In der Ferne näher bei mir - Barbara Liel - E-Book

In der Ferne näher bei mir E-Book

Barbara Liel

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Beschreibung

Reisen verkleinert die Welt und erweitert den Horizont. Diese wichtige Erkenntnis hat jedenfalls Barbara Liel während ihrer Urlaube gemacht. Dazu waren nicht etwa irgendwelche Erstbegehungen notwendig oder lebensgefährliche Expeditionen, sondern lediglich die Bereitschaft, mit Rucksack, Neugierde und Offenheit den Fernsehsessel zu verlassen. Belohnt wurde die Autorin damit, neue und bisher ungelebte Seiten in sich kennenzulernen und den Nutzen von persönlichen Eigenheiten zu entdecken, die ihr bisher stets albern oder hinderlich erschienen. Lassen Sie sich ermutigen, Ihren eigenen Aufbruch zu wagen oder gehen Sie einfach lesend mit auf eine Reise, die Sie nicht nur nach Ecuador und Australien, in die Staaten und nach Hawaii führt, und Sie zudem bestens unterhält. Vielleicht entdecken Sie dabei auch bisher unbekannte Inseln und Landstriche in sich selbst.

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Barbara Liel,

geboren 1961 in Münster, studierte nach dem Abitur in Münster Biologie. Anschließend absolvierte sie eine Lehre zur zoologischen Präparatorin am Museum für Naturkunde in Münster. Es folgte eine Ausbildung zur Medizinisch-technischen Assistentin. Sie arbeitet seit fast 25 Jahren in einem Forschungslabor der physiologischen Chemie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. »In der Ferne näher bei mir« ist ihr erstes Buch.

www.naeherbeimir.de

Barbara Liel

In der Ferne näher bei mir

Geschichten von unterwegs

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2013

© 2012 Verlag der Ideen, Volkach

www.verlag-der-ideen.de

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-942006-08-8eISBN 978-3-942006-35-4

Illustration: Barbara Liel

Covergestaltung und Layout:

Jonas Dinkhoff, www.starkwind-design.de

Printed in Germany

Inhalt

Reisen gegen die Angst

Das Leben genießen – Florida

Lernen was wirklich zählt – Ecuador

Vom Kommen und Gehen der Flugangst

Durchstarten und den eigenen Weg gehen – USA

Wiederentdecken der Langsamkeit – USA/Baja California

Die Welt von unten sehen – Australien (Down Under)

Raus aus dem Irrsinn, rein ins Dasein – Australien (Outback)

Licht und Schatten – Hawaii

Reisen verkleinert die Welt und erweitert den Horizont

Danksagung

Für Martin,meinen Bruder im Geiste,der diese Welt viel zu früh verlassen musste.

Reisen gegen die Angst

Vorspeise

Die Geburtsstunde unseres Kochtreffs fiel auf einen lauen Sommerabend im August. Bei einer Gartenparty lernte ich, eher zufällig, Sybille und Lothar kennen. Wir verstanden uns auf Anhieb, redeten über dies und über das, wie man es auf einer Feier eben so tut, als wir plötzlich unsere gemeinsame Leidenschaft für das Kochen und vor allen Dingen das Essen entdeckten. Fast gleichen Alters, Ende vierzig, waren wir so oder so auf der Suche nach neuen Herausforderungen, die unser Leben bereichern sollten.

»Was haltet ihr davon, wenn wir uns in regelmäßigen Abständen treffen? Mir schwebt ein Abend vor, an dem wir gemeinsam Kochen, Essen und bei einem Glas Wein zusammensitzen und quatschen.« Sybille, schlank, groß gewachsen, mit blonder Kurzhaarfrisur, war eine Frau der Tat und machte, wie immer, gleich Nägel mit Köpfen. Ich fand diesen Einfall super. In unserer schnelllebigen Zeit geraten ausgiebiges Kochen, die damit verbundene Gemütlichkeit und der Spaß, den man dabei haben kann, immer mehr ins Hintertreffen. Heutzutage schätzen wir es mehr, mit einem Butterbrot in der Hand, untätig auf dem Sofa sitzend, anderen Menschen im Fernsehen beim Essen machen zuzuschauen. Wirklich traurig, aber oft fehlt halt die Zeit.

»Ich bin dabei, fände es aber gut, wenn wir fünf bis sechs Leute wären. Einmal kann der Eine nicht, dann der Andere und es wäre zu schade, wenn daran unsere Idee scheitern würde.« Ich für meinen Teil liebte es, die Dinge von Anfang an gut zu organisieren.

»Dann muss aber unbedingt ein zweiter Mann dabei sein, ansonsten fühle ich mich überfordert«, erklärte Lothar und schaute uns fragend an. Lothar, mittelgroß, mit üppiger, dunkler Haarfülle bedacht, das Gesicht durch eine kleine Brille geziert, zeigte immer ein verschmitztes Lächeln und war laufend zu Späßen aufgelegt. Selbstverständlich wurde Lothars Bitte stattgegeben. Wir gaben in einer lokalen Zeitschrift unserer Heimatstadt Münster eine Anzeige auf und konnten für unseren neuen Club noch Magdalena und Bernd gewinnen. Beide waren von unserer Idee begeistert und integrierten sich sofort mit Offenheit und Kochkunst. Wir wollten uns etwa alle zwei Monate am Wochenende treffen. Beim gemeinsamen Schnippeln, Kochen, Essen und Weintrinken ließ es sich bestimmt gut reden. Schon bei unserer ersten Zusammenkunft in einer Kneipe, wo wir uns ein bisschen besser kennenlernen wollten, begann ich, von meinen vielen Reisen zu erzählen. Das Interesse war groß und ich war selbst erstaunt über den Umfang meines Fundus’ an Berichten über die Welt.

»Ja sag mal, wie kam es eigentlich dazu, dass du so viel gereist bist«, fragte Magdalena, fuhr sich mit den Fingern durch ihre brünetten, halblangen Locken und schaute mich aus großen braunen Augen neugierig an, »ich finde das schon ziemlich mutig.«

»Nun ja, Mut ist schon das richtige Stichwort«, antworte ich, »ich war ein sehr ängstlicher Mensch und hatte das Gefühl, dass sich in meinem Leben etwas ändern musste.

Furcht hat mich mein ganzes Leben begleitet. Schüchternheit und Angst vor allem und jedem prägten mich schon in der frühen Kindheit. Wenn mich jemand ansprach, wäre ich am liebsten im Erdboden versunken, geschweige denn, dass ich mich selbst getraut hätte, auf andere zuzugehen. Wenn in meinem Leben Veränderungen anstanden, durch Schule, Ausbildung oder was auch immer, habe ich schon Monate vorher gegrübelt, wie ich die Situation wohl stemmen würde. Ich wollte immer möglichst wenig auffallen und um Gottes Willen keine Fehler machen. Fehler – vielleicht lag hier der Hase im Pfeffer. Ich hatte einfach immer nur Angst, Fehler zu machen, etwas Unpassendes zu sagen oder schlimmer noch, etwas Falsches. So sagte ich eben gar nichts. Das stand natürlich im krassen Gegensatz zu meinem Wunsch, nicht aufzufallen. Denn wer nie etwas sagt, fällt auf jeden Fall auf. Diesen Teufelskreis, in dem ich gefangen war, konnte ich erst sehr viel später und mit großen Anstrengungen auflösen.

Woher aber kam diese ständige Angst? Meine Eltern waren Kinder des Zweiten Weltkrieges. Mein Vater war noch sehr jung, als er eingezogen wurde. Da er Flugzeugmechaniker war, gab es für ihn kein Entrinnen. In dieser Zeit hat er vermutlich Schreckliches erlebt. Später erzählte er uns, wenn auch nur bruchstückhaft, von brennenden Flugzeugen, sterbenden Menschen und menschenunwürdigen Behandlungen. Wen wundert es da, dass sich meine Vielzahl von zersplitterten Ängsten in einer ausgewachsenen Flugangst manifestierte? Nach dem Krieg kam mein Vater in amerikanische Gefangenschaft, die für ihn mit so vielen Demütigungen verbunden war, dass in seinem späteren Leben eine Versöhnung mit Amerika unmöglich blieb. Umso wichtiger war für mich die Begegnung mit den USA, um mich von der Geschichte meines Vaters abgrenzen zu können. Der nach dem Krieg folgende Hunger hat meine Mutter wie auch meinen Vater gezeichnet. Meine Mutter war immer sehr sparsam und hat auch mir und meiner Schwester eingebläut:

»Wenn Du sparst, dann hast Du vielleicht in der Not.« Die Betonung liegt dabei auf »vielleicht«, denn ich weiß nicht, ob dieser Grundsatz in unserer von Finanzkrisen geschüttelten Welt, wirklich stimmt. Mein Vater hatte eine sehr eigenwillige Methode gefunden, aus diesen Zeiten Lehre zu ziehen. Er begann, Dinge zu horten, die sich als Tauschobjekte eigneten, so wie er es aus dem Krieg kannte. In unserem Keller türmten sich Seife, Spirituosen und – man mag es kaum glauben – Toilettenpapier. Voller Stolz habe ich früher meinen Freunden dieses Arsenal vorgeführt, ohne zu begreifen, dass dieser Tick meines Vaters eigentlich eine Belastung für mein eigenes Leben bedeutete.

