In den Kriegen - Evelyn Schlag - E-Book
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In den Kriegen E-Book

Evelyn Schlag

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Beschreibung

Ein pazifistischer Roman über den Krieg. Auch im 21. Jahrhundert kämpfen in der Ukraine wieder Deutsche. Diesmal als Freiwillige für die ukrainischen Nationalisten. Zwei von ihnen machen sich davon, gemeinsam mit der Verlobten eines Gefallenen und einem, der das Abenteuer sucht. Sie gehen zu Fuß in Richtung Krim, zum Meer hin, weg von der Vergangenheit, immer wieder auf sie gestoßen. "Wir standen da wie auf einem Plattencover, vier Leute in loser Verteilung, alle in dieselbe Richtung blickend. Unvorstellbar, dass einer ausscheren und aus dem Bild gehen könnte. Jedem würde etwas fehlen, das über seine eigene Person hinausreichte."

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Seitenzahl: 264

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In den Kriegen

Evelyn Schlag

In den Kriegen

Roman

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung

Evelyn Schlag: In den Kriegen

Roman

Hollitzer Verlag, Wien 2022

Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović

Foto: Black Sea © Emil Gataullin

Satz: Daniela Seiler

Hergestellt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

© HOLLITZER Verlag, Wien

www.hollitzer.at

ISBN Druckausgabe: 978-3-99012-969-2

ISBN ePub: 978-3-99012-970-8

1

Wir hatten nicht wissen können, dass Andrij so auf das Pfötchen reagieren würde, sagte Iwo. Einerseits ist es gut, wenn du ein Mädel zuhause hast. Du weißt, wohin du heimkommen kannst.

Wenn du das überhaupt willst. Es gibt welche, die ziehen von Krieg zu Krieg, die können nicht mehr anders. Denen gibt sonst nichts mehr einen Kick.

Schau dir die da drüben an! Was wirft die dauernd über ihre Schulter?

Ich lehnte mich vor. – Ich glaube, die skypt. Auf ihrem Bildschirm ist eine Frau.

Wieso hört man sie nicht reden? fragte Iwo.

Frag mich.

Die ist taubstumm! Klar, die ist taubstumm und skypt mit einer Taubstummen.

Ich bekam einen Lachkrampf. – Woher weißt du, dass die andere auch taubstumm ist?

Hör auf so blöd zu lachen, das sind arme Leute. Erinnerst du dich noch? Nahkampfsprache? – Er legte sich die Hand um den Hals.

Geisel, sagte ich. Manchmal werden Taubstumme zur Entschlüsselung von Gesprächen herangezogen, von denen kein Ton existiert. Oder letzte Worte eines Mordopfers. Ich frage mich nur, wenn der Halbtote einen Namen sagt, mit letzter Kraft, wie soll ein Taubstummer das erkennen?

Ganz einfach, Jensi. Die reihen die Buchstaben aneinander. Meistens gibt es einen Verdächtigen, auf den der Name passt. Denk an Sergio.

Nein, danke.

Wie seine Lippen blubberten unter dem Blutschaum, fuhr Iwo fort. Diese Bläschen, wie bei einem Frosch, und in den Bläschen war eine Nachricht und wir Schweine haben sie nicht entziffern können. Du solltest dich dran erinnern, Jens, sonst bleibt da etwas hängen.

So ein Schwachsinn. Merkst du, was für einen Schwachsinn du redest? Wenn man sich zwanghaft erinnert, bleibt natürlich etwas hängen.

Hab ich anders gemeint, Jens.

Die Amis nennen das PTSD.

Ich hab genug von den Abkürzungen. Das ganze Land ist voll von Abkürzungen, ist dir das nicht aufgefallen? Lieber richtige Worte, meinetwegen auch Sätze. – Ich griff mir an den Kopf. – Fremdsprachen schaden nie. Sieht man ja bei uns. Wenn wir die Landessprache nicht wenigstens in ihren Grundzügen verstünden, hätten wir hier nichts zu melden gehabt.

Hast du dir die neue Nighthunter angesehen?

Wann denn?

Iwo zog ein paar Blätter aus seinem Rucksack und glättete die Ränder.

Du weißt immer noch nicht, wie man mit Papier umgeht, sagte ich.

Na und, Oberlehrer Krüger? Sieh mal dieses Gewinde am Zielfernrohr.

Ah ja, sagte ich. Das spüre ich in den Fingern, wie ich diese Räder einstelle, das leise Einrasten. Das machst du –

Mit Zeigefinger und Daumen. – Iwo drehte an dem unsichtbaren Gewinde.

Hab ich mir gedacht. Die elegante Art ist nämlich die andere. Mit Daumen und Mittelfinger. Und was kann das, was unsere nicht konnten?

Das lässt sich so nicht sagen, Jensi. Ich denke eben an Sergio. Das Zielfernrohr hat ihm zunächst einmal das Leben gerettet.

Leider hat es ihm nichts genützt. Der gute Sergio wird von seinem Zielfernrohr gerettet, das die Kugel ablenkt, nur um eine Viertelstunde später einen Treffer abzukriegen. – Iwo schaute so erstaunt, als habe er die Geschichte zum ersten Mal gehört.

