In der Einsamkeit nahe dem Meer - Zoran Ferić - E-Book

In der Einsamkeit nahe dem Meer E-Book

Zoran Feric

4,5

Beschreibung

Obsession, Freud, Jukebox, Tito, Muschis ... ein wilder Roman über die Liebe. Schön ist es, auf dem trockenen Seegras zu liegen, In der Einsamkeit nahe dem Meer. Die Geschichten handeln von der "Welt der Möwen". "Möwen" sind die dalmatinischen Jungs, die sich in den 1970ern und 1980ern als Frauenverführer versuchen. Hier die Jünglinge, die in der Kürze des heißen Sommers viele Eroberungen verzeichnen wollen, dort die liberalen, sonnenhungrigen Touristinnen aus Deutschland, Dänemark oder Holland, die auf der exotisch-kommunistischen Insel Rab nach Abenteuern gieren. Doch stets sind die flüchtigen, von sexuellem Verlangen aufgeheizten Begegnungen getränkt von schwerer Melancholie. Offen und bizarr erzählt der Roman von der Verletzlichkeit der menschlichen Seele.

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OBSESSION, FREUD, JUKEBOX, TITO, MUSCHIS … EIN WILDER ROMAN ÜBER DIE LIEBE.

Schön ist es, auf dem trockenen Seegras zu liegen, in der Einsamkeit nahe dem Meer. Der Roman handelt von der „Welt der Möwen“. „Möwen“ sind die dalmatinischen Jungs, die sich in den 1970ern und 1980ern als Frauenverführer versuchen.

Hier die Jünglinge, die in der Kürze des heißen Sommers viele Eroberungen verzeichnen wollen, dort die liberalen, sonnenhungrigen Touristinnen aus Deutschland, Dänemark oder Holland, die auf der exotisch-kommunistischen Insel Rab nach Abenteuern gieren. Doch stets sind die flüchtigen, von sexuellem Verlangen aufgeheizten Begegnungen getränkt von schwerer Melancholie.

Offen und bizarr erzählt der Roman von der Verletzlichkeit der menschlichen Seele.

„Der beste lebende kroatische Schriftsteller.“

Deutschlandradio

„Zoran Ferić gilt nicht nur als einer der wichtigsten Vertreter der modernen Literatur, sondern auch als ihre dark celebrity.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Foto © Anto Magzan - Pixsell

DER AUTOR

Zoran Ferić, geboren 1961 in Zagreb. Studium an der Philosophischen Fakultät von Zagreb. Gymnasiallehrer für Kroatisch.

Zahlreiche Publikationen, seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt. Mit zahlreichen literarischen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Preis der Zeitung „Jutarnji List“, dem Vladimir-Nazor-Preis und dem Preis der Stadt Zagreb.

Bei Folio sind erschienen u. a.: Der Tod des Mädchens mit den Schwefelhölzchen (2003), Die Kinder von Patras (2006), Das Alter kam am 23. Mai gegen 11 Uhr (2012).

ZORAN

FERIĆ

IN DER EINSAMKEITNAHE DEM MEER

ROMAN

Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof

TransferBibliothek CXXXIII

Die Originalausgabe des vorliegenden Buches ist 2016 unter dem Titel Na osami blizu mora erschienen.

© der Originalausgabe 2016 by Zoran Ferić.

Mit freundlicher Unterstützung des Ministeriums für Kultur der Republik Kroatien

Lektorat: Joe Rabl

© Folio Verlag Wien • Bozen 2017

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag und grafische Gestaltung: Dall’O & Freunde

Druckvorstufe: Typoplus, FrangartPrinted in Europe

eISBN 978-3-85256-719-8

www.folioverlag.com

E-Book: ISBN 978-3-99037-069-8

In der Einsamkeit nahe dem Meer

1.

Die Insel ist zuerst eine Aufschrift auf einer gelben Tafel mit einer aufgemalten Fähre und dem Schriftzug „Car Ferry“, dann eine graue Silhouette auf dem Blau des Meeres und etwas später ein Bekannter, der auf der Fähre arbeitet und einen kurzen Gruß nickt. Jablanac, der Fährhafen, ist ihr freundliches Vestibül, und dann sieht man vom Oberdeck, wie das riesige Felsmassiv näher kommt. Darauf hat man das ganze Jahr gewartet, auf den Augenblick, wenn man von Bord geht und den Geruch von Rosmarin, Treibstoff und Schafsdreck spürt, die spitzen Klippen sieht, die über die Meerenge von Senj blicken, den rauen Kalkstein, der in deutlichem Widerspruch steht zu den Aufschriften: „Benvenuti! Welcome! Willkommen!“

Zu Hause, auf der Terrasse im Schatten des Oleanders, kann man nicht essen. Es wird nur die Badehose angezogen, und so barfüßig, ohne Handtuch und Sonnencreme, geht es an den Strand.

– Was, willst du gar nichts essen? – fragt Oma.

Sie ist sich bewusst, dass draußen eine erregende Welt wartet, aber über die Details weiß sie nichts. Die Freunde und der Cousin sind mit dem Boot hinausgefahren. Und plötzlich tritt man aus dem Schatten des von Oleandern und Akazien überwölbten Weges in die grelle Mittagssonne. Das Licht schreit, wie auch die Kinder im Wasser, wie auch all die weißen Gegenstände, die strahlen, als enthielten sie starke Glühbirnen. Man empfindet die Freiheit eines, der soeben an einen fremden Ort gekommen ist und alles kann. Der Lungomare zum Campingplatz hin ist voller Menschen: schmutzstarrende nackte Kinder, die Eis lecken, junge Familien, die Kinderwagen schieben, Gruppen von Teenagern, die nach der nächtlichen Party gerade erst aufgewacht sind. Aber keiner, den man grüßen müsste. Man empfindet eine Freiheit, die ein kleines bisschen auch ein Tod ist. Plötzlich kann man überallhin, keine Verpflichtungen, keine Freunde hindern einen, dieser Nachmittag, bis sie zurückkehren, ist komplett geschenkt.

Auf der Mole, nahe der Kanalisation, sonnt sich eine mittelalterliche Frau, zwischen vierzig und fünfzig, soweit man schätzen kann, wenn man selber dreimal weniger zählt. Als er Richtung Campingplatz geht, wechseln sie nur Blicke. Aber als er zurückkehrt, liegt sie auf dem Bauch, den BH aufgeknüpft, die weißen Brüste quellen in dieser Position zerfließend aus den Schalen des Oberteils. Er setzt sich auf die Bank an der Promenade, genau oberhalb der Frau. Der Zweig einer alten Kiefer spendet angenehmen Schatten. Er denkt an nichts, er fühlt die Freiheit, nach links oder rechts wegzugehen. Eine Melodie zu summen, ein paar Tanzschritte zu machen, die Leichtigkeit zu spüren, die einen durch die Dinge hindurchsehen lässt, Atome und Elektronen sichtbar macht, alles. Aber man kann natürlich auch ins Meer. Man muss nur vorbei an der Frau auf dem Handtuch.

2.

Und plötzlich geht er hinunter, verlässt die Promenade an der betonierten Strandfläche, geht an ihr vorüber, und sie, von einem großen Strohhut geschützt, hebt den Blick vom Buch. Als er aus dem Wasser zurückkommt, steht sie. Ihr Büstenhalter ist geschlossen, die Figur schön, die Linie wie bei einer jüngeren Frau, die Haltung aufrecht. Aber sie kann nicht verbergen, dass sie in den Hüften etwas breiter ist, sie kann auch die Cellulitis nicht verbergen, die groben Füße mit den hervorstehenden Zehenknochen. In der Hand hält sie eine Sonnencreme und sagt etwas. Er hält es für Slowenisch, es ist aber Slowakisch. Er begreift, dass sie ihn eincremen möchte, damit er sich keinen Sonnenbrand holt.

– Okay! – sagt er, und sie beginnt, so im Stehen, ihm den Rücken einzucremen. Sie drückt ihm Creme auf die Hände, damit er sich die Brust einreibt. Sie wiederholt ein Wort:

– Verbrennen! Verbrennen!

Aber wie sie ihn eincremt, bemerkt er, dass die Freiheit von vor ein paar Minuten langsam weniger wird. Die fremde Stadt verwandelt sich wieder in die Heimat zurück, in den Ort, wo er jeden kennt und wo ihn jetzt jeder treffen und sehen kann, wie ihn auf dem Strand eine unbekannte alte Frau eincremt. Dann gibt sie ihm die Creme, damit er sie eincremt. Sie können sich gut miteinander verständigen, er auf Kroatisch, sie auf Slowakisch. Sie fragt ihn, ob er zur Schule geht oder ob er arbeitet.

– Ich gehe aufs Gymnasium – sagt er.

– Bist du ein guter Schüler?