Die Ängste meiner Eltern hatten natürlich eine sehr reale Grundlage. Sie waren im Krieg von Hunger und Tod bedroht gewesen. Für mich als Kind waren diese Dinge schwer zu verstehen, denn ich hatte den Krieg ja nicht erlebt. Er war nur noch eine vage Bedrohung aus der Ferne, eine unscharfe Kontur, die zu erkennen ausgesprochen schwer war. Wenn meine Eltern verlangten, dass ich keinen Fehler machen sollte, dann verbanden sie damit, dass selbst ein kleiner Fehler das Leben kosten konnte. Wie sollte ich verstehen, dass von einem einzigen Fehler das Leben abhing? Aber offensichtlich hatte ich diesen Grundsatz stark verinnerlicht. Also – keine Fehler machen!

Auch heute gibt es zweifellos Dinge, die uns das Leben kosten können: eine unvorsichtige Autofahrt, ein falscher Schritt auf die Straße oder der Absturz eines Flugzeugs. Aber jetzt weiß ich, dass das Leben voller Gefahren ist und es trotzdem möglich ist, gut zu leben, weil man, nur die Risiken vermeidend, nichts erlebt.

Im krassen Gegensatz zu meinen Ängsten stand meine große Neugierde. Wie sollte ich sie befriedigen, ohne mein Leben zu riskieren? Für mich war das immer ein Drahtseilakt. Aber zum Glück war meine Neugierde wirklich sehr groß, so groß, dass sie tatsächlich immer wieder meine Ängste in den Schatten stellte. Und diese Momente habe ich genutzt.

Ich habe gelernt, dass man der Angst ins Gesicht sehen sollte, dann durch sie hindurch schauen muss, um schlussendlich durch sie hindurch gehen zu können. Belohnt wird man dann mit den schönsten Momenten des Lebens.

Ein ganz entscheidender Lebensabschnitt war der, als ich mit dem Reisen begann. Ich hatte schon als Kind von entlegenen Ländern, fremden Kulturen und selbst vom Weltraum geträumt. Damals konnte ich mir noch nicht vorstellen, dass ich tatsächlich die Möglichkeit bekommen sollte, in ferne Länder zu reisen. Während meiner Kindheit war das Fliegen noch nicht so verbreitet wie heute und eher ein Privileg der Reichen. In meinem Abiturjahrgang gab es ein einziges Mädchen, das ein Auslandsjahr in Amerika machte. Wir beäugten sie wie ein exotisches Tierchen und konnten eigentlich gar nichts damit anfangen, während das heute gang und gäbe ist, am besten noch jenseits des großen Teiches. Als sich für mich später die Gelegenheit bot, in ferne Länder zu reisen, habe ich zugegriffen. Durch die Begegnung mit anderen Kulturen, fremden Menschen und fantastischer Natur, konnte ich ein neues Selbstbewusstsein entwickeln und viele meiner Ängste auflösen. In fremden Kulturen haben oft ganz andere Dinge eine große Bedeutung. Die Ängste, aber auch die Freuden, unterscheiden sich von den unsrigen. Die Menschen haben eine andere Lebensart und es ist spannend, sie mit unserer zu vergleichen. Das Beste aus allen Welten sollte man mit auf seinen Weg nehmen. Die aufregende Natur konnte mich immer wieder »erden« und ich fühlte mich als Kind dieser Welt – der ganzen Welt.«

»Das hört sich spannend an«. Magda bekam einen sehnsüchtigen Blick. »Du musst uns unbedingt davon erzählen, dann kann ich in der Fantasie bestimmt ein wenig mit dir reisen. Im wirklichen Leben wird mir das wohl nicht mehr gelingen.«

»Wohin ging denn deine erste Reise?« Lothar setzte sich in Zuhörerposition. Sybille kaute an einem Stück Brot und schwieg.

»Na los, erzähl schon«, insistierte Bernd.

»Meine erste große Reise ging nach Florida und war ein fantastisches Erlebnis. Wie es dazu kam? Alles begann während eines Pauschalurlaubs in Griechenland 1990: Das durfte doch nicht wahr sein. Meine Freundin Julia legte sich um acht Uhr abends ins Bett und las in einem Buch. Als ich so gegen drei Uhr nachts mürrisch vor mich hin grummelte, entschloss sie sich endlich, das Licht zu löschen. Im Zimmer war es heiß und auf der Straße lärmten die Mofafahrer, an Schlaf war nicht zu denken. Am nächsten Tag ging es mit dem Bus zum Strand. Julia schnappte sich Handtuch, Sonnenschirm und Buch, legte sich lang und las weiter. Ich weiß nicht mehr, wie viele Wälzer sie in diesem Rhythmus schaffte. Es war mir auch egal. Das einzig aufregende an diesem Tag war wohl, als sich eine Wespe in meine Bikinihose verirrte und mir in den Hintern stach. Zur Belustigung aller führte ich einen kleinen Veitstanz am Strand auf. Endlich ein bisschen Bewegung. Im besten Sinne des Wortes angepiekt brach es aus mir heraus: »Julia, das halte ich nicht aus, ich bin Ende zwanzig und fühle mich wie eine Bettlägerige.«

Julia entgegnete halbherzig: »Wieso, ist doch toll, wir haben Urlaub!«

Urlaub – Mir war nun klar, dass ich diesem Wort unbedingt einen neuen Inhalt geben musste. Mein Leben, eher langweilig, kein Partner in Sicht, die Arbeit als MTA wie im Hamsterrad … all das musste dringend einen neuen Anstrich bekommen. Verdammt noch mal, da konnte doch wenigstens der Urlaub für ein wenig Aufregung oder besser gesagt Anregung sorgen: Reiseerlebnisse, von denen man erzählen und den Rest des Jahres zehren konnte. Wichtig war, ich wollte es alleine tun, nicht ganz alleine, aber auch nicht im Schatten meiner Freunde, denen ich mich nur allzu oft bereitwillig angepasst hatte. Ich wollte eine Gruppenreise machen, ja, mit lauter fremden Menschen. Ich stellte mir vor, dass der Kontakt mit anderen Leuten eine zusätzliche Bereicherung wäre. Ich hatte von einem Reiseunternehmen gehört, bei dem Alleinreisende sehr willkommen sind. Das Titelbild des Katalogs hatte ich schon gesehen: »Landrover-Safari durch Islands wildes Hochland«. Ja, das sollte es sein! Mit dem Landrover durch Feuer und Eis. Wenn das kein Abenteuer ist. Ich holte mir den Prospekt und las wohl hundert Mal den Abschnitt über das Alleinreisen, das Anmieten eines halben Doppelzimmers und den Spaß, den man mit Gleichgesinnten auf so einer Tour haben kann. Beim Blättern klebte ich förmlich an den Reisebeschreibungen durch ferne Länder, den Bildern von riesigen, schneebedeckten Bergen, fremden Menschen und azurblauen Meeren. Immer wieder blieb ich bei der Darstellung der Natur und der Schönheit Floridas hängen. Weißer Sandstrand, Palmen, Alligatoren in den Everglades, Vergnügungsparks und die Raketenabschussrampe von Cape Canaveral, die auf mich als Star-Trek-Fan einen besonderen Reiz ausübte. Eigentlich sollte es doch Island sein, aber konnte ich mich wirklich der Natur und Schönheit Floridas entziehen? Diesmal entschied ich: Nein, ich habe es doch lieber warm und diese Natur und Schönheit, einfach großartig. Natürlich hatte ich Angst, den geschützten Raum bei meinen Freunden zu verlassen und mein eigenes Ding zu machen. Außerdem hatte ich Flugangst und eigentlich sowieso immer Angst. Umso größer war mein Stolz, dass ich tatsächlich den Weg ins Reisebüro fand.

