo sie nicht gesehen werden durften, im Osten hinter der Mauer. Ich schrieb zahlreiche Bücher mit Geschichten aus dem Alltag, in denen sich viele Menschen wiedererkannten. Ich zog – und ziehe noch immer – mit Liedern und satirischen Sketchen und Geschichten über die Kabarettbühnen im Lande. Manchmal gab es Ärger. Pfarrer, Pastoren und Bischöfe zeterten, ich hätte sie in ihrem Glauben verletzt, pensionierte hohe Militärs schrieben mir, ich hätte die Ehre des deutschen Soldaten beschmutzt, ein Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet, Vertreter der Ordnungskräfte empörten sich, ich hätte Polizisten verdächtigt, parteiisch zu sein – mit einem Wort: Mein Leben war ein Riesenvergnügen!

Andererseits gab es auch immer wieder Menschen, die mich ermunterten, immer so weiterzumachen. Sie schrieben mir, dass ich ihnen aus dem Herzen spreche und dass sie mehr von mir lesen oder hören wollten. Kritische Leute schrieben mir manchmal, ich müsse mich noch viel mehr in die haarsträubenden Zustände der deutschen Politik einmischen. Einer schrieb einmal, meine Geschichten und Lieder seien noch nicht aggressiv und engagiert genug. Es ging sogar so weit, dass mir ein echter Ministerpräsident den dringenden Rat gab, in die Politik zu gehen – für seine Partei, versteht sich. Solche Reaktionen erfüllten mich eher mit Furcht und Abneigung: doch nicht in die Politik! Ich wollte lieber »Mensch bleiben«. Hanns Dieter Hüsch drückte das mal so aus: Er habe keine Lust, sich nur an den tagesaktuellen Sensationen abzuarbeiten, vielmehr interessierten ihn die täglichen Sensationen im Leben seiner Zeitgenossen und Nachbarn. So ging und geht es mir auch.

Mit dem Lied über die Friedensstifterin Lysistrata habe ich mal einen Talkshow-Skandal angerichtet; mit der Erzählung über Oma Beerbaum, die zu Heiligabend vor ihrer Familie nach Mallorca flieht, habe ich so mancher alten Dame aus dem Herzen gesprochen; mit der Ballade über den Fischer un siner Fru habe ich auf die Gefahren durch Kernkraftwerke aufmerksam gemacht; mit dem Text zu »Schmidtchen Schleicher« habe ich mir selbst und vielen anderen einen großen Spaß bereitet.

In diesem Buch, verehrtes Publikum, findest Du 28 Kapitel mit wahren Geschichten aus meinem Leben, hauptsächlich aus meinem Künstlerleben (aber ohne lückenlosen Zeitablauf). Das Buch soll ein Dank sein an Dich dafür, dass Du mir schon fast ein halbes Jahrhundert die Treue gehalten hast.

Hans Scheibner

Hamburg, im August 2016

Das Geheimnis meiner Mutter

Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist noch sehr harmlos, hat aber schon mit Geld und Angst ums Geld zu tun: Mit etwa vier Jahren steckte ich mir einmal eine kleine Silbermünze in die Nase, die geriet, ich weiß nicht wie, in den Rachen und wurde verschluckt. Meine Mutter entdeckte es: »Da war doch eine Münze!? Wo hast du die gelassen!? Um Gottes willen, er hat die Münze verschluckt …« Sie war in allergrößter Sorge, das Geldstück könne mich von innen verletzen und umbringen. Sie hielt mich an den Fußgelenken fest, hob mich hoch und schüttelte mich mit dem Kopf nach unten. Aber es kam nichts.

Mein Vater war gerade dringend für das Vaterland beschäftigt, er war im Krieg, Raum fürs Volk erobern. Und ein Kinderarzt ließ sich so schnell nicht auftreiben. Die Nachbarin beruhigte meine Mutter: Erst mal die Nacht abwarten. Die Münze kommt vielleicht auf natürlichem Wege wieder raus. Und in der Tat: Am nächsten Morgen machte es kling, klang im Topf – der Junge hatte ein silbernes Ei gelegt.

Ja, der erste Teil meiner Kindheit war sorglos und schön. Ich ahnte nicht, dass es ziemlich bald sehr aufregend werden würde.

Jedenfalls endete sie mit einem großen Feuerwerk.

Aber zuerst ging alles gut: Die erste Frau, die ich sehr geliebt habe und die die Grundlagen zu meinem späteren Weltruhm gelegt hat, war – na, wer wohl? – meine Mutter.

Schon einmal dadurch, dass sie mich geboren hat. Allein das muss eine große Leistung gewesen sein: Sie war nämlich nur 1,45 Meter groß. Mein Vater dagegen 1,84 Meter. Ich will mich gar nicht an meine ersten Erlebnisse mit und ohne Windeln erinnern. Für meine Mutter, diese zarte Person, muss es ein hartes Stück Arbeit gewesen sein.

1936, am 27. August, bin ich zur Welt gekommen. Der größte Führer aller Zeiten und seine größenwahnsinnigen Genossen waren schon dreieinhalb Jahre an der Macht. Meine Mutter und mein Vater ahnten, was da noch alles auf sie zukommen würde. Ich habe erst sehr viel später begriffen, dass es schon drei Jahre vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges eine Zeit der immer größer werdenden Angst für sie gewesen sein muss.

Außer mich geboren zu haben, leistete meine liebe Mutter noch einen weiteren, elementaren Beitrag für meinen späteren künstlerischen Aufstieg: Sie brachte mir das Lesen bei. Ich habe es bis heute in meinem achtzigsten Lebensjahr nicht vergessen: Ich hatte eine Sperre im Kopf. Mit fünf Jahren war ich erst wenige Wochen in die erste Klasse der Volksschule gegangen. Das war immerhin noch möglich, wenn auch nicht mehr lange. Ich erinnere mich an Blätter mit bunten Buchstaben und einfachen Zeichnungen – zum Beispiel ein Haus oder ein Baum oder ein Hund. Die einzelnen Buchstaben kannte ich schon. Ich konnte und konnte aber nicht begreifen, dass sie sich zu Worten zusammenfügen ließen. Die anderen Kinder in der Klasse hatten das ziemlich schnell verstanden: Die Zeichnung mit der Tür und dem Fenster vorn und dem Dreieck darüber, dem Dach, mit dem Schornstein und dem sich kringelnden Rauch, das war das Haus.

Mutter Gertrud Scheibner, geborene Willmann

Vater Carl Heinrich Scheibner

Und das bedeutete dasselbe wie diese vier Buchstaben. Mir war es einfach nicht möglich, diese beiden Gebilde sinngemäß in einen Zusammenhang zu bringen. Da muss irgendeine Synapse da oben nicht richtig geschaltet gewesen sein, ich sah keinen Sinn in diesen vier Buchstaben. Woran ich mich noch erinnere, ist aber die Nachsicht und Geduld, mit der meine Mutter es mir immer und immer wieder zu erklären versuchte. Heute denke ich manchmal daran, wenn ich auf dem Computer zum Beispiel eine Videodatei aufrufe, die in einem für den Rechner unbekannten Programm geschrieben ist: nichts als feindliche Buchstaben, Schrägstriche, Doppelpunkte und endlose Ziffernfolgen – mit dem richtigen Programm sind sie sofort verständlich. Meine Mutter wurde nicht ungeduldig oder nervös, wie ich es an mir selbst später beobachtet habe, nein, sie versuchte es immer wieder, bis sie merkte, dass ich traurig wurde, es nicht begreifen zu können. Dann sagte sie: »Für heute machen wir Schluss!«, brachte mich zu Bett und las mir ein Märchen vor.

