In die Politik gehen - Conradin Cramer - E-Book

In die Politik gehen E-Book

Conradin Cramer

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Beschreibung

Wie man in die Politik einsteigt und was man dafür können muss, lernt man weder an einer Uni noch auf YouTube. Wie findet man die richtige Partei? Wie kommt man zu öffentlichen Auftritten und meistert diese? Was braucht es für einen erfolgreichen Wahlkampf? Und müssen Politiker einen Velohelm tragen? Der Berufspolitiker Conradin Cramer gibt konkrete Antworten und bietet einen einzigartigen Blick hinter die Kulissen des Politikbetriebs. Er hat das Buch geschrieben, das er vor 20 Jahren selbst gerne gelesen hätte. In die Politik gehen ist voller Tipps und Tricks für alle, die sich für das Handwerk der Politik interessieren.

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Wie man in die Politik einsteigt und was man dafür können muss, lernt man weder an einer Uni noch auf YouTube. Wie findet man die richtige Partei? Wie kommt man zu öffentlichen Auftritten und meistert diese? Was braucht es für einen erfolgreichen Wahlkampf? Und müssen Politiker einen Velohelm tragen?

Der Berufspolitiker Conradin Cramer gibt konkrete Antworten und bietet einen einzigartigen Blick hinter die Kulissen des Politikbetriebs. Er hat das Buch geschrieben, das er vor 20Jahren selbst gerne gelesen hätte. In die Politik gehen ist voller Tipps und Tricks für alle, die sich für das Handwerk der Politik interessieren.

«Für alle, die wissen wollen, wie Politikerinnen ticken (sollten). Lustvoll, mit Selbstreflexion und Humor geschrieben.»

Ruth Metzler, ehemalige Bundesrätin, 1999 im Alter von 34Jahren gewählt

«Du möchtest in die Politik, aber bist dir noch nicht ganz sicher, ob du diesen Schritt wirklich wagen willst? Mein Tipp: Probier es einfach. Und lies zuvor In die Politik gehen von Conradin Cramer. Es zeigt dir alle Möglichkeiten auf, und nach der Lektüre bist du mehr als vorbereitet für dein künftiges politisches Engagement.»

Laura Zimmermann, Co-Präsidentin Operation Libero

«Politik ist wie eine Expedition im Amazonas: anstrengend, faszinierend, zuweilen berauschend, manchmal aber auch gefährlich. Wer sich gut vorbereitet, geschickt navigiert und stetig lernt, kommt ans Ziel. Egal, auf welcher Stufe Sie mitwirken wollen: Dieser Ratgeber ist Gold wert. Er ist ehrlich, süffig geschrieben und gespickt mit Inputs.»

Mark Balsiger, Politikberater, Kommunikationstrainer, Initiant Courage Civil

«Nach vielen Jahren als zivilgesellschaftlicher Unternehmer habe ich den Sprung ins kalte Wasser der Politik gewagt – und bereue es nicht. Dieses praktische Buch von Conradin Cramer macht hoffentlich vielen weiteren Menschen aus der ganzen Breite der Gesellschaft Mut, ebenfalls in die Politik zu gehen und sich mit ihren Ideen einzubringen!»

Nicola Förster, Mitgründer foraus, Co-Präsident Grünliberale Kanton Zürich

«Der Ratgeber begleitet den politischen Nachwuchs auf dem Weg in die institutionelle Politik; gibt handfeste Anleitungen und praxisnahe Kniffe. Die kurzweilige Lektüre richtet sich auch an politisch Interessierte und zeigt, was das kompromisssuchende Spiel zwischen politischen Mehr- und Minderheiten von den politischen Akteuren selbst abverlangt.»

Rahel Freiburghaus, Politologin Universität Bern

«In die Politik gehen ist die muntere Einsteiger-Fibel für Politik-Interessierte, ein Ratgeber irgendwo zwischen Machiavelli und Betty Bossi. ‹Der Cramer› ist der Tiptopf für alle, die sich mit den ganz grundsätzlichen Rezepten der Parteipolitik vertraut machen wollen.»

In die Politik gehen

Tipps für den Nachwuchs

Conradin Cramer

NZZ Libro

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel. Der Text des E-Books basiert auf der gedruckten 1. Auflage 2021 (ISBN 978-3-907291-26-9)

Lektorat: Jens Stahlkopf, Berlin

Umschlag: Janet Levrel, Chemnitz; Kathrin Strohschnieder, Oldenburg

Coverfoto: zVg; Porträtfoto Über den Autor: Lucia Hunziker, Basel

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN E-Book 978-3-907291-27-6

ISBN gedruckte Ausgabe 978-3-907291-26-9

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.

I. Das ist ein Ratgeber

Meine Mutter hat mich immer vor der Politik gewarnt. Politik sei ein «Drecksgeschäft». Das ist, bei allem Respekt vor meiner Mutter, Unsinn. Klar, es kann heftig zugehen in der Politik, weil es immer um viel geht: um allgemeingültige Regeln. Politik ist Denken in Alternativen im Hinblick auf Ergebnisse, die für alle verbindlich sind. Das macht Politik intensiv, fordernd und manchmal hart. Aber in ihrer Vielfalt, inhaltlich und menschlich, ist Politik eine der schönsten Neben- oder Hauptbeschäftigungen für neugierige Menschen.

Dieses Buch ist ein Ratgeber. Geschrieben für alle, die Politik machen wollen und ein paar Tipps dafür brauchen könnten. Es ist das Buch, das ich vor 20Jahren gerne gelesen hätte. Es enthält praktische Überlegungen eines Praktikers, nicht mehr und nicht weniger.

