In deutschen Zeiten - Uwe Heit - E-Book

In deutschen Zeiten E-Book

Uwe Heit

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Beschreibung

"In der schlechten Luft des Krankenhauses, unter Schmerzen, vollgepumpt mit Medikamenten wurde mir plötzlich klar, dass ich Schriftsteller werden würde. Der größte aller Zeiten." Irgendwann in den späten 70er-Jahren irgendwo in der DDR beschließt Frank Grunwald zu schreiben. Über die Plattenbauten und die Lehrlingsbrigade in der Provinz, über den Hafen und das Arbeiterwohnheim in Rostock. Über den Braunkohletagebau und Leipzig, die verfallende Stadt. Über die Revolution von 1989 und die mühsamen Versuche eines Neuanfangs. Uwe Heits Roman ist ein Parforceritt durch den Untergang eines Staats und eine ebenso tragische wie absurd-komische Geschichte vom Scheitern eines Menschen an der Geschichte und an sich selbst.

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Seitenzahl: 440

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Uwe Heit

In deutschen Zeiten

Ein großartiger Augenblick

Ein Lkw überfuhr mich. Die gläsernen Milchflaschen in meinem Einkaufsbeutel zerbrachen knirschend, meine Beine zerbrachen knackend unter den Reifen. Ich war zehn. Der Lkw fuhr weiter.

Ich lag auf Kopfsteinpflaster, das später verkauft werden würde, weil mein Land, die DDR, Westgeld benötigte. Es würde verkauft werden an die BRD, deren Kleinstädte so aussehen sollten wie in der guten alten Zeit. Der notdürftige, schnell zerfahrene Ersatzbelag würde erst im vereinigten Deutschland ersetzt werden, mit dem Geld der BRD.

Es dauerte, bis ich verstand, dass ich es war, der auf der Straße ohrenbetäubend schrie. Menschen sammelten sich um mich. Eine Frau drückte meine Hand: Ich solle mir keine Sorgen wegen der Milchflaschen machen; ich würde meiner Mutter erklären können, warum es heute keine frische Milch gäbe. Ein Krankenwagen hielt neben mir. Zwei Sanitäter legten mich auf eine Trage und fuhren mit mir weg. Auf dem Weg zum Krankenhaus wurde mir klar, dass ich an diesem Tag möglicherweise nicht in die Schule musste. Das stimmte mich etwas optimistischer.

Weil in der Kinderabteilung kein Bett frei war, wurde ich in einem Zimmer der Männerstation untergebracht. Sieben Männer lagen darin in brütender Hitze bei geschlossenen Fenstern. Ich starrte von meinem Bett aus nach draußen, wo am Himmel sich schnell auflösende Wolken entlangzogen. Als es dunkel geworden war, brüllte ein Mann, der kleine Scheißer solle endlich die Schnauze halten, sonst würde er ihm den Schnabel zudrehen. Zustimmendes Gebrabbel war aus den anderen Betten zu hören. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass das Winseln, das ich seit Stunden ununterbrochen gehört hatte, aus meinem Hals kam.

In den nächsten Tagen bekam ich viele Spritzen. Anfangs hatte ich Angst davor, aber nach einer Woche rief ich: »Hier!«, wenn die Schwester mit Spritzen in das Zimmer kam und uns fragte: »Wer will noch mal? Wer hat noch nicht?«

Mein Klassenlehrer und zwei Mitschüler besuchten mich im Krankenhaus. Ich hatte das nicht erwartet, denn ich war unbeliebt in der Schule. Herr März als mein Klassenlehrer musste mich sicher im Krankenhaus besuchen, aber meine Mitschüler? Später erfuhr ich, dass die Klasse Sieglinde und Bernd als Besucher bestimmt hatte. Sieglinde war ein unscheinbares Mädchen, mit dem ich noch keine fünf Sätze geredet hatte. Sie stand neben meinem Bett und starrte mich an. Auch Bernd sagte nichts. Sein Vater war Schauspieler. Unsere Klasse musste jedes Jahr eine Aufführung des Märchens »Das tapfere Schneiderlein« im Theater besuchen, in der Bernds Vater betrunken als das tapfere Schneiderlein über die Bühne torkelte. Ich wusste nichts von der Verzweiflung eines Schauspielers an einem Theater in einer Kleinstadt der DDR. Schauspieler waren für mich Menschen, die in einem Fleischfachgeschäft das R rollten bei der Frage, ob es etwas anderes als Leberwurst gebe diese Woche. Bernd würde als Achtzehnjähriger in einem Schlauchboot nach Dänemark fliehen wollen, aber noch am Ostseestrand von Grenzsoldaten verhaftet werden. Vielleicht hatte er Angst gehabt vor einem Ende wie das seines Vaters, des tapferen Schneiderleins. Noch im Gefängnis würde er von der BRD freigekauft werden. Ich hatte damals keine Ahnung, dass die DDR neben Pflastersteinen auch Bürger für gutes Geld verkaufte.

Ich langweilte mich sehr in meinem Bett, sodass mir die Krankenschwestern Bücher aus der Bibliothek des Krankenhauses brachten. Die Kinderbücher hatte ich bald gelesen. Anderes wollten mir die Schwestern zunächst nicht geben, aber die Männer im Zimmer überredeten sie dazu. Wenn ich las, schwieg ich. Ich konnte sehr schnell lesen. Als ich alle Bücher der Krankenhausbibliothek gelesen hatte, brachte mir meine Mutter welche mit.

In der schlechten Luft des Krankenhauses, unter Schmerzen, vollgepumpt mit Medikamenten, umgeben von Menschen mit abstoßenden Wunden wurde mir plötzlich klar, dass ich, Frank Grunwald, Schriftsteller werden würde. Der größte aller Zeiten.

Hühner

Die Straße, in der unser Haus stand, endete am Geflügelschlachthof der Stadt. Sie war weniger eine Straße als ein ausgefahrener, unebener Sandweg voller Kuhlen. Unter den Reifen der Lkw und Traktoren, die das Geflügel Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften zum Schlachthof transportierten, wurde der Bauschutt, mit dem die Straße gelegentlich geflickt wurde, zu rötlich-weißem Staub zermahlen. Wegen der Straßen und der Transportbehälter fielen viele Tiere auf dem Weg zum Schlachthof von den Fahrzeugen: Hühner, Enten, Gänse, Kaninchen. Die Fahrer bekamen ihr Gehalt so oder so am Monatsende, ihnen war es also egal; mir und meinen Freunden aber nicht. Wir kannten jede Kuhle der Straße und wussten genau, an welchen Stellen die Tiere aus den Käfigen fielen. Dann gehörten sie uns. Hühner, Enten, Gänse, Kaninchen. Die Leute schimpften ständig, es gäbe trotz der wirtschaftlichen Erfolgsmeldungen in den Zeitungen nichts zu kaufen. Wir jedoch hatten die Straße. Was auf einer Straße gefunden werde, sei öffentliches Eigentum, erklärte mein Vater. Also gab es bei uns zu Hause: Huhn gebraten, Huhn gekocht, Huhn sauer eingelegt. Hühnersuppe mit Nudeln. Hühnersuppe ohne Nudeln. Huhn mit Mohrrüben. Oder mit Porree. Huhn gebacken. Huhn mit Zwiebeln. Hühnerfleisch mit Käse. Hühnerfrikassee. Huhn in Weißwein (wegen des Weinangebots nur selten). Huhn mit Senf und Reis. Huhn mit Reis – ohne Senf. Huhn mit Gemüse und Reis. Ausschließlich im Herbst Huhn mit Pilzen, denn Pilze konnten wir nicht kaufen, nur sammeln. Geschmortes Huhn. Gefülltes Huhn. Huhn in Buttermilch. Eintopf mit Hühnerfleisch. Russisches Huhn. Huhn auf Ukrainisch. Rumänisches Huhn – sehr schmackhaft! Ente in allen Varianten. Gänsebraten gab es nur in der Vorweihnachtszeit, weil nur dann Gänse zum Schlachthof gefahren wurden. Kaninchen aßen wir seltener, denn die konnte ich nicht gut fangen. Enten dagegen konnte ich sehr gut fangen, sogar mehrere mit vier, fünf Griffen, in Sekundenschnelle.