Wenn ich mir diese Situation wieder ins Gedächtnis rufe, ist da ein wunderschönes Gefühl der Liebe und des Vertrauens. »Du schaffst das schon noch!«, sagte sie nach dem Vorlesen. »Du wirst noch einmal eine richtige Leseratte!« Wir lachten beide, und ich schlief ein. Das Schönste ist, dass ich tatsächlich eine geworden bin, eine Leseratte.

Den zweiten entscheidenden Schritt für meine spätere Freude am Leben und meiner Leidenschaft, Geschichten zu erzählen, unternahm sie für mich, indem sie mich in eine Kindervorstellung ins Theater führte. Ich habe keine Ahnung mehr, wo genau das in Hamburg gewesen ist. Nach dem Theaterbesuch aber – so erzählte es mir jedenfalls meine Mutter später – war ich schrecklich aufgeregt. Sie stellte fest, dass ich hohes Fieber hatte. Die ganze Nacht wachte sie wohl an meinem Bett.

Am nächsten Tag rief sie den Kinderarzt, der mich untersuchte und nichts Ernsthaftes finden konnte. Ich hatte immer noch hohes Fieber und bekam wohl irgendwelche Tabletten. Der Arzt packte seine Instrumente ein und hatte sich schon verabschiedet, da soll ich plötzlich gefragt haben, wann er denn komme. Der Arzt fragte zurück:

»Wer denn, mein Junge? Wer soll kommen?«

»Der böse Wolf«, sagte ich.

»Wie kommst du denn darauf, dass ein böser Wolf kommt?«

»Das hat der Mann im Theater gesagt.«

Meine Mutter fing an zu lachen: »Wir haben Rotkäppchen gesehen!«

Als der Arzt gegangen war, tröstete meine Mutter mich und erklärte mir immer wieder, dass doch alles nur gespielt war, was wir da gesehen hatten.

»Der Wolf war kein richtiger Wolf, das war ein Mann, der hat sich so verkleidet.«

Innerhalb von Minuten soll mein Fieber verschwunden gewesen sein. Später habe ich dann lernen müssen, dass es gar nicht so gut sein soll, sich von der Handlung und den Personen eines Stückes ganz und gar gefangen nehmen zu lassen. Da musste ich zum Beispiel Bert Brecht begreifen mit seinem Verfremdungstheater. Neulich habe ich im Thalia Theater in Hamburg eine ganz moderne, hochgelobte Inszenierung der Dreigroschenoper gesehen. Das Moderne daran war: Es gab keine Kulissen, nur eine leere Bühne, die Schauspieler trugen alle einen sogenannten Blaumann, Handwerkerkleidung. Der Bettlerladen von Peachum etwa wurde nur beschrieben (»Hier sehen wir nun den Laden ›Bettlers Freund‹«), Mackie Messer war ein junger Schauspieler, auch im blauen Handwerkeranzug – alles, damit nur keine Illusion aufkommt. Konsequenter wäre es gewesen, das Textbuch einfach nur vorzulesen. Oder die Vorstellung ausfallen zu lassen, so hätte ich immer noch die Illusion, wie es mit Kulissen sein könnte. Bei diesem intellektuellen Regietheater kann ich hinterher ausgezeichnet schlafen – und sogar schon während der Vorstellung. Da hätte ich dann doch lieber mal wieder so richtig Angst vorm bösen Wolf.

Ich weiß aus späteren Jahren, als ich schon ein größerer Junge war: Meine Mutter war immer sehr ängstlich und sehr vorsichtig. Darum überlege ich immer: Was muss das für ein schreckliches Leben für sie gewesen sein in diesen Jahren der braunen Diktatur.

Meine Schwester und mich haben meine Mutter und auch mein Vater nichts davon spüren lassen. Sie haben die ganzen zwölf Jahre lang, so gut sie eben konnten, schützend die Hand über uns gehalten.

In dem Zusammenhang fällt mir ein, dass mein Vater einmal auf einer Familienfeier zum Besten gab:

»Im Kino Blumenburg in Hamburg auf der Hoheluftchaussee wurden manchmal an Sonntagvormittagen auch Kinderfilme gezeigt. Ich hatte einen Tag Urlaub und wollte meinem Sohn etwas Gutes tun. Es gab einen Film mit Kasperles Abenteuern oder so ähnlich. Wir beide also hin. Hans konnte sich kaum noch beherrschen vor Aufregung. Er hatte Kasper schon in der Kasperbude gesehen – aber jetzt sogar als Film. Dann ging es los. Warum diese Idioten vor einem Kinderfilm unbedingt noch die Wochenschau zeigen mussten, weiß der Henker.

Jedenfalls kamen wieder stolze Berichte von den Siegen an der Ostfront – alles gelogen, wie immer –, und dann hielt der Führer wieder eine Rede. Ich weiß noch: Er trat ans Rednerpult und zappelte da rum und schrie … Mein Sohn rutschte derweil auf seinem Kinositz hin und her, dann stand er auf und rief ziemlich laut: ›Papa, ist das Kasper?‹«

Auf der Familienfeier haben alle sehr darüber gelacht. Mein Vater aber hat damals natürlich einen furchtbaren Schreck bekommen. Es ist am Ende gutgegangen. Niemand hat uns angezeigt.

Nach dem Krieg sagte meine Mutter jedes Mal, wenn im Freundes- oder Verwandtenkreis das Thema Politik zur Sprache kam: »Gott sei Dank! Ich versteh ja nichts von Politik.« Lange Zeit habe ich das geglaubt und sie später ignoriert, wenn es etwa um Wehrdienst oder Wiederbewaffnung ging. Ich denke jetzt aber: Sie hat den ganzen Krieg durch gezittert und erlebt, wie die nächsten Nachbarn zu Denunzianten wurden, dass sie sich einfach weiterhin raushalten wollte.

»Das Schlimmste ist ein Bürgerkrieg«, sagte sie immer wieder. Oder: »Der kleine Mann ist nur Kanonenfutter.«

Sie hatte die Handelsschule besucht und war bis 1933 Sekretärin in der SPD-nahen Großeinkaufsgenossenschaft GEG. Hitler hat ihr dann gekündigt – sowohl der SPD als auch meiner Mutter.

Für den musischen Einfluss auf die Familie war im übrigen mein Großvater Carl Willmann verantwortlich: Er war erster Posaunist an der Hamburger Staatsoper. Ich habe ihn ganz kurz kennengelernt. Er starb als ich gerade drei Jahre alt war. Später einmal habe ich ein Gedicht über meine sogenannte politische Unzulänglichkeit geschrieben. Das war noch stark von der Erinnerung an meine Mutter geprägt:

Herr Es erläutert seine politische Unzulänglichkeit

In Politik mich einzumischen,

bin ich mindestens viel zu dumm.

Statt Krieg lieb ich Frieden

und sonst nichts dazwischen,

weiß aber kein bisschen zu sagen, warum.

Ich scheitre ja schon an so harmlosen Fragen

wie: Krieg gegen Krieg, ist das auch Krieg? Und gar:

Wenn Sterben zum Weinen ist, darf man dann sagen,

dass Feinde auch sterben – und Feinde beklagen?

Da steht man als Laie ganz fragwürdig da.

Man versteht ja zu wenig von höheren Werten.

Wen ich totschlagen muss, woher weiß denn das ich?

Wenn ich selbst einen aussuch, bestimmt den Verkehrten.

Ich denke da manchmal zum Beispiel an mich.