Ich bin in die Politik hineingerutscht und bis heute nicht mehr herausgekommen. Seit gut vier Jahren ist Politik mein Beruf. Mit 36Jahren wurde ich Regierungsrat im Kanton Basel-Stadt.1 Vorher sass ich 16 Jahre lang in Parlamenten, zuerst in der Gemeinde Riehen,2 dann im Grossen Rat von Basel-Stadt.3 Ich mache Politik, seit ich 17 bin.

Über das Handwerk der Politik zu schreiben, ist bereits politisch. Dieses Buch ist denn auch nicht politisch neutral. Ich sehe mich als bürgerlich-liberal und bin seit 24Jahren Mitglied der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) des Kantons Basel-Stadt, die zur Freisinnig-Demokratischen Partei der Schweiz (FDP) gehört.4 Wäre ich Deutscher in Deutschland und würde trotzdem Politik machen, wäre ich wohl in der FDP, vielleicht auch in der CDU. Was ich in Österreich täte, weiss ich wie viele Österreicher nicht. Das Buch ist von der schweizerischen politischen Kultur geprägt und ich verhehle meine Überzeugungen nicht. Widerspruch ist willkommen.5

Dieses Buch ist nicht auf Distanz und Diplomatie ausgelegt. Ich will dich direkt ansprechen und duze dich deshalb ungefragt. Ich habe es so geschrieben, dass du entweder alles in einem Zug lesen kannst oder nur Kapitel, die dich interessieren. Wenn du nur die reinen Ratgeberteile lesen willst, informiere dich vor allem über die Grundkompetenzen (III.) und das Wahlkämpfen (V.). Die Kapitel zur Fairness (VI.) und zu den Werten (VII.) gehen mehr ins Grundsätzliche.

II. Beginne am richtigen Ort

Inneres Feuer

Als die Abstimmung über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum die Schweiz spaltete, war ich noch nicht ganz 13 Jahre alt.6 Schon damals glaubte ich (sicher auch beeinflusst von meinem Umfeld), dass die Schweiz nicht von Europa bedroht war, sondern vom Alleingang. Ich erinnere mich genau an diesen 6. Dezember 1992. Statt mich auf Mandarinen und Schokolade zu konzentrieren, starrte ich auf Politikergesichter im Fernsehen. Die europafreundlichen Kräfte verloren.7 Ich fühlte mich ganz bei diesen Verlierern. Ich wollte mithelfen, dass die Schweiz nach dieser Niederlage nicht zum eingezäunten Kleingarten Europas wird. So begann mein inneres Feuer für die Politik zu brennen.

Das ist die PR-Version. In Wahrheit war es nicht so eindeutig. Ich habe mich schon als Kind für Politik interessiert, zunächst nicht für die Inhalte, sondern für Wahlplakate und Wahldiagramme. Mit 17Jahren fing ich bei den Jungliberalen an. Die waren für Europa, ich kannte dort Leute, fühlte mich willkommen und auch etwas wichtig. Die politischen Inhalte überzeugten, das Soziale vielleicht noch etwas mehr. So ging es anderen auch. Die ehrlichen Antworten auf die Frage «Warum hast du mit Politik angefangen?» gleichen sich durch die politischen Lager und sind unspektakulär. Junge Menschen in der Politik wollen durchaus etwas bewegen, aber der Spass, die Prägung durch die Familie oder die Faszination für Wahltage spielen bei fast allen eine ebenso grosse Rolle.8 Doch alle, die länger dabei bleiben, haben inhaltliche Anliegen. Sie wollen etwas anders und hoffentlich besser machen als die etablierten Politiker. Sie brennen für etwas. Wer kein inneres Feuer hat, hört früher oder später wieder auf, weil die Verpackung der Politik ohne Inhalt auf Dauer doch nicht so spannend ist. Wenn du dich nur für die Mechanismen interessierst oder gerne so oft fotografiert werden willst wie Christian Lindner, wirst du die langen Durststrecken, während derer dich keiner fotografieren will, nicht durchstehen. Es gibt einige altgediente Politisierende, deren Feuer auf dem langen Fackelmarsch erloschen ist. Möglicherweise sind einige von ihnen gute Technokraten. Aber sind die zufrieden und können etwas Gutes bewirken? Ich bezweifle es. Wenn du Politik nur als Handwerk verstehst oder nur als eine mögliche Karriere, wirst du damit nicht glücklich.

Auch wenn die Motive für den Einstieg in die Politik vielfältig sind, lohnt sich die grundsätzliche Frage nach dem Warum. Was antwortest du, wenn dich der fiktive Unbekannte im Lift fragt: «Du bist doch in der Politik, warum?» Kannst du ihm einen «elevator pitch»9 entgegenschleudern, der dich selbst überzeugt? Meine Antwort lautete mit 20 etwa so: «Ich möchte mich für eine weltoffene Schweiz einsetzen, die sich als Teil Europas versteht, für eine Welt, in der das Völkerrecht über der Macht des stärkeren Landes steht. Jeder Mensch soll möglichst viel Freiheit und Verantwortung für sich haben. Der Staat soll unterstützen, wo es für ein menschenwürdiges Leben nötig ist, aber möglichst wenig eingreifen. Ich möchte global denken und lokal handeln. Dafür brauche ich ein politisches Mandat. Bitte wählen Sie mich.» Das war hochtrabend, vieles ausblendend und etwas pathetisch – gerade richtig, wenn man 20 Jahre alt ist. Heute ist meine Antwort auf die Frage nach dem Warum eine andere (S. 75).