Besonders unsere kinderlosen Nachbarn waren neidisch auf unsere fleischhaltigen Mahlzeiten. Acht Enten hatten sich einmal in den Garten unserer Nachbarn geflüchtet. Die Cytowics, Bednareks und Jewaroweskys, Kriegsflüchtlinge aus dem Osten, die ein seltsames Deutsch sprachen, lebten beengt in einer Villa, die nach der Enteignung der Besitzer umgebaut worden war. Den großen Garten der Villa hatten die Schlesier und Ostpreußen in viele kleine eigene Gärten aufgeteilt und ihre Kleingärten mit kniehohen Zäunen voneinander abgegrenzt. Sie stritten sich ständig und gönnten einander nichts. Nun aber zerstörten acht Enten, sichtlich verwirrt durch das erste Grün nach einem Leben im Stall, ihre kniehohen Gartenzäune, zertraten die liebevoll gehegten Beete, aber die Flüchtlinge schien das nicht zu stören. Sie standen an den Fenstern ihrer engen, kleinen Wohnungen und beobachteten die Entenschar. Sicher warteten sie auf die Dunkelheit, um die Enten ohne Zeugen fangen zu können. Ich dagegen hoffte, dass die Enten durch das Loch im Zaun in unseren Garten kommen würden. Wir alle wurden enttäuscht, denn Frau Müller, eine alte kleine Frau, erschien mit zwei Arbeitern des Geflügelschlachthofs im Garten, um die Tiere wieder einzufangen. Die Müllers waren die enteigneten Besitzer der Villa, des Gartens und des Geflügelschlachthofs und wohnten im Keller des Hauses. Anders als andere enteignete Kapitalisten der DDR waren die beiden nicht in den Westen geflüchtet. Ich war ihnen dafür dankbar, denn von grausamen, blutgierigen, kapitalistischen Ausbeutern in der Schule zu hören, war das eine – sie als Nachbarn zu haben, etwas anderes. Herrn Müller sah ich nie ganz; er verließ den Keller nicht. Ich hatte den Verdacht, dass er so gegen die Volkswirtschaft protestierte, aber meine Mutter meinte, er sei gehbehindert. Der Alte in der Kellerwohnung war sicher ein blutgieriger Kapitalist gewesen, aber auch im volkseigenen Schlachthof fanden die Tiere ein bedauernswertes Ende. Käfige voller Hühnern standen tagelang bei jedem Wetter auf dem Hof. Entlaufene Enten zogen gruppenweise laut schnatternd über den Hof, als protestierten sie gegen die Zustände. Der Direktor des volkseigenen Geflügelschlachthofs liebte es, entlaufenen Hühnern auf dem Hof mit dem Luftgewehr eine Bleikugel in den Kopf zu schießen. War das Tier getroffen, führte es einen wilden Tanz auf, bevor es am Boden zuckend starb. Überall lagen zwischen anderen Abfällen Kadaver auf dem Hof. An warmen Sommertagen und bei ungünstigem Wind war der Aufenthalt in unserem Garten wegen des Geruchs nach verfaulendem Fleisch fast unerträglich.

Es war mir unverständlich, wie meine Großeltern, die in unserem Gartenhäuschen wohnten, das ertragen konnten. Untereinander benutzten sie einen seltsamen deutschen Dialekt und betrachteten die Flüchtlinge in der ehemaligen Villa mit Argwohn. Es war meinen Großeltern als deutschen Protestanten schlecht ergangen im katholischen Polen, der »kalten Heimat«. Ihre Vorfahren hatten ein paar Hundert Jahre lang versucht, den Sand fruchtbar zu machen, den ein polnischer Graf den Deutschen zur Urbarmachung überlassen hatte. Jeden Sonntagmorgen beteten Großmutter und ich gemeinsam am Wohnzimmertisch. Wir hörten eine Predigt im Radio, sangen Kirchenlieder und Großmutter las aus einer alten, zerfallenden Familienbibel. Zu ihrem Verdruss waren wir bei der sonntäglichen Kirchenandacht am Radio immer nur zu zweit. Meine Eltern hatten als Genossen der SED die Kirche verlassen und mein Großvater besuchte in der Zeit, in der wir vorm Radio saßen, seine Freundin, wie ich viel später erfahren würde. So war ich der Einzige, der sich neben meiner Großmutter in der Familie noch zum Protestantismus bekannte. Nach der Morgenandacht gingen wir in die Kirche: Ein stolzes Kind in Opposition zu seinen Eltern und dem dickfelligen Großvater begleitete seine an Krücken humpelnde Großmutter. In der Kirche trafen wir Bekannte, alte Frauen, die wenigsten in Begleitung eines Enkels. Während der Unterhaltung der Alten über Krankheiten und den baldigen Tod wartete ich geduldig auf meinen Moment. Irgendwann betrachteten trübe, schwache Augen mich wohlgefällig und Großmutter wurde laut um ihren artigen, gottgläubigen Enkel beneidet. Anschließend lobte meine Großmutter mich, danach lobten alle gemeinsam. Ich versuchte, währenddessen immer sehr bescheiden auszusehen, um noch mehr Gutes über mich zu hören. In der Schulklasse war ich der Einzige, der die Christenlehre besuchte. Wenn ich zu Mitschülern sagte: »Ich muss heute nach der Schule zur Christenlehre!«, sahen sie mich an, als hätten sie eine gefährliche Seite an mir entdeckt. Mein Mitschüler in der Christenlehre, Gottlieb, verheimlichte seine Besuche dort in der Schule, weil seine Eltern fürchteten, er könnte deswegen von Lehrern benachteiligt werden.

Als ich nach meinem Unfall endlich wieder gehen konnte, holte ich mir selbst Bücher – zuerst noch aus der Kinderbibliothek. Die Bibliothekarin, eine kleine, dickliche Frau mit ordentlichen Dauerwellen, beobachtete misstrauisch, was in ihren zwei kleinen Räumen geschah. Sie ermahnte mich jedes Mal: »Mach keine Flecken hinein!«, »Iss nicht beim Lesen!«, »Nimm kein Buch mit in die Toilette, schon gar nicht beim großen Geschäft!«, »Reiß keine Seiten heraus!« Am wichtigsten aber war es ihr, dass keine Seite genickt wurde. »Keine Eselsohren!«, sagte sie streng.

Mit vierzehn durfte ich endlich Bücher in der Erwachsenenbibliothek ausleihen. Ich hatte es schon vorher versucht.

»Dein Personalausweis!«, hatte die Bibliothekarin gesagt.

Das hatte ich befürchtet. Ich war dreizehn Jahre alt gewesen und noch ohne Ausweis.

»Komm mit deinem Personalausweis wieder.«

»Ich möchte Bücher lesen«, hatte ich sie angefleht.

»Dein Personalausweis!«

Beim dritten Versuch hatte ich behauptet, Altpapier zu sammeln, den Erlös würde ich für den Kampf der unterdrückten Massen in Afrika und Lateinamerika gegen den Imperialismus spenden. Aber ich war immer noch dreizehn gewesen. Oft hatte ich sehnsüchtig die Bücher in den Regalen hinter den großen Scheiben der Erwachsenenbibliothek betrachtet.

Mit vierzehn aber durfte ich die Bücher endlich ausleihen. Sogar vier auf einmal. Manchmal auch fünf. Ich las sogar die Klassiker des Marxismus-Leninismus. Nachdem ich alle Bücher der Bibliothek gelesen hatte, begann ich zu schreiben. Lernte die Angst des Schriftstellers vor dem leeren, weißen Blatt kennen. Fing immer wieder an zu schreiben. Zerknüllte Blätter. Zerbrach Bleistifte. Biss auf Kulis. Schließlich hatte ich das Thema für meine erste Geschichte gefunden: Ein Huhn lebte sehr beengt mit dreitausend anderen in einem nicht gelüfteten Stall einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft für Tierproduktion. Mein Huhn träumte von saftigen grünen Wiesen und fürchtete die brutalen LPG-Bauern. Es war sehr aufgeregt, als es mit den dreitausend Gefährten aus dem Stall getrieben wurde. Dabei wurden ihm nicht die Knochen zerbrochen wie anderen Hühnern. Es erstickte nicht in einem Metallkäfig. Es fiel nicht aus dem Käfig, rutschte auf dem Weg zum Geflügelschlachthof nicht vom Lkw-Anhänger, wurde nicht auf der Straße überfahren und landete nicht in Kinderhänden. Mein Huhn erwartete im Käfig auf dem Hof nicht geduldig den Tod, sondern öffnete die Käfigtür und floh. In meiner Geschichte war der Direktor des volkseigenen Geflügelschlachthofs ein ehemaliger General der Waffen-SS, der mit einer Maschinenpistole auf die flüchtenden Hühner schoss. Eine Kugel traf meinen Helden, als er durch eine Lücke im Zaun in die Freiheit flüchten wollte. Die letzte Empfindung des Huhns – bevor sein Schädel zerplatzte – war der Geruch des saftigen, frischen Grases auf der anderen Seite des Zauns gewesen.

Ich war sehr stolz auf meine erste Geschichte.