Im Jahr 1940 bekam ich eine Schwester. Christa.

Das fand ich nun gar nicht so toll. Plötzlich hatte ich meine Mutter nicht mehr für mich allein. Und als sie »zum Klapperstorch« musste, steckten sie mich zu der dicken Tante Elli, die in der Roonstraße wohnte. Bei der hing ein großes Bild von einem Mann mit Schnauzbart an der Wand. »Das ist unser Führer!«, erklärte sie mir. »Der hat dafür gesorgt, dass es keine Arbeitslosen mehr gibt.« Ich kannte den Herrn mit dem komischen Bart unter der Nase inzwischen ja schon – als Kasper. Das durfte ich aber um Himmels willen nie und nie und nie wieder sagen!

Schwester Christa Scheibner, sechs Jahre alt

Hans, als er zehn Jahre alt war

Es mehrten sich nun aber doch die Zeichen, dass meine Schwester und ich in einer irgendwie unheimlichen Welt lebten. Manche Zeichen habe ich erst viel später deuten können.

Dass Deutschland sich im Krieg befand beziehungsweise dass ich in einer lebensgefährlichen Zeit lebte, hatte ich bewusst noch nicht mitbekommen.

Wenn ich mit meiner Mutter im Treppenhaus eine Nachbarin traf, blieben die Frauen stehen und flüsterten miteinander. Sie hielten sich die Hand vor den Mund, so dass niemand sie verstehen konnte. Ich fragte meine Mutter mehrmals nach solchen Begegnungen: »Was hat Frau Weber gesagt?« – »Gar nichts, mein Jung, sie hat gar nichts gesagt.«

»Und was hast du gesagt, Mamma? Ich hab gesehen, dass du was gesagt hast.« – »Nein, da hast du dich getäuscht.« Dann wurde ich wohl »ungezogen«, wie sie es nannte, und fing an zu quengeln: »Ich will aber wissen, was du gesagt hast.« Das konnte sie nun überhaupt nicht leiden. Als wenn sie Angst hätte, dass mich jemand hören könnte, neigte sie sich ganz zu mir herunter und flüsterte mir ins Ohr: »Pst! Das ist ein Geheimnis. Wenn du groß bist, erzähl ich es dir.«

Mit den Erwachsenen wurde es immer seltsamer. Ein jüngerer Mann von über uns, der eine Uniform trug, blieb mitten auf der Treppe stehen, wenn er uns begegnete, und rief irgendetwas, das klang wie »Heitler«. Wenn er weitergegangen war, machte ich es ihm nach: »Heitler«, rief ich. »Heitler«, das machte mir Spaß. Aber da wurde meine Mutter böse. Sie gab mir einen Klaps an die Ohren: »Lass das, das sollst du nicht sagen!« Drinnen fragte ich sie wohl: »Warum darf ich nicht ›Heitler‹ sagen?« Worauf meine liebe Mutter mich nun wieder anscheinend völlig verwirrt beschwor: »Natürlich darfst du es sagen. Ich habe es dir nicht verboten, hörst du? Sag ja zu niemandem, ich hätte dir verboten, ›Heil Hitler‹ zu sagen.« Ich sah sie verständnislos an: »Habe ich doch auch gar nicht gesagt.«

»Doch hast du das gesagt.« Merkwürdig.

Ich weiß auch noch sehr gut, dass meine Mutter mir eines Tages sagte: »Wir haben Krieg, mein Junge. Unsere Soldaten müssen unser Land beschützen. Unser Vater muss da auch mithelfen.« Einmal gingen wir auch zu meinem Vater in die Kaserne. Da standen Panzer und sogenannte Panzerspähwagen, und mein Vater empfing uns auch in Uniform und mit einem »Seitengewehr«. Er erklärte mir, dass das Seitengewehr für den Nahkampf gedacht sei. Also wenn zum Beispiel die Munition aufgebraucht ist und die Soldaten sich Auge in Auge gegenüberstehen, dann stechen sie sich gegenseitig mit dem Seitengewehr tot.

Obwohl er das alles ein bisschen lustig erzählte, begriff ich doch, dass es ernst gemeint war. Darüber konnte ich abends wieder nicht einschlafen. Immer stellte ich mir meinen Vater vor, wie er einem anderen Soldaten das Seitengewehr in die Brust stach.

Etwa in dieser Zeit kam auch so ein Soldat in brauner Uniform zu uns in die Wohnung. Das war wieder sehr aufregend.

Ich durfte nicht ins Wohnzimmer, stattdessen musste ich auf meine kleine Schwester aufpassen, die in ihrer Wiege lag. Das musste ich von nun an immer öfter, weshalb ich sie immer weniger mochte. Was soll man als fünfjähriger Junge auch mit so einem unentwegt schreienden Wesen anfangen? Trotzdem konnte ich aber hören, dass der uniformierte Mann mit meiner Mutter laut schimpfte. Ich wollte wohl schon in das Wohnzimmer gehen und nachsehen, da kam aber meine Mutter schon heraus und weinte. Der Mann in Uniform kam auch heraus; er schimpfte nicht mehr, sondern versuchte meine Mutter in den Arm zu nehmen. Er sagte etwas wie »Nun beruhige dich doch, Trudel!«. (Trudel war der Spitzname meiner Mutter bei den Verwandten. Sie hieß ja Gertrud.) Dann erklärte er: »Ich werde es ja noch nicht melden.« Sie ging also zur Kommode und holte eine Hakenkreuzfahne heraus. Die kannte ich natürlich schon, die Fahne. Hingen ja überall herum.

Sie legte das Fahnentuch ins Wohnzimmer. Dann nahm sie die kleine Christa auf den Arm und beruhigte sie.

»Das war euer Onkel Kurt«, sagte meine Mutter, als der Mann gegangen war. »Er ist ein hohes Tier« – das weiß ich noch genau, dass sie »hohes Tier« sagte – »bei der SA.«

Von diesem Onkel Kurt habe ich nur behalten, dass er mir unsympathisch war. Das hatte nichts mit der SA zu tun, von der ich damals nichts wusste. Es hatte damit zu tun, dass er immer »Bub« zu mir gesagt hat. »Na, was hat denn der Bub zum Geburtstag bekommen?« »Der Bub«, »mein Bub« – schrecklich! Er hatte etwas Schnarrendes an sich. Sprach immer in einer Art Befehlston.

Und dann brachte es dieser unsympathische Onkel fertig, mir zum Geburtstag und zu Weihnachten zweimal dasselbe Buch zu schenken. Das hatte zur Folge, dass ich den seltsamen Titel bis heute nicht vergessen habe: Schnipp Fidelius Adelzahn. Irgendetwas über einen Dackel. So was vergisst man das ganze Leben nicht.

Wie gesagt, von der politischen Lage bekam ich damals noch nicht viel mit. Ich erinnere mich aber noch intensiv an viele Kleinigkeiten. An Dickmilch zum Beispiel. Das war immer eine Verheißung, wenn meine Mutter sagte: »Ich habe Dickmilch angesetzt.« Sie hatte etwas Milch in mehrere Suppenteller gegossen und sie auf die Fensterbank gestellt. Dann musste man zwei Tage warten. Die Milch bekam eine Haut und wurde dann auch bald im Ganzen dick. Von Joghurt sprach noch kein Mensch. Meine Mutter streute Zucker auf die Dickmilch, und meine Schwester und ich löffelten sie mit Genuss herunter.