Das ist mehr als Pech. Das ist ein schlechtes Schicksal, sagte ich. – Mein Mund zuckte, ich wischte mir die Ecken mit der dünnen Kaffeeserviette ab.

Mit denen kann man sich nicht einmal den Arsch auswischen, sagte Iwo. Das schafft solchen Frust.

Diese Spende damals, die feuchten Babytücher. Zehn große Schachteln.

Die waren nicht schlecht, oder? Oder? Die habe ich in angenehmer Erinnerung. – Iwo schlug mit der Faust auf den Tisch.

Erinnerst du dich, der Separatist, der hinter einem Haus hervorsprang wie ein Indianer mit einem Fransenhemd, diese zotteligen Fransen?

Ja. Ich dachte, ein Bär springt uns an.

Ich nickte. Später an jenem Nachmittag hatte der Feind unserem kleinen Bataillon ein fünfstündiges Gefecht geliefert, schwere Artillerie, wir hatten die Panzer über die Wiesen laufen gesehen. Wir hatten es knapp in einen halb abgebrannten Stall geschafft, eine Eisenplatte im Boden führte in einen Raum. Der Lärm der Panzer war nähergekommen, danach die Einschüsse der Raketenwerfer. Einige Kameraden hatten sich draußen verschanzt. Alle vier wurden von den Militärschützen getötet. Präzise. Kein Fehlschuss. Profis.

Wir hatten über die Kampfnamen gesprochen. Es gab zu viele, die Ivan hießen. – So einer nennt sich dann Molotow oder Motorola, hatte Iwo gesagt. Weil er ein Handy von Motorola hat.

Was hatte man von uns verlangt in der Ausbildung? Das Wort Stressmanagement war nicht vorgekommen, keiner hatte auch nur daran gedacht, es zu erwähnen. Wer hierher kämpfen kam, hatte das alles längst hinter sich, selbst wenn er zum ersten Mal in seinem Leben eine Waffe in der Hand hielt. Solche hatte es tatsächlich gegeben. Ein paar waren Kleinkriminelle gewesen, die endlich das tun konnten, was sie immer schon gewollt hatten.

Kannst du dich erinnern, wie er mit der rechten Hand deinen Unterarm fest umfasste als Begrüßung? Das war ein Zeichen seiner Bewegung, sagte Iwo.

Wer?

Sergio.

Nee, ist mir nicht aufgefallen.

Ich sag’s dir, das war ein Erkennungszeichen.

Das passiert schnell einmal.

Aber nicht mit der rechten Hand am Unterarm, beharrte Iwo. Soll ich dir etwas verraten?

Ja?

Am liebsten würde ich meiner Schwester eine bestickte Bluse mitnehmen, wie sie hier in Mode sind.

Dass du so romantisch bist, Iwo.

Nicht romantisch. Ich meine echte Tradition. Das ist uns ganz verloren gegangen.

Hättest du als Kind gern eine Lederhose getragen? Wie euer Franz Josef Strauß?

Ich habe eine Lederhose getragen.

Du weißt, dass euer Franz Josef Strauß 1941 hier war, genau hier, nicht in diesem Café, aber in der Stadt.1

Du verarschst mich, Mann.

Überhaupt nicht, Iwo. Es kann gut sein, dass er 1941 von den Mädchen mit den bestickten Blusen begrüßt worden ist. Die sind den Deutschen zu Ehren durch die Stadt marschiert.

Was du alles weißt, Jensi. – Iwo lehnte sich zurück.

Neben der skypenden Frau hatten zwei alte Männer Platz genommen. Sie sanken einander beim Zuhören langsam zu wie Grabsteine.

Wie lange bleibst du? fragte Iwo.

Keine Ahnung, sagte ich. Du?

Zurückgehen ins Gefecht kommt nicht in Frage. Das war ein sogenannter Lebensabschnitt und der ist jetzt vorbei. Ich möchte mich reformieren, sagt man so?

Kalter Entzug?

Ich muss wissen, ob ich das schaffe, kapiert? Ich war weg von dem Zeug, und dann finde ich in dem Depot hinter dem versifften Spülkasten dieses weiße Päckchen. Was hätte ich tun sollen? Das war für mich bestimmt. Wenn ich es nicht an mich genommen hätte, hätte es laut zu schreien begonnen und uns alle verraten. Am nächsten Tag bist du zu uns gekommen. Da war es zu spät, da war ich bereits …

Ich hatte mir gleich gedacht, der sieht aus, als nähme er etwas, sagte ich.

Iwo stieß ein paar Flüche in seinem bairischen Dialekt aus.

Schon gut. Du warst immer verlässlich.

Wo bist du untergebracht? fragte Iwo.

Bei Tanja.

Ist nicht wahr. Bei der zarten Tanja mit dem Pfötchen? Armer Andrij. Diese krankhafte Eifersucht. Der ist ja durchgedreht! Ah, du hast ein schlechtes Gewissen, weil du anfangs mitgemacht hast bei dem Gerede.

So wie ihr anderen habe ich nicht geredet. Das mit dem Pfötchen habe ich nicht mehr zu Ende führen können, da hat das Wichtigste noch gefehlt, und das wäre nicht gemein gewesen, sondern sehr sensibel, da hätte er sofort seine Wut vergessen.