In Plattenbauten

Nach der Scheidung meiner Eltern zog ich mit meiner Mutter in die Plattenbausiedlung der Stadt. Dort lebten viele ehemalige Bewohner der Altstadt, deren Bürgerhäuser schneller verfielen, als billige Plattenwohnungen gebaut werden konnten. Meine Mutter und ich wohnten in einer Wohnung der Albert-Hase-Straße. SS-Leute hatten am Ende des Zweiten Weltkriegs Albert Hases Vater aufhängen wollen, weil er Kommunist war und weil das Dritte Reich am Ende war. Alberts Vater hatte sich aber nicht aufhängen lassen, schon gar nicht wegen des Endes des Dritten Reichs, und hatte sich versteckt. Also hatte die SS anstatt des Vaters den Sohn erhängt. Wenigstens trug unsere Straße keinen der in Plattenbausiedlungen der DDR üblichen Namen wie Rosa-Luxemburg-Straße, Karl-Marx-Allee oder Juri-Gagarin-Ring. Nachts wankten grölende Betrunkene an unserem Plattenbau vorbei. Sie kamen aus der Altstadt, in der es neben verfallenden Bürgerhäusern Kneipen gab. Die Kneipen waren jeden Abend voll, denn Alkohol war billig in der DDR und Arbeit gesetzliche Pflicht, aus der niemand entlassen wurde. Vielmehr sollten Alkoholiker durch die sozialistischen Kollektive in den volkseigenen Betrieben erzogen werden – eine Aufgabe, an der viele sozialistische Kollektive scheiterten. Es war oft unerträglich warm in den Wohnungen der Plattenbausiedlung, denn deren Zentralheizung heizte unabhängig vom Wetter. Auch im Winter war es manchmal trotz offener Fenster unerträglich warm. Trotzdem mussten die Mieter keine hohen Heizkosten und überhaupt nur wenig Miete zahlen, weshalb Plattenbauwohnungen bei vielen begehrt waren. Die dünnen Wände zwischen den Wohnungen hingegen gehörten zu den Gründen, weshalb sie bei einigen nicht begehrt waren. Über uns wohnten die Sikorskys, eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Herr und Frau Sikorsky begannen meistens gegen siebzehn Uhr zu streiten, wenn er von der Arbeit kam. Am Anfang stand immer die Behauptung, dass er wieder die »Schlampe«, eine Arbeitskollegin, »gevögelt« hätte. Herr Sikorsky kam manchmal nur vier oder fünf Minuten später als sonst nach Hause und seine Erklärungen für die Verspätungen hielt ich für glaubwürdig, aber sein Tonfall ließ mich um die Ehe der Sikorskys fürchten. Das Ehepaar Berndt wohnte unter uns. Frau Berndt erlaubte ihrem Mann das Zigarrenrauchen nur auf der Toilette, von wo der Rauch durch den Lüftungsschacht direkt in unsere Wohnung zog. Herr Berndt war der Hausvertrauensmann für die Mieter unseres Aufgangs. Er führte das Hausbuch, in das er den Namen jedes Fremden schrieb, der bei einem Mieter im Aufgang übernachtete. Er war auch dafür verantwortlich, dass die Mieter den Aufgang reinigten. Dass die Rentner von der Reinigung ausgenommen waren, stellte niemand infrage – bis ein Offizier mit seiner Familie in unseren Aufgang einzog. Der Major sagte, er müsse die Kapitalisten mit der Waffe in der Hand bekämpfen und habe keine Zeit, für die Alten den Besen zu schwingen.

An unserem Plattenbau entlang zog sich eine stark befahrene Straße, dahinter, keine fünfzig Meter von unserer Wohnung entfernt, lag der Güterbahnhof der Stadt. Bagger schütteten dort Kohle in Waggons, die beim Rangieren mit ohrenbetäubendem Lärm gegeneinander knallten. Kohlestaub wurde durch den Wind in die Wohnungen getragen, schwärzte die Wäsche und legte sich auf die Möbel, besonders dann, wenn die Zentralheizung der Plattenbausiedlung auf Höchststufe heizte: Dann mussten die Mieter alle Fenster ihrer Wohnungen öffnen, um die Hitze ertragen zu können. Viele Plattenbaubewohner waren davon überzeugt, dass der ständige Krach, der Kohlestaub und die Hitze die Ursachen für ihre Schlafstörungen und einige Krankheiten waren, was aber kein Arzt erkennen wollte oder konnte oder durfte. In dieser Umgebung wollte ich Schriftsteller werden. Im Lärm, im Dreck, in der Hitze.

Mit sechzehn sollte ich mich für eine Berufsausbildung entscheiden. Jeder Jugendliche musste eine Ausbildung machen. Ich aber konnte mich nicht entscheiden, weil Schriftsteller kein Lehrberuf war. Die anderen Schüler verschickten Bewerbungen, ich nicht. Meine Mutter wurde immer ungeduldiger und mein Vater wollte »etwas sehen« für das Geld, das er jeden Monat für mich bezahlte. Schließlich bewarb ich mich für eine Ausbildung als Pferdezüchter. In der Ablehnung wurde ich für meine Ehrlichkeit in der Bewerbung gelobt. Ich hatte erwähnt, dass ich noch nie auf einem Pferd geritten sei. Danach schrieb ich eine Bewerbung für die Ausbildung als Erdölarbeiter. Erdöl gab es im Norden der DDR. Ein wenig Erdöl. Einen Tropfen Erdöl, der sehr wertvoll für die kleine, arme DDR war. Diese Bewerbung lag lange auf meinem Schreibtisch, dann steckte ich sie in eine Schublade. Schließlich vergaß ich sie. Als alle anderen in der Klasse bereits einen Lehrvertrag hatten, behauptete meine Mutter, dass ich bald als arbeitsscheues Element irgendeiner Arbeit zugeführt würde. Schließlich bewarb ich mich für eine Lehrstelle als Baufacharbeiter in der vierzig Kilometer entfernten Bezirksstadt.

Wenn ich gewusst hätte, dass ich als Baufacharbeiterlehrling in der Bezirksstadt in einem identischen Plattenbau wie zu Hause wohnen würde: Ich hätte die Bewerbung als Erdölarbeiter abgeschickt! Hinter dem Lehrlingswohnheim lag der gleiche Spielplatz mit den gleichen Spielgeräten und Sandkästen wie zu Hause, davor die gleichen, grauen Gehwegplatten, die gleichen Straßenlampen und die gleichen grau-weißen Papierkörbe aus Stein mit schwarzem Plastikeinsatz. Die Eingänge des Wohnheims waren verriegelt bis auf einen, der von den Erziehern überwacht wurde. Ich wohnte mit sieben anderen Jugendlichen in einer Zweizimmerwohnung. Kein Lehrling durfte ohne Erlaubnis den Plattenbau verlassen. Herr Rogge, der Leiter, war ein stämmiger, untersetzter Mann, ein ehemaliger Maurer, der nach einem Arbeitsunfall Erzieher geworden war, sich aber immer noch als Maurer fühlte. Er stand oft am Eingang des Essenraums im Wohnheim und kontrollierte die Essenausgabe an uns Lehrlinge. Jeden Morgen gab es Marmelade, Butter und Brot und jeden Abend Wurst, Butter und Brot. Brot konnte jeder essen, so viel er wollte, aber nur im Essenraum. Niemand durfte auch nur eine Scheibe mitnehmen. »Wegen der Ratten«, sagte Herr Rogge. Morgens gab es dunkles heißes Wasser. Die Küchenfrau nannte es Kaffee. Das grüne heiße Wasser am Abend nannte sie Tee. Es roch muffig im Essenraum, weil die Fenster immer verschlossen und verriegelt waren. »Wegen der Ratten«, sagte die Küchenfrau; früher hatten Lehrlinge das Essen aus Protest aus dem Fenster geworfen. Wir mussten in Gruppen nach genau festgelegten Zeiten essen. Manchmal warteten wir auf der Treppe vor dem Essenraum, weil die Gruppe vor uns noch nicht fertig war. Herr Rogge stürzte uns die Treppe herunter, wenn es ihm zu laut wurde. Er brüllte uns von oben an, breitbeinig, die Hände auf den Oberschenkeln: »Muss ich euch Respekt vor der Küche beibringen?« Dann war er wieder ganz Maurer. Manche Lehrlinge provozierten das sogar. Im Keller des Lehrlingswohnheims, dem Freizeitbereich, war alles zerstört bis auf den blanken Beton und bis auf drei Tischtennisplatten. Die Platten waren verbogen, von Zigarettenbrandflecken übersät und wurden als Sitzplätze benutzt. Lehrlinge mit Zehnklassenabschluss durften immer darauf sitzen. Lehrlinge mit acht Klassen, von denen viele schlecht gestochene Tätowierungen auf Händen und Armen hatten, durften nur dann auf den Platten sitzen, wenn genug Platz für sie war. Teilfacharbeiterlehrlinge mit sechs oder sieben Klassen durften niemals auf den Platten sitzen. Sie standen an den Betonwänden des Kellers, rauchten ununterbrochen und sahen sehnsüchtig zu den sitzenden Lehrlingen hinüber.