Er denkt ein wenig nach und antwortet dann wahrheitsgetreu:

– Nein – während er langsam die Creme auf ihrem Rücken verreibt. Ihn wundert, wie weich sie unter seinen Händen ist. Ihr Rücken ist noch relativ fest, muskulös und knochig, aber als er tiefer kommt, oberhalb vom Hintern und in den Lendenbereich, wird sie immer weicher. Er hat bisher Mädchen in seinem Alter oder etwas älter eingecremt, aber eine so alte Frau ist unter den Händen völlig anders. Er kniet sich neben sie und cremt sie bis zum Rand des Höschens ein. Sie zieht das Höschen sogar etwas hinunter und der weiße Rand der Haut zeigt sich.

– Hier auch – sagt sie.

Und er cremt sie auch dort ein.

Sie fährt wie zufällig mit dem Ellbogen über den vorderen Teil seiner Badehose. Und dann fragt sie, ob abends in der Stadt was los ist.

– Kann man tanzen?

Er sagt, dass man auf jeder Hotelterrasse tanzen könne, dass es mehrere gebe und alles bis Mitternacht gehe und man nach Mitternacht im Disco-Club im International tanzen könne. Dann fragt sie, ob er sie am Abend zum Tanzen ausführen möchte, denn sie sei allein hier, in einem Privatquartier, und sie kenne die Stadt nicht. Ihm würde im Traum nicht einfallen, mit der Alten zum Tanzen zu gehen, trotzdem sagt er:

– Okay.

In diesem Augenblick würde er alles versprechen. Wie wild will er sie haben, er muss sich auf den Bauch neben sie legen, damit man diesen Wunsch nicht sieht. Aber zum Tanzen würde er nie mit ihr gehen.

– Hast du eine Freundin? – fragt sie wieder.

Er sagt, nein, er habe keine.

– Ein so schöner Junge?

Er weiß, dass sie lügt. Und es ist ihm unangenehm, dass sie sich so herabwürdigt.

3.

Sie unterhalten sich miteinander, während er auf dem Bauch liegt und sie auf ihrem Handtuch sitzt. Die Leute am Strand ringsum sehen, wie sie sich unterhalten, vielleicht denken sie, er sei ihr Sohn. Plötzlich hebt sie das Haar an, das ihm bis auf die Schulter fällt, und cremt ihn am Hals ein. Das ist die Geste einer Mutter. Er sieht die Kinder, die Wasser schöpfen und kleine Becken zum Aufblasen füllen. Dieses Spiel ist etwas, woran er sich im Winter erinnern wird. Er lässt den Blick wandern, es ist kein Bekannter in der Nähe. Und doch wird die Freiheit immer weniger. Dann bemerkt er neben ihrer Tasche ein zusammengelegtes schwarzes Kleid. Warum ein schwarzes Kleid? Trägt sie Trauer? Oder will sie nur schlanker aussehen? Aber das quält ihn nicht lange. Er schlägt vor, zu der kleinen Insel hinüberzuschwimmen, die dem Strand gegenüberliegt, in einer Entfernung von gut dreihundert Metern. Sie sieht erst zur Insel hinüber, dann zu ihm, misst die Entfernung, schätzt sie, dann sagt sie:

– Gehen wir!

Das ist keine Zustimmung, das ist kein einfaches „ja“, das ist eine Aufforderung. Eine Art Sieg. Sie steht auf, packt das Buch und die Sonnencreme in die Tasche und bedeckt sie mit dem schwarzen Kleid. Sie sieht sich argwöhnisch auf dem fremden Stück Erde um, das Gefahr birgt.

– Keine Sorge – sagt er – das nimmt keiner weg.

Sie glaubt ihm. Aber er ist sich nicht sicher, er ist sich nicht sicher, dass es keiner wegnimmt.

4.

Sie nimmt den Hut ab, nimmt den Schwimmreifen, von dem er bis dahin geglaubt hat, dass er den Kindern neben ihnen gehört, zieht ihn sich über die Brust und setzt den Hut wieder auf, damit ihr Gesicht nicht verbrennt. Der Schwimmreifen ist oben rosa und unten weiß, einer dieser einfachen billigen Reifen, wie er sie aus der Zeit kennt, als er noch klein war. Jetzt steht sie neben ihm, eine Alte mit Hut und Schwimmreifen. Und wartet. Dieses grobe Detail, der rosa Kinderschwimmreifen, hat alles verdorben. Ihm kommt der Gedanke, umzudrehen und wegzugehen, das geht ihm durch den Kopf, die Zeit vergeht, und sie wartet, so ausgerüstet.

– Gehst du, gehst du nicht? – sagt sie, und jeden Moment kann ein Bekannter auftauchen.

Es braucht seine Zeit, bis der Trieb die Scham besiegt.

Er denkt an die Slowakei, ein Land ohne Meer, an die Stadt Modrý Kameň, wo sie lebt, er kann sich vorstellen, wie sie in das Warenhaus mit den halb leeren Regalen geht und in der Kinderabteilung den Schwimmreifen aussucht und die Verkäuferinnen denken, dass sie ihn für ein Kind kauft. Und es tut ihm leid, aber er will sie so sehr. Das, was er bis dahin am Rande des Ekels getan hat, ist für sie ein Erlebnis: das warme Meer, die kleinen Wellen, das Klicken der Boote, dieser leichte Geruch der Kanalisation. Sie gehen ins Wasser, er fasst sie um die Mitte und zieht sie langsam zu der kleinen Insel.

5.

Man kann sehen, dass sie bis vor ein paar Jahren schön war. Das war sie vielleicht auch noch bis vor sechs Monaten. Eines Abends ist sie dort in ihrem Modrý Kameň als schöne Frau eingeschlafen und als altes Weib aufgewacht. Das denkt er, während er sie dort zu der kleinen Insel zieht, wo er endlich das spüren wird, wovon die anderen Jungen so viel erzählt haben. Er zieht sie, hält sie um die Mitte, und neben ihnen fährt ein Boot vorbei und macht Wellen. Es scheint, als hielte er sie nicht mehr, als würde statt ihrer zwischen den Fingern nur die Meeresströmung schwingen, die Bewegung der Wassermassen, und kein menschliches Wesen. So weich ist sie.

Aber dann werden die fremde Stadt und das fremde Meer wieder zur Heimat. Unmittelbar neben ihnen hält die hölzerne Pasara, in der seine Freunde sitzen: Škembo, Gavran, Dudo, Kenjo und sein Cousin Boris. Sein Cousin erkennt ihn als Erster, er sitzt am Ruder und starrt ihn an, als könne er es nicht glauben. Er sieht einen Halbwüchsigen von sechzehn Jahren, den er sein ganzes Leben gekannt hat, wie er eine dicke Alte von fünfzig mit einem hässlichen Hut und einem Schwimmreifen um die Brust durchs Meer schleppt. Und in seinem Gesicht ist zu sehen, wie unangenehm es ihm seinetwegen ist.

– Luka, lass die Alte und steig ins Boot – sagt er.

Er kommt überhaupt nicht auf den Gedanken, dass die Frau die Sprache vielleicht versteht.

Er lässt sie für einen Augenblick los, nähert sich dem Boot und sagt mit leiser Stimme:

– Ich geh sie lecken! – Dann schwimmt er zurück und fasst sie wieder um die Mitte.

Für einen Augenblick herrscht Stille, man hört nur das Gurgeln des Meeres und die Rufe aus der Ferne. Aber dann explodiert das Lachen. Ein hässliches, böses Jungenlachen. Und hier verliert er seine Unschuld, nicht mit ihr. Etwas ist zerbrochen, etwas ist zerschlagen, und es fehlt nur, dass sich das Meer ringsum von Blut rot färbt. Und er denkt, dass das Lachen von der Schande befreit. Es tut ihm leid, dass er sie auslacht, aber so sind die Regeln. Ganz bei sich sagt er zu ihr: „Entschuldigen Sie!“ und fährt fort zu lachen.

6.

Es ist ein ganz seltsames Gefühl, dass seine Freunde sie gesehen haben, dass er sie auch gesehen, sie aber nicht unter den Händen gefühlt hat. So weich ist sie. Sie ist weich wie Salzwasser, wie ein Sumpf, wie etwas, von dem man nicht sagen kann, dass es weich ist, weil es mehr fließend als weich ist, denn die Finger gehen hindurch, wie sie durch eine Illusion hindurchgehen. Wenn er heute darüber nachdenkt, ist er diesen Jungen dankbar, dass sie es gesehen haben, denn sonst wäre sie wie ein Traum geblieben, der nicht total hässlich ist, aber bestimmt auch nicht schön, und in den man nur deshalb zeitweilig zurückkehren möchte, weil man weiß, dass es ein Traum ist. Die Augen haben die Wirklichkeit dieser alten Slowakin mit der Cellulitis und den ein wenig hängenden Brüsten gesehen, aber die Finger haben sie nicht gespürt. Aber wie kann man Wasser ficken, wie kann man eine Fata Morgana ficken?

Sie fragt: – Sind das Freunde?

Und er sagt: – Ja.

– Hübsche Jungen – sagt sie.

Sie schwimmen weiter, und das Boot entfernt sich. Er sieht, wie sie lachen und sich zu der Slowakin umdrehen, die er durchs Wasser zieht, so wie dieser alte Mann seinen Fang durch das Meer gezogen hat, den riesigen Schwertfisch.