Sicher, Jens.

Nachher drehte ich noch ein paar Runden durch die Stadt und kam an einem Bücherflohmarkt vorbei. Die Verkäufer warteten mit den Händen in ihren gefütterten Winterjacken und stiegen von einem Fuß auf den anderen, rauchten, lachten, fluchten. Auf einem Schneesockel hockte ein aufgerollter Plastiksack mit Schachfiguren aus verschiedenen Spielen, schwarze, braune, helles Holz, weiße Damen und Bauern, Türme und Könige. Eine Ausgabe von Mein Kampf. Unter dem deutschsprachigen Cover verbarg sich eine Übersetzung in der Landessprache. Nicht mit mir, dachte ich.

Aus einer dicht mit Postkarten bepackten Schuhschachtel zog ich einige Karten heraus. Ostergrüße. Städte. Bunte Sommerferienorte. Schwarzweißaufnahmen mit gezacktem Rand. Ein Briefumschlag, keine Anschrift, den holte ich mir. Ich erwartete abgelaufene Lotteriescheine, ein paar Sätze Sondermarken von einer Olympiade, Jahreszeit egal, meinetwegen ruhig Nachwuchshoffnungen mit blondem Haar, etwas Erbauliches eben. Es waren ein paar handbeschriebene Blätter.

Ich bin froh, Willi zu haben. Er ist mir in den letzten Wochen zu einem richtigen Freund geworden, dem ich meine Zweifel anvertrauen kann. Das Misstrauen ist groß, und ich bin von Haus aus nicht jemand, der sich schnell anderen öffnet. Mit Willi ist es anders. Ihn könnte ich mir auch in der Heimat als guten, ja besten Freund vorstellen. Was uns hier zusammengebracht hat, hat ausgereicht, ihn mir ans Herz wachsen zu lassen.

Das könnte ich über Iwo sagen. Ich steckte die Blätter zurück und gab dem Verkäufer etwas mehr als die lächerliche Summe, die er verlangte, verstaute das schmächtige Päckchen in einer meiner Brusttaschen. Fensterscheiben, auf die ein Sonnenstrahl traf, blinkten fiebrigkalt. Der braune Hund, der auf dem bloßen Boden lag, tat mir leid. Er hatte Knoten im Haar, eine Rasterfrisur, ab und zu rannte ein Schauer über sein Fell.

Auf dem Weg zu Tanjas Wohnung kam ich an einem erleuchteten Laden vorbei. Kleine Mädchen mit weißen Schürzen und hohen Bäckermützen saßen todernst um einen Tisch. Zwei schauten zu mir. Sie erlernten die Kunst der Marzipanherstellung.

2

Ich wartete vor der roten Hauswand in einem offenen Hof. Spät am Morgen, nach einem langen Schlaf, hatte ich diese Wand zum ersten Mal bei Tageslicht gesehen. Ein Wunder, dass ich es die Nacht davor hierher geschafft hatte. Andrij hatte, als er noch bei Bewusstsein war, nach seinem Smartphone verlangt. Die Fotos von Tanja alleine und Tanja mit ihm, die er uns gezeigt hatte, vor allem das eine, auf dem Tanja die Hand wie ein Pfötchen hängenließ – visit, hatte er gestammelt. Visit. Und den Namen der Gasse. Und mir das Smartphone mitgegeben.

Tanja sah zart und elegant aus auf dem Foto vor dem roten Haus. Fast gleich groß wie Andrij stand sie kokett neben ihm, in einem kurzen Kleid mit tiefem Ausschnitt und Rüschen an der Seite. Ihr langes Haar war in der Mitte gescheitelt. Andrij in dunkelblauer Hose und hellem Hemd, das Falten schlug über seinem schlanken Bauch, aus dem das Blut herausgeschossen war. Ich hatte mit beiden Händen darauf gedrückt.

Jemand hatte Alco-Family auf die Wand gesprayt. Das musste ganz frisch sein. Weiße Spitzenvorhänge in allen Fenstern. Verdunkeln, sonst trifft es dich.

Ich stieg über die hölzerne Außentreppe zur Wohnung im ersten Stock hinauf, die mit einem Sicherheitsschloss versehen war. Drinnen schnürte ich meine Stiefel auf. Meine Füße in den Wollsocken hinterließen feuchte Abdrücke auf dem Boden. Im Bad drückte ich die Socken in Seifenschaum durch und legte sie über den Heizkörper. Danach fühlte ich mich wohler. In der Küche ihr Frühstücksgeschirr im Abwaschbecken, wie ich es am Morgen gesehen hatte. Das heiße Wasser kam mit einem Fauchen aus dem Hahn, jagte den Rest von Kaffee aus den Tassen.

Neben der Küche war das Schlafzimmer des Paars.

Andrij hatte wie ein Stein schlafen können. Er schloss die Lider, im nächsten Augenblick kam ein leises Schnarchen. Polypen, hatte er gesagt und gelacht, wenn wir ihn morgens darauf ansprachen. So viel wurde nebensächlich. Die große Müdigkeit. Ich setzte mich auf die Couch im Wohnzimmer, das Bettzeug hatte ich am späten Vormittag zusammengelegt. Wir hatten nicht darüber geredet, wie lange ich bleiben würde. Ich wusste es selbst nicht.