Die meisten Erzieher im Lehrlingswohnheim waren ehemalige Maurer, die aus verschiedenen Gründen umgeschult hatten. Ein mürrischer Alkoholiker weckte uns jeden Morgen, indem er eine Eisenstange gegen die Metallgestänge unserer Betten schlug. In meiner Lehrbrigade waren wir zu neunt: acht Lehrlinge aus der Zweizimmerwohnung im Plattenbau und Kevin, der aus der Bezirksstadt selbst stammte. Am ersten Tag der praktischen Ausbildung warteten wir gemeinsam vor der Materialausgabe, einer kleinen Halle neben unserer Berufsschule, auf unseren Lehrmeister. Gesehen hatten wir ihn noch nie. Es war ein kalter Morgen. Wir warteten und froren und schimpften, denn der Lehrmeister war nicht pünktlich. Eine halbe Stunde nach dem Termin fuhr ein Mann auf einem Motorrad mit Beiwagen in unsere wartende, frierende, schimpfende Gruppe. Erschrocken sprangen wir auseinander. Der Fahrer, ein dicker, junger Mann in einer Tarnjacke der Gesellschaft für Sport und Technik, stieg gemächlich vom Motorrad. Wir hielten vorsichtig Abstand und betrachteten ihn. Er zog seine rutschende Hose hoch und sagte grimmig: »Ich bin Lehrmeister Günter Milch. Ich duze euch. Ihr siezt mich. Ich rede euch mit Vornamen an. Ihr nennt mich Lehrmeister. Klar?!«

Ein paar von uns nickten schüchtern. Unser Lehrmeister ging ohne ein weiteres Wort in die Halle, wir folgten ihm nach kurzem Zögern. Milch unterhielt sich lärmend mit dem Lagerverwalter, als der ihm Arbeitsgeräte und Berufsbekleidung aushändigte. Wir Lehrlinge brachten alles nach draußen und legten es auf einen Haufen. Als wir damit fertig waren, zeigte Milch darauf und sagte: »Worauf wartet ihr? Jeder nimmt sich was und ab zur Baustelle!«

Wir erklärten ihm, dass wir nicht wussten, wo die Baustelle war. Der Lehrmeister sagte ein paar unverständliche Worte, fuchtelte mit den Armen umher und fuhr mit dem Motorrad weg.

Ohne Kevin, den Ortskundigen, hätten wir uns auf dem Weg zur Baustelle sicher verlaufen. Schwer beladen fragte ich mich, ob das alles schon Teil der praktischen Ausbildung sein könnte. Auf der Baustelle fanden wir unseren Lehrmeister schließlich in der Kantine an einem Tisch mit Bauarbeitern. Er hatte uns anscheinend noch gar nicht erwartet. Milch führte uns auf der Baustelle in den Aufenthaltsraum der Lehrbrigade, einen Raum mit Tischen aus gepresstem Holz und Blechschränken an den Wänden. Er forderte uns auf, uns einzeln vorzustellen. Während die anderen Lehrlinge einer nach dem anderen redeten, entschied ich, dass ich mein Lebensziel, Schriftsteller zu werden, nicht erwähnen würde.

Am Ende der Vorstellungsrunde sah uns Lehrmeister Milch der Reihe nach an. »Der eine hat keine andere Lehrstelle gefunden. Der andere war zu faul gewesen, sich rechtzeitig woanders zu bewerben. Die meisten wollen mit Schwarzarbeit die dicke Marie verdienen. Idioten! Der Arsch wird euch noch auf Grundeis gehen.« Dann drohte er: »Wir werden ein Lehrlingskollektiv der sozialistischen Arbeit, denn dafür gibt es Geld. Wer ist dagegen?«

Grimmig sah er uns an. Keiner wagte, etwas dagegen zu sagen.

»Wer von euch macht den FDJ-Sekretär?«

Niemand meldete sich. Einige von uns duckten sich. Als ich den Lehrmeister im Befehlston sagen hörte: »Du bist der FDJ-Sekretär!«, hob ich den Kopf. Ludwig sah sehr unglücklich aus. Es hatte anscheinend ihn getroffen.

»Ich?«, fragte Ludwig erschrocken.

»Genau. Du«, schnarrte Milch.

»Ich bin so was noch nie gewesen.«

»Dann wird ’s Zeit. Wer von den anderen hat was dagegen?«

Spätestens jetzt wusste Ludwig, dass er verloren hatte.

»Einstimmig angenommen«, verkündete der Lehrmeister. »Wer wird sein Stellvertreter?«

Es war kindisch, aber ich senkte sofort wieder den Kopf in der Hoffnung, dass es mich so nicht treffen würde.

»Was ist mit dir!«, hörte ich den Lehrmeister.

Ich starrte auf die zerkratzte Tischplatte. Die Sekunden vergingen. Als ich Ingos Stimme hörte, atmete ich auf.

»Ich bin doch gar nicht in der FDJ!«, sagte Ingo triumphierend.

Nun sahen ihn alle an. Ich kannte bis dahin nur einen Jungen, der nicht Mitglied der Freien Deutschen Jugend der DDR war: Reinhold, dessen Eltern den Zeugen Jehovas angehörten. Er hatte nicht an den FDJ-Versammlungen teilnehmen müssen, worum er von allen anderen Schülern beneidet worden war.

»In meiner Truppe sind immer alle in der FDJ. Du darfst nach der Lehre wieder austreten«, sagte Milch.

»Wer ist dagegen, dass er unser Stellvertretender FDJ-Sekretär wird?«

Niemand sagte etwas.

»Wir brauchen einen Kassierer für die Mitgliederbeiträge der FDJ. Wer will es freiwillig machen?«

Ein Freiwilliger wurde gesucht. Das war neu. Ich wusste nicht, welche Posten er noch verteilen würde, aber der des Kassierers erschien mir erträglich. Dieser Lehrmeister würde dafür sorgen, dass alle den Beitrag bezahlten. Ich hob eine Hand. Milch war überrascht.

»Ein Freiwilliger. Das gab es ja noch nie. Du bist der Kassierer. Das war alles.«

Anschließend erklärte er uns die Zukunft: »Die Lehrer in der Berufsschule haben euch sicher gesagt, dass die meisten Maurer einen anderen Beruf erlernen müssen, wenn das Wohnungsbauprogramm im Jahr 1990 abgeschlossen ist. Haben sie das?«

Wir nickten.

»Könnt ihr alles vergessen. Es wird nie genug Wohnungen in der DDR geben. Maurer haben immer Arbeit. Mein Kumpel Georg ist zwei Meter groß, hat ein Kreuz wie ein Kleiderschrank und Hände wie Schaufeln. Den ganzen letzten Sommer hat er schwarzgearbeitet und sich von dem Geld einen Trabi aus dritter Hand gekauft!«

Der Lehrmeister ließ das auf uns wirken, bevor er wie beiläufig erklärte: »In Berlin gibt es für Schwarzarbeit bei Professoren oder Künstlern sogar Westgeld!«

Jetzt waren wir wirklich beeindruckt.

»Wir Maurer sind die Größten im Arbeiter- und Bauernstaat!«, stellte unser Lehrmeister fest.

In den ersten Wochen fegten wir Lehrlinge die Baustelle. Milch war selten bei uns, denn er baute für seine junge Familie ein Eigenheim. Ständig suchte er Rohre, Klebebänder, Dichtungsmasse, Zement, Dachpappe, Verbindungsstücke für Dachrinnen, Zuschlagstoffe und anderes, was man in der DDR nicht kaufen konnte, was aber auf der Baustelle vorhanden war. Die Maurer auf der Baustelle gaben ihm das Material, wofür er ihnen Bier und Schnaps in der Kantine spendierte. Wir Lehrlinge ärgerten uns, dass er als Nichtraucher uns das Rauchen auf der Baustelle verboten hatte. Sechzehnjährigen in der DDR war vieles verboten, aber nicht das Rauchen. »Alle anderen dürfen auf der Baustelle qualmen! Der Milch quält uns! Er unterdrückt uns!«, schimpften wir laut in seiner Abwesenheit. Wir rauchten heimlich, wenn Milch mit seinem Motorrad Material auf seine private Baustelle schaffte. Einer von uns passte auf, dass er uns bei der Rückkehr nicht beim Rauchen überraschte. Es war schwer, ihn zu täuschen: Als Nichtraucher hatte eine feine Nase für den Nikotingeruch. Oft fragte er grimmig: »Wer von euch hat geraucht?« Natürlich beteuerten wir immer, er würde sich irren. Ein Maurer mit Zigarette sei gerade vorbeigegangen, zwei Maurer, eine Brigade! Schließlich verbot er uns den Besitz von Zigaretten auf der Baustelle. Wir versteckten sie vor ihm, er suchte sie. Milch sah unter Eimer und Kübel, stocherte im Kies umher, riss Steinhaufen auseinander, bis er Zigaretten gefunden hatte. Mit seinen wulstigen Händen zog er vorsichtig eine Zigarette aus der Schachtel und betrachtete sie genau. Dann riss er behutsam das dünne weiße Papier auf und bröselte den Tabak auseinander. Hatte er die Zigarette zerstört, holte er die nächste aus der Schachtel. Hatte er ein dickeres Stück Tabak in einer Zigarette gefunden, zeigte er es uns freudestrahlend: »Ein Balken! Ein Balken! Ein Balken!«