Wenn du dich motiviert fühlst, Politik zu machen, ist das grossartig. Jetzt stehst du vor dem entscheidenden Schritt: Du brauchst eine Partei.

Die richtige Partei

Einer Partei beitreten ist nicht wie heiraten. Einer Partei beitreten ist endgültig. Eine Ehe kann man scheiden. Die Geschiedenen können wieder glücklich werden und jemand anderen heiraten. Nach der Scheidung von deiner Partei gibt es meist kein politisches Glück mehr. Parteiwechsler gelten nicht nur als Windfahnen, sondern als Fahnenflüchtige. Parteiwechsler bleiben ungeliebt in der zurückgelassenen Partei, sie bleiben Fremde in der neuen Partei und sie stossen bei den Wählerinnen und Wählern auf bleibendes Misstrauen. Es gibt Ausnahmen, aber nur wenige.10 Die meisten, die ihre Partei verlassen, verschwinden aus dem politischen Theater. Kaum jemand versucht eine zweite Karriere in einer zweiten Partei – man ist sich bewusst, dass ein zweiter Versuch in neuem Kleid fast immer scheitert. Die Wahl der Partei ist der wichtigste, nicht reversible Karriereentscheid für eine Politikerin oder einen Politiker. Du hast nur einen Schuss und der muss sitzen. Was tun?

Wenn du systematisch vorgehen willst, schaue dir zuerst deine Optionen an, also alle Parteien, die in deinem weiteren Wohn- oder Wirkungsumfeld existieren. Scheide die Extremen aus, also die Rechts- und Linksradikalen, die weiteren Spinnerparteien und die faktischen Einpersonenparteien.11 Es dürften zwischen vier und zehn einigermassen ernst zu nehmende politische Parteien übrig bleiben.

Jetzt schaue dir die Wahlresultate dieser Parteien an. Streiche alle Parteien, die in den letzten Wahlen nicht angetreten sind oder weniger als 2 Prozent der Stimmen geholt haben. Das sind Kleinstparteien oder auch Spinnerparteien, die dir auf den ersten Blick seriös vorkamen. Solche Kleinstparteien bringen Unglück.

Nun stellt sich die erste Gretchenfrage: Bist du bereit, auch die Kleinparteien, also Parteien, die bei den letzten Wahlen zwischen 2 und 6 Prozent Wahlanteile hatten, von deiner Liste zu streichen? Mein Ratschlag ist: streichen. Das muss ich allerdings begründen, zumal Kleinparteien oft mit sympathischen Profilen daherkommen. Sie verbinden dir wichtige Dinge zu einer schönen Parteibezeichnungssynthese, wie etwa grün und liberal, und sind nicht so Establishment. Möglicherweise kennst du zwei der wichtigsten drei Parteiexponenten, die schon die halbe Parteielite ausmachen. Dir gefallen der Start-up-Groove, die nicht ausgetretenen Pfade, das frische Erscheinungsbild. Die Versuchung, sich einer aufstrebenden sympathischen Kleinpartei anzuschliessen, kann gross sein. Widerstehe ihr. Lass dich nicht bezirzen. Kleinparteien verschwinden oft wieder oder kämpfen stetig am Abgrund, statt wie angekündigt durchzustarten, zum Beispiel die Piratenpartei in Deutschland oder in der Schweiz jüngst die BDP.

In der Politik gibt es kaum je erfolgreiche Start-ups, zumal der Markt nicht wächst und vor allem keine neuen Marktnischen erschlossen werden können. Ausserhalb von Kriegs- und Krisenzeiten ist fast keine Partei gross geworden. Ausnahmen sind der nachhaltige Aufstieg der Grünen in Deutschland und in geringerem Mass auch in der Schweiz vor bald 40Jahren,12 der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) auch vor rund 65Jahren in einem faktischen Zweiparteiensystem13 sowie jüngst der Alternative für Deutschland (AfD).14 Die Schweizerische Volkspartei (SVP), zunächst als Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei gegründet, war bereits vor 100Jahren eine grössere Partei, die über die Jahrzehnte weiter gewachsen ist.15 Die Grünliberale Partei wuchs bei den Nationalratswahlen 2019 erstmals aus der Kleinparteien-Rolle hinaus.16 Ob sie sich langfristig halten kann, ist offen. Sonst gibt es keine Neu- und Kleinpartei, die seit dem Zweiten Weltkrieg auf Bundesebene gross wurde. Auf Kantons- bzw. Landesebene kann die Situation anders sein. Einzelne nationale Parteien sind in gewissen Landeswinkeln kaum vorhanden17 und es gibt starke regionale Parteien,18 die allerdings keine Karriereoptionen auf Bundesebene bieten können. Es gibt stärkere Ausreisser, aber auch da kaum je nachhaltige.

Die Wahlstatistik zeigt es unerbittlich. Wer in der Politik Karriere machen will, sollte vorsichtig sein mit neuen politischen Produktträgern. Es gibt weitere Argumente gegen Kleinparteien: In Kleinparteien ist das Gerangel um die wenigen Ämter grösser. Wo es weniger zu verteilen gibt, ist Grosszügigkeit ein seltenes Gut. In Kleinparteien kannst du den Leuten, die du nicht so magst, kaum aus dem Weg gehen. Kleinparteien besetzen politische Nischen und brauchen dafür klare politische Aussagen. Sie können sich weniger inhaltliche Breite leisten und weniger Platz für abweichende Meinungen. Zugegeben, Kleinparteien sind für Einsteiger attraktiv, weil die Wege kürzer sind, die Hierarchien flacher, der Umgang informeller. Aber sie bieten selten Möglichkeiten, politische Verantwortung zu übernehmen. Kleinparteien bleiben fast immer Opposition, sind im besten Fall Zünglein an der Waage, aber nicht diejenigen, die gestalten können. Damit wirst du, vermute ich, langfristig nicht zufrieden sein. Mein Tipp für deine Karriere und gleichzeitig mein Appell zur Systemerneuerung: Gehe in eine grosse Partei und ziehe mit an den Seilen, um diese Partei in deine Richtung zu ziehen.