Wenn ich zur Gärtnerstraße aus dem Wohnzimmerfenster sah, hatte ich manchmal Glück, Felicitas in dem Haus gegenüber zu erblicken. Sie war ein schwarzhaariges Mädchen in meinem Alter. Wir winkten uns zu, sie holte ihre Puppe ans Fenster, und wir freuten uns darüber. Ich war vier Jahre alt. Zum Spielen durfte Felicitas nicht auf die Straße. 1943 aber – nun war ich sechs Jahre alt – schliefen wir zusammen nebeneinander in ihrem Bett. Weil nämlich unser Haus in Flammen stand – ihr Haus aber nicht. Meine Mutter war mit meiner Schwester und mir für den Rest der Nacht bei Felicitas Eltern untergekommen. Bevor ich einschlief, sah ich noch, wie in unserem Wohnzimmer die Flammen durch die geöffnete Wohnzimmertür hereinschlugen. Ich war traurig und voller Angst: Da drüben verbrannte mein Spielzeug.

Das war die Nacht, in welcher der sorglose Teil meiner Kindheit endete: mit diesem Feuerwerk. Ganz Hamburg brannte.

In der Nacht hatte es wieder Alarm gegeben: »Aufstehen, wir müssen in den Luftschutzkeller!« Und nun stand ich mit meiner Schwester an der Hand an der Ecke Gärtnerstraße/Hoheluftchaussee. Wir hatten beide Angst. Um uns herum brannte die Straße. An dem Haus gegenüber, wo unten der Milchmann sein Geschäft hatte, platzten im vierten Stock die Fensterscheiben von der Hitze. Schräg gegenüber aus dem Haus, wo der Gemüsemann wohnte, schlugen oben aus dem Dach die Flammen heraus. Überall schwebten schwarze, verkohlte Fetzen durch die Luft. Auf der anderen Straßenseite rannte eine Frau mit einem Kinderwagen durch die Straße und schrie, schrie einfach nur – etwas Unverständliches, das uns noch mehr Angst machte. Wir mussten aber unbedingt hier an der Straßenecke stehen bleiben. Wir durften uns keinen Meter wegbewegen. Das hatte uns unsere Mutter eingeschärft. Sie war mit uns aus dem Luftschutzkeller in Richtung unseres Hauses gelaufen.

»Ich komme gleich wieder!«, hatte sie gerufen. »Und ihr bleibt hier stehen! Hans, du gehst mit niemandem mit! Halt deine Schwester fest!« Sie war sehr aufgeregt, unsere Mutter, sie hatte bestimmt auch Angst, das sahen wir ihr an. Aber schon war sie weitergelaufen. Zwei-, dreimal kamen Männer oder auch eine Frau, die uns mitnehmen wollten. Die dachten, wir hätten unsere Eltern verloren, und wollten uns irgendwo in Sicherheit bringen. Ich träume noch manchmal davon, dass mir jemand meine Schwester wegnehmen will. Sie versuchten tatsächlich, uns auf den Arm zu nehmen und wegzubringen. Ich schrie wie verrückt, und meine Schwester schrie mit. Schließlich kam unsere Mutter angelaufen und befreite uns. Sie war völlig außer Atem und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Trotzdem schaffte sie es noch, es muss schon drei oder vier Uhr nachts gewesen sein, die Nachbarn von gegenüber zu bitten, uns bis zum Morgen aufzunehmen.

Während Christa und ich an der Straßenecke standen, war unsere Mutter in unser Haus gelaufen – in das Haus, in dem wir im ersten Stock wohnten. Es brannte zwar schon, aber nur die oberen Stockwerke. Meine Mutter wollte noch irgendwie etwas retten. Später als der Krieg lange vorbei war, hat sie es mir dann ausführlicher erzählt:

»Du kannst dich vielleicht noch an unsere Nachbarin Frau Weiser erinnern. Mit ihrem Jungen hast du manchmal gespielt. Frau Weiser ist nämlich umgekommen damals in der Nacht, als ich dieses blöde Messer gerettet habe. Wegen dieses Messers ist sie umgekommen.« Sie holte das Messer aus der Besteckschublade. Es hatte einen gelben Kunststoffgriff (Bakelit sagte man damals zu so etwas), und die Spitze war abgebrochen.

»Ich fühle mich mitschuldig daran, dass Frau Weiser verbrannt ist. Ich sage mir das immer wieder. Ich hätte sie doch viel energischer zurückhalten müssen! Man weiß ja gar nicht, was man machen soll, wenn man in so ein brennendes Haus zurückläuft. Ich hatte doch nur den einen Gedanken: Ich muss irgendwas retten. Am besten vielleicht den Schmuck in der Vitrine im Schlafzimmer. Ich war ja schon in unserer Wohnung drin. Ich muss völlig verrückt gewesen sein: so ein Quatsch, in ein brennendes Haus zu laufen, noch dazu, wo ich euch beide auf der Straße hatte stehen lassen. Im Stockwerk über mir krachte schon irgendetwas zusammen. Es war furchtbar heiß im Treppenhaus, und von der Straße her hatte ich ja auch gesehen, dass schon Flammen aus dem Fenster im vierten Stockwerk schlugen.«

»Wie bitte?«, sagte ich. »Du bist in das brennende Haus gelaufen, um das Messer zu retten? Dabei hättest du doch ganz leicht draufgehen können.«

»Allerdings«, sagte meine Mutter. »Aber das ist es ja eben: Man überlegt gar nicht lange. Die ganze Straße brennt, überall laufen Leute umher mit Bündeln im Arm, die sie irgendwie noch aus den Flammen gerettet haben. Da kann man nicht anders, da ist es deine Pflicht, auch etwas zu retten. Ich war doch nicht die Einzige, das haben alle Frauen gemacht, die irgendwie noch in die Häuser konnten, nachdem sie aus dem Luftschutzkeller kamen.«

»Und wie war das dann mit dem Messer, Mama? Warum ist das Messer das Einzige, was du gerettet hast?«, fragte ich.

»Ach Junge, das ist so traurig und so lächerlich. Ich lief zuerst in unsere Küche und sah mich um und wusste nicht, was soll ich jetzt mitnehmen? Die Töpfe, die Pfannen? Vielleicht die Kaffeekanne oder das ganze Meissener Porzellanservice mit den Goldrändern? Wie soll ich denn das schleppen? Das müsste man doch erst einpacken. Ich stand wie angenagelt und las noch diese blöde Inschrift in der gestickten Gardinenfalle vor dem Handtuchständer: ›Glück und Glas – wie leicht bricht das!‹ Und gleich bricht sogar das ganze Haus zusammen. Ich war wie versteinert. Ich wusste, jeden Augenblick kann es zu spät sein, aber ich konnte mich nicht entschließen, was ich in die Hand nehmen sollte. Vielleicht das ganze Gewürzbord? Vielleicht die Brotschneidemaschine mit der Handkurbel oder die Kuchenformen? Der reine Wahnsinn: Da draußen brennt die Stadt, und ich stehe hier und will was retten und weiß nicht, was.

Gerade reiße ich die Schublade mit den Bestecken auf, da höre ich Frau Weiser aus dem Hausflur rufen:

›Ich brauch einen Schraubenzieher, ich brauch einen Schraubenzieher!‹

Sie kommt gehetzt in die Küche, völlig aufgelöst.