Es war grausam, seine Freude ertragen zu müssen. Seine Trauer, wenn er alle Zigaretten zerstört hatte, ohne einen Balken gefunden zu haben. Bald nahmen wir nur zwei oder drei Zigaretten mit auf die Baustelle, um den Verlust erträglicher zu machen. Einmal stand Milch plötzlich zwischen uns, als wir rauchten. Wir drückten hastig die Zigaretten aus; Milch zerrieb Zigaretten. Plötzlich packte er Johann, einen starken Raucher, an der Jacke und tastete ihn ab. Das war noch nie geschehen. Johann ertrug es widerstandslos. Deshalb waren wir überrascht, als Milch eine Schachtel Zigaretten aus Johanns Jacke zog. Eine fast volle Schachtel! Filterzigaretten! Aus dem Westen! Wir konnten es kaum glauben. Der Lehrmeister auch nicht. »Meine ersten Westzigaretten!«, staunte er. Johann betrachtete mit seltsam abwesendem Blick die Schachtel Zigaretten in den Händen des Lehrmeisters. Plötzlich, wie aus einem Traum erwacht, rief er: »Das sind meine!«

»Sie werden es bleiben«, sagte der Lehrmeister sehr freundlich.

»Die habe ich von meinen Westverwandten gekriegt!«, rief Johann aufgeregt.

»Wir wollen sehen, ob die Westdeutschen Balken produzieren können«, sagte der Lehrmeister.

Alle wussten, dass der feine Tabak von Westzigaretten keine Balken enthielt. Johann starrte auf die wulstigen Finger, die langsam die erste Zigarette aus der Schachtel zogen. Plötzlich riss er die Schachtel aus der Hand des Lehrmeisters. Wir waren verblüfft, auch so etwas war noch nie geschehen. Johann versuchte zu fliehen. Er lief mit seiner Schachtel in der Hand um den Kübel mit Mörtelmischung, der zwischen ihm und Milch stand. Der Lehrmeister langte über den Kübel, packte den Lehrling am Kragen und riss ihn zu Boden. Johann lag auf dem Rücken und versuchte, die Schachtel mit ausgestreckten Armen von Milch fernzuhalten. Der schwere, massige Mann hockte auf dem kleinen, schmächtigen Jungen und drückte ein Knie auf dessen Brustbein. Johanns Gesicht lief rot an. Günter Milch schnaufte und drückte. Johann schrie und fuchtelte mit den Armen. Das Schreien wurde leiser. Bald röchelte Johann nur noch. Am Anfang waren wir übrigen Lehrlinge empört über das Verhalten des Lehrmeisters, voller Mitgefühl für unseren Kameraden gewesen. Als Johann dem Erstickungstod nahe war und dennoch weitergekämpfte, hatten ein paar von uns schon Tränen in den Augen. Die meisten mussten längst sitzen, so sehr lachten wir. Wie der Lehrmeister mit dem erstickenden Lehrling um eine Schachtel Zigaretten rang, war einfach zu komisch. Am Ende konnte Milch die Schachtel ergreifen. Er wälzte sich von Johann, der wie tot liegen blieb. Es war höchste Zeit, ich hatte schon Bauchschmerzen vor Lachen. Später versicherten wir Johann, dass er uns sehr leidgetan hätte. Natürlich fand Milch nicht einen Balken im feinen Tabak aus dem Westen.

Meine erste Mauer stieß unser Lehrmeister einfach mit dem Fuß um. Dabei hatte ich mir so viel Mühe mit ihr gegeben. Sorgfältig hatte ich die ersten Steine auf den Boden an einem gespannten Faden entlang gelegt. Hatte ein Stein nicht richtig auf meiner Mauer gelegen, hatte ich ihn erneut darauf platziert. So beschäftigt war ich mit meiner Mauer gewesen, dass ich kaum die der anderen Lehrlinge beachtet hatte. Am Ende hatte der Lehrmeister meine Mauer lange schweigend betrachtet, bis er sie mit dem Fuß umstieß. Dann behauptete er, er habe noch nie so eine missratene Mauer gesehen.

Aber ich wollte ja sowieso Schriftsteller werden.

Wir Lehrlinge diskutierten wochenlang miteinander, ob wir den Lehrmeister verprügeln konnten, aber den meisten war er zu stark, zu gefährlich. Aber eines Tages, als wir Schalungen für ein Fundament in einer Baugrube aufbauten, erschien der Milch nach stundenlanger Abwesenheit am Rand der Baugrube. Er beobachtete schweigend, wie wir arbeiteten. Schließlich stieg er zu uns herunter und zog schnaufend Luft in die Nase. Wir waren sicher, dass er kein Nikotin riechen würde, denn wir hatten ihn dieses Mal rechtzeitig gesehen.

»Wer hat geraucht?«, schnarrte er. Keiner von uns hielt eine Antwort für nötig, denn Milch war betrunken. Vor einem Kübel mit Mörtel blieb er stehen. »Was ist das? Pferdepisse?« Die Mörtelmischung war tatsächlich zu dünn. Der Lehrmeister kippte den Kübel samt Inhalt um, sodass sich die Mischung in die Baugrube ergoss. Plötzlich packten Ingo und Ludwig ihn an den Armen und warfen ihn zu Boden. Der Lehrmeister war überrascht, wehrte sich dann aber heftig gegen die beiden. Ludwig schrie Kevin an, er solle ihnen helfen, aber der rührte sich nicht. Wir beobachteten fasziniert Ingos und Ludwigs Kampf mit dem Lehrmeister. Milch hätte die beiden fast von sich geworfen, aber schließlich sprangen alle – außer Kevin – hinzu und drückten ihn auf den Boden, wo er wie ein fetter, großer Käfer zappelte. Wir wussten nicht, wie weiter. Der Lehrmeister wehrte sich schweigend. Einige Minuten vergingen. Dann ließen wir ihn wie auf Kommando los und sprangen zurück. Milch stand auf, rückte seine Jacke der Gesellschaft für Sport und Technik zurecht, schrie uns böse an: »Das werdet ihr büßen!« und verschwand. An dem Tag sahen wir ihn nicht mehr. Später erwähnte er den Vorfall nie. Aber offensichtlich hatten wir ihm Respekt abgerungen, er nahm sich ein wenig zusammen.

In der Diskothek

Mit meinem Mitlehrling Rolf besuchte ich die Diskothek im Haus der »Deutsch-Sowjetischen Freundschaft«. Rolf prahlte gern mit seinen Erfolgen bei Mädchen: »Ich habe an jedem Finger zehn!« Boxer sei er gewesen, behauptete er. Olympia-Kader der DDR! Er habe »wegen der Weiber« die Sportschule verlassen müssen. Rolf war als Kind mit seiner Familie aus Polen in die DDR gekommen. Oft erzählte er von seinen Verwandten in Polen. Riesige Höfe mit Scharen von Hühnern, Gänsen und Enten würden sie besitzen. Er müsse dort gebratene Hühnerkeulen, Eisbein und geräucherte Gänsebrust essen bis zum Erbrechen. Wir bezweifelten, dass seine Verwandten so gut lebten, aber keiner von uns war je im Ausland gewesen. Als Ingo einmal sagte, dass Rolfs Nachname polnisch klinge, hatte der mit seinem schwachen ausländischen Akzent aggressiv geantwortet: »Wir sind keine dreckigen Polen! Der Name Szalowskie ist ein kerndeutscher Name aus Schlesien!«

Es war fast unvermeidlich, dass wir zueinander fanden.

»Du willst doch auch in die Disko. Ich kann dich mitnehmen«, sagte Rolf eines Tages großzügig.

»Ich kann doch nicht tanzen!«

»Das ist doch leichter als scheißen. Los! Ich zeige es dir.«

Wenig später standen wir Arm in Arm im Zimmer.