Es bleiben, nach meinen Kriterien, die Parteien mit Wahlanteilen von über rund 6 Prozent in mindestens drei zurückliegenden Wahlen. Das sind meist zwischen drei und fünf etablierte, seit Jahrzehnten existierende Parteien. In diesen Parteien findest du dein politisches Glück am ehesten. Es ist mir sehr ernst mit diesem konservativen Ratschlag. Grosse Parteien haben eine gewisse Wählerbasis, die nicht ausschliesslich von kurzlebigen Launen abhängig ist.19 Grossparteien verändern sich von innen. Einfach zu verschwinden, ist keine Option für sie.20 Grossparteien haben auch fast immer Jungparteien, die einen niederschwelligen Einstieg bieten.

Also, nun hast du diese Liste vor dir, mit drei bis sechs Parteien. Wenn du im Kanton Zürich wohnst, sind das SVP, SP, FDP, Grüne und Grünliberale, wenn du im Kanton St.Gallen wohnst zusätzlich Die Mitte (also die ehemalige CVP). Erst jetzt bist du an dem Punkt angelangt, wo deine Ideale und Ideen für die Auswahl eine Rolle spielen. Vielleicht spürst du, wo dein politisches Herz hingehört. Und gleichzeitig weisst du, dass deine Wahl rational für dich stimmt. Wunderbar. Dann trete deiner Partei bei. Deine Chancen stehen gut, dass du glücklich mit ihr leben wirst.

Vielleicht geht es dir aber nicht so. Du findest alle Parteien irgendwie komisch und bist auch in deinen Überzeugungen nicht so gefestigt. Du glaubst, es gebe keine Partei, die richtig zu dir passt. Wenn du etwas weniger selbstbezogen bist, glaubst du, dass du zu keiner Partei richtig passt. Dieser Glaube ist kein Irrglaube. Ein Individuum und eine Partei passen nicht zusammen. Sonst wäre die Partei deine Ich-Partei. Und für deine Ich-Partei würde sich neben dir und deinem engsten Freundeskreis niemand interessieren.21 Eine Partei ist ein Kompromiss. Suche bei der Parteiwahl nicht die Perfektion, sondern suche das Optimum für dich.

Mache den Inhalts-Check. Du kannst dazu – mindestens vor nationalen Wahlen – Smartvote benützen oder in Deutschland den Wahl-O-Mat.22 Dort werden dir Fragen gestellt, wie «Sind Sie dafür, dass homosexuelle Paare Kinder adoptieren dürfen?» oder «Soll die Videoüberwachung auf öffentlichen Strassen und Plätzen ausgeweitet werden?» Du musst nicht zwingend mit Ja oder Nein antworten, auch eher Ja und eher Nein sind möglich, und eine Frage auszulassen geht auch. Nach rund 40Fragen bekommst du eine Auswertung, welche Parteien und welche Kandidierenden deinen Antworten wie nahe stehen. Die Schnittmengen der übereinstimmenden Antworten mit der am besten zu dir passenden Partei dürften zwischen knapp 60 und höchstens 80 Prozent liegen. Nicht das Maximum, sondern das Optimum. Und möglicherweise erlebst du satte Überraschungen. Denn, reden wir nicht darum herum, es gibt bekanntlich auch heute noch eine politische Trennung anhand der Kriterien links und rechts. Viele politisch denkende Menschen glauben ungefähr zu wissen, wo sie auf dieser Links-rechts-Skala stehen. Ein kurzer Positionsabgleich über die Onlinebefragung kann dieses Links-rechts-Denken als Trugschluss entlarven. Wundere dich nicht, dass deine Antworten nicht in das Links-rechts-Schema passen und sei ein bisschen stolz darauf. Fühle dich nicht betrogen, wenn dir auf einmal eine bürgerliche Partei näher steht als die Sozialdemokraten, obwohl du dich immer als mitte-links gesehen hast, was immer eine allgemeingültige Definition von mitte-links oder mitte-rechts sein könnte.

Du wirst auch feststellen, dass die Streuung der politischen Meinungen in einzelnen Parteien grösser ist als in anderen.23 Vor allem die Parteien in der Mitte wie FDP oder Grünliberale fransen in alle Richtungen aus, während die sich als links oder rechts verstehenden Parteien, also SP, Grüne und SVP, ein weniger breites Meinungsspektrum vertreten. Ob dir mehr Geschlossenheit oder mehr Vielfalt besser gefällt, ist eine Frage des Geschmacks und deines Temperaments. Eine Partei mit einheitlicher Positionierung hat den Vorteil, dass du klarer weisst, woran du bist. Eine Partei mit Meinungsvielfalt gibt dir mehr Beweglichkeit und zeugt oft von einer guten Diskussions- und Streitkultur.