›Ich kriege die Schublade nicht auf. Da sind unsere Papiere drin. Die muss ich doch haben. Die Schublade geht nicht auf. Haben Sie einen Schraubenzieher?‹

Ich sage: ›Nein. Ich weiß nicht, wo mein Mann den Werkzeugkasten stehen hat – aber vielleicht geht ja das hier!‹ Und damit greife ich in die Besteckabteilung und hole das Messer heraus – dieses hier!«

Meine Mutter betrachtete das gelbe Messer mit der abgebrochenen Klinge, das sie in ihrer Hand hin und her wendete. »Da war es aber noch ganz. Da war die Klinge noch nicht abgebrochen. Jedenfalls, Frau Weiser sagt: ›Danke. Sie kriegen es auch gleich zurück.‹ Das Haus brennt, Dächer stürzen ein, es ist die Hölle los, aber sie sagt: ›Ich bringe es gleich wieder.‹

Das war wichtig für sie: Was man sich ausleiht, muss man sofort zurückbringen, wenn man es nicht mehr braucht.

Und ich sage so etwas Dämliches, so etwas Lächerliches: ›Ja, ja, ist gut, Frau Weiser. Das eilt ja nicht.‹ Anstatt zu sagen: ›Scheißegal, behalten Sie es doch!‹ Oder wenigstens: ›Das hat Zeit bis nach dem Krieg.‹

Man ist einfach nicht bei Verstand in so einer Situation. Ich bin dann raus aus der Küche und wollte ins Schlafzimmer, zur Schmuckschatulle. Die zu retten, das wäre ja noch einigermaßen sinnvoll, aber wie ich die Schlafzimmertür aufmache, stürzt gerade die Decke ein. Die ganze Stuckdecke rauscht auf unsere Ehebetten – Mahagoniholz mit der Herzmaserung im Furnier, auf die wir so stolz waren. Da habe ich zum Glück so einen Schreck gekriegt, dass ich nur noch rauswollte. Ohne irgendetwas in den Händen.

Im selben Augenblick kommt mir Frau Weiser entgegen, auf dem Treppenabsatz. Sie hält das gelbe Küchenmesser in der Hand: ›Vielen Dank, Frau Scheibner. Es tut mir leid. Entschuldigen Sie, es ist abgebrochen. Aber ich habe die Schublade aufgekriegt. Ich wollte Ihnen nur schnell das Messer zurückbringen.‹

Und damit will sie zurück in ihre Wohnung.

Ich halte sie am Ärmel fest: ›Nein, bitte, kommen Sie mit! Es ist zu spät, das Haus bricht zusammen.‹

Aber da hatte sie sich schon losgemacht und war zurückgelaufen. Alles ging so schnell. Ich bin mit dem Messer in der Hand die Treppe runter. Zum Glück wohnten wir ja nur im ersten Stock. Als ich unten ankam, krachte von oben, aus den oberen Stockwerken, das brennende Treppenhaus herunter. Ich konnte gerade noch aus der Haustür laufen. Und draußen auf der Straße brannte es auch.«

»Und Frau Weiser?«, fragte ich.

»Frau Weiser habe ich nie mehr wiedergesehen. Sie ist umgekommen. Sie ist verbrannt. Hätte sie mir doch nur nicht das Messer zurückgebracht. Das hat nur Zeit gekostet. Ich hätte sie energischer zurückhalten müssen.«

Meine Mutter wischte sich mit der Küchenschürze die Tränen ab und schnitt weiter an ihren Stangenbohnen.

»Dieses Messer«, sagte meine Mutter, »ist das Einzige, was ich gerettet habe. Aber nur, weil man als gute Nachbarin immer alles so schnell wie möglich zurückgibt, wenn man sich etwas ausgeliehen hat.«

Wir, die Garagenkinder

Wir waren also ausgebombt.

Ich zitiere hier aus den Lebenserinnerungen meiner Schwester, die sich viel besser als ich an die Flucht im Sommer 1943 nach Polen erinnern kann:

Ein oder zwei Tage nach der Ausbombung machten wir uns auf den Weg von Hamburg-Hoheluft in Richtung Schnelsen. Alles, was mitmusste, also unser Gepäck, kam auf die Schottsche Karre.

Eine Schottsche Karre ist eine Karre aus Holz mit zwei großen Rädern an der Seite. Die Ladefläche ist rechteckig und durch die großen Räder so hoch, dass ein normalgroßer Mensch sich nicht bücken musste, wenn er etwas von der Ladefläche heben wollte.

So eine Karre hatte mein Vater organisiert und schob uns nun bis an den Stadtrand zur AKN-Bahn in Hamburg-Schnelsen.

Die Schwester unserer Mutter, Tante Emmi, war auch ausgebombt.

Sie gehörte jetzt mit ihrem zehnjährigen Jungen Günther zu unserem Flüchtlingstreck.

Von Schnelsen aus fuhren wir nach Moorkaten bei Kaltenkirchen per Bahn. Hier wurden wir nahe einer Flakstellung für einige Tage untergebracht.

Ich erinnere einen großen Raum mit vielen Etagenbetten.

Von Kaltenkirchen aus schickte man uns dann weiter über Lübeck nach Polen. Wir fuhren gemeinsam bis nach Thorn.

Meine Mutter, Hans und ich kamen auf einen Gutshof nach Czernikowo. Zum Baron von Schelling, einem Edelnazi, der von Hitler auf das Gut gesetzt worden war.

Hans und Günther mussten dort auch zur Schule gehen.

Auf dem Gutshof herrschten strenge Sitten. Es wurden immer gemeinsam mit allen Personen die Mahlzeiten eingenommen.

Am Tischanfang saß die Großmutter des Gutsherrn. Sie eröffnete die Mahlzeiten, und wenn sie fertig war, mussten auch alle anderen mit dem Essen aufhören.

Abends lief immer eine alte Frau über das Gelände und um das Haus herum. Mit einem Stock in der Hand scheuchte sie die Hühner aus den Büschen. Wohl auch um zu vermeiden, dass sie dort ihre Eier legten. Die »Hühneroma« jagte mir immer mächtigen Respekt ein.

Unsere Mutter war tief unglücklich auf diesem Gutshof. Sie hasste die Nazis. Die Baronin war eine ganz Linientreue. Dazu kam noch, dass Christa plötzlich krank wurde. Mit einer lebensgefährlichen Hautallergie wurde sie ins Krankenhaus nach Thorn gebracht. Dort musste sie drei Wochen allein angebunden im Bett liegen. Obwohl sie damals erst vier Jahre alt war, erinnert sie sich ganz genau: »Es war die schlimmste Zeit meines Lebens.«

Für unsere Mutter gab es keine Chance, sie zu besuchen. Wie sie es geschafft hat, unserem Vater, der damals noch immer zwischen Front und Heimat mit Transporten unterwegs war, zu telegrafieren und wie er es schaffte, mitten im Krieg ein Telegramm mit den Worten »Komme, hole euch« zurückzuschicken, ist ein Rätsel oder ein Wunder. Und ebenso, dass er es schaffte, Urlaub zu bekommen, um uns wieder im Zug zurück nach Hamburg zu holen. Davon erinnere ich eigentlich immer nur: Wenn mein Vater anwesend war, ging es uns allen wieder besser. Er strahlte eine solche Kraft aus, und sein Humor vertrieb uns die trüben Gedanken.

Wir hatten wohl auch das »Glück«, dass inzwischen die Russen nach Polen vorrückten. Wir flohen also nun in umgekehrter Richtung.

So landeten wir nach diesem abenteuerlichen Ausflug wieder dort, wo wir hergekommen waren: in Hamburg. Unsere Wohnung in der Gärtnerstraße gab es zwar nicht mehr. Aber da war ja noch die Garage, das Möbellager. Mein Vater hatte sich vor dem Krieg selbständig gemacht – als Umzugsspediteur mit einer kleinen Zugmaschine und einem Möbelwagen. Beide wurden von der Wehrmacht als »kriegsverwendungsfähig« eingezogen. Nur die Garage in der Hindenburgstraße 86 in Hamburg-Lokstedt besaß mein Vater noch. Früher musste das mal ein Pferdestall gewesen sein. Der Boden im Erdgeschoss war mit Natursteinen gepflastert. Hier lagerte mein Vater also hin und wieder zwischen zwei Umzügen die Möbel seiner Kunden aus.