»Tanzen lernt jeder Idiot sofort«, sagte Rolf. »Du musst meine Hände richtig halten. Setz deine Füße richtig. Drehen. Sofort. Mit dem rechten Fuß zwei Tipps nach vorn und mit dem linken einen Tipp nach hinten. Schwung.«

»Was ist ein Tipp?«

»Das ist Tanzschulfachsprache.«

Rolf schwang mich über das Linoleum. Ich trat ihm auf die Füße.

»Richtig tippen, Blödmann!«, rief Rolf wütend. »Tippen, tippen!«

Plötzlich stieß er mich von sich: »Ich schlage dir in die Fresse! Ich schlag rein! Nur einen Schlag!« Er sah mich wütend mit geballten Fäusten an. Ich versuchte, ihn zu besänftigen. Rolf hatte oft erzählt, dass und wie er schnell zugeschlagen hatte – wegen der »Weiber« und auch sonst. Schließlich beruhigte er sich.

Als er mich das zweite Mal von sich schob, fuhr seine Faust wild durch die Luft. »Ich baller zuerst in deine Magengrube und dann auf dein Kinn. Ein Schlag und du krümmst dich zusammen. Brüllst tierisch. Dann schickt meine Faust dich in den Himmel. Klaro?«

Ich redete beruhigend auf ihn ein. Endlich übten wir weiter, bis er mich wieder von sich stieß.

»Du hast genug gelernt.«

»Ich kann tanzen?«

»Du musst die Weiber immer so führen wie ich.«

»Wie meinst du das?«

Rolf starrte mich an, als hätte er gerade erkannt, dass ich noch dümmer war, als er gedacht hatte.

»Denkst du, ich tanze so wie du? Wie eine Frau?«

Wir Lehrlinge durften den Plattenbau nur verlassen, wenn wir gute Noten bei der Zimmerreinigung bekamen. Eines Tages hatten Rolf und ich es tatsächlich geschafft: Unsere Wohnung war nach Meinung der Erzieherin vom Dienst so sauber, dass wir die Genehmigung erhielten. Bevor sie uns gestattete, das Heim zu verlassen, erinnerte sie uns daran, welche Vergehen welche Strafen zur Folge haben würden. Dann erhielten wir die Ausgangsmarke, ein Stück Eisen mit eingestanzter Nummer, deren Verlust einen Monat Ausgangssperre bedeuten würde. Wir bereiteten uns gründlich auf den Besuch der Diskothek vor. Rolf putzte seine Zähne mit einem Waschmittel für Buntwäsche, damit sie strahlend weiß wurden, weil er ein Mädchen kennenlernen und »bumsen« wollte. Er trug seine schwarze, dick gerippte Hose. Ich hatte mir für die Disko eine braune Hose angezogen. Ich hätte gern eine Jeans gehabt. Eine echte Jeans. Eine Levi’s. Für Maurerlehrlinge gab es keine männlichere Hose als dieses Symbol des amerikanischen Imperialismus. Rolf besaß angeblich drei. Die Weiber würden schwach werden, wenn sie seine muskulösen Beine in den hautengen Jeans sehen würden, behauptete er.

Bei unserer Ankunft standen Jugendliche in einer schier endlos langen Schlange vor der Diskothek. Während der Stunden des Wartens und Vorrückens in der Schlange in Richtung Eingang dachte ich über meine Chancen bei Mädchen nach. Ich hatte erfahren müssen, dass sie nicht größer wurden, wenn ich erzählte, dass ich Baufacharbeiterlehrling war. Rolf hatte gesagt, dass wir uns als Studenten der Zahnmedizin ausgeben sollten. Das würde Mädchen beeindrucken. Ich wusste aber nichts über Zahnmedizin und konnte nicht glauben, dass uns jemand für Studenten der Zahnmedizin halten würde. Wir sahen wie Baufacharbeiterlehrlinge aus. Rolf sprach zwei Blondinen vor uns in der Schlange an. Er sagte, wir wären Studenten der Zahnmedizin.

»Zahnarzt? Du? Wer ’s glaubt, wird selig!«, sagte die blasse Blonde.

»Ich kann dich ja küssen! Dann spürst du es!«, erwiderte Rolf frech.

Die andere Blondine lächelte.

Als die Eingangstür der Diskothek geöffnet wurde, zuckte die menschliche Schlange wie nach einem Stromschlag und wandte sich hin und her. Rolf und ich wurden umhergeworfen, nach vorn, zur Seite, nach hinten. Es kostete uns Kraft, in der Schlange zu bleiben. Wir wussten, würden wir hinausgeworfen, würden wir nicht wieder hineinkommen. Aneinandergeklammert gelangten wir Schritt für Schritt näher an den Eingang. Endlich konnte ich ihn in der Ferne erkennen. Beim Anblick der Gesichter der Türsteher Stunden später verlor ich fast die Hoffnung, dass wir es in die Disko schaffen würden. Unser Kampf um den Platz in der Schlange wurde in der Nähe des Eingangs noch härter. Mädchen kreischten. Ich hatte Angst um meine Rippen. Vor dem Eingang ging es um jeden Zentimeter. Jeder kämpfte. Niemand wusste, wann die Türsteher die Tür endgültig schließen würden. Mädchen wurden über unsere Köpfe hinweg in die Diskothek gezogen. Rolf und ich waren schließlich an der Tür. Ein Türsteher ergriff mich am Hals und versuchte, mich aus der Schlange zu lösen. Ich stemmte mich mit ganzer Kraft gegen die Schlange, während er an meinem Hals zerrte. Endlich gab mich die Schlange frei und ich fiel in den Eingang. Ich hörte Rolfs Brüllen, sah seinen aufgerissenen Mund, Teile seiner Kunstlederjacke und seinen verdrehten Oberarm in der Masse. Er kämpfte verbissen. Nachdem die Türsteher auch ihn hereingezogen hatten, schlossen sie mit einem gewaltigen Ruck die Tür. Die Schlange brüllte.

Wir richteten uns notdürftig in der Toilette wieder her, dann stellten wir uns an die Tanzfläche, denn die Plätze an den Tischen waren besetzt. Es war sogar an den Wänden des Saals nichts mehr frei. Ich hoffte auf ein Mädchen, das mit mir tanzen würde. Gab es solche Mädchen in der Bezirksstadt? Die Blondinen aus der Schlange vor uns hatten es auch hineingeschafft. Sie tanzten zusammen in unserer Nähe. Auf meine Frage, ob wir mit ihnen tanzen wollten, schrie Rolf mir ins Ohr: »Die wollen nicht ficken!"

Ich zeigte Rolf hübsche Mädchen in der Hoffnung, dass er sie mit mir zum Tanzen auffordern würde. Er reagierte jedes Mal beleidigt. Mir wurde klar, dass er sehr hohe Ansprüche hatte. Endlich entdeckte er auf der Tanzfläche ein Mädchen nach seinem Geschmack. Ich sollte mit der hässlichen Freundin tanzen. Wir forderten die beiden auf und ich sagte meiner Tanzpartnerin sofort: »Ich kann nicht richtig tanzen!« Es schien ihr nichts auszumachen, dass ich ihr immer wieder auf die Füße trat. Wegen der lauten Musik schrie ich meiner Partnerin ins Ohr: »Gehst du nur hierher oder auch woanders hin?«

»Wir gehen überall hin, aber schön ist es nur im Casino«, schrie sie.

Ich hatte schon von der Diskothek gehört.

»Ich bin auch gern im Casino«, schrie ich.

»Ich habe dich noch nie dort gesehen!«, schrie das Mädchen.

Rolf schleuderte derweil ihre hübsche Freundin über die Tanzfläche.

Mein Mädchen ließ sich nicht zu einem zweiten Tanz überreden. Ich stellte mich wieder an die Tanzfläche. Mein Bier war gestohlen worden. Ich forderte Mädchen zum Tanzen auf und erhielt Absagen. Ein Mädchen an einem Tisch schüttelte den Kopf, bevor ich ein Wort sagen konnte. Ein sehr temperamentvoll allein tanzendes Mädchen lehnte fröhlich ab. Rolf tanzte mit seinem Mädchen bis zur Pause. Später erzählte ermir, es sei scharf auf ihn gewesen. Weil der Barkeeper mir kein Bier verkaufen wollte, ging ich in die andere Bar der Diskothek. Deren Barkeeper unterhielt sich mit Gästen. Es ging um ein Seegrundstück, das ein Bekannter von ihnen gekauft hatte. Ich wartete schweigend an der Bar darauf, dass er mich beachtete. Später verkaufte er mir tatsächlich ein Glas Bier. Und dann wurden an dem Tisch neben der Bar sogar Plätze frei. Endlich konnten wir sitzen. Rolf war enttäuscht von den Mädchen in der Disko. »Keine Weiber hier!«, schimpfte er. Als ich nach einer weiteren vergeblichen Aufforderung zum Tanz an unseren Tisch zurückkam, saßen dort zwei fremde Männer. Zu ihnen gehörte eine junge Frau auf einem Hocker an der Bar, die Freundin oder Ex-Freundin von einem der beiden Männer, wie ich aus der Unterhaltung der drei erfuhr. Rolf stierte finster in den Raum. Die Männer beachteten uns nicht. Ich hörte, dass sie Autoschlosser waren. Ein angesehener Beruf in einem Land, in dem man Jahre auf ein Auto aus Pappe warten musste und Ersatzteile dafür nicht kaufen konnte. Plötzlich sprach mich der eine Mann zu meiner Überraschung an.