Die Parteien, die für dich obenaus schwingen, kannst du einer vertieften Inspektion unterziehen. Schau dir das Parteiprogramm an oder mindestens den Auftritt der Partei im Netz und die Positionen, die sie dort hervorhebt. Gibt es darin etwas, was für dich gar nicht geht und was du nicht ändern kannst? Nach dieser Prüfung bleiben wohl noch zwei bis drei Parteien übrig, die infrage kommen. Und jetzt kommt der richtig schwierige Teil.24

Wie sollst du zwischen den verbleibenden wenigen Varianten entscheiden? Du musst es vor allem mit den Menschen gut aushalten können. Lerne die wesentlichen Parteiexponenten kennen, mit denen du unmittelbar zu tun haben würdest. Die jüngeren sind wichtiger als die älteren, weil sie dich länger begleiten oder mit dir konkurrieren werden. Schau dir an, wer für die Partei im grösseren Rahmen steht, kantonal bzw. in Deutschland auf Landesebene und auch national. Sind das Politikerinnen, die du ernst nehmen kannst? Kannst du fünf Leute nennen, mit denen du gerne einen Abend oder auch viele Abende verbrächtest? Dann schau dir die Soziologie an: Bist du in dieser Partei wirklich willkommen oder willst du gerade deshalb dorthin, weil du nicht auf Anhieb willkommen bist? Kannst du mit denen auch mal über dein liebstes Hobby sprechen? Sind die Lebensentwürfe der Menschen in dieser Partei mit deiner Lebensart mindestens so kompatibel, dass du die Leute verstehst und eine Chance besteht, dass sie dich verstehen? Bist du intellektuell und emotional angesprochen? Wirst du Spass haben mit denen?

Das alles gilt es, für dich herauszufinden. Informiere dich über das Internet, über gute Bekannte. Trage nicht überall hinaus, dass du eine Partei suchst und offen bist – alle innerhalb einer Partei, also alle, die für dich wichtig sein werden, haben diese Offenheit nicht und finden sie frivol. Es gibt auch keine Praktika in Parteien. Sobald du ein drittes Mal an einem Parteianlass auftauchst, gehörst du dazu, und es wird dir kaum mehr verziehen, wenn du dich am Ende für eine andere Partei entscheidest. Sei deshalb zurückhaltend. Und setze dir eine Frist für die Suchphase. Sechs Monate müssen reichen.

Dann, bitte, sei nochmals ganz berechnend. Schiebe den Wohlfühlgedanken kurz weg und sei ein Machtmensch. Hast du Chancen in dieser Partei? Gibt es den Generationenwechsel? Oder stehen dir zehn strahlende hoffnungsvolle Frauen und Männer vor der Sonne? Wer eine politische Karriere machen will, muss dahin gehen, wo sich Chancen eröffnen. In politischer Schönheit nichts zu erreichen, ist nicht tugendhaft: Man kann seine Ansichten so nicht wirksam weitertragen.

Am Ende sollten Ratio, Emotion und Chancen für dich stimmen. Trete bei. Und wenn du dich entschieden hast, hadere nie. Zeige von Anfang an Überzeugung gegen aussen, mehr als du vielleicht innerlich bereits hast.

Die Ochsentour

Eine politische Karriere von der Pike auf nennt man im Jargon Ochsentour. Auch wer mit Alpaufzügen nicht vertraut ist, hört dem Begriff an, dass er sich vom Spaziergang abgrenzt. Ochsentour heisst, unten zu beginnen, bei den kleinen Parteiämtern, sich dann stetig hochzuarbeiten, zu wichtigeren Parteiämtern und zu einem Mandat. Dann, nachdem man sich in einem Mandat bewährt hat, ein nächstes grösseres und vielleicht ein noch grösseres. Das ist tief unaufregend. Die politische Ochsentour entspricht der klassischen Karriere in einem Industrieunternehmen zwischen 1950 und 1980. Sie passt nicht zur Mobilität und Agilität in den 2020er-Jahren. Aber die Ochsentour bleibt der Königsweg für Politiker.25 Es gibt keine moderne Politikarbeitswelt.

Die Ochsentour verschafft – um im Jargon zu bleiben – Stallgeruch. Du bist kein Überflieger. Du hast unten begonnen. Du kennst die Sorgen der Parteimitglieder, den Dunst ungelüfteter Sitzungszimmer im Stadthaus. Du bewährst dich, du zeigst Verlässlichkeit, Loyalität, Zugehörigkeit. Du lebst die Tugenden einer vergangenen Zeit.

Unten anfangen heisst zunächst, nehmen, was du bekommen kannst: Parteiämter, wie Kassier einer Ortssektion, besser natürlich alles, was mit Öffentlichkeit zu tun hat («die junge Frau versteht sicher etwas von Internet»). Dann möglichst schnell sich aufstellen lassen für Ortsparlamente, einen Gemeinderat. Da sein, wenn es etwas zu tun gibt. Die Mischung aus Ehrgeiz und Demut ausstrahlen. Das ist alles andere als glamourös, aber es ist der einzige einigermassen planbare Weg an eine politische Schaltstelle.

Die Ochsentour ist eine Investition, die dich von anderen, möglicherweise mindestens so begabten Leuten unterscheiden wird. Du eignest dir etwas an, was fast niemand sonst hat: Erfahrungen in der Partei, Bekanntschaften im politischen Kuchen, eben Stallgeruch. Das gelingt fast immer, wenn du jung beginnst. Je jünger du bist, desto einfacher ist es auch, gewisse Dinge auszuhalten: Inkompetente Parteischranzen sind erträglicher, wenn sie klar älter sind als du. Endlose Sitzungsabende, bei denen alles gesagt wurde, aber noch nicht von allen, stören dich weniger, wenn du noch keine Familie hast.

Die Ochsentour in Reinkultur bleibt altersunabhängig abschreckend. Du kannst sie kaum ganz umgehen, aber du kannst sie mit Cleverness modifizieren und beschleunigen. Die Parteien – und auch die Wählerinnen und Wähler – sind mittlerweile meist doch so weit, dass es nicht nur um Dienst und Treue, sondern auch um Qualität und Wirkung geht.