»Guten Tag, sie wünschen?«

»Ich würde gerne eine Reise buchen, nach Florida«, sagte ich und schob der Dame den Katalog mit leicht zittrigen Händen unter die Nase.

»Oh ja, nach Florida, das ist wunderbar.«

Sie nahm meine Daten auf und ich fühlte mich plötzlich ziemlich wichtig.

»Da haben sie sich eine schöne Reise ausgesucht. Visum, Reiseunterlagen, wir kümmern uns um alles.«

Zum Glück lag bis zum Reisetermin noch ein halbes Jahr vor mir und ich konnte mich langsam an den Gedanken gewöhnen, etwas Neues zu wagen. Beinahe wäre es dann doch noch schiefgegangen. Mein Blick, nun auf das Reiseziel fixiert, fiel eines Tages plötzlich auf folgende Nachricht in der Zeitung: »Wirbelsturm Andrew verwüstet Florida.«

Gott sei Dank, dachte ich, fahre ich nach der Wirbelsturmsaison, Ende Oktober. Nur hatte ich das Problem in meiner Naivität offensichtlich nicht richtig eingeschätzt. Der Wirbelsturm war kein Gespinst meiner Angstfantasien, sondern hatte tatsächlich weite Teile Floridas zerstört.

Das Telefon klingelte:

»Guten Tag Frau Liel, sie hatten bei uns die Reise nach Florida gebucht.«

»Jaaa?« fragte ich vorsichtig. Eine böse Vorahnung hing im Raum. »Sie haben sicher durch die Medien vom Wirbelsturm Andrew gehört. Leider ist es nun so, dass der Programmpunkt »Hausbootfahrt durch die Everglades« ausfallen muss, weil alles zerstört ist, die Boote, das Hotel, einfach alles. Möchten sie die Reise trotzdem machen? Sie könnten auch kostenlos stornieren.«

Oh Gott, stornieren geht überhaupt nicht. Wer weiß, ob ich jemals wieder den Mut finden würde so eine Reise zu buchen.

»Nein, auf gar keinen Fall. Ich möchte die Reise trotzdem machen«, sagte ich wie aus der Pistole geschossen.

Mittlerweile war mir völlig egal, ob überhaupt irgendeiner der Programmpunkte stattfand. Ich wollte nur die Reise machen.

»Gut, dann werde ich das notieren. Wenn ihre Mitreisenden auch so entscheiden, findet die Reise statt.«

Wie, wenn meine Mitreisenden auch so entscheiden? Das müssen sie! Aber trotzdem stand die Tatsache im Raum, dass durch den Wirbelsturm Andrew die Tour doch noch ins Aus geweht werden könnte.

»Alles klar, sie geben mir dann Bescheid?«

»Machen wir. Schönen Tag noch Frau Liel.«

»Auch so.«

Na, das fing ja gut an. Der Anfang war gemacht und das Ende schon eingeläutet.

Aber, Glück im Unglück, genügend meiner Mitstreiter entschieden sich richtig und der Reise stand nichts mehr im Wege. Eine Woche vor Beginn der Fahrt bekam ich die Unterlagen samt Ausrüstungsliste:

Schlafsack, Isomatte, Bekleidung, Papiere – o.k.

Teller, Tasse, Campingbesteck, große Reisetasche – nicht o.k., habe ich alles gar nicht. Wie konnte ich nur bei allem Grübeln und all den Überlegungen im Vorfeld vergessen, dass ich auch eine vernünftige Ausrüstung brauchte. Da hatte mir wohl, bei aller Strukturiertheit, mein innerer Schweinehund wieder einen Streich gespielt. Das konnte ja heiter werden. Aber diese Dinge ließen sich ja noch beschaffen, wenn da nicht plötzlich dieser bohrende Zahnschmerz gewesen wäre. War das etwa auch mein innerer Schweinehund, der sich nun an meinem Gebiss zu schaffen machte? Also musste, nur zwei Tage vor dem Abflug, noch der Gang zum Zahnarzt sein.

»Ja Frau Liel, das sieht nicht gut aus, eine akute Entzündung. Da es sich um einen wurzelgefüllten Zahn handelt und sie in zwei Tagen in den Urlaub wollen, da muss er wohl raus. Wo geht’s denn hin?«

»Nach Florida.«

»Oooh, da würde ich auch gerne mal hin.« Da war es wieder, mein erhabenes Gefühl etwas Wichtiges zu tun.

»Na ja, vielleicht klappt es für Sie ja auch mal.« Also Zahn ade und »Auf Wiedersehen.«

»Meine Güte, da bist du ja echt über deinen Schatten gesprungen«, lachte Bernd und schlug sich mit der flachen Hand auf seinen rundlichen Bauchansatz, »hier gilt das alte Sprichwort: Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen.«

»Florida liegt doch ganz im Süden der USA, ist das richtig?« wollte Sybille wissen.

»Na klar ist Florida im Süden der USA«, antwortete Magda ungeduldig »bist du da weiter rumgekommen oder nur an einem Ort geblieben?«

»Das war eine Rundreise und ich habe so ziemlich alles von Florida gesehen, was es dort zu sehen gibt. Es war furchtbar aufregend. Ich würde sagen, dass ich euch alles genau erzähle, wenn wir uns das nächste Mal zum Essen bei mir treffen. Das wird nämlich eine längere Geschichte.«

»Wir freuen uns drauf«, verkündete Lothar.

Das Leben genießen

Florida 1992

Draußen tobte ein heftiger Sturm. Bunte Blätter stoben durch den Garten und es begann früh zu dämmern. Der Winter stand vor der Tür und ich war froh, dass ich diesmal in meiner eigenen Küche tätig sein konnte. Wie viel schöner waren doch die Winter in Florida, dem Ort, an den mich meine erste große Reise führte. Heute wollte ich meinen neuen Freunden davon erzählen und ich war schon ganz aufgeregt bei dem Gedanken, diese wunderbaren Erinnerungen wieder aufleben zu lassen. Als es klingelte öffnete ich rasch die Tür und lauschte wie Magdalena und Sybille, angestrengt atmend, die Treppe hinaufstapften.

»Bis ganz nach oben«, rief ich ihnen entgegen. Ich wohnte in der dritten Etage unter dem Dach. Meine etwas in die Jahre gekommene Katzendame Pothu war mir an die Tür gefolgt, fauchte einmal laut auf und flitzte, wie von der Tarantel gestochen, ins Schlafzimmer, um sich zu verstecken. Sie mochte keine fremden Menschen.

»Hallo meine Liebe«, Magda legte mir den Arm um die Schulter, drückte mich und strich sich gleichzeitig die wild durcheinandergewirbelten Haare glatt. Sybille klopfte mir zur Begrüßung freundschaftlich auf den Rücken.

»Dann kommt mal rein«, empfing ich die beiden »ihr könnt mir direkt beim Zubereiten des Salats helfen.«

Sie warfen ihre kalten und feuchten Jacken, die nach Herbst rochen, über die Garderobe und folgten mir in die Küche, den zentralen Raum meiner Wohnung.

»Schön hast du es hier«, kommentierte Sybille meine Bleibe, nachdem sie meine vier Räume mit prüfendem Blick inspiziert hatte.

»Ich werde mal das Grünzeug hier waschen«, erklärte sie dann, machte sich direkt an die Arbeit und fragte, »Was gibt es denn heute?«

»Erzähle ich später, wenn die anderen auch da sind, o.k?«

»Jaja, ich bin schon sehr gespannt«, bemerkte Magda und lief zur Tür, als es ein weiteres Mal klingelte. Kurze Zeit später kamen Bernd und Lothar herein, schauten sich einmal kurz um und machten es sich ohne Umstände im Esszimmer bequem, das übergangslos an meine Küche angrenzt. Sie fühlten sich offensichtlich gleich wie zu Hause und hatten wohl keine große Lust, beim Kochen zu helfen. Mir war das Recht, denn zu viele Köche verderben ja bekanntlich den Brei. Ich bewirtete alle mit einem Prosecco.