»Tanz mit ihr!«, sagte er und wies mit dem Daumen auf seine Freundin oder Ex-Freundin an der Bar. Ich sah die füllige Frau in ihrem engen Kleid überrascht an. Herausfordernd erwiderte sie meinen Blick. Eingeschüchtert sah ich weg. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich rührte mich nicht vom Fleck.

»Wird ’s bald?«, fragte der Autoschlosser.

Ich konnte der Frau unmöglich einen Korb geben. Viel zu gefährlich. »Ich will vorher nur noch kurz auf Toilette«, murmelte ich.

»Aber dalli, dalli«, sagte der Mann.

Ich sah Rolf an in der Hoffnung, er würde verstehen, und flüchtete nach draußen.

Das Brigadetagebuch

Das Leben als Maurerlehrling empfand ich als geistlos. Bei meinem ersten Ausgang entlieh ich daher Albert Einsteins »Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie« aus der Bibliothek. Die anderen Lehrlinge interessierten sich vor allem dafür, wie viel Westgeld sie später durch Schwarzarbeit nach Feierabend verdienen würden. Wie erhaben war dagegen Einsteins Relativitätstheorie. Außer mir las nur noch ein Lehrling in der Zweizimmerwohnung: Ludwig lag abends auf seinem Bett, bewegte bei jeder Silbe seine Lippen und brauchte für jedes Kinderbuch ein paar Wochen.

»Was ist das für ’n Quatsch?«, fragte er mich, als er bemerkte, dass auch ich ein Buch las.

»So was wie Marx und Lenin. Nur anders.«

Weil ich endlich meinen Namen schwarz auf weiß auf Papier gedruckt sehen wollte, besuchte ich die Lokalredaktion der Schweriner Volkszeitung, ein Blatt der SED. In einem kleinen Büro saß ein schlanker, bleicher junger Mann mit einer Halbglatze an einem Schreibtisch hinter einer Schreibmaschine und Stapeln von bedrucktem Papier. Ich vermutete, dass er als Journalist neidisch sein würde, wenn ich mich als angehender Schriftsteller vorstellte. Deshalb behauptete ich, es sei mein Traum, Journalist zu werden. Der Mann hatte plötzlich gute Laune.

»Was lernst du?«, wollte er wissen.

»Baufacharbeiter.«

»Das ist gut, das ist gut. Was hast du schon geschrieben?«

»Artikel für die Wandzeitung in der Schule«, log ich.

»So haben wir alle angefangen. Weißt du, was du unbedingt brauchst für deinen Traum? Weißt du das?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Talent!«, triumphierte er. »Die Leute denken, man schmiert schnell ein paar Zeilen zusammen. Die Doofen.«

Der Mann redete. Ich hörte zu. Ja, das waren sie, die Schwierigkeiten, die jeder große Schriftsteller am Anfang seiner Laufbahn überwinden musste. Der Mann hatte keine Ahnung. Der hatte überhaupt keine Ahnung.

»Schreiben, schreiben, schreiben«, sagte er. »Lesen, lesen, lesen: besonders meine Artikel. Du musst unter Zeitdruck liefern können, sonst ist der Journalismus nichts für dich. Schreib über deine Arbeit auf der Baustelle. Ich drucke es, wenn es was taugt. Stell es dir aber nicht einfach vor. Lutz ist schon seit vier Wochen Volkskorrespondent und hat noch keinen Artikel veröffentlicht.«

Erst jetzt bemerkte ich, dass wir nicht allein in dem kleinen Raum waren. Ein schmächtiger Junge hockte hinter dem Journalisten geduckt auf einem Stuhl und sah mich hasserfüllt an.

»Ich habe schon jetzt mehr Volkskorrespondenten als mein Vorgänger«, freute sich der Journalist, als ich mich von ihm verabschiedete.

Ich durchsuchte die Zeitungen im Müllraum des Lehrlingswohnheims nach einem Artikel des Journalisten: Unter der Überschrift »Ein überwältigender Sieg des Sozialismus« hatte er über die Eröffnung eines Kindergartens in einem Plattenbau geschrieben. Ich wollte nichts über die Arbeit in meiner Lehrbrigade schreiben, denn das würde nicht gedruckt werden. Ich wollte etwas über eine sozialistische Lehrbrigade schreiben. Jeden Tag beschäftigte ich mich damit. Nach zwei Wochen hatte ich meinen Artikel im Kopf fast fertiggestellt. Nach drei Wochen fasste ich den Vorsatz, ihn in den nächsten Tagen zu schreiben. In den nächsten Monaten dachte ich immer wieder daran. Ein halbes Jahr nach meinem Besuch in der Lokalredaktion entdeckte ich den Journalisten in einer Gruppe Besucher auf der Baustelle. Er sollte vermutlich über den Bau des Hauses schreiben, dessen Fundament wir Lehrlinge mit flüssigem Beton füllen würden. Ich hatte den Mann fast vergessen. Nun grüßte ich ihn erfreut. Auch nachdem ich ihn mehrmals gegrüßt hatte, erwiderte er den Gruß nicht, obwohl er mich erkannt hatte.

Es war Lehrmeister Milch, der meine schriftstellerische Arbeit förderte. In einer Arbeitspause in der Baracke erklärte er uns: »Wir müssen ein Brigadetagebuch haben, sonst gibt ’s kein Geld als sozialistische Lehrbrigade. Jeder von euch schreibt eine Seite voll. Wer fängt an?«

Wir schwiegen. Niemand meldete sich. Auch ich hielt mich zurück. Noch.

Milch knurrte drohend. Die meisten Lehrlinge senkten den Kopf.

»Keiner kommt davon!«, dröhnte es im Raum.

Ich sah den Lehrmeister als Einziger direkt an. Fast hätte ich mich gemeldet; ich konnte mich kaum noch zurückhalten. Milch beschimpfte uns, dann sagte er: »Die erste Seite schreibt ...!" Während der nächsten Sekunden waren Angst und Anspannung im Raum zu spüren. Milch vollendete den Satz. Die meisten Lehrlinge atmeten erleichtert auf. Ich nicht.

»Ich bin doch nicht schwul!«, sagte Johann.

»Denk dir was aus! Sozialistisches Brigadeleben! Kampf um die Planübererfüllung! Wenn wir wegen dir kein Geld kriegen, dann mach dich warm!«, sagte der Lehrmeister und stellte Johann einen Tag für diese Aufgabe frei. Einen ganzen Arbeitstag für eine Seite! Ich konnte es kaum fassen. Die anderen Lehrlinge beneideten Johann zu meiner Überraschung nicht. Während er in der Baracke über eine sozialistische Lehrbrigade schreiben sollte, verdrahteten wir Baustahl in einer Baugrube, knieten bei Regen und Wind auf dem Boden. Die Kälte kroch in unsere Hände. Rostiges Grubenwasser durchnässte unsere Hosen. Als wir in der Pause den warmen Raum betraten, saß Johann am Tisch und verlor kein Wort über das Brigadetagebuch. Er sagte gar nichts. Milch suchte den halben Tag auf der Baustelle Dachziegel für sein Einfamilienhaus. Wahrscheinlich verschwendete niemand Gedanken an das Brigadetagebuch – außer mir.

Wie der Lehrmeister Johanns Arbeit beurteilte, erfuhren wir am späten Nachmittag. Wir hörten ihn schreien, bevor er Johann mitsamt dem Stuhl, auf dem er saß, aus der Baracke warf. Johann hatte nur das Datum geschrieben. Er kehrte erleichtert zu uns zurück in die Kälte, die Nässe, den eisigen Wind, zurück in die Baugrube. Die anderen Lehrlinge fragten ängstlich, wer der Nächste sein würde. Ich nicht. Als ich zwei Tage später endlich einmal mit dem Lehrmeister allein war, sagte ich, als sei es mir plötzlich eingefallen: »Ach ja, Meister, wenn Sie keinen zum Schreiben finden: Ich habe so was schon mal machen müssen.«

»Du?«, bellte er.