Sie erlaubt ihm, ihre Brüste zu berühren, zuerst durch den Bikini, aber dann schiebt er das Oberteil hinauf, das jetzt von ihrem Hals herabhängt. Auch ihre Brüste sind weich, als würde man Kinderballons mit Wasser füllen und mit der Hand drücken. Von dem Moment, wo sie für ihn noch immer unerreichbar war, bis jetzt, wo er sie berührt, sind keine dreißig Minuten vergangen.

7.

Mit jedem durchschwommenen Meter wird die Unschuld weniger. Als sie an den Strand der kleinen Insel kommen, sieht er sich zuerst um, ob jemand von den Nachbarn da ist, und erlaubt ihr erst jetzt aufzustehen. Er führt sie durch das kleine Wäldchen zum Südteil der Insel, wo steile Klippen ins Meer abfallen und wo es meistens nicht viele Badende gibt. Hin und wieder berührt er, wie zufällig, ihren Hintern und denkt, dass es merkwürdig ist, dass er sie am Hintern berührt, wo sie sich noch nicht einmal geküsst haben.

Von der betonierten Terrasse am Fuß des Leuchtturms zeigt er ihr das Panorama der Stadt. Der Anblick ist schön: ein glühend heißer Sommertag, Wolken wie weiße Watte sind über dem Velebit zu sehen, die Glockentürme ragen in den Himmel, die Masten der Jachten schwanken im Hafen. Dieses Bild unterscheidet sich mit Sicherheit von allem, was sie bisher gesehen hat. Sie steht dort und schaut, und er hat ihr das Bikinihöschen in die Arschritze gezogen, wie einen Tanga, obwohl es jetzt noch gar keinen Tanga gibt, und sieht auf ihre weichen Arschbacken. Das tut er, während sie stehen und sie noch immer zur Stadt hinübersieht. Ab und zu streicht sie wie abwesend mit der Hand über seine Hose.

Sie lässt nicht locker. Sie möchte sich für ein abendliches Ausgehen verabreden. Wenn sie alles zulässt, was er will, dann, das weiß sie, hat sie nichts mehr, mit dem sie feilschen kann. Zwei Stunden lang versucht er, sie herumzukriegen, berührt sie am Körper, aber das Höschen will sie einfach nicht ausziehen. Er saugt zuerst an der einen, dann an der anderen Brust, legt ihre Hand auf sein Glied. In diesem Moment kommt ihm der Gedanke, dass es ihr Sohn ist, der gestorben ist. Für einen toten Sohn ist das ein ziemlich harter Schwanz. Und kaum denkt er das, nimmt alles um sie herum plötzlich eine Schärfe an: die Seeigel im Wasser und die grünen Kiefernnadeln über ihnen und die braunen Nadeln unter ihren Füßen und das stachelige Unkraut und die Steine. Selbst ihre langen lackierten Nägel.

Er stellt sich vor, dass er sie vom Jenseits ins Diesseits hinein fickt, dass er eine Grenze überspringt, die niemand bisher übersprungen hat, dass dieses Grauen, das sich gerade ereignet, etwas Erhabenes an sich hat, ja, das denkt er. Diese Geschichte von dem toten Sohn erregt ihn noch mehr, und dann, als er immer zudringlicher wird, hockt sie sich nieder und nimmt sein steifes Glied, leckt es ein wenig und steckt es sich unter ihre feuchte Achsel. Er fickt sie unter die Achsel, ohne dass sie sich überhaupt ansehen. Zuerst links, dann rechts, links, rechts, links, rechts … Dem Schreien der Möwen, dem Klicken der Boote, den fernen Rufen von der Mole fügen sie noch einen leisen, aber interessanten Klang hinzu: ein Platschen, wie wenn ein Kind mit der Hand in eine Matschpfütze schlägt.

Als es vorbei ist und sie aufsteht, stellt er sich vor, wie sie gramgebeugt über dem Sarg steht und ein Mitschüler ihres Sohnes, sein Beileid aussprechend, in ihr Dekolleté speichelt. Später bringt er sie zum kleinen Strand, sie legt den Schwimmreifen an, und er zeigt ihr die Richtung zum Ufer und sagt, sie solle nur mit den Armen rudern, dann werde sie schon sicher ankommen. Er sieht, wie sich der rosafarbene Schwimmreifen mit dem rosafarbenen Hut immer weiter entfernt. Immer weiter. Und weiter. Und er bleibt auf der kleinen Insel, er kann einfach nicht mehr zurück unter die Lebenden.

BMW, goldmetallic

1.

Der Sommer beginnt, wenn auf dem Dach des besten Hotels die grüne Neonschrift aufleuchtet: IMPERIAL. Dann erwacht die Stadt aus dem Todesschlaf der Vorsaison: durch ein Licht, das nicht von der Sonne stammt, sondern von einer Reklame. Und jeder Sommer hat seine Seele, seinen Kern, um den sich alle anderen Sensationen, Bilder, Empfindungen, Atmosphären herumlegen: ein windiger Tag, der sich nur aufs Erinnern reduziert; zwei Arme in den Ärmeln verschiedener Jacken aus Kalbsfell, eine Bora, die das Haar besser glattstreicht als das Gel mit dem Kampfergeruch, das sie in diesem Sommer verwendeten. Oder eine Runde picigin, Ende Juli, wenn das Meer vor Wärme krank ist und der Himmel finster, als herrschte Sonnenfinsternis. Jeden Sommer gibt es etwas, an das man sich zumindest eine Zeit lang erinnert. Die Seele des Sommers 1977 war Constanze Brunner aus Braubach. Sie war die Erste, bei der er seine Unschuld verlor, indem er ihn ihr tatsächlich in die Möse schob und nicht in den Mund oder unter die Achsel. Das war geschehen, weil sie einen Moment lang Angst vor diesem Land bekommen hatte.

Und dieses Land war im Juli 1977 noch schön (noch gab es diese schrecklichen Bauten nicht, dreistöckige mit Balustraden oder Betonwürfel, aus deren oberer Decke die Armierung, vielleicht noch ein wenig misstrauisch, für weitere Stockwerke herausragt). Freilich nicht so misstrauisch wie andere sozialistische Länder, wie die DDR zum Beispiel, aber dieses Misstrauen konnte man spüren, es war wie ein Wasserzeichen. Man musste nur etwas besser hinsehen, dann war es sichtbar. Im Ostblock gab es die Stasi und den KGB, hier gab es Čevapčići, Rotwein, hin und wieder einen Schnüffler und eine billige Privatunterkunft.

Aber sie war im Campingplatz abgestiegen.

Er saß mit Boris auf der Bank unter dem Feigenbaum, sie hatten das Boot gerade in der Druga Padova am Steg vertäut und schickten sich jetzt an, die Ruder und den Motor, einen ganc novi Tomos 4, nach Hause auf die andere Seite der Bucht zu tragen. In diesem Augenblick kamen die beiden daher. Die eine größer, blond, langhaarig, die andere kleiner, mit kurzer dunklerer Ponyfrisur. Sie blieben in der Kurve stehen, die der Lungomare vom Campingplatz her in einem Winkel von neunzig Grad beschreibt und wo sich das Panorama der Stadt mit den vier Glockentürmen, ihre nördlichen Wehrmauern, das ziselierte Gebäude des Hotels Beograd und die Uferstraße Vela riva auftut. Das ist sicher einer der schönsten Blicke auf die Stadt. Vor allem am Abend, wenn der Himmel über den Glockentürmen noch lange, nachdem die Sonne hinter dem Park und dem leuchtenden grünen Schriftzug verschwunden ist, rot gefärbt ist.

Sie sahen seine Stadt, und er versuchte sich ihre vorzustellen. Wenn er ein Mädchen sah, versuchte er sich immer vorzustellen, wie ihre Stadt aussieht, ihre besonderen Viertel, ungewöhnliche Ansichten, Details, die eine Atmosphäre schaffen: die Spitzdächer der mittelalterlichen Häuser und das in ihren Fassaden sichtbare Fachwerk, die Innungswappen über den Türstöcken, die kunstvoll geschnitzten Fensterrahmen. Etwas von diesen Bildern war auch in den deutschen Zeitschriften zu sehen gewesen, die von den Touristen zurückgelassen werden. Reportagen über bayerische Städtchen in Wochenend oder Details von Häusern an der Ostsee im Spiegel. Dann gingen sie an ihnen vorüber, und die Kleinere, die mit dem kürzeren Haar, lächelte ihnen zu. Etwas von der Schönheit der Stadt war offensichtlich an diesem Abend auch auf die beiden übergegangen.

– Luka, komm, ihnen nach – sagte Boris.

– Und was machen wir hiermit? – Er deutete auf den Motor und die Ruder.

– Lass sie, die nimmt keiner weg.

Aber er war sich nicht sicher, er war sich nicht sicher, dass sie keiner wegnehmen würde.

2.

Sie sind noch weiß – sagte Boris – sie sind gerade erst angekommen.

– Wahrscheinlich hat sie noch keiner angemacht.