Bilder von einem Traktor, der versucht, einen Panzer aus einer Schneewehe zu befreien. Mit ein paar Kameraden ziehe ich den Traktor an starken Seilen. Nichts gelingt, der Traktor wäre selbst ohne den Panzer zu schwer, das weiß ich, aber ich traue mich nicht, mein Wissen mit den Kameraden zu teilen, weil ich kein Schwein sein möchte. Ich muss ihnen Mut signalisieren, indem ich selbst stärker an meinem Seil ziehe. Es liegt über meiner Brust. Ich stemme meinen Fuß so fest ich kann in den Schnee, um den anderen Fuß nach vorn setzen zu können. Was für eine Anstrengung.

Ich schreckte aus dem Schlaf.

Jens, sagte Tanja.

Sofort sprang ich auf. Ehe ich ihr die Hand geben konnte, hatte sie sich an mich gelehnt und mich umfasst. Sie sagte nichts, ihr Körper zuckte in kurzen Abständen. Stumme Detonationen, wie in weiter Entfernung, weit in ihrem Innersten. Ihren Kopf hatte sie an meine Brust gelegt, sie rollte ihn ungläubig hin und her, sie verstand etwas nicht, etwas viel zu Großes.

Du bleibst, solange du willst, ja? – Tanjas Deutsch war nahezu akzentfrei.

Sie verschwand im Bad.

Ich habe meine Socken gewaschen, rief ich ihr nach.

Hast du ein zweites Paar?

Ja! – Hätte sie mir ein Paar von Andrijs Socken angeboten? Draußen hatten wir selten etwas untereinander getauscht. Bis zur Ausbildung hatten manche ihre mitgebrachte Kampfkleidung getragen, in Surplus Stores online gekauft. Dann kam eine große Anzahl von US MultiCam-Kampfanzügen, eine Spende aus Dänemark. Die Scharfschützenabzeichen der nationalen Armee waren bereits aufgenäht. Ein merkwürdiges Gefühl war das gewesen. Als lebte man in einem anderen Leben. Was ja stimmte.

Ich war froh, meine Lederjacke wieder tragen zu können. Die richtige Camouflage für das zivile Leben.

Ist es dir recht, wenn wir jetzt auf den Friedhof fahren?

Tanja hatte einen alten Škoda. Ich wartete darauf, dass sie zu reden begann, ich wollte ihre Konzentration nicht stören. Sie fuhr so schnell, wie sie bei diesem Schnee konnte. Viele Autos waren ohnehin nicht unterwegs. Selten rumpelte eine alte Straßenbahn in eine Kurve.

Dort unten habe ich mein Büro, sagte sie. Ich arbeite für eine große polnische Firma und zwei deutsche. Mit Teilzeit schaffe ich das gerade. Ich verhandle alles für die Kunden.

Verträge?

Nicht nur. Ich erledige auch ihre anderen Kontakte. Ich betreue Besucher, veranstalte kleinere Events, bereite Auftritte vor, schreibe eine Rede, wenn es nötig ist.

Dein Deutsch ist hervorragend, lobte ich sie.

Wieso hast du dich hier freiwillig gemeldet, in einem fremden Land, das dich im Grunde nicht betrifft? – Es klang leichthin gesagt.

Ich hatte in Deutschland Mist gebaut. Bin aus verschiedenen Jobs geflogen. Vor allem aus der Bundeswehr.

Aha. Hast du dort deine Ehre verloren?

Das kann man so sagen. – Ich lachte. Ehrlos entlassen.

Was war der Grund?

Du fragst sehr direkt, Tanja.

Wie soll man sonst fragen? Du bist kein Geschäftskunde, bei dem ich diplomatisch sein muss. Du bist Andrijs letzter Freund.

Wenn ich an Andrij dachte, sah ich ihn in seinem Kampfanzug durch die Stadt gehen. Wie eine Figur in einem Videospiel.

Ich habe ein paar Mal die falschen Lieder gesungen, sagte ich. Besoffen. Bescheuert. Würde ich heute nicht mehr tun.

Tanja schaute in den Seitenspiegel. Ich hatte das Gefühl, er sei nicht richtig eingestellt, weil sie sich zu weit vorbeugen musste.

Draußen haben wir ein paar Mal in leerstehenden Häusern übernachtet. Die Bewohner waren vor den Separatisten geflüchtet. Muss schwer sein, solche protzigen Villen zurückzulassen. Die geschmacklosen Möbel. Nicht zu wissen, ob sie sie jemals wiedersehen.

Hat Andrij sich in deren Betten gelegt?

Hätte er auf dem Boden schlafen sollen? Beruhige dich, Tanja. Andrij hat nie etwas Gemeines getan in diesen Villen. Außer ein paar Gläsern Wein haben wir nichts genommen. Andere schon. Als Souvenirs. Die Besitzer waren korrupte Geschäftsleute. Mit ehrlicher Arbeit hätten sie es nie so weit gebracht.

Zuhause hat er nur Bier getrunken.