»Schön, dass ihr hier seid! Ich hoffe, dass unser Kochtreff zu einer schönen Gewohnheit wird, die wir lange beibehalten werden. Prost!« Ich blickte einmal in die Runde und fuhr fort: »heute gibt es neben einem Shrimpscocktail, Steaks mit Ofenkartoffeln, Sour cream, Caesar salad und zum Nachtisch einen besonderen Kuchen. In Florida, das an fast allen Seiten an den Ozean grenzt, werden gerne Meeresfrüchte gegessen, aber ebenso beliebt sind Steaks und Caesar salad, grüner Salat, der mit Croutons und Parmesankäse zubereitet wird. Wie versprochen kann ich euch dann beim Essen von meiner fantastischen Reise in die USA erzählen.«

»Ich bin sehr neugierig. Sag doch noch mal kurz, warum du ausgerechnet Florida als erstes Reiseziel ausgewählt hast?«, erkundigte sich Bernd, nahm einen Schluck von seinem Prosecco und schaute mich erwartungsvoll an.

»Das freundliche Klima, die Palmen und das Meer haben mich nach Florida gezogen. Ich fand es spannend einmal so weit wegzufahren, in die USA, auf die andere Seite des Atlantischen Ozeans. Die Reise war nicht zu lang und nicht zu teuer, was natürlich zu meinem Sicherheitsdenken passte. Wenn es mir nicht gefallen hätte, wäre die Zeit schnell vergangen und der Geldverlust nicht zu groß gewesen. Ja, so seltsam habe ich damals gedacht«, erklärte ich. »Wieso, das ist doch nachvollziehbar«, sagte Lothar, nahm ebenfalls einen Schluck von seinem Prosecco und bohrte noch ein wenig weiter, »hattest du denn besondere Erwartungen oder Vorurteile bezüglich dieser Reise?«

»Hm, ich war natürlich unglaublich neugierig auf das, was ich erleben würde. Ich habe im Vorfeld viel über Florida gelesen und mich gefragt, ob ich all die Dinge genauso sehen würde. Ich wollte selbstverständlich einen schönen Urlaub erleben. Wer will das nicht«, fuhr ich fort, nahm auch einen Schluck von meinem Prosecco und fügte hinzu, »Vorurteile habe ich selten, aber in diesem Falle war ich natürlich durch die Kriegserlebnisse meines Vaters bezüglich der US-Amerikaner geprägt. Wie schon erwähnt, war mein Vater in sehr jungen Jahren zum Kriegsdienst gezwungen worden und ist in amerikanische Gefangenschaft geraten. Die Demütigungen und das Herrschaftsdenken der Amerikaner als Kriegsgewinner haben meinen Vater sehr verletzt. Bruchstückhaft hat er uns immer wieder vom Krieg und der Gefangenschaft erzählt.«

»Na, ich denke, unsere Eltern haben Schlimmes hinter sich und unsere Generation hat, als direkte Nachkommenschaft, auch noch daran mitzutragen. Krieg zerstört halt nicht nur Menschenleben, gewachsene Strukturen und Gebäude, sondern auch jede Menge Vertrauen,« gab Lothar zu bedenken. »Ich hoffe, dass der Urlaub nicht zu sehr davon überschattet war. Erzähl doch mal.«

»Nein, nein, ich habe das Leben in Florida genossen, der Urlaub war heiter und unbeschwert«, entgegnete ich. Nachdem die Vorspeise auf dem Tisch stand, bat ich Magda und Sybille auch ins Esszimmer zu kommen und begann mit meiner Erzählung:

»Flug Martinair Nr. 310 von Amsterdam Schiphol am 29.10.1992 um 8:29 Uhr sollte mich nach Miami Florida bringen. Zum Glück wohnt eine Freundin von mir in Haarlem, nur wenige Kilometer vom Flughafen entfernt. Tags zuvor fuhr ich mit dem Zug zu ihr um dort die Nacht zu verbringen, denn ich musste sehr früh morgens am Flughafen sein.

»Hallo Börbel.«

Sie ist Deutsche, lebt aber schon seit vielen Jahren in den Niederlanden. So hat sich in ihre deutsche Sprache ein leicht niederländischer Akzent eingeschlichen.

Zum piepen dieses Börbel. Gemeint war natürlich Bärbel, wie mich meine Freunde nennen.

»Wie geht’s dir? Eine tolle Reise hast du da vor.«

»Nun ja, ich freue mich riesig«, sagte ich und versuchte dabei geflissentlich, den Knoten in meinem Magen zu ignorieren. Wir quatschten über dies und das und der Abend verging wie im Flug. In der Nacht war kaum an Schlaf zu denken. Am nächsten Morgen brachte mich ihr Mann zum Flughafen.

Ein letztes »Tschüss und gute Reise.«

Da stand ich nun, wie ein kleines Kind, dass seine Mutter verloren hatte, auf dem riesigen Flughafen Schiphol. Ich hatte das Gefühl, ein Monster würde mich gleich verschlingen. Dieser Zustand der Einsamkeit hielt nur wenige Sekunden an bis plötzlich ein forsches: »Hallo, bist du auch auf dem Weg nach Florida?«, hinter mir erschallte.

»Ja«, und ein Stein fiel mir vom Herzen, denn nun fühlte ich, das wird der beste Urlaub aller Zeiten. Zwischen Sabine und mir entspann sich sofort ein eifriges Gespräch. Gemeinsam checkten wir ein, um es uns dann im Wartebereich ein bisschen gemütlich zu machen. Wir versuchten herauszufinden, wer wohl ebenfalls mit uns kommen würde. Ein Spiel, das ich auf späteren Reisen noch oft spielen sollte.

»Guck mal, der vielleicht, mit den dicken Wanderschuhen und dem Rucksack.«

»Nein, ich weiß nicht, der sieht schon so alt aus.«

»Oder der mit der kurzen Hose und dem lustigen Haarschnitt.«

»Meinst Du wirklich?«

Unser Blick blieb an einer kleinen Gruppe hängen. Zwei Frauen und zwei Männer, von denen einer wirklich verdächtig aussah. Um den Kopf hatte er ein rotes Tuch geschlungen, am Gürtel hing eine Wasserflasche aus Alu und auf dem Rücken der obligatorische Rucksack.

Ja, das waren sie: Walburga, Sabrina, Gunnar und Holger2. Marion, Kirsten und Michael stießen später zu uns. Noch etwas fremd betraten wir gemeinsam das Flugzeug. Flugangst? Nein, tapfer sein! Ich versuchte, diese Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben. Das gelang mir ganz gut, denn ich war unglaublich gespannt auf alles Neue.

Und schon nahm das Flugzeug Fahrt auf und nach ein paar Sekunden hob es ab in den grauen, verregneten Himmel. Ein letzter Blick auf den Flughafen, dann ging es durch die Wolken der Sonne entgegen. Über Schottland, Island, die Ostküste der USA entlang begann nach zehn Stunden der Landeanflug auf Miami. Ich starrte aus dem Fenster. Unter mir sah ich eine bräunlich-feuchte Landschaft – das mussten wohl die Everglades sein. Dann erschienen in der Ferne die Hochhäuser von Miami und kurze Zeit später setzten wir sanft auf der Landebahn des International Airport auf. Als ich aus dem Flugzeug stieg, kam ich mir vor, wie in einem Traum. Die warme Luft, der sehr blaue Himmel und der feuchte Geruch sagten mir, ich bin in der »Neuen Welt« angekommen. Vor dem Eingang wartete David Hasselhoff mit einem Schild in der Hand. Darauf stand »Suntrek«. Nein, er war es natürlich nicht, es war nur unser Reiseleiter Holger und Suntrek war die Agentur, die uns durch Florida führen sollte. »Hallo, ich heiße Holger und ich werde euch die nächsten zwei Wochen durch die Natur und Schönheiten Floridas begleiten. Ich hoffe, ihr hattet einen guten Flug.«

»Ja, hatten wir.«

Mit zwei Autos ging es los. Unser Reiseleiter fuhr das eine und Gunnar war als Fahrer für das andere Auto vorgesehen. Als wir über die Straßen Miamis in Richtung Hotel fuhren, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es gab das alles wirklich, all das, was ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte: breite Straßen, typisch amerikanische Hochhäuser und diese eigenartigen Polizeiautos.