Anmachen heißt eine Blume überreichen, etwas sagen, die Aufmerksamkeit auf sich lenken und dann weitergehen. Nicht bleiben, nicht langweilen oder sich gewaltsam aufdrängen. Anmachen und es wieder sein lassen. Die nächste Begegnung hat dann schon die Aura eines glücklichen Zufalls. Manchmal werden diese ersten Blumen in Tagebüchern gepresst. Mädchen und Jungen sind füreinander Trophäen. Die einen hüten die gepressten Blumen, die anderen sich kräuselnde Härchen. Und erst nach zwei, drei zufälligen Begegnungen in der Stadt nehmen die Dinge ernstere Konturen an, und manchmal verwandeln sie sich auch in die Seele des Sommers.

Nur weiß man nie im Voraus, wer für wen die Seele des Sommers sein wird. Boris näherte sich der Blonden von hinten und machte mit dem Mund ein Geräusch, als würde er den Motor eines Autos aufdrehen, und hielt in den Händen ein unsichtbares Lenkrad, das er hin und her drehte. Von Zeit zu Zeit wechselte er mit der Rechten die Gänge. Die Blonde zuckte zuerst zusammen, als sie ihn unmittelbar neben sich sah, aber auch das Motorengeräusch hatte sie wahrscheinlich erschreckt. Sie sah ihn verwundert an, und er sagte:

– Girls, do you like to drive with us?

Die Dunkelhaarige lachte laut, und dann fingen beide an zu kichern.

Das war eine Methode des Anmachens. Die andere war die Serenade. Man kniete sich vor die Mädchen hin, mit Blumen in den Händen, und begann laut eine italienische Canzone zu singen. Am häufigsten: Signora bella ciao … oder O sole mio … Man sang ein paar Takte, überreichte die Blumen und ging weiter. Bevor sie kamen, hatte Boris gefragt:

– Machen wir das Auto oder die Serenade?

Und Luka hatte gesagt:

– Auto.

Als hätte er es gewusst.

– Meine Mutter hat mir verboten, mit Unbekannten mitzufahren – sagte die Dunkelhaarige und reichte ihm die Hand. – Ich bin Constanze.

Die Blonde hieß Vera und arbeitete als Krankenschwester in Braubach.

– Was für eine Marke fährst du denn? – fragte sie.

– Einen Sunbeam – sagte Boris.

Und wie heißt du? – fragte Constanze.

– Luka!

– Er hat den Namen nach unserem Großvater – sagte Boris.

Sie begleiteten sie bis zur Stadt und verabredeten, sich auf der Terrasse des Hotels Imperial zu treffen, wenn sie mit dem Abendessen fertig wären.

– Wollen wir mit ihnen ausgehen? – fragte Luka, als sie zurückgingen.

– Aber klar doch. Wenn sich nicht was Bess’res findet.

3.

Schon aus ziemlicher Entfernung sahen sie, dass es auf der Bank unter dem Feigenbaum weder Motor noch Ruder gab. Sie rannten hin und blieben im Schatten unter den dicken fleischigen Blättern atemlos stehen. Sie sahen nach links und rechts; wenn Boris nach links sah, sah Luka nach rechts und umgekehrt. Aber sie sahen niemanden, der gerade dabei war, einen ziemlich schweren Tomos 4 und zwei massive Ruder von eins neunzig Länge wegzuschleppen. So einen gab es weder unten an den Holzstegen noch auf dem Weg zum Campingplatz. Sie suchten auch in den Büschen hinter der Bank in der Hoffnung, dass jemand die Sachen versteckt hatte, um ihnen einen Streich zu spielen. Gavran? Oder Škembo? Die machten sich sonst jeden Abend über sie lustig, wenn sie von einer Ausfahrt mit dem Boot zurückkehrten, den Motor abschraubten und ihn zusammen mit den Rudern nach Hause in die Garage trugen.

– Du weißt nicht, wie hier die Motoren geklaut werden – sagte Boris immer.

– Einen Scheiß werden sie geklaut – gab dann Škembo zurück. – Du siehst doch, dass alle sie auf den Booten lassen.

Boris hatte das Boot von seinem Ersparten gekauft, ein Elan 403, und den Motor hatte Anfang des Sommers Lukas Vater auf Kredit zu zwölf Monatsraten gekauft. Sie hatten immer sehr auf ihn aufgepasst.

Sie setzten sich ganz still auf die Bank. Luka machte Boris insgeheim Vorwürfe, aber er brauchte nichts zu sagen, sie kannten sich von Geburt an, und er wusste, dass sein Cousin sich mehr Vorwürfe machte als er. Er musste daran denken, wie sie jetzt dem Onkel unter die Augen treten und sagen müssten, dass sie den Motor und die Ruder verloren hätten. Und deshalb blieben sie sitzen, damit ihnen eine Idee käme, aber es kam keine. Neben ihnen gingen die Leute anfangs noch in Badeanzügen vorüber, das Handtuch über der Schulter oder die aufgeblasene Luftmatratze unterm Arm, und später, als sich die Sonne anschickte unterzugehen, hatten die Vorübergehenden bereits Hose und T-Shirt an, einen Pulli über der Schulter. Sie kamen leichten Schritts vom Campingplatz in die Stadt auf einen Spaziergang oder zum Abendessen. Und die beiden saßen noch immer schweigend auf der Bank.

– Nichts. Gehen wir – sagte Boris. – Ich bin schuld.

Als sie vorm Haus standen, waren ihre Augen feucht, sie blickten nicht hinaus, sondern nach innen, auf das eigene Verbrechen. In so einem Fall ist jede Strafe eine milde Gabe.

Der Onkel empfing sie fröhlich, und sie standen schweigend vor ihm. Ziemlich lange. Er fragte nicht, wo der Motor und die Ruder waren, sondern sagte:

– Wie geht’s, Burschen?

Und sah die so Zerknirschten an. Boris konnte seinem Vater nicht in die Augen sehen. Und das würde er auch bei Lukas Vater nicht können, denn der würde das ganze Jahr lang den Motor abbezahlen müssen, der nicht mehr da war.

Indessen ging der Onkel ins Wohnzimmer und kam mit einer Flasche Schnaps und drei Gläsern zurück. Er stellte die Gläser auf den Terrassentisch und schenkte ein. Er reichte jedem sein Glas.

– Burschen, jetzt habt ihr etwas gelernt. Zum Wohl! – sagte er und leerte es.

Sie sahen ihn verwundert an, und dann tranken auch sie.

– Gut – sagte der Onkel, als sie ausgetrunken hatten – habt ihr jetzt mehr Mut?

– Papa … – machte Boris Anstalten, etwas zu sagen, aber dann stürzten die Tränen hervor. Er war neunzehn Jahre alt, und die Zeit des Weinens war eigentlich vorüber, aber er weinte. Vor Wut und Ohnmacht.

Dem Onkel war es unangenehm, er stellte die Gläser auf den Tisch und sagte:

– Kommt mit, Burschen, mir nach!

Er führte sie in die Garage. Dort auf dem Boden stand der Motor, und die Ruder waren an die Wand gelehnt, neben der Rah mit dem eingerollten Hauptsegel und dem Sack mit dem Focksegel.

– Und jetzt schreibt euch das hinter die Ohren und lasst sie nie mehr unbeaufsichtigt!

Luka sagte sich, ein wie viel besserer Mensch der Onkel doch war als sein Vater. Wäre sein Vater jetzt hier, würde er fluchen und drohen und schimpfen, und die Mutter war nicht mehr da, um seine Wutausbrüche zu mildern.

Die Tante kam aus der Küche.

– Man sollte ihnen die Ohren langziehen – sagte sie. – Muss Papa etwa eure Sachen vom Strand nach Hause tragen? Ihr seid keine kleinen Kinder mehr … – und dann: – Lena sagt, dass ihr irgendwelchen Mädchen nachgelaufen seid.

Und Onkel und Tante lachten.

– Ihr werdet noch euren Kopf vergessen! Waren sie wenigstens hübsch?

– Nein – sagte Boris – die eine hatte Stampfer wie eine Gasflasche.

Aber als sie sich am Abend zum Ausgehen fertig machten, hatte er das Gefühl, dass dieses eventuelle Opfer die Mädchen wertvoller gemacht hatte. Sie waren nicht mehr irgendwelche zufälligen deutschen Touristinnen, sondern Mädchen, wegen denen sie fast ihren Tomos 4 eingebüßt hätten. Wäre der Motor wirklich weg gewesen, hätten sie sie nicht mehr sehen wollen, so viel ist sicher. Es war ein unangenehmer Denkzettel, ein Dummheitsbeweis. Aber so hatte das mögliche Opfer des Motors ihren Wert erhöht, und die Tatsache, dass sie bereit gewesen waren, so viel zu opfern, sie attraktiver gemacht.

4.

Als sie auf die Terrasse des Imperial kamen, waren sie schon da. Sie saßen unter dem Dach nahe der Bar, weit weg von der Tanzfläche, als ob die Musik sie nicht interessierte. Vor ihnen in einem Metallkübel mit Eis stand eine Flasche Wein. Sie beide bestellten nie Wein in Flaschen, der war teuer, sondern nur Bier.