Ich dachte an das Kristallglas, das Iwo fallengelassen hatte.

Die alten Grabdenkmäler sind berühmt, sagte Tanja, als wir nach kurzer Zeit auf den Parkplatz einbogen. Man kann Stunden hier verbringen. Im Sommer gehen die Einsamen auf diesen Wegen und verlieben sich in Porträts, stellen sich vor, dieser Mann oder diese Frau könnte eines Tages auferstehen und mit ihnen ein neues Leben beginnen. – Sie schlug die Wagentür mit einem lauten Knall zu.

Über den Friedhof wehte ein eisiger Wind. Tanja zog die Kapuze über den Kopf und umarmte ihren Körper, die umgehängte Handtasche vor sich gepresst. Sie sah weder nach links noch nach rechts, während sie die Straße überquerte. Ein breiter Platz tat sich innerhalb der Mauer auf, teils verweht und zugeschneit, nach allen Richtungen breite Pfade ausgefräst. Der Weg zum Ehrenhain war festgetreten. Wir stiegen die schmalen Stufen hinauf, neben uns andere Besucher. Oben angelangt überblickten wir eine große Fläche, Reihen von Grabsteinen aus grauem Marmor, in Form eines Kreuzes, eines wie das andere marschierten sie auf der Stelle, ein Bataillon, das nicht mehr vom Fleck kam.

Tanja gab mir Zeit, mich an den Anblick zu gewöhnen. Da und dort wischte eine Frau den Schnee vom Farbfoto eines Gefallenen, durchwegs junge Männer, zupfte einen Strauß Plastikblumen zurecht.

Wo liegt er?

Dort drüben, bei den ganz neuen Gräbern. Sagt ihr nicht „frische Gräber“?

Das stimmt.

Auf dem Weg blieb ich bei einem Grab stehen. Auf dessen Holzkreuz prangte ein großes Farbbild, ein fröhlicher Kerl mit einer schwarzen Wollmütze, er lächelte zufrieden, in der rechten Hand hielt er eine senkrecht in die Höhe weisende AK-47. Hinter ihm ein Weizenfeld. Ich las die Buchstaben, Andrij, ein anderer Andrij. Über den Querbalken des Kreuzes war die zweifarbige Landesflagge geschlungen, flott geknüpft. Er war vor zwei Wochen bestattet worden. Die Kränze bildeten einen Zaun um das Grab.

Kanntest du den? fragte Tanja.

Nein.

Ein paar Meter weiter lag der richtige Andrij. Das Gesicht auf dem Bild sah jünger aus. Andrij war sechsundzwanzig gewesen.

Wir wollten bald heiraten.

Nach dem Krieg?

Nein, in zwei Monaten.

Ich nahm die Gegenstände auf dem Grab nicht wahr. Du bist nur eingefroren, du bist nicht tot. Du kommst zurück, spätestens zu deiner Hochzeit. So ein Arsch wirst du nicht sein, deine eigene Hochzeit zu verschlafen. Du mit deinem Schlaf von einer Sekunde auf die andere.

Erzähl mir, wie er gestorben ist.

Beinahe hätte ich gesagt, hat er dir das nicht erzählt?

Ich weiß so wenig von seinem Einsatz.

Er wollte dich schonen.

Wenn er mich hätte schonen wollen, hätte er sich nicht gemeldet. Ich bin keine von diesen jungen Weibern, die stolz sind auf ihre Soldatenfreunde. Mit zwei meiner Freundinnen rede ich aus diesem Grund nicht mehr. Das Höchste wäre ein Pilot.

Die Piloten haben immer und überall das größte Prestige. Gelten als die Mutigsten, sagte ich.

Hat er lange leiden müssen?

Ich griff mir an die Stirn. Ich musste blitzschnell auswählen.

Sie hatten uns verfolgt, schossen unaufhörlich. Wenn wir dachten, wir hätten sie abgehängt, hörten wir das Pfeifen, eine Granate landete und explodierte. So ging das eine Weile dahin. Überall nackte Bäume mit weggesprengten Ästen. Wie Pferde, die sich aufbäumten. Plötzlich war Ruhe. Wir waren am Rand eines Dorfes. Zwei Hunde rannten uns entgegen. Als wollten sie uns warnen. Ich dachte mir, wenn ich gut zurückkomme, möchte ich einen Hund haben. Wolltet ihr nicht auch einen Hund?

Nicht dass ich wüsste. Hat er das gesagt?

Ich kann mich irren. Wir haben so viel verrücktes Zeugs geredet.

Andrij mochte Hunde nicht, sagte Tanja. Als Kind musste er auf dem Schulweg an einem Garten vorbeigehen, in dem ein Schäferhund auf jeden Passanten losstürmte und mörderisch bellte.

Hier in der Stadt?

Er ist weiter draußen aufgewachsen, dort hatten seine Eltern einen kleinen Hof. Das hat er dir sicher erzählt. Oder redet man nicht darüber, woher man kommt, wo man zuhause war?

Doch, klar. – Seit ich mit den Hunden angefangen hatte, bekam ich das Wort „Pfötchen“ nicht aus dem Kopf.

Was verschweigst du mir? Wieso willst du mir nicht endlich sagen, wie Andrij gestorben ist?