»Urlaub fängt an«, schrie plötzlich Kirsten, unser Küken, gerade mal zwanzig Jahre alt, von der Rückbank. Auch ich dachte, ja, das kann ein großartiger Spaß werden.

Im Hotel angekommen, war ich von dem riesigen, luxuriösen Zimmer, das ich mit Marion teilen sollte, schwer beeindruckt. In den USA ist es üblich, dass die Zimmer so groß und auf »Eiszeit« klimatisiert sind. Also musste zuerst die Klimaanlage ausgeschaltet werden. Wir wollten uns ja nicht gleich einen Schnupfen holen. Mittlerweile war es später Nachmittag und wir waren von dem langen Flug total erschöpft. Nur noch eine Kleinigkeit essen, was schon echt schwerfiel, und dann ging es am frühen Abend direkt zu Bett. Endlich schlafen. Doch nach einiger Zeit saß ich senkrecht im Bett. Die Uhr zeigte ein Uhr. Es war eindeutig zu früh, um aufzustehen. Ich war hellwach. Auch Marion rührte sich neben mir.

»He, Marion was ist denn das?«, stupste ich sie an.

»Ja, weiß ich auch nicht, aber ich glaube nicht, dass ich noch schlafen kann«, knurrte es aus den Kissen. Sie richtete sich auf, reckte ihre Arme in die Höhe und gähnte ausgiebig.

»Ich glaube das ist er, der berühmte Jetlag. Bei uns zu Hause ist es jetzt sieben Uhr morgens. Beste Zeit um aufzustehen«, gab ich neunmalklug zum Besten. Marion beeindruckte mein Wissen nicht besonders, sie stöhnte laut und ließ sich zurück in die Kissen fallen. Also versuchten wir uns, im halb wachen Zustand, mit Ach und Krach die Nacht um die Ohren zu schlagen, um am folgenden Morgen todmüde zum Frühstück zu erscheinen. Anschließend verließen wir Miami in Richtung Norden.

Unsere erste Station war Cape Canaveral mit einem Besuch des Kennedy Space Center. Auf dem Weg dorthin hielten wir an einem der schönen, breiten und sehr weißen Sandstrände an.

Für die Rettungsschwimmer gab es tatsächlich solche Häuschen, wie man sie aus »Baywatch« kennt. Am Strand lagen sonnenölglänzende Schönheiten und wir hatten Gelegenheit, durch das warme Wasser zu waten und unseren Blick über die Weite des Meeres streifen zu lassen, auf dessen anderer Seite unser gutes, altes Europa lag. Ich durfte diesmal bei Gunnar im Auto mitfahren. Er hatte sich von zu Hause seine eigene Kassettensammlung mitgebracht.

»Bleib bei mir heute Nacht« von Andy Borg schallte es aus den Lautsprechern.

»He Gunnar, was hörst denn du da für Musik?«, fragte Sabrina und lachte spöttisch.

Ich hatte denselben Gedanken, mich aber nicht getraut, ihn auszusprechen.

Gunnar war schließlich erst Anfang dreißig, wirkte modern und aufgeschlossen und diese Schlagermusik schien mir eher für Leute ab fünfzig gemacht zu sein.

»Also, ich höre einfach gerne Schlager und ich mag es gar nicht, wenn man mich deswegen aufzieht«, sagte er mit etwas beleidigtem Unterton. Jeder wie er mag. Das sage ich heute ohne Spott, denn auf den Reisen habe ich gelernt, dass Menschen vieles gemeinsam, aber auch immer ihre Eigenheiten haben. Und genau das macht es so interessant, sie kennenzulernen. Außerdem ist der Versuch sinnlos, ihnen ihre Eigenarten ausreden zu wollen, denn gerade die machen sie doch zu dem, was sie sind. Niemand muss nach so einer Gruppenreise einen der Teilnehmer heiraten. Wäre ja noch schöner!

Wir erreichten das Kennedy Space Center. Ein Kindheitstraum wurde wahr. Ich gehöre nämlich zur Generation der Shell-3D-Bild-chen. Was das ist? Als ich Kind war, gab es ein Jahr lang an der Shell Tankstelle, die nur hundert Meter von meinem Elternhaus entfernt liegt, als Werbegeschenk kleine 3D-Bildchen, wie ich sie vorher noch nie gesehen hatte. Motive waren Sehenswürdigkeiten aus aller Welt. Ich quengelte solange, bis mein Vater mir versprach, regelmäßig dort zu tanken, um mir jedes Mal eines der Bildchen mitzubringen. Schließlich besaß ich viermal das Atomium in Brüssel, dreimal den Daibutsu von Kamakura, was auch immer das ist, den Kreml in Moskau und eben die Raketenabschussrampe von Cape Canaveral. Die habe ich gehütet wie meinen Augapfel und wäre damals nie, nie, nie auf die Idee gekommen, dass ich einmal live davor stehen würde. Das tat ich aber nun und es trieb mir tatsächlich die Tränen in die Augen.

Dass ich mit diesem Phänomen nicht alleine war, wusste ich damals noch nicht.

Später, auf meiner Reise nach Vietnam, traf ich Hubert, und ohne dass ich mein damaliges Erlebnis geschildert hatte, wir aber über das Reisen im Allgemeinen philosophierten, sagte er plötzlich:

»Ja, reisen ist toll. Mein schönstes Erlebnis war, als ich in Indien am Tadsch Mahal stand, das trieb mir echt Tränen in die Augen. Als Kind hatte ich nämlich so ein kleines 3D-Bildchen von der Tankstelle und dort war das Tadsch Mahal abgebildet und ich habe immer davon geträumt.«

Diese Werbekampagne von Shell hatte offensichtlich nachhaltige Wirkung. In Neuseeland traf ich nämlich Michael und man mag es kaum glauben:

»Mein schönstes Reiseerlebnis waren die Viktoriafälle in Sambia. Weißt du, ich hatte als Kind von der Tankstelle so ein 3D-Bild-chen …«

Ist das denn zu fassen? Da hatte sich in unsere kleinen Kindergehirne etwas eingebrannt, von dem wir gar nicht mehr wussten, dass es da war.

Im Space Center konnte man ein echtes Spaceshuttle namens Ambassador besichtigen. Im Inneren wurde man von tausend Anzeigen und Knöpfen, Schaltern und Schiebereglern fast erschlagen. Oh Gott, welches Ingenium hatte sich dieses Wunderwerk nur ausgedacht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man dies alles vom Commander- und Mission-Specialist-Seat würde bedienen können. Des Weiteren bewunderten wir im Rocket Garden die Saturnrakete, deren unzählige Schläuche, Kabel und Steckverbindungen, vor allem rund um die Triebwerke, mich doch etwas misstrauisch machten. Viele erinnern sich vermutlich noch lebhaft an: »Houston, wir haben ein Problem.« Von weitem beäugte uns eine Riesenraupe, das Gefährt mit dem die Spaceshuttles zur Abschussrampe gefahren wurden. Und dann sahen wir natürlich die Abschussrampe selbst, die bei mir, in Erinnerung an das 3D-Bildchen einen Schauer von Gänsehaut, Tränen und Bewunderung auslöste. Hier war also der sogenannte Weltraumbahnhof, von dem aus man das ganze Universum erkunden sollte. »Eine vierhundert Mann starke Besatzung, in Weiten die noch nie ein Mensch gesehen hatte …« o.k. jetzt ging gerade die Fantasie mit mir durch. Anschließend besichtigten wir noch das Mondlande-Kontrollzentrum. Hier konnte ich sie sehen, die Männer, wie sie vor den Monitoren saßen, mit gelockerter Krawatte und schweißnassen Gesichtern, wie sie gebannt das Geschehen auf dem Mond verfolgten. Die Mondlandefähre setzte am 20. Juli 1969 auf unserem Trabanten auf, Neil Armstrong stieg ungelenk die Leiter hinunter, betrat den Mond und sprach seinen weltberühmten Satz (ob er ihn wohl vorher einstudiert hatte?): »Dies ist ein kleiner Schritt für einen Mann, aber ein großer Schritt für die Menschheit.« Von diesen Eindrücken noch ganz benommen, ging es mittags gleich weiter zur nächsten Station unserer Rundreise.

»Ja, Leute, wir haben nur zwei Wochen Zeit und in Florida gibt es viel zu sehen. Deshalb steht für heute Nachmittag noch Seaworld, einer der Vergnügungsparks in Orlando, auf dem Programm«, unterrichtete uns Holger.