– Sollen sie euch Gläser bringen? – fragte Constanze.

– Nein. Wir trinken Bier – sagte er. Wegen der kurzen Haare musste man genau hinsehen, um zu erkennen, wie schön sie war.

Boris benutzte die Geschichte mit dem Motor, um sie zu unterhalten. Er sagte, sie seien ihnen so hübsch vorgekommen, dass sie ihnen nachgegangen seien und den Motor zurückgelassen hätten. Sie seien, sagte er, „bezaubert“ gewesen. Genau so sagte er, „bezaubert“. Er dachte über das Wort nach, lange hatte er es nicht verwendet.

– Ja, wir sind ja auch Hexen – sagte Constanze. – Buuuu!

Vera war nicht so erzählfreudig.

Boris sagte, es sei kein Motor mehr da gewesen, als sie zurückkamen. Er beschrieb, wie sie fast bis zum Campingplatz gelaufen seien und dann zurück zur Stadt, wie sie alles abgesucht und sich dann auf die Bank gesetzt hätten. Sie hätten nicht ohne Motor nach Hause gekonnt und eben gewartet.

– Das hast du dir jetzt ausgedacht – sagte Constanze – als Entschuldigung, dass ihr euch verspätet habt.

– Nein – sagte er. – Das ist tatsächlich so gewesen. Wir haben alles vergessen, als wir euch gesehen haben.

Vera war fünfundzwanzig und Constanze dreiundzwanzig. Sein Cousin sagte, er sei einundzwanzig, und er selbst neunzehn. Sie mussten auf höher schwindeln. Noch passierte es ihnen nicht, dass sie auf weniger schwindeln mussten, aber auch die Zeit würde kommen.

Am Tisch nebenan saß eine größere Gesellschaft Deutscher. Sie waren laut und warfen hin und wieder den Mädchen auf Deutsch etwas zu. Sie sprachen schnell, und sie beide verstanden sie nicht gut. Ohnehin sprachen sie Deutsch schlechter als Englisch, aber sie hatten nicht gesagt, dass sie es verstanden. Es war gar nicht so schlecht zu wissen, was die Mädchen sagten, wenn sie glaubten, dass sie niemand verstand. Die Deutschen stellten mit ihnen eine Art Kommunikation her, sie riefen sich über die Tische etwas zu, dann sprachen sie mit ihnen ein wenig Englisch und warfen jenen wieder etwas auf Deutsch zu. Es waren auch Mädchen und Jungen dabei, aber sie schienen keine Paare zu sein. Zumindest nicht alle. Unter ihnen war auch ein Bursche in einem Rollstuhl. Er trug langes Haar und einen Bart und drehte Zigaretten auf den Knien.

– Haschbrüder – sagte Boris auf Kroatisch.

Vera rief diesem Burschen etwas zu und stand nach einiger Zeit auf, nahm von ihm die gedrehte Zigarette und kehrte an ihren Tisch zurück.

– Ich scheiß mich an, wieso ekelt sie sich nicht vor seinem Sabber – sagte Boris.

Dann bat er Constanze um einen Tanz.

– Ich mag diese Musik nicht – sagte sie und sah ihn dann an. – Aber meinetwegen.

– Was hörst du sonst?

– Deep Purple, Zappa, Led Zeppelin. Und du?

– Cohen, Dylan, Patti Smith.

Sie gingen zur Tanzfläche. Er berührte sie an der Schulter und sie wich nicht zurück. Er war siebzehn, aber er sah älter aus, er rasierte sich schon.

An der Tür, die von der Hotelterrasse zur Bar und zu den Toiletten führt, versammelten sich die Burschen aus der Stadt. Von dort konnten sie am besten sehen, was auf der Tanzfläche passierte, aber auch an den Tischen um sie herum. Dort sah er auch Gavran, wie er sie anstarrte, während sie tanzten. Er grinste ihm zu und hob einen Daumen, als würde er sagen:

– Guuuuut … vielleicht etwas zu alt für dich.

Und wenn sie sich drehten, sodass er Constanze sehen konnte, schickte er ihr Luftküsse. Er sah ihn nicht, aber er wusste, dass er Küsse schickte, denn das war seine Art. Er sah den Paaren beim Tanzen zu, vor allem jenen, die zum ersten Mal miteinander tanzten, und machte den Mädchen schöne Augen. Er spitzte die Lippen wie zum Kuss, küsste seine Fingerspitzen, öffnete die Hand und blies. Der Kuss sollte durch die Luft fliegen, auf ihrem Gesicht landen und dort für Gavran noch lange weiterwirken, lange nachdem das Mädchen sein Blickfeld verlassen hatte. Deshalb zog er Constanze tiefer hinein in das Gedränge, damit Gavrans Widerlichkeiten nicht bis zu ihr gelangten. Sie hatte sofort begriffen. Sie tanzten ein wenig so, dass sie ihren Kopf an seine Brust lehnte, selbst bei schnelleren Sachen, und dann fasste sie ihn an der Hand und sie kehrten an die Stelle zurück, wo sie zuvor getanzt hatten und wo Gavran sie sehen konnte. Sie tanzten so, dass er ihm den Rücken zukehrte und sie das Gesicht. Sie sah Gavrans brünetten Bürstenhaarschnitt, die ein wenig längere Nase, die sehr dunkle Haut und die behaarte Brust, die aus dem aufgeknöpften weißen Hemd herausschaute, seine engen Jeans und die Cowboystiefel. Ihn hatte immer gewundert, dass Gavran so viel Erfolg bei Frauen hatte, aber das war eine Tatsache.

Constanze sah eine Zeit lang zu Gavran hinüber, er sah, dass sie ihn ansah, und dann lächelte sie. Er dachte schon, dass er sie verloren hätte, aber dann drückte sie ihm einen langen Kuss auf den Mund. Das war eine ziemliche Überraschung. Das war vielleicht zu erwarten gewesen, nach einer gewissen Zeit. Aber Constanze hatte ihn jetzt geküsst und fuhr fort, ihn lange zu küssen, dort auf der Tanzfläche, und dann begannen sie sich zu drehen. Ihre Zungen fanden sich im Mund, trennten sich und fanden sich wieder. Sie roch nach Kaugummi und starkem Tabak.

Als sie an den Tisch zurückkehrten, sich an den Händen haltend, sahen sie, dass Boris und Vera überhaupt nicht miteinander sprachen. Er hatte den Arm auf der Lehne ihres Stuhls, und sie saß verkrampft und versuchte seinem Arm auszuweichen.

– Sie wollte nicht tanzen, bevor ihr nicht wieder zurück seid – sagte er auf Kroatisch – damit ihnen keiner den Wein austrinkt. Die blöde Kuh.

Jetzt gingen die beiden tanzen, aber es war zu sehen, dass sie das gegen ihren Willen taten, so als würden sie eine Pflicht erfüllen.

Constanze arbeitete als Friseuse in Braubach. Sie führte einen eigenen Frisiersalon, denn ihre Mutter, die ihn vor dreißig Jahren eröffnet hatte, war in Pension gegangen. Die Mutter lebte jetzt in Spanien, an der Costa Brava. Dieser Name hatte etwas Vornehmes für ihn. Vermutlich deshalb, weil er damals noch nicht wusste, wie die Costa Brava tatsächlich aussieht.

Sein Cousin und Vera kehrten schweigend zurück, obwohl die Musik noch nicht aufgehört hatte.

– Als sie anfingen, Sachen zum Engtanzen zu spielen, wollte sie zurück – zischte Boris.

Ihm ging dieser Widerstand nicht in den Kopf. Sie war nur eine kleine fülligere švabica, eine Deutsche, und er ein galeb, eine „Möwe“, ein Beau, einer der Hübschesten in ihrer Runde. Schwarzes krauses Haar, ein schmales Gesicht, das die Mädchen mochten. Er pflückte sie wie Feigen, manchmal sogar zwei an einem Tag. Es gab Situationen, wo Luka mit einem seiner Mädchen ausgehen musste, um ihr Gesellschaft zu leisten, weil sein Cousin mit einer anderen verabredet war. Dann arbeiteten sie bis in alle Einzelheiten einen Plan aus, wie sie sich in der Stadt zu bewegen hätten, um einander nicht zufällig zu begegnen. Vera warf Constanze etwas auf Deutsch zu, sie sah, dass sie sich an den Händen hielten, und dann wollten beide vor Lachen platzen, aber als Boris ihr seine Hand aufs Knie legte, nahm sie sie höflich fort.

In diesem Augenblick kam einer der Deutschen vom Nachbartisch zu ihnen und sprach kurz mit den Mädchen. Und Vera nickte zustimmend und sagte:

– Natürlich!

Lediglich das hatte er verstanden. Sie sprachen Dialekt. Danach erhob sich die ganze Runde außer dem Burschen im Rollstuhl. Sie grüßten Vera und Constanze und gingen Richtung Park, und der Junge im Rollstuhl kam an ihren Tisch gefahren.