Es ging sehr schnell. Er hat nicht gelitten.

Hast du ihm erste Hilfe geleistet?

Ja. Ja, das habe ich.

Was genau hast du gemacht?

Ich habe seine Wunde zugehalten. Es war nichts mehr –.

Das heißt, er ist verblutet? – Tanja hielt sich die Hand vor den Mund.

Er hat gesagt, ich soll dich besuchen. Visit. Und mir sein Smartphone gegeben, sagte ich.

Und dann ist er gestorben?

Ja.

Sie nickte. Wie zur Bestätigung.

Habt ihr euch die Fotos alle angesehen? Wart ihr betrunken dabei und habt obszöne Bemerkungen gemacht?

Überhaupt nicht, Tanja. Es ist ganz anders, als du denkst. Er war so stolz auf dich, so voll Liebe, das haben wir alle gespürt und ihn beneidet. Und –

Und?

Und aus diesem Neid ist es passiert, dass wir dich „Pfötchen“ genannt haben. Weil du auf dem Foto vor eurem Haus die Hand wie eine Pfote hältst.

Tanja starrte mich an.

Wie bei da Vinci, diese Dame mit dem Hermelin, kennst du das?

Ja.

Das Hermelin lässt seine Pfote über die Hand der Frau hängen. So kam ich drauf, dich „Pfötchen“ zu nennen.

Tanja nahm ihr Smartphone. – Meinst du dieses? – Sie versuchte, ihre Hand größer zu ziehen. – Wusste er überhaupt, was das Wort bedeutet?

Wir haben es gemeinsam übersetzt für ihn.

Welches Wort kam da raus?

Ich habe es vergessen.

Ich drehte mich weg von Tanja. In meinen Ohren stieg ein Druck hoch, der mir fast den Mund aufriss.

Meine größte Angst ist, dass ich eines Tages nicht mehr weiß, wie er roch, sagte sie. Dass meine Sinne versagen, weil sie sich so schlecht erinnern.

Als wir ihm den Helm abgenommen haben, war sein Haar nicht verschwitzt. Gar nicht. Ich habe ihm über die Stirn gestrichen –

Hattest du deine Handschuhe ausgezogen? Konntest du seine Haut spüren?

Ich hatte meine taktischen Handschuhe an, die gehen nur bis zum halben Finger.

Aha, sehr klug. Jetzt weiß ich, warum die keine Fingerspitzen haben. Diese Handschuhe, die waren bei seinen Sachen, die sie mir geschickt haben. Ich habe etliche Mädchen mit solchen Handschuhen gesehen, ob die alle aus einem Nachlass sind?

Anzunehmen, sagte ich.

Wir nahmen Abschied. Ich schaute Andrij in die Augen. Es kam mir vor, als richte Andrij seine blauen Augen nach Tanjas Seite.

Wollen wir noch eine Runde gehen, sofern es möglich ist? – Tanja marschierte einen leicht geschwungenen Weg entlang, ziemlich schnell. Ich rutschte mit hohlem Rücken ein paar Schritte dahin, bis die Sohlen griffen.

Dort oben, nach der ersten Kurve. Danach ist es nicht mehr weit.

Ich hatte kaum Zeit, mir die Gräber anzusehen, die mit dem Ansteigen des Geländes kleiner und dichter wurden. Dann, an einer Kreuzung, ein junger Mann aus schwarzem Marmor, langärmeliges Hemd in eine elegante Hose gesteckt, den Kopf zur Seite gewandt. Mit einem Arm stützte er sich auf ein Klavier mit einer Marmordecke, die gleich hinunterrutschen würde.

Der berühmteste Musiker des Landes. Volksmusik, Popmusik, sagte Tanja. Er kam nach einem Konzert im Osten in einen Hinterhalt.

Sie nahm eine Abkürzung den rutschigen Anstieg hoch, blieb vor einem Steinblock stehen, aus dem ein Mann mit kühnem Blick herauswuchs. Sein muskulöser Arm ruhte über einem starken Rohr. Er trug ein geripptes Unterhemd.

Wer war das? fragte ich. Ein berühmter Installateur?

Das könnte von Andrij sein, sagte Tanja. Er war Olympiasieger im Kunstturnen. In den Fünfzigerjahren.

3

Der Lärm war gut, fröhliche Stimmung, Salven von Gelächter. Ein paar Mädels mit pelzigen Pullovern, hochgetürmte Haare in Neonfarben, überschminkt. Alles dampfte in dem Pub. Es gab keinen freien Platz.

Hätten wir reservieren sollen? fragte Iwo.

Gepolsterte Jacken lagen am Boden. Direkt vor dem Fernseher über der Theke standen ein paar Typen um die Barhocker herum. Niemand saß.

Mann, trinkt aus. Das dauert ewig. In einer Viertelstunde fängt das Match an.

Hör auf, Iwo. Wir stehen da jetzt und warten völlig entspannt.

Willst du das Match nicht sehen? Willst du Poldi nicht sehen?

Ich nahm einen tiefen Zug von meinem Budweiser. – Nichts lieber als das, sagte ich mit einer Stimme, die klang, als sei ich am Ertrinken. Ich hustete, konnte nicht aufhören, Iwo klopfte mir auf die Schulter. Einer der Typen drehte sich um und hob die Hand.