Aus Gunnars Auto schallte Karel Gotts Lied »Fang das Licht«.

Von Vergnügungsparks hielt ich nicht besonders viel und hatte sie auf dieser Reise nur als notwendiges Übel angesehen. Ein wenig, aber nur ein ganz wenig, hatte ich bedauert, dass »Andrew« nicht hier ein bisschen mehr geweht hatte. Aber mein Vorurteil war falsch. Ich habe mich selten so gut amüsiert und muss den Amerikanern attestieren, dass sie davon etwas verstehen. Ich ließ mich von den Illusionen, dem perfekten Ambiente und den wundersamen Geschichten förmlich mitreißen.

In Seaworld konnte man beinahe alle Tiere des Meeres bewundern. Es ging durch Röhren, in denen Besucher die Meeresbewohner unter Wasser bestaunen konnten: Rochen, Haie und – natürlich in einem anderen Becken – die lustigen Pinguine. Delfine gaben ihre Kunststücke zum Besten. Kaum zu glauben, aber Seeotter, Seehunde und Seelöwen führten ein kleines Theaterstück auf. So etwas gab es sicher nur »im Land der unbegrenzten Möglichkeiten«. Wobei ich das als Mitteleuropäer eher grenzwertig fand. Wenn Tiere sich irgendwie menschlich geben und man das benutzt, um durch aufgesetzte Sprache und Choreografie ein Stück daraus zu machen, dann können sich die meisten dem Charme einer solchen Vorstellung nicht entziehen. Ich fand es auch lustig. Aber in Wirklichkeit raubt man dem Tier damit doch seine natürliche Wesensart und seinen eigenen Willen.

»He, schau mal, dort hinten beginnt gleich die Vorstellung der Orcas«, rief Marion mit Vergnügen. Ihr Gesicht hatte sich schon bedenklich rot verfärbt. Kein Wunder bei der unablässig scheinenden Sonne. Was für ein Wohlgefühl uns alle angesichts der Wärme immer wieder durchströmte, wo wir doch wussten, dass in unserer Heimat jetzt der November angebrochen war, denn das hieß echte Winterzeit.

»Klar, lass uns die Orcas sehen«, und wir stürmten gemeinsam los. Das war natürlich ein echtes Highlight. Diese wunderschönen Tiere schwammen und sprangen in ihrem Becken herum. Sie fingen Bälle und zogen ihren Trainer mit Schwung durchs Wasser. Die Kinder in den unteren Reihen quietschten vor Vergnügen, als eines der Tiere mit seiner Brustflosse riesige Fontänen aus dem Becken schleuderte. Dann gab es noch eine anheimelnde Gute-Nacht-Szene. Da sich die Sonne schon tief zum Horizont senkte und den Himmel orange einfärbte, war das Ambiente perfekt. Der Wal lag rücklings im Wasser und ließ sich von seinem Betreuer kraulen, dabei wedelte er vergnüglich mit den Brustflossen. In diesem Moment wirkte er wie ein schnurrendes Kätzchen, das seine wilde Natur vergessen hatte. Oh Gott, hoffentlich sang der Trainer jetzt nicht auch noch ein Gutenachtlied. Zum Abschluss schwammen die Orcas, es waren vier, noch einmal eine Ehrenrunde und plötzlich lagen sie, flutsch, allesamt auf einer blau getünchten Betonfläche und wedelten mit der Fluke.

Viele Jahre später, es war im Jahr 2010, ist eine Trainerin während der Vorstellung von einem solchen Orca getötet worden. Es hieß, er war nicht in Stimmung oder er hatte ihren Pferdeschwanz mit einem Fisch verwechselt. Was auch immer der Grund gewesen sein mochte und so viel Freude wir auch am Anblick der Orcas haben, vor allem dann, wenn sie Kunststücke vorführen, eigentlich gehören sie in die Weiten der Ozeane, ihrer Lebensart folgend, die für uns Menschen sogar oft grausam erscheint.

»He, Gunnar wie siehst du denn aus?« fragte ich, als er um die Ecke kam. Seine frische rote Gesichtsfarbe war einer graugrünen Blässe gewichen.

»Eh, eh, eh, das glaubt ihr nicht. Dahinten müsst ihr mal rein. Submarine! Das ist unglaublich. Mir ist ganz schlecht und ich hatte solche Angst. Das mache ich nie wieder. Aber ihr, geht ihr da mal rein.« So, so uns wollte er das also zumuten, aber wahrscheinlich hatte er nur den Wunsch, sein Erlebnis am Abend mit uns zu teilen. Das ist das Schöne an Gruppenreisen, das Teilen. Marion und ich fassten also Mut und betraten dieses Unterseeboot. Wir nahmen unsere Plätze ein, allerdings war es verdächtig, dass wir uns in diesem ganz normalen Raum anschnallen sollten. Die Türen verschlossen sich mit einem Rums, die Lichter gingen aus und an die vordere Wand wurde ein Film projiziert.

Es wirkte so, als ob wir aus dem Inneren eines Unterseebootes ins Freie blickten. Plötzlich begann der ganze Raum zu zucken und zu wackeln und man hievte uns mit einem Kran ins Wasser. Platsch, wir setzten auf der Wasseroberfläche auf um dann sanft in die Tiefen des Ozeans einzutauchen. Da befiel mich schon ein mulmiges Gefühl, obwohl ich wusste, dass ich immer noch in diesem Raum war. Mein Kopf sagte, »ja in diesem normalen Raum«, mein Körper allerdings gab mir ganz andere Signale. Ich spürte förmlich die Enge, den erhöhten Druck unter Wasser und dieser Simulator machte jede Bewegung des vorn abgespielten Films mit. Als ich mich etwas beruhigt hatte, bewunderte ich die schöne Unterwasserwelt und begann langsam, die Szenerie zu genießen. In diesem Zustand totaler Entspannung geschah plötzlich etwas Schreckliches. Ein Unfall! Der Kapitän des U-Bootes fing hektisch an zu schreien. Das Boot sank viel zu schnell nach unten. Mein Englisch hatte sich seit der Schulzeit leider zurückgebildet, sodass ich kaum etwas von dem verstand, was da vor sich ging. Nichts Gutes jedenfalls, so konnte ich es dem Tonfall entnehmen. Plötzlich knackten die Wände, da der Druck in der Tiefe viel zu hoch wurde. Das konnte kein gutes Ende nehmen. Dann strömten auch noch kleine Fontänen von Wasser aus den Wänden. Das war der Zeitpunkt, an dem ich die Augen schloss und immer nur sagte: »Ich bin in diesem Raum, ich bin in diesem Raum, ich bin in diesem Raum.« War ich ja auch und am Ende wurde alles gut. Wir tauchten auf, die Türen öffneten sich und ich konnte endlich wieder frei atmen. An diesem Abend sollten wir noch lange mit Gunnar unser schlimmes Erlebnis bequatschen.

Am nächsten Tag besuchten wir zwei weitere Vergnügungsparks, was ein ziemlich großes Loch in unseren Geldbeutel riss: Walt Disney World’s Magic Kingdom und das EPCOT-Center. In den 60er Jahren hatte Walt Disney über mehrere Mittelsmänner eine riesige Fläche Sumpfland um Orlando aufgekauft. Hier konnte er seine Vergnügungsparks bauen. Das Vorbild Disneyland, in der Nähe von Los Angeles, war an seine Grenzen gestoßen und Walt Disney hatte wohl noch viele Ideen in seinem kreativen Kopf. Die Amerikaner lieben diese Parks und sie sind ihnen jeden einzelnen Dollar wert, den sie dort ausgeben können.