»Im Kinderferienlager. Es ging um die Natur. Blumen und Tiere beobachten.«

»Hier geht es nicht um Frösche, sondern ums Geld.«

»Ich mache es, wenn Sie es wollen.«

»Man muss doch nur die Seiten vollschmieren«, schnaufte er. »Ich würde es ja selber machen, aber ich habe keine Zeit!«

Am nächsten Tag blieb ich allein in der Unterkunft. Es war mir klar: Johann hatte sich das Leben in einer sozialistischen Lehrbrigade nicht vorstellen können. Ich aber war Schriftsteller. Ich hatte Fantasie. Ich erinnerte mich, dass wir drei Wochen lang nicht hatten arbeiten können, weil unser Baustahl gestohlen worden war. Lehrmeister Milch hatte damals die Wartezeit mit den Maurern in der Kantine verbracht. Die Lehrbrigade hatte die Baustelle fegen sollen. Stattdessen hatten wir in einer Halle gesessen, geraucht und geschimpft. In das Brigadetagebuch schrieb ich, dass der Baustahl von einer Firma aus dem kapitalistischen Westen nicht geliefert worden sei. Die sozialistische Lehrbrigade habe die Wartezeit auf neuen Baustahl genutzt, indem sie in Eigeninitiative die ganze Baustelle säuberte. Die Sowjetunion habe schnell und solidarisch neuen Baustahl geliefert und danach habe die sozialistische Lehrbrigade doppelt so hart gearbeitet, um den Plan zu erfüllen. Es fiel mir leicht zu schreiben. Ich fühlte mich wohl dabei. Als die anderen Lehrlinge am Abend schlecht gelaunt in die Unterkunft polterten, sagte ich nichts über meine Arbeit. Der Lehrmeister fragte nicht danach. Am nächsten Tag trieb er die Lehrlinge schimpfend aus der Baracke zur Arbeit, aber ich blieb sitzen. Milch ließ mich zurück, als sei es beschlossene Sache. Ich konnte es kaum fassen. In der Frühstückspause kamen sie zurück, schimpfend und schlecht gelaunt wie gewöhnlich. Es war alles wie immer, nur dass ich meine gute Laune verbergen musste. Als die Pause zu Ende war, scheuchte Milch die Lehrlinge wieder raus in die Kälte, in die Nässe, in den Wind, zum Baustahl in die Grube. Ich aber blieb in der warmen Unterkunft. Nach dem Mittagessen brüllte der Lehrmeister: »Raus, faule Bande!« Ich blieb sitzen. Am Nachmittag kam Johann – ausgerechnet er – auf der Suche nach einer Drahtbürste in die Unterkunft. Ich wachte gerade noch rechtzeitig auf. Johann sah mich mit dem Kuli in der Hand sorgenvoll über das Tagebuch gebeugt. Respektvoll pfiff er durch die Zähne. Dann kam der Moment, den ich seit zwei Tagen gefürchtet hatte. Der Lehrmeister wollte wissen, was ich geschrieben hatte. Kurz vor Feierabend kam er in die Baracke und las meine Seite im Brigadetagebuch. Er schwieg dabei. Seine Augenbrauen schoben sich zusammen. Die Zeit dehnte sich. Ich klammerte mich am Stuhl fest aus Furcht, wie Johann hinausgeworfen zu werden. Endlich klappte Milch das Buch zu – und sagte nichts. Er sah mich nicht einmal an. Mir wurde übel. »Sicher wartet er auf die anderen Lehrlinge, um mich richtig fertigzumachen«, dachte ich. »Großmutter hatte recht gehabt: Gott bestraft jede Schandtat!« Bald danach kamen die anderen Lehrlinge missmutig in die Baracke. Ich wusste, dass sich ihre Laune gleich verbessern würde. Der Lehrmeister wertete schimpfend den Arbeitstag aus, noch war alles wie immer. Dann hob er das Brigadetagebuch in die Höhe. Es wurde unerträglich. Ich schloss die Augen.

»Er hat eine Seite geschafft! In zwei Tagen eine Seite! Ihr müsst euch eine ganz fette Scheibe von ihm abschneiden!«

Völlig verblüfft öffnete ich die Augen wieder. Ein Lob des Lehrmeisters! Für mich! Das hatte ich nicht erwartet. Die anderen Lehrlinge auch nicht.

»Morgen schreibt Ludwig«, sagte Milch.

Ludwig wagte, dagegen zu protestieren.

»Du schreibst eine Seite und wenn du eine Woche in der Unterkunft sitzt!«, drohte der Lehrmeister.

In den nächsten Tagen bei der Arbeit in der Baugrube, dachte ich oft an Ludwig. Wie gern wäre ich an seiner Stelle gewesen. Die anderen Lehrlinge nannten ihn »das faule Schwein im Warmen«. Es war aber klar, dass keiner von ihnen an Ludwigs Stelle sein wollte – ich schon. Ludwig redete nicht über das Brigadetagebuch. Nicht am ersten Tag und nicht am zweiten. Ich wurde langsam unruhig. Er las gern Märchen – vielleicht konnte er über ein sozialistisches Lehrlingskollektiv schreiben? An seinem dritten Tag hörten wir den Lehrmeister in der Unterkunft brüllen: »Drei Sätze in drei Tagen! Ein Affe hätte mehr geschafft.«

Ludwig kam erleichtert und zufrieden zurück zu uns in die Baugrube. Als Nächster sollte Ingo schreiben. Der große, hässliche, starke Ingo.

»Ich kann so was nicht, Lehrmeister«, sagte er langsam.

»Du hast doch schreiben gelernt in der Schule. Oder nicht?«

»Ich schreibe kein sozialistisches Brigadetagebuch.«

»Das ist Arbeitsverweigerung.«

»Ich schreibe, was wirklich abgeht auf der Baustelle«, erwiderte Ingo ruhig. »Ich schreibe die Wahrheit.«

Der Lehrmeister behauptete, Ingo wolle uns in große Schwierigkeiten bringen. Er ahnte aber, dass Ingo imstande war, tatsächlich die Wahrheit zu schreiben. Schließlich wurde ich von ihm zum alleinigen Schreiber des Tagebuchs bestimmt.

Ich war stolz darauf. Talent hat man oder man hat es nicht.

Baubrigade Vogel

Trotz des tristen Alltags als Lehrling verlor ich nie mein Ziel aus den Augen. Weil viele berühmte Schriftsteller am Anfang ihrer Karriere Kurzgeschichten geschrieben hatten, versuchte auch ich es. Themen zu finden, war aber nicht einfach. Erfahrungen wie das Säubern der Gullys auf der Baustelle, die von Maurern als Toilette benutzt worden waren, waren für Kurzgeschichten nicht geeignet. Dennoch schaffte ich es, in meinem ersten Lehrjahr eine Kurzgeschichte zu schreiben: »Der Idiot als Verbrecher«. Es ging um Knut aus dem Dorf einer meiner Tanten. Knut stand jeden Tag am Straßenrand – im Sommer wie im Winter in kurzen Hosen – und bewegte seinen Oberkörper ständig im gleichen Rhythmus hin und her. Er war völlig harmlos, aber in meiner Kurzgeschichte erlebte er kurze wache Momente, in denen er Nachbarn ausraubte. Am Ende starb ein Unschuldiger. Ich war sehr stolz auf meine Kurzgeschichte. Wo aber würde ich meine Leser finden? Die anderen Lehrlinge kamen nicht infrage, die hatten ja nicht mal mein Brigadetagebuch gelesen. Ich schickte »Der Idiot als Verbrecher« dem Schriftstellerverband der DDR des Bezirks Schwerin. Weil ich wochenlang keine Antwort bekam, glaubte ich, meine großartige Kurzgeschichte hätte die Schriftsteller eingeschüchtert. Endlich, nach fünf Wochen, kam ein Brief für mich zu Hause an. Der Lärm des Güterbahnhofs drang in mein brütend warmes Zimmer – aber auf meinem Bett lag der Brief des Schriftstellerverbandes der DDR für mich. Ich wusste, dass ich es geschafft hatte. Dass es so kommen würde, hatte ich seit dem Unfall mit dem Lkw gewusst. Ich öffnete den Brief. Eine Frau Böhm hatte mir geschrieben. Ich würde die Vorurteile der Bevölkerung Behinderten gegenüber bestärken, stand im ersten Satz. Im zweiten schrieb Frau Böhm, dass ich unbedingt die Regeln der Grammatik lernen müsse. Als Schluss: »Üben Sie weiter.« Drei Sätze hatte die Frau geschrieben. Ich war glücklich, dass mich der Schriftstellerverband der DDR nun kannte. Probleme des Alltags würden für mich nur noch nichtige Begleiterscheinungen sein. Der Hinweis auf Regeln der Grammatik war unwichtig. Homer hatte auch keine gekannt. Es war die historische Leistung der Frau, dass sie mein Talent entdeckt hatte. Wer auch immer sie war.