He, Finger weg! schrie Iwo. Das kann ich allein.

Mein Gesicht war rot angelaufen. Ich versuchte meine Jacke auszuziehen, blieb mit dem Arm hängen.

So, mein Kleiner, sagte Iwo und nahm mir die Jacke ab. Als er sie auf den Boden legen wollte, bückte ich mich rasch.

Du bist ein richtiger Schnösel geworden.

Die Männer leerten ihre Gläser. – Na endlich! Wenn die noch einmal bestellen …

Das sind Engländer, hörst du das nicht?

Nein. Hatten wir nicht in Garmisch. Ah, sie zahlen. Drei Kreditkarten. Das dauert! Wieso lädt keiner die anderen ein?

Die Männer waren noch nicht weggegangen, griff Iwo sich einen Hocker. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht. Er wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke ab.

Von einer Großaufnahme aus der Luft zoomte sich die Kamera in das Stadion hinunter. Eine rote Fahne der Türkei wehte lange über einen großen Teil des Platzes.

Die Kamera schwenkte über das Stadion mit den tobenden Galatasaray-Fans.

Ah, da kommen sie. Prinz Poldi hat Nummer neun. – Iwo strahlte.

Die Klänge der Champions-League-Musik ertönten.

Das ist gottvoll, sagte Iwo. Das mag ich, diese Musik ist so feierlich. Da weiß man gleich, dass das ein edler Sport ist. Das muss man den Engländern lassen, sie haben ein gutes Händchen gehabt, als sie den Fußball erfunden haben.

Ich blickte mich um. Ein paar Girlies mit ihren Freunden, kaum ältere Typen. Wen würde das Publikum unterstützen? Das Lokal war das einzige mit SKY in der Stadt. Vermutlich waren nicht wenige Touristen hier.

Jawoll, brüllte Iwo.

Ich sah, wie Lukas Podolski mit weit ausgebreiteten Armen über den Platz lief.

Dritte Minute, jawoll!

Aus dem Hintergrund kamen einige Pfiffe.

Shut up, sagte Iwo.

Du reißt dich zusammen, okay? Ich will hier keinen Zoff. Wir sind hier zu Gast, verflucht.

Wir haben uns den Arsch aufgerissen für die, wir haben freiwillig für ihr Land gekämpft, und ich darf mich nicht über Poldi freuen? Wie gestört ist das denn? Ich freue mich hier über alles und jeden, wie es mir passt, weil ich ein Recht darauf habe. Ich bin ein Veteran ihres Kriegs, mir fehlen nur die Medaillen. Die kauf ich mir auf dem Flohmarkt, wenn das wichtig ist. Von uns hat sich keiner gedrückt, als damals der Marschbefehl kam. Wir hätten Urlaubsanträge stellen können. Freiwillige dürfen das.

Du meinst, von uns Deutschen hat sich keiner gedrückt, sagte ich.

Iwo nahm einen Zug. – Noch ein Heineken, sagte er. Wir waren ja nur zwei Deutsche.

Du vergisst den aus Sibirien, weiß der Teufel wie der dazu kam, der hatte deutsche Wurzeln.

Richtig. Darum nannte er sich Nemetz, das heißt Deutsch in allen slawischen Sprachen.

So ungefähr, Iwo.

Aber ihre eigenen Leute und genauso diese Kerle aus Kroatien, plötzlich war der ganze Mut weg. Wie sie sich an dem Tisch drängten, wo man den Antrag auf Kampfbefreiung stellen konnte. Ich dachte mir, in eurer Haut möchte ich nicht stecken. Und gleich darauf: In meiner ebenso wenig.

Mir ging es ähnlich, Iwo.

Du hast dir nicht überlegt, umzudrehen und auszusteigen?

Das kam nicht in Frage. Es ging alles so schnell, mit dem Marschbefehl hatten wir nicht gerechnet. Merkwürdige Situation, wie die tatsächlich kniffen. Erst überall dabei in der Ausbildung, wenn man das überhaupt so nennen kann, große Schnauze und so, und puff, weg.

Das kriegen die nicht mehr los. Wenn die wiedererkannt werden, dann bravo. Ah, Corner, das könnte gefährlich werden, yesss, Ramsey, linker Fuß und drin ist er! Zwei zu null! In der elften Minute! Aaron Ramsey, du Gunner, du bist einer von uns. Das wäre ein Name für mich gewesen, Aaron, der Gunner.

Iwo zog am Schaum seines neuen Heineken. – Aaahhhh, großartig. Mann, ist das Leben schön.

Ich drückte ihm den Arm. In meiner Kehle zupfte von neuem der Juckreiz. Ich wollte die Lippen aufeinanderpressen, mein Mund zitterte wie der einer weinenden alten Frau. Vor Anstrengung runzelte ich die Stirn. Meine Augen tränten, eine Hustenkaskade drängte aus mir heraus.

Mensch, Jensi, hast du dich erkältet? Wo warst du?

Mit Ta-ta-

Mit Tanja? Hast du sie getroffen? – Iwo machte die Pfötchenhand nach. – Ist sie hübsch? Wasser!