Magic Kingdom wurde dominiert von der berühmten Comicfigur Mickey Mouse. Menschen liefen, verkleidet als Mickey, herum und animierten die Besucher, Fotos zu machen. Man durfte sich in das warme Fell kuscheln und auch mal an seinem Riesenohr ziehen. Im Shop nebenan konnte man dann T-Shirts, Sonnenhüte und allerlei Accessoires zum Thema kaufen. Bei einer Fahrt durch das Fantasyland begegnete man Peter Pan, Arielle, Schneewittchen, Pinoccio, Dumbo und Winnie the Pooh. Der Mainstreet folgend stieß man auf das weltberühmte Cinderella-Schloss, dessen Ähnlichkeit mit Neuschwanstein kaum zu übersehen war. Mehr nach meinem Geschmack war die Splash Mountain Wasserbahn im Tomorrowland. Sabine und ich genehmigten uns eine Fahrt und hatten dabei, obwohl wir ziemlich nass wurden, eine diebische Freude. Ach, war das schön, mal wieder Kind zu sein. Den Abschluss bildete eine große Parade bei der alle möglichen Comicfiguren, menschengroß und bei schallender Musik, über die Mainstreet an uns vorbeizogen. Das war alles ganz lustig, aber dem EPCOT-Center konnte ich, persönlich eher der Technikfreak als der Comic-Held, etwas mehr abgewinnen.

»Das EPCOT Center hat eigentlich zwei Themenbereiche. Es beschreibt technische Errungenschaften und internationale Kulturen. Spaceship Earth solltet ihr euch in keinem Fall entgehen lassen. Ich wünsche euch viel Vergnügen. Dies wird der letzte Vergnügungspark sein, den wir hier in Florida besuchen«, unterrichtete uns Holger, wie es sich für einen ordentlichen Reiseleiter gehörte.

Mit einer Bahn fuhr man durch eine riesige Kugel mit dem Namen Spaceship Earth. Lebensgroße, animierte Figuren, stellten Szenen aus dem täglichen Leben von der Frühzeit bis in die Gegenwart dar – und darüber hinaus, denn die Fahrt endete in den Sphären des Himmels. In den Future World Pavillons konnte man technische Innovationen bestaunen. Diese Ausstellungen, von verschiedenen Sponsoren unterstützt, zeigten natürlich nur das Großartige der Technik. Kritische Töne waren nicht zu hören.

Auf die »Mission to Mars« verzichteten wir diesmal. Handelte es sich doch wieder um einen dieser schrecklichen Simulatoren, der uns schon in Seaworld in Angst und Schrecken versetzt hatte. Der Weg an der World Showcase Lagoon vorbei führte zu einer Reihe von Länder-Pavillons. Diese Pavillons glichen Bauwerken aus den entsprechenden Regionen der Erde. Sie hatten Restaurants und Shops, in denen man landestypische Waren kaufen konnte. Neben einem chinesischen Tor, einer japanischen Pagode, dem Koutoubia-Minarett aus Marrakesch und dem Kampanile aus Venedig standen einige Fachwerkhäuser aus Deutschland. Davor befand sich ein mit Lederhosen bekleideter Ziachspieler im Trachtenhemd und mit Gamsbart am Hut. Er gab ein paar bayrische Volksweisen zum Besten, die in unseren Ohren nicht unbedingt nach Heimat klangen. Auf der Speisekarte des Restaurants wurden Schweinsbraten, Würstl und Sauerkraut angeboten. Na, wenn das nicht Appetit machte. Als wir durch den Laden streiften konnten wir staunend die Machwerke deutscher Fabrikation bewundern: Kuckucksuhren, einen Bierkrug in Form eines Toilettenhäuschens mit Herz und eine Tüte Gummibärchen, in Farben, wie wir sie allenfalls aus den Siebzigern kannten. Mittlerweile wurde bei uns doch nur noch Naturfarbstoff verwendet, aber das hatten die Amerikaner wohl verschlafen. Auf Sauerkraut und Schweinsbraten verzichteten wir und trafen uns stattdessen zum Essen in Mexiko, im San Angel Inn, um im Schatten eines aktiven Vulkans, dessen rotglühender Krater selbst in der Abenddämmerung kaum bedrohlich wirkte, Burritos oder Empanadas zu bestellen.

»So, das war es dann wohl. Genug von dieser Kunstwelt, die Natur hat uns wieder«, gab ich zum Besten und kaute genüsslich auf einem Tacochip herum.

»Mir hat es super gefallen. Ich habe mich lange nicht mehr so gut amüsiert«, entschied Sabine. Die anderen waren auch dieser Meinung, und ich konnte mich dem nur anschließen. Draußen wartete dann noch eine Überraschung auf uns. Gunnar, mit einer Mickey-Mouse-Kappe bekleidet, deren Mitte eine rote Nikolausmütze zierte, sang uns das bekannte Weihnachtslied »Jingle bells.« Ein würdiger Abschied von Orlando und seinen Themenparks.

Ich stellte die Steaks, angerichtet auf einer Platte und verziert mit ein wenig Kräuterbutter, auf den Esstisch. Magdalena war gerade dabei, ihre Kartoffel aus der Alufolie zu pfriemeln und mit einem ordentlichen Schlag Sour cream zu versehen.

»Ich kann mir gut vorstellen, dass es richtig Spaß gemacht hat, dieser Zug durch die Vergnügungsparks«, bemerkte sie, holte sich eines der Fleischstücke auf den Teller, schnitt ein Stückchen ab und stellte fest, »auf den Punkt, das Fleisch. Ich mag es nicht, wenn es zu blutig ist.«

Meine Katze schaute, nun etwas mutiger geworden, kurz um die Ecke. Sie hatte das Fleisch gerochen und sicher nichts gegen etwas Blut einzuwenden. Aber ihre Scheu war doch zu groß und sie zog sich, nachdem sie ein bisschen Milch aus ihrem Schälchen geschlabbert hatte, schnell wieder zurück.

»Ich war einmal im Phantasialand in Brühl, das hat mir total Spaß gemacht. Könnten wir ja mal alle zusammen hinfahren«, sagte Sybille.

»Ach nee, Vergnügungsparks sind überhaupt nicht mein Ding«, antwortete Bernd, »ich bin jetzt mal gespannt, was Florida sonst noch zu bieten hat.«

Nun führte unsere Reise nach Westen. Unser Ziel hieß Saint Petersburg, eine mittelgroße Stadt mit etwa einer viertel Million Einwohner. Sie liegt auf einer Halbinsel zwischen dem Golf von Mexiko und der Tampa Bay und trägt den schönen Beinamen Floridas Sunshine City.

Hier sollte unsere Zeltreise beginnen. Für mich ein echtes Highlight dieser Tour. Ich war schon als Kind mit meinen Eltern oft zelten gewesen und setzte diese Tradition in meiner Jugendzeit mit Freunden fort. Das Zelten ist zwar manchmal unbequem, vor allem wenn es regnet, aber die Nähe zur Natur ist unschlagbar. Für mich gab es nichts Herrlicheres als am frühen Morgen, bei aufgehender Sonne und Vogelgezwitscher gemeinsam zwischen den Zelten zu frühstücken und am Abend bei einer Gaslaterne, einem Drink und einem lustigen Gespräch den Tag ausklingen zu lassen. Was eignete sich besser zum Zelten als die lauen Nächte von Florida?

So standen wir in Mickey-Mouse-T-Shirts, mit neuer Sonnenbrille, mondtauglich aus Cape Canaveral und Baseball-Cap, bedruckt mit Dagobert Duck, im Halbkreis um unseren Reiseleiter. Er erklärte uns den Aufbau der neuen Iglu Zelte.

»So, jetzt seht mal alle her. Zuerst breitet ihr die viereckige Bodenplane aus.