– Sie gehen schwimmen – erklärte Constanze – aber er kann nicht mit, weil es zu viele Stufen gibt. Und deshalb wird er bei uns auf sie warten.

– Sie haben uns den Krüppel untergejubelt – kommentierte Boris. Er machte überhaupt keine Anstalten, die Verachtung in der Stimme zu verbergen.

Ihm gefiel es auch nicht, mit einem Behinderten am Tisch zu sitzen. In der Zwischenzeit hatte der Behinderte Vera die Hand gegeben und gesagt:

– Udo!

Und Vera hatte ihn fröhlich angelacht. Als er aber Constanze die Hand reichte, musste er sich ziemlich weit aus seinem Rollstuhl vorbeugen, und deshalb kam Constanze ebenfalls hoch und beugte sich zu ihm. Er gab auch ihnen die Hand. Er streckte die Hand aus und sagte:

– Udo, nice to meet you!

Als Boris Udo die Hand gab, sagte er seinen Namen und zischte dann auf Kroatisch durch die Zähne:

– Udo bez udova.

– Er hat welche – sagte er und sah unbewusst auf Udos Beine – aber sie funktionieren vermutlich nicht.

Vera war dieser kurze Blick nicht entgangen.

Im Laufe des Abends hatte er den Eindruck, als ob Vera dem Invaliden deshalb Aufmerksamkeit schenkte, um sie zu ärgern. Sie schenkte ihm Wein ein, nahm seine mit Spucke geklebten Zigaretten an und plauderte fröhlich mit ihm auf Deutsch. Constanze musste sie ein paarmal zur Ordnung rufen. Dann wechselte sie für kurze Zeit ins Englische.

Constanze und er gingen noch mehrere Male tanzen und küssten sich jedes Mal auf der Tanzfläche. Sie lehnte ihre kleinen, festen Brüste an seine Brust, und er drängte sein Knie zwischen ihre Beine, und so drehten sie sich. Gavrans Blick flog jetzt über sie hinweg, als existierten sie nicht, als seien sie Luft ohne den geringsten Nebel, durchsichtiger als nichts. Wenn er jemandem nicht das Mädchen wegnehmen konnte, dann brannte es ihn wie ein heftiges Unrecht. Das war seine Tuberkulose.

Luka musste ein Gutteil dieses seltsamen Abends zusehen, wie das Mädchen, auf das der hübscheste galeb scharf war, ihm von dem Burschen im Rollstuhl mit dem langen fettigen Haar abspenstig gemacht wurde. Das war beunruhigend, in einer Welt, die festgefügt zu sein schien, zeigte sich plötzlich ein Riss. Plötzlich stand Vera auf und schob Udo an den Rand der Tanzfläche, wo sie den Tanzenden zusahen. Sie wippte im Takt der Musik und begann neben ihm sogar ein wenig zu tanzen.

– Mir gefällt diese blöde Kuh nicht – kommentierte Boris auf Kroatisch.

– Eine richtige Krankenschwester – stellte er fest.

– Ich verschwinde – sagte Boris, stand aber nicht auf.

Schweigen breitete sich aus. Vielleicht wurde erwartet, dass er auch ging.

– Ich werde bleiben – sagte er. Unter dem Tisch hielt er Constanzes Hand.

5.

Sie fuhr einen sportlichen BMW 323i, goldmetallic. Der fegte den Staub von der Straße wie ein Müllwagen, so niedrig war er. Mit ihm durfte man nicht über einen Ameisenhaufen fahren, weil er ihn mit dem Auspuff weggesengt hätte. Dieses Auto machte sie wertvoller, mit ihm konnte man wirklich angeben. Sie fuhren über die Insel auf kurvenreichen schmalen Straßen, hinter denen ein idyllischer kleiner Friedhof mit Zypressen und Kapelle auftauchen konnte, aber auch eine wilde Mülldeponie mit alten Waschmaschinen und Kühlschränken. Er zeigte ihr den lang gestreckten Sandstrand vor der Hotelsiedlung San Marino und erzählte ihr die Legende von Marinus, dem von dieser Insel geflüchteten Sklaven, der in Italien den Kleinstaat San Marino gegründet hatte.

Sie fuhren weiter Richtung „Sahara“, dem Sandstrand an der Nordseite der Insel, der auf Goli otok, Sveti Grgur und den Velebit-Kanal hinaussieht. Er erklärte ihr, dass sich auf Goli ein Gefängnis für Männer und auf Grgur eines für Frauen befinde. Und dass manchmal die einen zu den anderen hinüberschwämmen. Er sagte:

– Wären wir beide dort, würde ich zu deiner Insel schwimmen, ich hätte keine Angst vor Unwetter und Haifischen.

– Nein. Jeder würde von seiner Insel ins Meer springen, wir würden uns in der Mitte treffen, uns begrüßen und in unsere Gefängnisse zurückkehren – sagte sie.

Danach suchten sie sich einen Platz in einem kleinen Kiefernhain mit Blick auf die Strafanstalten. Das Wäldchen war ziemlich weit entfernt vom Strand, und es waren keine Menschen da. Sie breitete die Liegematten aus und bedeckte sie mit ihren Handtüchern. Während er ihre Brust küsste, hielt sie die Hand in seinem Nacken, unterm Haaransatz. Und dann holte er die eine und die andere Brust aus dem BH und küsste sie, ein paar Sekunden die eine und dann ein paar Sekunden die andere. Er war bestrebt, die Sekunden gleichmäßig zu verteilen. So als wäre die eine Brust traurig, wenn er die andere länger küsste. Danach hielt er sich nur an einer auf, in der Erwartung, dass Constanze sagen würde:

– Diese Brust weint, weil du sie nicht küsst!

Mit der Zeit begann sie seinen Kopf immer mehr zu pressen, bis sie vom Boden hochkam und ihm ihre Zunge ins Auge schob. Er zuckte mit einer schmerzlichen Grimasse im Gesicht zurück. Und sie flüsterte:

– Entschuldige bitte, entschuldige!

Aber als er sie unten anfasste, entfernte sie seine Hand sanft. Sie sagte, dass sie noch nicht bereit sei. Dass sie mit Männern nur schlafe, wenn sie sich verliebt habe, aber sie kannten sich noch nicht einmal einen vollen Tag. Sie sagte auch, dass sie zusammen sein könnten, wenn er das akzeptiere, dass es für sie schön sei, sich zu küssen und mit ihm zusammen zu sein, aber wenn er das nicht akzeptieren könne, werde jeder in seine Richtung gehen. Jeder in sein Gefängnis, wollte er sagen.

Dann legte sie ihn auf den Rücken, zog mit sanfter, aber entschlossener Bewegung seine Badehose hinunter, die sich an der Wurzel seines gespannten Gliedes in ein blaues Gummiband verwandelte. Sie nahm es in den Mund, und der Himmel veränderte seine Farbe. Sie bemühte sich wirklich, die Hose scheuerte ihn an den Hoden, aber er wollte sie nicht unterbrechen. Er ließ sie arbeiten und übertönte in einem Moment sogar die Zikaden. Da geschah das Seltsame: Er war gekommen, aber es floss nichts heraus. Sein Schwanz blieb trocken. Ungerührt vom Kommen. Er hatte definitiv einen Orgasmus erlebt, es war gut gewesen, es war verrückt gewesen, aber da war kein Sperma. Einen Augenblick lang dachte er, sie hätte es geschluckt, aber auch sie schaute verwundert. In allem hatte sie seinen Höhepunkt gespürt, aber dieses Fehlen des Samens machte auch sie verwirrt. Sie sahen sich in die Augen, und dann sahen beide auf seinen Schwanz, der über der aufgerollten Badehose aufragte wie ein General über einem Feld toter Soldaten, denen er nicht einmal mehr eine Träne nachweinen kann.

Aber als er wegrückte, als er eine Bewegung machte, um die Badehose, die sich an der Wurzel seines Glieds aufgerollt hatte, wieder hochzuziehen, und als der Druck nachließ, schoss ein warmer Strahl aus ihm heraus und nässte ihm Brust und Kinn. Und sie sagte:

– Opsssssssss!

Und man sah, dass es sie freute.

Am Nachmittag kehrten sie an den Strand beim Campingplatz zurück. Sie sagte:

– Ich muss auch ein bisschen mit Vera zusammen sein. Immerhin bin ich mit ihr hierher ans Meer gekommen.

Vera und Udo baden hier, weil Udo ohne größere Probleme allein vom Zelt bis zum Strand fahren kann.

Udo kann ein paar Schritte machen, vom Rollstuhl bis zum Meer, wenn ihn jemand stützt. Das ist natürlich Vera. Udo stemmt sich hoch und umarmt sie und hält sich so an ihr fest, während sie langsam zum Wasser gehen. Er und Constanze liegen auf den Handtüchern, und sie beugt sich von Zeit zu Zeit über ihn und küsst ihn wie ein Kind in der Wiege.