Langsam flößte er mir das Wasser ein, wischte mit seinem Ärmel über die Spritzer, die ich hinaushustete. – Brav, Jensi. Wird schon besser. Noch einen Schluck. Wird schon besser.

Hör auf, mich Jensi zu nennen, brachte ich mühsam heraus. Danke, Iwo. Du wärst eine perfekte Mutter.

Was habt ihr unternommen?

Wir sind zu Andrijs Grab gefahren.

Echt jetzt?

Komischer Friedhof. Würde dir nicht gefallen.

Ich möchte da auch nicht wohnen.

Ich griff in die Schüssel mit Erdnüssen, stopfte sie mir mit allen fünf Fingern in den Mund.

Küss die Hand, Madam, sagte Iwo. Eine Torchance nach der anderen.

Es war bedrückend, diese Ehrengräber zu sehen. Die Farbfotos der Soldaten, meistens mit ihren Waffen.

Ob die Waffen mit drin im Sarg sind? Soll ich sein Grab besuchen?

Das musst du selbst wissen.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich das aushalten würde, Jens. Wahrscheinlich würde ich drauf losplärren. Der Gedanke, dass er da unten liegt und sich nicht rühren kann. Rührt euch! Und er kann nicht aufstehen, und wie er da unten friert zum Erbarmen. Was habt ihr den ganzen Nachmittag geredet?

Mensch, Iwo, du gehst mir sowas von auf die Nerven. Konzentriere dich auf dein Match. Von Poldi haben wir lange keine Aktion mehr gesehen.

Ein großer Mann stellte sich neben Iwo an die Bar. Seine langen grauen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden, ein krasser Gegensatz zu Iwos dünnem Schwänzchen. Iwo musterte den Neuen.

Prost! sagte der Mann, nachdem er sein Bier bekommen hatte.

Prost! Von wo kommst du? fragte Iwo.

Aus Stuttgart, sagte der Mann. Wilfried.

Jens.

Iwo. Ich bin aus Garmisch. Wahnsinn, die vergeben eine Chance nach der anderen.

Was tust du in der Stadt? erkundigte ich mich.

Geschäfte, grinste Wilfried. Was sonst?

In der Zigarettenbranche?

Nein, sagte Wilfried. Kein Krieg ohne Zigaretten, was?

Ich habe nie geraucht, sagte Iwo. Auch nicht im ärgsten –

Ach, Iwo, nein, du hast nie geraucht, auch nicht im ärgsten Stau. Wir sind von einem Reiseunternehmen, mein Kollege und ich. Wir veranstalten geführte Reisen hier im Westen des Landes für Leute, die ihre Vorfahren suchen.

Moment, sagte Iwo.

Jewish Heritage, in die Richtung? fragte Wilfried.

So ähnlich. Keine Organisation, privat. Schlimmer Job, einerseits. Andrerseits sind die Leute froh, wenn sie Klarheit bekommen.

Klarheit worüber, sagte Iwo ziemlich laut.

Mein Kollege ist der Fahrer, erklärte ich. Ein perfekter Fahrer. Den kann nichts aus der Ruhe bringen.

Das ist Goldes wert. Ich war einmal mit einem unterwegs, der ständig E-Mails checkte. Sein Handy hatte er auf dem Lenkrad liegen, ich glaube, er hatte sich sogar eine Halteschale dafür gebastelt.

Da! Poldi, auf Ramsey und Tor! Drei zu Null! Habt ihr die Vorbereitung von Poldi gesehen? – Iwo zog mich am Hals zu sich und drückte mich, schüttelte an meinen Schultern.

Wilfried verschwand, ohne seine Jacke mitzunehmen. Ich fasste Iwo scharf am Arm.

Iwo, du Vollidiot, schrei nicht herum hier, dass wir im Osten gekämpft haben. Und wie vertrauensselig du bist. Man kann doch nicht jedem X-Beliebigen auf die Nase binden, dass wir Freiwillige waren!

Wieso sollen die das nicht wissen hier? Die verehren uns ja.

Dieser Wilfried mit seinen Geschäften, wie er gegrinst hat dabei. Er könnte vom Geheimdienst sein.

Ein Deutscher beim Geheimdienst? Du meinst, bei irgendeiner anderen Seite? Das wird ja immer abenteuerlicher. Kann es sein, dass du eine Spur paranoid bist? Überhaupt deine Geschichte, dass wir für – wie heißt das, gibt es die wirklich?

Nicht für, sondern wie Jewish Heritage. Die gibt es, verflucht.

Das glaube ich dir, aber uns gibt es nicht! Wir sind kein Reiseunternehmen.

Mir ist in der Eile nichts anderes eingefallen.

Gut, von mir aus. Ich möchte nur gefragt werden. In der Pause zeige ich dir etwas Interessantes. Wenn wir ungestört sind. Deine Heimlichtuerei kann einem den Abend vermiesen. Ich habe wegen Kniepolstern geschaut, wollte ich mir schon lange gönnen. – Iwo zog ein paar kopierte Blätter aus seiner Tasche. – Was sagst du zu denen? Da spürst du keine Steine mehr.