Ein Problem bleibt: Ochsen sind nicht besonders mobil. Wenn du weit weg von zu Hause studierst oder planst, einige Jahre im Ausland zu arbeiten, wird es schwierig. Parteipolitik ist ortsgebunden. Für die politische Karriere hilft es, sich eher früher als später auf eine örtliche Beschränkung einzulassen und sich für einen Lebensmittelpunkt zu entscheiden.26 Wenn du nicht an einem einzigen Ort lebst, braucht es enorme Anstrengungen, um parteipolitisch erfolgreich tätig zu sein. Möglich ist, dass du deine politische Karriere vorübergehend auf Sparflamme setzt, dich noch zeigst, wenn es irgendwie geht, aus dem Ausland einen Beitrag für den Parteiblog schreibst, und dann, wenn du zurückkommst, wieder beginnst, wo du aufgehört hast. Das kann funktionieren, sofern du vorher eine gewisse Basis aufbauen konntest. Die Treue in einer Partei ist nicht zu unterschätzen, und wer nach Wanderjahren in den Schoss der Ortspartei zurückkehrt, ist beliebt. Du bestärkst die Daheimgebliebenen: Zu Hause ist es selbstverständlich am schönsten und besten.

Auch wenn es die politische Karriere verlangsamt, musst du rauskommen. Die Politik ist tendenziell arm an Menschen mit nennenswerten Auslandserfahrungen und oft auch mit Sprachkenntnissen. Enge und Weite lassen sich nicht leicht verbinden. Die Welt über Urlaubsreisen hinaus kennenzulernen und gleichzeitig eine politische Karriere zu verfolgen, ist schwierig und geht nicht ohne Kompromisse. Ich habe mein Studium in den USA auf zwei Sommer verteilt, statt einmal richtig für längere Zeit wegzugehen. Das war ein etwas fauler Kompromiss. Ich war in erster Linie während der parlamentarischen Sommerpause verschwunden, sodass es kaum aufgefallen ist. Richtig angekommen in Berkeley, Kalifornien, bin ich in diesen zweimal drei Monaten nicht, aber es war viel besser, als gar nicht wegzugehen. Wäre ich ein Jahr lang weggegangen, hätte ich mein Parlamentsmandat aufgeben müssen und damit etwas politische Sicherheit. Das traute ich mich nicht. Im Nachhinein wäre ich mutiger.

Die Ochsentour bietet keine Garantie, dass es klappt mit der schönen politischen Karriere. Die ganze Politiklandschaft ist schon aufgrund der numerischen Beschränkung verfügbarer Ämter unflexibler für Karrieren als ein einziges grösseres Unternehmen. In der Politik kann dir eine einzige Person, die etwas älter ist als du und damit Vorrang hat, vielleicht etwas erfolgreicher ist oder einfach nur ein ähnliches Profil hat, locker zehn Jahre lang vor der Sonne stehen. Ein Unternehmen hätte längst für beide einen Job geschaffen, oder du hättest das Unternehmen gewechselt. In der Politik geht das nicht: Man kann keine interessanten Jobs schaffen, nur neue leere Parteiämter. Wachstum geht nur über Wahlgewinne alle vier Jahre. Und vor allem bist du in einem Monopolbetrieb und kannst dir nicht einfach einen neuen Arbeitgeber in der gleichen Branche suchen. Du solltest dir deshalb zeitliche Vorgaben setzen und bereit sein, die Reissleine zu ziehen. Überlege dir bald nach deinen ersten Schritten in der Politik, was du bis wann erreichen willst. Bespreche deine Überlegungen mit einer erfahrenen Vertrauensperson. Und evaluiere deine Karriere regelmässig. Wenn du merkst, dass es nicht klappt, dass du kein Parteiamt bekommst, dass deine Wahlresultate, sei es in der Partei oder in Volkswahlen, sich nicht verbessern – höre damit auf. Aber höre klug auf: Bleibe Parteimitglied, im Hintergrund, unterstützend, aber ungefährlich für andere. Denn es ist durchaus möglich, dass deine Chance kommt, ohne dass du viel dazu tust, ausser seit vielen Jahren dazuzugehören und den nötigen Abstand zu haben zu einer Elite, die je nach Situation erneuert werden muss.

Quereinsteigen

Insider mögen keine Outsider, die Insider werden wollen. Politische Quereinsteiger sind der Albtraum jedes Ochsen auf seiner Tour. Quereinsteiger wollen den Ochsen auf einem Schleichweg überholen. Erwarte deshalb nicht nur offene Arme, wenn du dich als Novize einer Partei zur Verfügung stellst, ohne gleichzeitig ganz unten beginnen zu wollen.

Und die Politik als solche, das System? Es braucht wenig so nötig wie einen steten Zufluss an qualifizierten Quereinsteigern. Sie kommen mit Ideen aus der wirklichen Welt, haben andere Erfahrungen gemacht, sind nicht abgebrüht, noch nicht eingebunden in das Netz von Gefälligkeiten und Rücksichtnahmen. Quereinsteiger sind die Blutauffrischung, die jeder Partei und dem politischen System guttut.

Falls du die 40 schon hinter dir hast, bleibt dir für eine politische Karriere ohnehin nur der Quereinstieg oder die extrem abgekürzte Tour, was auf fast dasselbe rauskommt. Aber qualifizierst du als politischer Quereinsteiger? Damit dein Quereinstieg Erfolg hat, solltest du etwas anbieten können, was die Insider nicht haben: grosse Bekanntheit und Popularität oder enorme offensichtliche Qualifikationen bei gleichzeitig gewinnendem Wesen. Die Partei sollte nach deinen Qualitäten lechzen und am besten ein Personalproblem haben.