Die Garage wurde von nun an bis 1954 unser Zuhause. Als wir 1944 aus »Polen« kommend einzogen, gab es noch kein fließendes Wasser, keinen Strom und vor allem keine Kanalisation. An manchen Wochenenden konnte mein Vater zu Hause sein, weil er inzwischen in Hamburg in der Kaserne am Husarendenkmal stationiert war.

Er litt nämlich inzwischen an einem Magengeschwür. Das wurde ihm vom Militärarzt attestiert. »Hab ich ein Glück«, sagte mein Vater. »So ein Magengeschwür ist doch was Feines. Da muss man nicht mehr an die Front.«

Nach und nach legte er Strom ins Haus und eine Wasserleitung – alles ohne Fachkenntnis, versteht sich, aber danach fragte damals keiner. Nur eine Abwasserleitung gab es nicht in dem Garagenhaus. Und also auch kein Klo. Aber dafür hatte mein erfindungsreicher Vater eine Lösung gefunden.

Wir waren 1944, als wir einzogen, noch gut bedient mit der Pferdestallgarage. Überall in Hamburg sah man nach Kriegsende die ebenerdigen Wellblech-Notunterkünfte, sogenannte Nissenhütten, nach ihrem kanadischen Erfinder. Wir hatten immerhin ein Erdgeschoss und darüber zwei Räume zum Schlafen. Später teilte mein Vater auch noch eine Küche im hinteren Teil der Garage ab. Hier also spielte sich nun unser Leben nach dem Kriege ab.

In einer kleinen, drastischen Schilderung habe ich unsere sehr einfachen Lebensumstände von damals und vor allem die Liebe zu meinem Vater einzufangen versucht. Ich habe diese Impression aus dem Winter 1951 »Die Scheißgeschichte« genannt:

Halten Sie sich bitte die Nase zu! Aber es hilft nichts: Einmal muss sie erzählt werden. Denn schuld an dieser ganzen Scheiße sind die Nazis.

Ich schlief gerade ein. In meinem Metallrohrbett mit den Metallfedern. Zugedeckt hatte ich mich mit zwei von den grünen Militärwolldecken. Eine allein genügte nicht, denn es war Winter und kalt. Morgens hatten meine Schwester und ich meistens eine kleine Eisschicht auf unseren Decken – das war der gefrorene Atem. Ich war vierzehn Jahre alt.

»So eine verdammte Scheiße!« Die Donnerstimme meines Vaters. Er saß auf der Toilette und fluchte. »So eine Scheiße wieder! Aber ich sage euch: Der Junge kann was erleben! Faules Stück! Verdammt noch mal! Verdammte Scheiße!«

Oh Gott, ich wusste sofort, was los war: Ich hatte mal wieder vergessen oder besser: es unterlassen, den Goldeimer runterzubringen und im Garten zu entleeren. Goldeimer war die blumige Beschreibung für den Toiletteneimer, in den wir alle reinmachen mussten. Schon seit sieben Jahren wohnten wir in dem umgebauten Möbellager. Eine Abwasserleitung gab es, wie gesagt, noch nicht. Mein Vater hatte uns daher ein Plumpsklo gebaut – also eine Kiste mit einem Loch oben in der Mitte, beim richtigen Klo nennt man das die Brille. »Des Menschen Leben gleicht der Brille«, sagte Heinz Erhardt. »Man macht viel durch.« Und das konnte man bei uns nun wirklich sagen: Eine vierköpfige Familie, von der jeder mindestens einmal am Tag durch die Brille in den darunter stehenden »Goldeimer« machte. Neben dem Plumpsklo stand ein Eimer mit Sand. Nach jeder Verrichtung musste man mit einer Schaufel Sand hinterherschütten, um eine Art Geruchsdeckel zu schaffen. Ja, ja, meine lieben Freundinnen und Freunde: Sie sind ja heutzutage sowieso alle verweichlicht durch Ihre Luxusklosetts mit vergoldeten Klobrillen oder selbsttätig brillenabwischenden Hygienetüchern.

Jedenfalls: Es war ein großer Eimer, der Goldeimer, im Notfall fasste er die Exkremente der Familie für vier Tage. Aber so weit durfte es ja eigentlich gar nicht kommen. Denn ich hatte den Auftrag, jeden Tag einmal den Eimer zu entleeren. Dafür spendierte meine liebe Mutter sogar fünfzig neue deutsche Pfennige in der Woche.

Und nun hatte ich es wieder vergessen. Die Entleerung – das wusste ich genau – war schon vier Tage überfällig. Es war ganz bestimmt nicht die reine Faulheit – auch nicht, dass Fußball mir wichtiger war, weshalb ich bis in den Abend mit meinen Freunden auf der Straße Fußball spielte und nicht ein einziges Mal an die Scheiße zu Hause dachte –, nein, es war einfach mangelnde Begeisterung für diesen Scheißjob. Immerhin musste ich den Eimer eine Art Wendeltreppe hinuntertransportieren, dann damit unten über den Hof gehen und hinter den Garten zu der ausgehobenen Jauchekuhle bringen. Mehr als einmal sah mir Rüdiger dabei zu, der Nachbarjunge, mit dem ich sowieso meistens im Clinch lag. Er kam sich besonders witzig vor, wenn er neben mir herging und dann wie ein Marktschreier rief: »Schöne Scheiße, schöne Scheiße! Schöne scheibnersche Scheiße!« Und wenn ich nicht ganz vorsichtig war beim Ausgießen in die Grube, dann spritzte etwas Jauche auf meine Hose oder die Schuhe – und ich konnte mich komplett umziehen und mir auch noch das Gejammer meiner Mutter anhören: »Du bist aber auch zu und zu ungeschickt!«

Ich hatte also wieder vergessen, den Goldeimer runterzubringen. Und ich wusste sofort, dass mein armer Vater nicht nur über diese Unterlassung so böse war, nein, es war noch schlimmer: Wenn nämlich so ein Goldeimer vier Tage nicht entleert wird, dann steigt der Pegel immer höher – und wenn sich dann ein großer Hintern draufsetzt … (Ich habe Sie gewarnt: Es ist eine Scheißgeschichte. Wenn Sie das mit Ihrer zarten, ästhetischen Seele nicht vertragen, dann lesen Sie bitte nicht weiter, denn es wird noch viel, viel unästhetischer, um nicht zu sagen: beschissener!) Wenn also ein großer Hintern sich draufsetzt, wollte ich sagen, dann hängt er etwas durch und kommt mit der darunter befindlichen Materie in leichte Berührung – er wird sozusagen »reingestippt«, wenn Sie den Ausdruck bitte erlauben wollen.