Im Café, das sich neben dem Restaurant auf dem Campingplatz befindet, sitzen Boris, Gavran und Škembo. Sie blödeln herum, die sarkastischen älteren Burschen, offensichtlich kommentieren sie ihn und Constanze. Sie sind nicht weit weg, alles in allem nur ein paar Meter Luftlinie. Er hört Gavran, wie er sagt, laut genug, dass auch er es hört:

– Lass ihn, soll der Kleine auch mal ficken!

Am Abend, als sie sich anschicken rauszugehen, fragt Boris:

– Wo steckst du den ganzen Tag, hast du wenigstens gefickt?

– Hab ich.

– Und? Wie war’s?

– Super!

6.

Das White Horse hatte einen englischen Namen und einheimische Rausschmeißer, was oft unangenehm war. Man musste sie von Zeit zu Zeit schmieren. Die hiesigen Burschen ließen sie ohne weibliche Begleitung nicht hinein, und deshalb gab es regelmäßig viele freie Ausländerinnen. Eröffnet hatte man es deshalb, weil die Hotelsiedlungen Carolina und Eva an die fünf Kilometer von der Stadt entfernt waren und es dort sonst keine Unterhaltungsmöglichkeiten für junge Leute gab. Für die Burschen aus der Stadt wurde es zu einem mythischen Ort, wobei ein Großteil seines Reizes auch in seiner Unzugänglichkeit lag. Damals hatten sie keine Autos und musste sich damit zufriedengeben, diesen Club ein- oder zweimal in der Saison aufzusuchen, wenn sie eine Mitfahrgelegenheit fanden.

Zu der Zeit nannte noch niemand bei uns Heroin „horse“, geschweige denn „yellow“, eine Bezeichnung, die erst später aufkam. Für ihn und Boris war die einzige einleuchtende Verbindung mit dem Namen des Clubs ein Whisky, oder der Roman The Pale Horse von Agatha Christie, der bei ihnen Das fahle Pferd hieß. Der Club befand sich im Keller des Hotelrestaurants und hatte keine Leuchtschrift und keine teure Einrichtung, sondern war nur ein improvisierter Ausschank mit gewöhnlichen Restauranttischen und -stühlen. An der Glastür am Eingang befand sich lediglich ein Plakat mit dem Foto eines weißen Pferdes, über dem mit Filzstift geschrieben stand: „White Horse, 23. pm – 05. am.“ Auf dem Rasen vor dem Eingang standen ein paar Plastiktische und -stühle für die, die zwischendurch frische Luft schnappen wollten.

Udo und seine Freunde waren schon da. Constanze parkte in der Nähe des Eingangs, sodass die einheimischen Burschen, die dort nach den deutschen Mädchen Ausschau hielten, wenn sie herauskamen, um ein wenig Luft zu schnappen, sehen konnten, mit was für einem Auto und was für einem Mädchen er kam. Aber als aus dem Auto noch ein freies Mädchen ausstieg, sprangen etliche von ihnen hinzu, damit sie sie mit sich hineinnahm. Vera erschrak, sie wusste nicht, was sie wollten, aber Constanze sagte:

– Jungs, sie ist besetzt.

Einige von ihnen sahen ihn überrascht und verächtlich an. Er war ein kleiner Stift mit einer guten Beute und einem guten Auto.

Vera ging schnell zu dem Tisch, an dem Udo und seine Freunde saßen. Im nächsten Augenblick konnte er sehen, wie Udo und sie sich küssten. Sie beugte sich völlig über ihn und schob ihm die Zunge in den Mund, aber der Rollstuhl begann sich aufgrund ihres Gewichts unkontrolliert rückwärts zu bewegen. Da fingen beide an zu lachen, und Udo brachte ihn mit Mühe zum Stehen.

Danach gingen sie hinein, aber sie mussten durch ein Spalier von Inselbewohnern hindurch, die draußen warteten wie die Freier am Hof des Odysseus. Finsteren Blicks sahen sie jedem einheimischen Burschen mit einem Mädchen nach, der reinkonnte.

– Werden sie manchmal auch aggressiv? – fragte Constanze, in sein Ohr flüsternd.

Er antwortete, dass sie das schon könnten, aber dass es gewöhnlich nicht geschehe, weil man ihnen dann den Zutritt zum Disco-Club ganz verbiete. Er sagte auch, sie stünden mehr auf Fotzen denn auf Motzen. Er hoffte, sie so zu beruhigen, aber auch selbst war er sich nicht sicher.

– Sie gefallen mir nicht – sagte sie.

Drinnen setzten sie sich alle an einen Tisch, Udos ganze Gesellschaft und sie drei. Constanze küsste ihn oft und hielt ständig seine Hand, aber mit den anderen sprach sie Deutsch. So ausgiebig, dass sie einmal zu ihm sagen musste:

– Entschuldige! Entschuldige! – und ihn so sehr küsste, als würde sie ihm gegenüber größere Zärtlichkeit empfinden, wenn sie ihn ein wenig verletzte.

In jenem Sommer hörten sie häufig Patti Smith und ihren Hit Gloria. Sie waren schon etwas angetrunken, und alle am Tisch standen auf, um zu tanzen, auch er wollte mit, aber Constanze küsste ihn zärtlich auf die Wange und sagte:

– Setz dich hierher, zu Udo, damit er nicht allein ist!

Das war, als hätte jemand einen Handschuh aus dickem, sanftem Fell angezogen und ihm damit eine Ohrfeige versetzt.

So musste er eine Zeit lang den behinderten Deutschen unterhalten. Udo schlug ihm vor, rauszugehen und eine zu drehen, denn hier drinnen fürchtete er die Rausschmeißer. Er war Ingenieur, hatte die Technische Hochschule in München absolviert und arbeitete bei Siemens. Er sagte, dass ihn Gras locker mache, obwohl er es nicht rauchen dürfte, weil seine Krankheit im Gehirn sitze. Es sei Multiple Sklerose. Damals hörte er zum ersten Mal von dieser Krankheit. Udo sagte, dass die Prognosen nicht gut seien, aber er sagte auch, dass er sich damit schon abgefunden habe. Bis zum ersten Anfall, nach dem er gelähmt blieb, war er ein normaler junger Mann gewesen. Er hatte Basketball gespielt, die Fakultät abgeschlossen, und niemand hätte gedacht, dass er in ein paar Jahren im Rollstuhl sitzen würde. Seine Multiple sei die progressive, das heiße, sie schreite sehr rasch voran und Medikamente könnten sie nicht aufhalten. Deshalb habe er aufgehört, sie zu nehmen, weil sie ihm mehr schadeten als nützten. Vera sei das erste Mädchen, das er habe, seit er im Rollstuhl sitze.

– Und was tust du, wenn es schlimmer wird? – fragte er. Vielleicht hätte er ihn das nicht fragen sollen, aber es war ihm so rausgerutscht, ohne Nachdenken.

Udo fummelte ein Stanniolpäckchen aus der Hose, sah sich um, ob sie jemand beobachtete, und wickelte es vorsichtig aus. Darin war ein grobes gelbliches Pulver.

– Was ist das?

– Horse – sagte Udo.

Er sah ihn an und begriff noch immer nicht. Udo machte mit der Hand eine Geste, als würde er sich eine Spritze geben, und fuhr dann mit dem Zeigefinger über seinen Hals. Das war das erste Mal im Leben, dass er Heroin sah.

Später, um seine Unbesonnenheit etwas abzuschwächen, fragte er:

– Habt ihr schon miteinander geschlafen?

– Noch nicht – sagte Udo. – Wie alt bist du?

– Neunzehn – sagte er.

– Du gefällst Constanze, aber geh es nicht zu schnell an mit ihr.

Er wollte ihn fragen, woher er das wisse, aber da fiel ihm Vera ein. Dann kam Constanze ihn holen, und sie tanzten und küssten sich auf der Tanzfläche. Sie mochte es, sich zur Musik zu küssen, die Schönheit ging durch die Ohren bei ihr hinein und kam durch Mund und Augen wieder heraus.

Gegen drei, als sie hinausgingen und eigentlich weggehen wollten, besprachen Udo und Vera leise etwas auf Deutsch. Er verstand nicht, worum es sich handelte, aber aus dem, wie sie gestikulierten, war klar, dass er etwas nicht wollte, und dass Vera ihm klarmachte, dass das vielleicht keinen Sinn habe. Udos Freunde waren nicht da, sie waren im Club geblieben.

– Wir machen einen kleinen Spaziergang – sagte Constanze zu ihm, und so nahmen alle vier den asphaltierten Weg durch den Park um das Hotel. Er und Constanze hielten sich an den Händen, und Vera schob Udo. Sie gingen vorneweg, sie diskutierten nicht mehr, sondern kicherten. Als sie das Blickfeld der einheimischen Burschen vor dem Club verlassen hatten, schob Vera Udo bis zu einem Busch, half ihm, auf die Beine zu kommen, und zog sich dann zurück. Er knöpfte sich selbst den Schlitz auf, obwohl er im Stehen ein wenig schwankte, und begann sein Wasser abzuschlagen. Sehen konnten sie seinen Strahl im Mondlicht nicht, aber hören. In diesem Augenblick sah alles einfach aus: ein Mann, der uriniert. Aber jetzt ging etwas in seinem Uriniersystem und im ganzen Körper kaputt und begann in seinen Nerven die Elektrik zu versagen. Als er ihn abgeschüttelt und den Schlitz geschlossen hatte, konnten sie das an seinen ungeschickten Bewegungen sehen, wieder kam ihm Vera zu Hilfe und wischte ihm mit einem Feuchttuch die Hände ab und stützte ihn, bis er sich hingesetzt hatte. Er klatschte mit dem Hintern in den Sitz des Rollstuhls, die Beine hielten ihn nicht mehr, und sie sagte:

– Hoppla!