Deine Persönlichkeit allein genügt jedoch nicht. Du brauchst Promotoren innerhalb der Partei, die mit ihrem guten Namen für dich bürgen und dir gleichzeitig helfen, die gröbsten Fettnäpfe zu meiden. Und du brauchst, je nach Situation, eine günstige Dynamik, in Gang gesetzt durch kluge Ankündigungen, miteifernde Journalisten und den Reiz des Neuen. Der Reiz des Neuen ist das Wichtigste. Ihn musst du ausstrahlen, mit jeder Pore, und das funktioniert nur, wenn du selbst glaubst, dass du etwas Neues bringen kannst, neue Ideen für eine verfahrene Situation, eine neue Art zuzuhören und zu kommunizieren. Es kann wunderbar funktionieren. Es will gut geplant sein, vor allem auch im Wissen darum, dass sich der Reiz des Neuen schnell und medial schneller als noch vor zehn oder 20Jahren abnützt.

Es gibt erfolgreiche Quereinsteiger, auch jüngere, nicht reiche und nicht schon vorher prominente:27 Martin Horn wurde als ortsfremder Parteiloser 2018 aus dem Stand Oberbürgermeister von Freiburg im Breisgau. Er trat mit 33Jahren ohne politische Erfahrung an, gegen den langjährigen grünen Amtsinhaber. Neben Charisma, viel Arbeit und Glück half ihm vor allem die Unterstützung der grössten Freiburger Partei, der SPD, was nicht die Leistung von Horn, aber seine Parteilosigkeit stark relativiert.

Martin Horns Erfolgsgeschichte ist packend, weil sie immer noch ungewöhnlich ist.28 Die meisten Ämter und politischen Jobs bleiben von denen besetzt, die schon lange dabei sind. Schuld daran ist nicht nur ein relativ geschlossenes System. Die meisten wirklich guten Leute, die tolle Qualifikationen haben, populär und von einer Mission getragen sind, wollen sich dieses ganze Theater nicht antun. Warum sollen beruflich arrivierte kompetente Menschen den Kampf in der politischen Arena suchen, die mediale Beobachtung in Kauf nehmen und das Risiko des Scheiterns eingehen? Viele, die es schaffen könnten, wollen oder wagen es nicht. Und gerade deshalb kann es für dich klappen. Wenn du es ernst meinst mit der Politik und die Kompetenzen mitbringst, hast du als Quereinsteiger weniger Konkurrenz, als du vielleicht vermutest. Wenn du das innere Feuer spürst, das Selbstvertrauen hast, Leuten auf die Füsse zu stehen – möglichst charmant versteht sich –, dich in neue Umstände einzudenken, Öffentlichkeit nicht scheust und bereit bist, für kein Geld viel zu arbeiten, dann wage es.

Sei zunächst zurückhaltend mit dem Offenlegen deiner Ambitionen, denn die Gefahr, dass man diese mit ein paar Sprüchen an der nächsten Vorstandssitzung erledigt, besteht. Nimm Kontakt mit einzelnen Insidern auf, die als Mentorinnen und Promotoren für dich infrage kommen könnten. Wenn du keine Menschen findest, denen du vertrauen möchtest und die bereit sind, sich für dich und deine Ideen einzusetzen, suchst du ohnehin am falschen Ort. Wenn du solche Menschen findest, dann plane mit ihnen, wie du einsteigst – ganz ohne Knalleffekt soll es nicht sein. Dieser Knalleffekt ist meistens einfach, da nichts spannender ist als ein neues Gesicht. Wichtig ist, was du in den Wochen und Monaten nach der ersten Schlagzeile machst, wie du zeigst, dass es dir ernst ist. Dafür brauchst du Coaching, ein Team, ein Ziel und ein Konzept. Dein Quereinstieg in die Politik ist dein erster interner Wahlkampf (Kapitel V).

Ausserhalb der Institutionen politisieren

Vielleicht lösen meine Überlegungen zur Parteiwahl und zur Ochsentour bei dir Widerspruch oder Unwohlsein aus. Ist dieses altväterische Parteidenken in Zeiten allgemeiner Disruption noch irgendwie aktuell? Ich glaube schon. Die Wege in die institutionelle Politik werden noch lange die gleichen sein wie schon vor Jahrzehnten. Man mag unsere Parteiensysteme als überkommen, starr und nicht talentfördernd belächeln. Eine gute Alternative habe ich noch nicht gehört. Politische Macht entsteht in einer Demokratie nicht spontan und nicht disruptiv. Es geht weniger um Innovation als um Legitimation. Politische Macht legitimiert sich unter anderem durch langsame Verfahren mit Parteien oder doch immerhin organisierten Zusammenschlüssen als Filter und Vermittler des sich zur Verfügung stellenden Personals.

Selbstverständlich kannst du ausserhalb der Parteienwelt politischen Einfluss nehmen. Du kannst über Nichtregierungsorganisationen (NGO) wie Greenpeace oder Amnesty International Ideen einbringen oder dich einer Bewegung wie Fridays for Future oder Operation Libero anschliessen. Du kannst mit journalistischer Arbeit versuchen, politische Themen zu setzen. Selbst ohne organisatorische Einbindung kannst du dir mit einem Blog oder einem Podcast Gehör verschaffen.