Und darum war mein lieber Vater so besonders wütend! »Der kann was erleben!«, rief er noch einmal. Ich krümmte mich unter den beiden Wolldecken zusammen und erwartete den ersten Fausthieb. Mein lieber Vater war ein seelenguter Mensch, es geschah nur selten, dass er hinlangte – aber wenn, dann brummte einem der Schädel. Mein Vater hatte in seiner Jugend Boxer werden wollen. Zweimal habe ich eine rechte Gerade von ihm eingefangen – ich kenne das K.-o.-Gefühl. Ich hatte also Angst. Jetzt, jetzt wird er mir gleich die Decke runterreißen und mir einen Schwinger verpassen. Seine Schritte kamen näher. Aber – Gott sei Dank! – nichts geschah. Mein guter Vater stand offenbar mit dem Goldeimer in der Hand einen Augenblick vor meinem Bett. Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich stellte ihn mir vor: mit herunterhängenden Hosenträgern, denn er hatte ja seine Tätigkeit auf dem Plumpsklo noch nicht vollenden können. Er stand also zornig vor meinem Bett, aber andererseits rumorte es wohl auch in seinem Darm.

Also blieb ihm nichts anderes übrig, als jetzt erst einmal den Goldeimer runterzubringen und auszuleeren. Er unterdrückte daher seinen Zorn und zog los.

Also: noch mal gutgegangen. Ich sackte langsam ab ins Reich der Träume – da rissen mich ein Wutschrei und ein furchtbares Gepolter wieder ins Diesseits!!

»Jetzt ist es aber genug! Jetzt ist es aber genug! Ich schlag ihn tot! So eine Sauerei, verdammte Scheiße, verflucht noch mal, der soll was erleben!!«

Die Haustür unten krachte, irgendetwas fiel donnernd um, mein Vater kam die Treppe rauf. Gleichzeitig hörte ich die Stimme meiner Mutter: »Um Gottes willen, was ist denn los!« Sie versuchte offenbar, ihn zurückzuhalten. »Kalli, was ist passiert?!« Und dann – mit einer völlig veränderten Tonlage: »Igitt, wie siehst du denn aus? Du stinkst, du stinkst! Was ist passiert?«

»Das siehst du doch, was passiert ist: Ich habe mich mit der ganzen Scheiße begossen. Die ganze Bescherung ist über mich! Von unten bis oben voller Scheiße und Kacke!«

Ich zitterte vor Angst, aber ich bemerkte doch, dass es meinem Vater offenbar eine masochistische Freude bereitete, so oft wie möglich Scheiße und Kacke zu rufen.

»Kuck dir das an: Ich bin in Scheiße gebadet. Alles voller Kacke! Alles voller Scheiße und Kacke!«

Da fiel mir ein: Er muss in die Baugrube gefallen sein, die am Nachmittag neben unserem Möbellager ausgehoben worden war. Um Gottes willen, ja: Er ist mit dem vollen Goldeimer in die Grube gefallen, und der Eimer hat sich über ihn entleert.

»Bloß weil dieses faule Stück es wieder mal vergessen hat!«, schrie mein Vater und stolperte weiter die Treppe hoch. Meine Mutter hinter ihm her.

»Aber Karl, der Junge schläft doch schon … Igitt, wie du stinkst. Du bringst ja alles mit ins Haus!«

»Ist mir egal!«, schrie mein Vater. »Ich werf ihn auch in die Scheiße – mit dem Kopf zuerst! Das soll er mir büßen!«

Schon stand mein Vater vor meinem Bett. Ich rollte mich ganz fest zusammen. Eine Hand riss meine Wolldecken weg – ich sah den Kopf meines Vaters und werde den Anblick nie und nimmer vergessen: Er hatte ein braunes Stück Scheiße im Gesicht.

»Wach auf! Sieh mich an, du Scheißkerl!«, rief er und hob die Faust zu seinem berühmten Schwinger. Ich sah, dass sein weißes Oberhemd gelb gefärbt und voller dunkler Flecken war – und gleichzeitig drang mir ein bestialischer Gestank in die Nase. Es war schrecklich, aber es war auch so absurd und verrückt: mein Vater, die größte Respektsperson in meinem Leben, stinkend vor Jauche mit Scheiße im Gesicht – irgendwie war das auch komisch.

Die Faust wollte sich gerade in Bewegung setzen in Richtung auf meine Nase – da wurde sie von hinten festgehalten. Meine gute, mutige Mutter, die Kleine, fiel meinem Vater von hinten in den Arm und rief: »Hör auf damit, Karl! An der ganzen Scheiße sind doch nur die Nazis schuld!«

Wie bitte? Was hatten jetzt die Nazis mit diesem Plumpsklo-Drama zu tun? Mein Vater stutze, er drehte sich um und sah meine Mutter an.

»Ja, so musst du das doch sehen, Karl! Was kann der Junge denn dafür, dass wir ausgebombt sind und kein menschenwürdiges Klo mehr haben. Das war doch alles nur die braune Bande. Dir haben sie deine Zugmaschine weggenommen, ich hab meine Stellung verloren, unser Hausstand ist verbrannt, und wir müssen in den Eimer machen! Da kann der Junge doch nichts dafür. An der ganzen Scheiße sind die Nazis schuld!«

Mein Vater war einfach verblüfft. Er saß auf meinem Bett neben meiner Mutter und nahm sie in den Arm. Sie ließ es sich gefallen, dass sie nun auch mit Jauche in Berührung kam. Sie nahm ihre Küchenschürze und wischte ihm damit das Stück Kacke aus dem Gesicht. Und mein Vater? Meinem Vater kamen die Tränen.

»Du hast recht!«, sagte er. »Wir sitzen mitten in der Scheiße wegen dieser braunen Verbrecher. Aber wir können froh sein, dass wir noch leben. Das bisschen Kacke und Gestank macht uns jetzt auch nichts mehr aus!«

Ilse aus dem Hurenhaus

Immer wieder fahre ich auch heute noch an der Garage vorbei, in der ich bis 1954 mit meinen Eltern und meiner Schwester gewohnt habe.

Dort stand die Gulaschkanone in der Auffahrt, die mein Vater wohl aus der Kaserne oder wer weiß woher hatte mitgehen lassen. Er hatte Großes damit vor. Wenn sich erst alles beruhigt habe, sagte er damals, würden wir auf der Gulaschkanone Kartoffelschnaps brennen. Wie das gehen sollte, sagte er nicht. Und es kam natürlich auch nicht dazu.

Auf der Auffahrt zur Garage trug sich auch die wahre Begebenheit mit dem Lindenast zu. Das geschah im sogenannten Hungerwinter 1946/47. Es herrschten sibirische Temperaturen bis zu 24 Grad minus. Es gab keine Kohlen, nicht mal über den Kohlenklau. Wir froren erbärmlich. Kein Wunder, dass die Menschen in Hamburg anfingen, alles, was aus Holz war, in ihren Öfen zu verbrennen. Jeden Tag fehlte wieder ein Baum von der Straße oder wenigstens ein dicker Ast. In der damaligen Hindenburgstraße standen dicke Lindenbäume in zwei Reihen auf dem Gehsteig. Eines späten Abends kletterte mein Vater mit einer Bügelsäge in eine Linde gegenüber unserer Garagenwohnung. Ich begreife bis heute nicht, wie er es schaffen konnte, in der Eiseskälte nur mit einer großen Bügelsäge bewaffnet einen dicken Ast abzusägen. Auf jeden Fall schaffte er es, der schneebeladene Ast fiel auf die Erde und musste nun über die Straße und die Straßenbahnschienen in unsere Einfahrt geschleppt werden. Ich durfte meinem Vater dabei helfen. Aber viel gebracht hat ihm meine Hilfe nicht. So ein Lindenast ist unvorstellbar schwer, jedenfalls für einen zehnjährigen Jungen, sosehr ich mich auch anstrengte. Ich sah, dass auch mein Vater am Ende seiner Kraft war. Wir blieben ausgerechnet auf den Straßenbahnschienen stehen und konnten nicht weiter. Mein Vater stöhnte und ächzte. Sein Gesicht glühte rot vor Anstrengung – obwohl es schon spät am Abend war, konnte doch jeden Augenblick eine Straßenbahn kommen. Mein Vater sackte schon über dem Ast zusammen – da stand plötzlich ein Polizist bei uns. Aber anstatt meinen Vater und mich zu verhaften, rief er nur: »Anpacken!«, und zog mit uns zusammen den großen Ast in unsere Einfahrt. Er stöhnte und pustete auch. Aber ohne ein weiteres Wort entfernte er sich.