Und sie küssten sich wie nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss.

7.

Wirklich glücklichen Menschen eilt das Glück voraus. Wenn man sieht, wie Constanze fährt, kommen solche Gedanken von allein. Wie glücklich haben sich bei ihr die Gene vereint, dass sie dieses spitze Näschen hervorgebracht haben, diese kleinen Ohren, die allein für sich genommen schön sind und die durch eine Kurzhaarfrisur noch betont werden. Aber die Gene ihrer Eltern haben sich auch sehr schön in Bewegungen transformiert, in langsame und runde. Wenn sie das Steuer mit der linken Hand hält, während ihre rechte auf dem Schalthebel ruht, sieht man, dass es hier keine Hast, keine Konfusion, keine Angst gibt, nur Leichtigkeit. Ihre Bewegungen sind Kreise, sie machen die Kreise nach, von denen sie umgeben ist: das Lenkrad, die Reifen, die Uhren des Tachometers und des Drehzahlmessers. So ist auch ihr Gang, wenn sie ins Auto einsteigt, schwingend, rund. Er wusste indessen, dass er nicht immer so gewesen war. Er war einmal ungeschickt gewesen, der große Hintern war in Windeln eingepackt gewesen, ein winziges watschelndes Geschöpf, das seine ersten Schritte machte. Er spürte den Liebreiz in den Fingerkuppen, wenn er sie sich als Kind vorstellte. Und auf der Oberfläche der Haut, in der Brustgegend. Ihr ganzes Leben war zu einer Quelle eines Glücksgefühls geworden, und das verwandelte sich manchmal in Geschwindigkeit.

Aber vor ihren Augen erschien noch ein weiterer Kreis. Ein roter, leuchtender, in dem stand: „Stop!“ Constanze und er saßen vorne, Udo und Vera hinten. Die Reifen quietschten, als sie bremste, und alle flogen nach vorne. Niemand stieß zum Glück irgendwo an.

– Wohin so eilig, Signorina? – sagte der Polizist auf Kroatisch, als sie das Fenster öffnete. – Die Fahrzeugpapiere!

Constanze fasste sich und reichte ihm den Führerschein und die Zulassung. Mit ihren Papieren in den Händen ging der Polizist um das Auto herum, ohne den Blick von ihnen im Wageninnern zu lassen.

– Das Auto ist gut, schnell – sagte er, und Constanze antwortete mit einer Frage:

– Speak English?

– Nein – antwortete er. Dann fiel sein Blick auf Udo. Er sah ihn prüfend an, lange und genau.

– Hat er Papiere?

– Er will deine Papiere – sagte er zu Udo, und der zog seinen Pass heraus.

Lange beschäftigte er sich mit Udos Pass, sah bald das Bild an, bald ihn im Auto. Dann fragte er:

– Drogen?

– Nein – antwortete Udo.

– Marihuana, Haschisch, Heroin? – setzte er das Verhör auf Kroatisch fort. Und Udo zog sich auf dem Sitz zusammen, als wollte er in ihm versinken, zerfließen, eingesogen werden. Auch Vera war erstarrt, er konnte es sehen, weil er sich umgedreht hatte, um es ihm zu übersetzen. Sie hielten sich an den Händen. Vielleicht stellten sie sich schon vor, wie die Gefängnisse des kommunistischen Landes aussehen: Ratten, Ketten, Stacheldraht.

– Er soll aussteigen! – wandte er sich an ihn als Übersetzer.

– Er kann nicht.

– Warum nicht?

– Er ist behindert.

Es entstand eine Stille, und der Polizist fixierte ihn mit dem Blick. Ihn auf dem Vordersitz, aber auch Udo hinten, abwechselnd.

– Willst du mich verarschen? – knurrte er.

– Sein Rollstuhl ist hinten drin. Den kann ich Ihnen zeigen.

Er erkannte ihn erst, als er aus dem Auto ausgestiegen war. Den kleinen Cousin im zweiten Glied.

– Fickst du die? – sagte er und sah Constanze an.

– Ja.

– Und du nimmst keine Drogen?

– Nein.

– Gut, dann fahrt weiter – sagte er und setzte noch hinzu: – Grüß den Onkel! Er zwinkerte ihm zu und ließ sie weiterfahren.

Constanze war dieses Zwinkern nicht entgangen.

– Was war? – fragte sie, als sie losgefahren waren.

– Das ist ein Cousin von mir – sagte er. – Sonst hätte er ihn durchsucht – deutete er mit dem Kopf auf Udo.

Und so wurde er der Held des Abends. Die Stille im Auto zeugte von seinem Ruhm.

Als sie auf dem Campingplatz ankamen, sagte Constanze zu ihm:

– Hilf mir, bitte!

Sie stiegen aus und gingen die kleine Anhöhe im Kiefernhain hinauf, wo Veras und ihr Zelt stand. Sie holte einen Schlafsack, ein aufblasbares Kopfkissen, zwei Matten für den Schlafsack und eine Flasche Prošek heraus.

– Udo wird heute Nacht hier mit Vera schlafen – sagte sie – und wir gehen an den Strand. Dann küsste sie ihn.

– Du wirst einen schönen Strand für uns finden.

Sie verstaute den Schlafsack und die Matten im Gepäckraum des BMW. Vera hatte schon Udos Rollstuhl herausgeholt, und er hatte sich vom Rücksitz umgesetzt. Sie schob ihn bis an den Fuß des Hügels, dann blieben sie stehen.

– Wir werden ihn tragen müssen – sagte Vera zu ihm. – Ich zeig es dir.

Sie fassten sich an den Händen, sodass sie einen Sitz bildeten. Udo richtete sich auf, schwer zwar, aber er richtete sich auf und setzte sich auf ihre Hände wie in den Sitz des Rollstuhls, nur dass er statt der Räder ihre Beine hatte. Sie mussten ihn diese zwanzig Meter bergauf tragen, denn der Boden war voller Steine und Kiefernnadeln. Mit dem Rollstuhl würde er das nie schaffen. Während sie ihn trugen, versuchte er sich vorzustellen, wie Udo heute Abend ficken würde. Seltsam war nur, dass ihn gerade das Mädchen ins Zelt trug, das er ficken würde. Sie trugen ihn wie eine junge Braut über die Schwelle, und als sie ihn hinunterließen, sagte Vera wieder:

– Hoppla!

8.

Der Höhepunkt seines bisherigen Lebens ereignete sich im Restaurant Zlatni zalaz, im Goldenen Sonnenuntergang, oberhalb von Supetarska Draga. Gerade neigte sich der Tag seinem Ende zu, den er als den schönsten in seinem bisherigen Leben ansehen konnte. Er saß mit Constanze auf der Terrasse und sah, wie sich das Licht der Sonne, die gerade ins Meer sank, am Himmel in rosa Töne verwandelte, die langsam ins Bläuliche übergingen, während sich dasselbe Licht im Wasser orange und silbern brach. Dies war das Restaurant, das seine Gäste mit den schönsten Sonnenuntergängen und den größten Scampi auf dem Grill lockte. Gerade hatten sie einen leichten Rosé namens Opolo konsumiert. Wenige Stunden zuvor, im Verlauf des frühen Nachmittags, hatte ihm Constanze ein Plakat mit der Werbung für ein Restaurant gezeigt, auf dem man sah, wie die rote Kugel der Sonne ins Meer sank, zu einem Drittel war sie schon untergegangen, so als wäre sie von unten abgebissen, und an dieser Stelle war mittels Fotomontage ein weißer Teller mit großen Scampi vom Grill einmontiert. Die Farbe der Scampi und die Farbe der Sonne waren einander ähnlich und bildeten eine harmonische Komposition.

– Dort bring mich hin! – hatte sie gesagt.

Er, dieser kleine Stift, sitzt jetzt hier mit einer schönen erwachsenen Frau, nachdem sie den ganzen Tag zusammen verbracht und teuer zu Abend gegessen haben, was sie bezahlen wird. Jetzt sieht er schon, wer die Seele dieses Sommers sein wird. Vergangene Nacht hat er nicht bei Onkel und Tante geschlafen. Er war im Morgengrauen nach Hause gekommen, aber seine Nona war schon auf und werkelte in der Küche. Er hatte sich ins Zimmer geschlichen. Boris schlief fest.

Vergangene Nacht, als Vera und Udo im Zelt geblieben waren, waren sie über die Insel gefahren, hatten Patti Smith gehört, und Gloria