Politischen Einfluss als aktivistischer Kommentator, über NGO, über einen Wirtschaftsverband oder als Lobbyist in einem Unternehmen kannst du erlangen. Aber das macht dich nicht zur Politikerin oder zum Politiker. Es ist nicht «the real thing». Du hast kein Mandat, du trägst keine politische Verantwortung. Du kannst vielleicht die politischen Verantwortungsträger beeinflussen, ein Strippenzieher sein, hast durchaus Macht, aber eine indirekte. Das ist ein ganz anderer Job, ja eine gänzlich andere Karriere. Deshalb nochmals: Wenn du in der Politik Verantwortung übernehmen willst oder die Politik mehr oder weniger grundsätzlich reformieren willst, bleibt dir nur der Weg durch die Institutionen.

Politik ist kein Beruf

«Lern erst mal etwas Richtiges!», denken fast alle Eltern, und die mutigen Eltern sagen es auch, wenn ihr Kind Schauspielerin werden will. Ich bin voll auf der Seite dieser Eltern, sofern es um Politik geht. Politik mag das Wichtigste für dich sein, ein seriöser Beruf ist Politiker nicht. Wenn du überlegst, für die Politik eine Ausbildung abzubrechen oder massiv zu verzögern, bist du auf dem Holzweg. Gegenbeispiele gibt es: Sebastian Kurz brach sein Studium ab, um mit 24Jahren Staatssekretär zu werden, und wurde mit 31Jahren Bundeskanzler von Österreich. Die Chance, dass du wie Kurz politisierst, ist allerdings nicht viel grösser, als dass du wie Mozart komponierst. Lass dich nicht von Ausnahmebeispielen blenden. Ein politisches Amt, von dem man seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, erreichen viele Politiker nie und wenn, dann erst nach vielen Jahren politischer Arbeit. Und wenn es dir früher gelingt, ist das nicht unbedingt ein Glück. Politiker ohne Berufserfahrung oder gar ohne abgeschlossene Ausbildung, sind – eben nur Politiker. Sie stehen im Verdacht, die Welt nicht zu kennen. Das ist ein Problem für junge Leute, die überraschend in nationale Parlamente gewählt werden, noch bevor sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Es fehlt ihnen an Arbeitserfahrung, an verschiedenen Aussensichten auf die Welt und am Selbstbewusstsein, sich ausserhalb des politischen Lebens durchsetzen zu können. Und sie werden nicht bis zum Pensionsalter Parlamentarier bleiben können oder wollen.

Damit kommt das Finanzielle ins Spiel. Eine immer noch verbreitete Fehleinschätzung ist, dass Politiker grundsätzlich auf den Füssen landen und ihr wirtschaftliches Fortkommen gesichert ist. Tatsächlich wurden abgehalfterte Berufspolitiker früher oft irgendwo sozialverträglich untergebracht. Man bot ihnen die Geschäftsführung im Käsereiverband oder im Beirat eines grossen Unternehmens an. Oder sie durften durch das Amt erlangte Mandate bei den Wasserkraftwerken, der Pfandsparkasse oder anderen wettbewerbsfreien staatsnahen Institutionen noch ein paar Jahre behalten. Das ist heute nicht mehr so. Die Verflechtung von Wirtschaft und Politik nimmt ab und das Durchhangeln bis zum Pensionsalter ist keine würdige oder überhaupt mögliche Option mehr. Wenn man sich anschaut, wie auch durchaus erfolgreiche Politiker nach dem Ende ihrer politischen Tätigkeit beruflich unterwegs sind, ist das angenehm ernüchternd: Sie haben völlig normale Jobs. Und die haben sie meist nicht wegen der Politik, sondern wegen ihrer Ausbildung und Berufserfahrung. Ich glaube, dass Politik künftig in vielen Biografien noch stärker ein Zwischenspiel sein wird, eine projektbasierte Arbeit für einige Jahre, gefolgt von etwas anderem. Natürlich werden dir deine politischen Erfahrungen für eine andere Herausforderung helfen, wie dir jede Erfahrung helfen kann. Ein politisches Amt allein ist aber kein Leistungsausweis und oft nicht einmal ein gutes Verkaufsargument für einen Job.

Das führt zu einer unangenehmen Erkenntnis. Die besten Voraussetzungen für die Politik hat, wer reich ist. Reich an Geld, nicht an Idealen. Menschen mit viel Geld sind unabhängig. Sie können mit Getöse in die Politik ein- und wieder aussteigen. Sie müssen keine Wahlkampfspenden annehmen. Es ist ihnen egal, ob ein Mandat ein Sitzungsgeld abwirft. Gerade weil es in der Politik nicht ums Geldverdienen geht, haben Reiche immense Vorteile.29 Das gilt für die USA, wo nahezu alle Präsidenten vor ihrer Wahl äusserst vermögend waren, auch Barack Obama, dank seiner Buchverkäufe,30 und es gilt bei uns.31

Falls du zu den 99 Prozent gehörst, die nicht reich sind, kannst du darauf hinarbeiten, dich der finanziellen Unabhängigkeit mindestens auf temporärer Basis anzunähern. Schaff dir eine solide wirtschaftliche Basis ausserhalb der Politik und spare. Bevor du dich ganz der Politik verschreibst, versuche so viel Geld auf die Seite zu legen, dass du mindestens für ein ganzes Jahr ohne Einkommen aus der Politik deinen Lebensstandard einigermassen halten könntest. Du wirst deine eiserne Reserve hoffentlich nie brauchen, aber sie gibt dir Sicherheit. Du weisst, dass du weiterleben kannst, wenn du von einem Tag auf den anderen deine politischen Mandate verlierst. Du sicherst dir deine jederzeitige Rücktrittsfähigkeit.