Auch ein großes Drama ereignete sich auf der Auffahrt. Im Nebenhaus, aber fast hundert Meter von uns entfernt, waren polnische Flüchtlinge eingezogen: die Saddeys. Sie wurden von den Villenbewohnern und auch von uns kaum beachtet.

Die Saddeys hatten zwei Töchter, Marietta und Kristin. Sie waren damals so alt wie meine Schwester. Eines Tages beobachteten sie Christa, Edgar und zwei andere Kinder aus der Nachbarschaft beim Liebesball spielen – »An oder Ab« –, Sie wissen vielleicht noch, wie das ging. Sie durften mitspielen, obwohl sie kaum Deutsch sprachen. Auf dem Grundstück links von der Villa stand noch eine Villa, eine wirkliche Villa mit einem großen, immer gepflegten Garten. Dort wohnte ein wohlhabender Hotelbesitzer mit seiner Geliebten und seinem Sohn Harald. Sie hielten einen Schäferhund namens Lupo angekettet an seiner Hundehütte. Nachts wurde er freigelassen, um das Grundstück zu bewachen.

Während die Kinder ihren Liebesball spielten, kam mit einem Mal der Schäferhund Lupo unsere Auffahrt heraufgehetzt. Er bellte gar nicht erst, er sprang mitten in die Kinder hinein. Ein Kind fiel sofort zu Boden. Alle schrien wir vor Angst, die Mädchen kreischten. Auch ich stand da wie gelähmt. Dann sprang der Hund das Mädchen Marietta an. Sie wollte weglaufen, aber der Hund riss an ihrer Kleidung. Er zerrte das Mädchen umher, sie fiel hin, der Hund über ihr – er versuchte wahrscheinlich ihre Kehle zu fassen zu bekommen. Ich schrie den Hund an: »Aus! Lupo, aus!« Ich überlegte zwar, die Bestie am Halsband zu ziehen, aber ich zögerte und fand den Mut nicht. Alle anderen Kinder waren schon hinter das Haus gelaufen. Der Hund hatte einen Augenblick von dem Mädchen abgelassen, sie wollte fliehen, aber er fing sie wieder ein. In diesem Augenblick kam mit einem markerschütternden Gebrüll ein kleiner, kräftiger Mann die Auffahrt herauf. Er schrie und schrie etwas, was ich nicht verstand, und warf sich mit einer Art Hechtsprung auf den Schäferhund. Der ließ das Mädchen los und wollte nach dem Mann beißen. Der Mann aber hatte in das Halsband des Hundes gegriffen. Er richtete sich auf und zerrte den Hund zur Häuserwand. Dann zog er den starken Schäferhund am Halsband an der Wand hoch und drehte das Halsband, das immerhin aus Leder war, enger um die Kehle des Hundes.

Dieser kleine Mann entwickelte eine ungeheure Kraft. Der Hund bekam keine Luft mehr. Der Mann gab nicht nach. Er wollte den Hund umbringen. Der Hund pinkelte mit einem langen Strahl in Todesangst den Mann an – und den verließ nun endlich auch die Kraft, er ließ den Hund einfach fallen.

Der lag wie betäubt auf der Erde. Dann schlich er, nach Luft japsend, auf einknickenden Beinen davon. Der Mann nahm das schluchzende Mädchen auf den Arm und trug es nach Hause. Er war ihr Vater, Herr Saddey.

Neben der Einfahrt zu unserer Wohngarage stand also das Vorderhaus – und steht dort noch. Wir nannten es wie schon gesagt: die Villa.

Die Nachbarn, die dort vorne wohnten, waren natürlich die Bessergestellten. Sie hatten wenigstens richtige Wohnungen, während die Scheibners ja nur in einer zurechtgemachten Garage hausten. Diese Nachbarn prägten irgendwie meine »gesellschaftliche Welt«. Es waren alles sogenannte Normalverbraucher, wie es damals hieß. Ich sehe sie immer noch vor mir: die junge Frau vom obersten Stock, wo sie mit ihrem Mann und mit Bille und Edgar wohnte. Sybille war die Tochter, ein fröhliches, munteres Mädchen, das Kraft hatte. Mit ihr und ihrem Bruder Edgar spielten wir auf der Auffahrt und im Garten nebenan. Manchmal gab es Streit, dann schrien Bille und ich uns an. Einmal hörte ich die Stimme der Mutter aus dem Fenster, wie sie zu Bille sagte: »Lass dir nichts gefallen: Wenn er dir etwas tut, musst du kratzen, beißen und spucken!« Sybille und ich: Wir schlugen und wir boxten uns. Aber dann eines Tages – ich war zwölf oder dreizehnJahre alt – sah ich Sybille von der anderen Straßenseite her, wie sie die Auffahrt hinaufging. Sie trug ein blaues Kleid und ein Paar Sandalen, und sie sah wunderschön aus – da durchfuhr es mich wie eine Erleuchtung. Ich bekam direkt einen Schreck: Dieses Wesen dort auf der anderen Straßenseite – es kann doch nicht sein, dass ich mich mit ihm geschlagen habe. Sie ist ein Mädchen, sagte ich mir, ein schönes Mädchen. Nie wieder werde ich mich mit ihr boxen oder sie schlagen.

Sybille wurde nicht meine erste Liebe, aber diesen Augenblick der Erleuchtung vergesse ich nie.

Von unserer Auffahrt führte eine kleine Treppe in eine Souterrainwohnung, in den Keller der Villa. Dieser Keller hatte noch von 1943 bis 1945 als Luftschutzkeller gedient.

Im Krieg, wenn die Sirene wieder heulte, trafen wir dort mit allen Nachbarn zusammen – wie seltsam: die hochnäsige Frau Möller war nicht mehr hochnäsig, der Meckerpott, Herr Schneider, meckerte nicht mehr, sondern versuchte mit uns Kindern irgendetwas zu spielen, die böse Hexe, die bucklige Frau Albrecht, sagte gar nichts mehr; denn alle hatten sie Angst. Die Bomben fielen um die Villa herum. Aber keine traf das Haus. Ein unwahrscheinliches Glück. Die Familie Hansen im Übrigen kam nie in den Keller. Sie wohnte im zweiten Stock und verharrte bei allen Bombenangriffen in ihrer Wohnung. »Wir wollen doch nicht verschüttet werden«, soll Herr Hansen gesagt haben. Erst nach dem Krieg begriffen wir, was der wirkliche Grund war.

Die Jahre vergingen, ich trat schon hin und wieder im Fernsehen auf – da fuhr ich wieder an unserer Auffahrt und der Villa vorbei. Was hatte das denn zu bedeuten?

Das ganze Haus war neu in Weiß gestrichen, aber hinter den Fenstern sah man rote Rollos. Der Vordereingang hatte einen roten Baldachin. Über dem Eingang stand in roten Leuchtbuchstaben ein Schriftzug: »Funny Club«.

Donnerwetter: Aus dem ehrbaren Vorderhaus, aus der Villa mit unseren Nachbarn, war ein Puff geworden, ein Edelbordell.

Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.