Dann legt ihr das Innenzelt darauf. Ihr solltet nicht so viel darauf herumlaufen, sonst habt ihr sofort den Dreck im Zelt. Nun nehmt ihr eine von den Stangen, stupst sie in eines der Löcher an den Ecken und biegt sie so durch, dass sie auch noch in das gegenüberliegende Loch passt.«

Oje, dachte ich so bei mir, hoffentlich bricht die nicht gleich durch und verletzt unsere wichtigste Person am Auge oder sonst wo. Als hätte er meine Gedanken gehört fuhr er fort:

»Keine Angst, die Stangen sind aus Fiberglas, die können so schnell nicht brechen. Dann nehmt ihr die zweite Stange und bringt sie diagonal zur ersten an. Wenn ihr nun beide Stangen aufrichtet, dann könnt ihr das Innenzelt daran aufhängen. Ihr werft anschließend das regenfeste Außenzelt darüber und fixiert es mit den Heringen im Boden. Und schon steht Euer neues Zuhause. Also seht mal zu.« Offensichtlich klaffte bei mir in der Entwicklungsgeschichte von Zelten eine gewaltige Lücke. Die Zelte, die ich kannte, wogen eine ganze Menge, und waren die Stangen aus Alu erst einmal verbogen, ging gar nichts mehr. Aber mit diesen tollen Dingern war es für Marion und mich kein Problem, unser neues Heim aufzustellen. Anschließend schlenderte ich ein wenig über den Campingplatz und beobachtete die Pelikane, die auf ihren Holzpfosten saßen, immer ein Auge auf das Wasser gerichtet, um dann urplötzlich loszupreschen und einen Fisch zu fangen. Hinter dem Wasser sammelte sich eine Gruppe von Seidenreihern in einem Baum. Ein wundervolles Bild – sehen die weißen Vögel doch wie kleine Wattebäusche in den sehr grünen Bäumen aus. Vor einem Wohnwagen sah ich ihn dann, den kleinen Gesellen mit der schwarzen Haube, der langen weißen Schmuckfeder im Nacken und den grellen, roten Augen. Ich hatte ihn schon viele Male auf ornithologischen Tafeln gesehen, aber nun stand er leibhaftig vor mir, der Nachtreiher und er machte ein lautes »Quak«, so als freute er sich, auch mich zu sehen. Am Swimmingpool sprach mich eine ältere Dame an:

»Oh, where are you from? Do you like Florida?«

»From Germany. Yes, we have a really good time here.« Sie redete dann noch ein wenig auf mich ein und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich nur einen Bruchteil von dem verstand, was sie mir sagen wollte. Es ging wohl um Florida im Allgemeinen und im Besonderen. Diese Art, unvermittelt angesprochen zu werden, habe ich in den USA oft erlebt. Viele Leute halten solchen Smalltalk für oberflächlich, ist er wohl auch. Aber dennoch habe ich ihn immer als ein freundliches Miteinander empfunden und ich hatte Gelegenheit, mein zur damaligen Zeit sehr schlechtes Englisch ein wenig aufzufrischen. In Florida traf man auf den Campingplätzen viele ältere Menschen, die in riesigen Wohnmobilen lebten, wie es sie bei uns gar nicht gibt. Sie hatten ihre Häuser verkauft, um in der Sonne Floridas ihren Lebensabend zu verbringen. Dabei ziehen sie mit ihren Mobilhomes wie Vagabunden von Ort zu Ort. Was für ein wundervolles Rentnerleben.

Zelten hieß für uns natürlich auch, selber kochen. Zu diesem Zweck hatten wir einen professionellen Campinggaskocher dabei und auf den meisten Plätzen gab es richtige Grillstationen. Was lag da näher, als erst mal mit ein paar deftigen Steaks anzufangen. Dazu gab es frischen Salat und Kartoffeln. Mir hat das Kochen immer Spaß gemacht, wenn ich auch kein Meisterkoch bin. Es ist so gemütlich, zwei Leute kochen, die anderen schnippeln ein bisschen und der Rest unterhält die Truppe mit dummen Sprüchen.

»He, Gunnar auch ein Bierchen?« Sabrina warf ihm eine Dose zu.

»Gerne, wisst ihr, eigentlich bin ich hauptsächlich hier, um eine Frau kennenzulernen.«

Ups, da hätte Marion sich beinahe in den Finger geschnitten.

Holger, unser Reiseleiter, schaute verstört vom Grill auf. Er wendete gerade die Steaks, deren köstlicher Geruch in Schwaden zu uns herüber strömte. Holger2 filmte aus dem Hinterhalt.

»Nein, ich meine es ernst. Ich liebe die USA, hier gibt es nicht diesen Neid und diese Missgunst wie bei uns, und jeder kann aus seinem Leben etwas machen. Deshalb würde ich hier gerne ein Mädchen kennenlernen, damit ich mal eine Adresse habe, um hierher zu kommen, vielleicht, um dann für immer zu bleiben.«

»Also ich weiß nicht Gunnar, da würde ich jetzt aber noch mal eine Nacht drüber schlafen. Urlaub zu machen und in den USA zu leben, das sind ja wohl zwei völlig verschiedene Paar Schuhe«, gab Sabine zu bedenken.

»Das glaube ich auch«, sagte ich und dachte, Gunnar ist auch nicht so ganz ehrlich, hatte er nicht schon längst ein Auge auf Sabrina geworfen? So verging der Abend bei gutem Essen, verschiedensten Erzählungen aus unserem Leben und dem Zirpen der Grillen in der lauen Abendluft.

Am folgenden Tag überquerten wir auf der Sunshine Skyway Bridge die Tampa Bay. Schon von weitem sahen wir die fast neun Kilometer lange Brücke, wie sie sich, an silbrigen Fäden aufgehängt, weit über das blaue Wasser der Bucht erstreckte. Unser Weg führte weiter nach Süden bis Fort Myers, einer beschaulichen Kleinstadt mit etwa 60.000 Einwohnern. Schon um die Jahrhundertwende hatten wohlhabende Industrielle aus dem Norden der USA diesen Ort als Winterresidenz genutzt. Henry Ford und Thomas Alva Edinson wurden sicher durch die schöne Lage und die milden Temperaturen angezogen. Das Ford Edison Winter Estate kann heute noch besichtigt werden. Am frühen Abend erreichten wir dann das endgültige Ziel des Tages: Sanibel Island. Dies ist eine ruhige, naturbelassene Insel, die weit ab vom Massentourismus mit breiten weißen Sandstränden aufwartet, an denen das Herz eines jeden Muschelsuchers höher schlägt. Im milden Licht der Abendsonne streifte ich wieder einmal über den Campingplatz. Auf einem Schild »Alligators can be dangerous«, hatte sich, von der Gefahr unbeeindruckt, ein Kormoran niedergelassen. Seine Flügel hingen seltsam kraftlos, als seien sie gebrochen, herunter. Er wollte wohl nur die letzten warmen Sonnenstrahlen des Tages nutzen, um sein feuchtes Gefieder zu trocknen. Einen Alligator erblickte ich allerdings nicht. Dafür schmückten zahlreiche, wunderschöne Palmen den Strand. Eine weitere Eigenheit der Insel ist, dass kein Haus höher gebaut werden darf, als die größte Palme gewachsen ist.

Zurück in unserem Zeltlager hörte ich, dass Holger gerade mit dem Vortrag begonnen hatte, der uns auf den folgenden Tag einstimmen sollte. »Wir werden morgen den Ding Darling Naturpark besuchen. Er liegt an der Westküste von Sanibel Island und ist ein naturbelassenes Mangroven Ökosystem. Mangroven sind Bäume, die mit ihren Stelzwurzeln im Salzwasser stehen und in tropischen und subtropischen Regionen vorkommen. Es gibt viele verschiedene Arten. Wir werden Gelegenheit haben, an einem der vielen Strände baden zu gehen und am Abend werden wir direkt weiterfahren nach Captiva Island, der zweiten schönen Insel in dieser Region.«

Gesagt, getan, verbrachten wir einen weiteren sonnigen Tag in der Natur und Schönheit Floridas. Wir schwammen im warmen Golf von Mexiko, erfreuten uns an der Vogelvielfalt und ließen die Seele baumeln. Am Strand entlangschlendernd bückten wir uns hier und da um eine der besonderen Muscheln einzusammeln. Ich habe noch heute, zwanzig Jahre später, eine davon in meinem Portemonnaie, die mich immer an diese schöne Zeit erinnert.

Am Abend erreichten wir dann Captiva Island und Sabrina hatte eine tolle Idee: »Wisst ihr was Leute, sollen wir heute Abend nach dem Essen nicht mal in eine schöne Bar, vielleicht am Strand, gehen und einen Cocktail oder sonst was trinken?«

An dieser Stelle sei erwähnt, Michael, Holger unser Reiseleiter und Holger2 waren alle ein bisschen verliebt in Sabrina und unser Gunnar vielleicht auch ein bisschen mehr. Sabrina hatte lange, kastanienbraune Locken, tiefbraune Augen mit denen sie bei passender Gelegenheit zu zwinkern wusste und eine echt weibliche Ausstrahlung. Da konnten wir anderen Frauen leider nicht mithalten. Neid ausgeschlossen!?

»Ja, super, da brezeln wir uns ein bisschen auf und machen uns einen schönen Abend«, stimmten wir zu.

»Ich habe aber nur eine ganz normale Jeans«, gab Gunnar zu bedenken.

»Das stört uns nicht, wir nehmen dich trotzdem mit.«