In einem Anfall von Depression ... - Udo Grashoff - E-Book

In einem Anfall von Depression ... E-Book

Udo Grashoff

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Beschreibung

Wie glücklich waren die Menschen im »Arbeiter- und Bauernparadies« wirklich? Die DDR gehörte zu den Staaten, in denen überdurchschnittlich viele Menschen durch eigene Hand starben. Im weltweiten Vergleich der Selbsttötungsraten nahm der »erste sozialistische Staat auf deutschem Boden« einen Spitzenplatz ein. War das eine Folge der SED-Diktatur? Warum wurde das Thema jahrelang tabuisiert?
Der Leipziger Historiker und Biochemiker Udo Grashoff hat mehrere tausend Suizidfälle ausgewertet und fertigte erstmalig eine Analyse des Selbstmordgeschehens für die gesamte Zeit der DDR an. Dabei zeigt er anhand von bisher unveröffentlichtem Material die unterschiedlichen Arten im Umgang mit Selbsttötungen auf und arbeitet die Konfliktfelder und existenzbedrohenden Situationen in der SED-Diktatur heraus, die zeitweilig zu gehäuften Selbsttötungen führten.

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Udo Grashoff

»In einem Anfall von Depression …«

Selbsttötungen in der DDR

FORSCHUNGEN ZUR DDR-GESELLSCHAFT

Ch. Links Verlag, Berlin

Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

1. Auflage 2010 (entspricht der 1. Druck-Auflage von 2006)

© Christoph Links Verlag – LinksDruck GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.linksverlag.de; [email protected]

Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin,

Einleitung

Die DDR hatte eine der höchsten Selbsttötungsraten der Welt. »Noch ist nicht eingehend geklärt, ob und wie viele dieser Selbstmorde einen politischen Hintergrund hatten. Aber es gibt auch kein Land in Europa, in dem so viele Selbstmorde im Zusammenhang mit der Politik der Kommunisten stehen«, vermutete Ehrhart Neubert im »Schwarzbuch des Kommunismus«.[1]Wie tief reichte die SED-Diktatur mit ihrer im Grunde unbegrenzten »Verfügungsgewalt über die Gesamtheit der Lebenschancen des Einzelnen […], über Bildungschancen und Berufschancen, über die Chancen der Befriedigung materieller Bedürfnisse und Kommunikationschancen« in das Privatleben hinein?[2] Und welche Rolle spielten DDR-Spezifika wie die »Mauer« oder das Ministerium für Staatssicherheit?

Mediziner haben den psychischen Zustand derjenigen, die in den Tod gehen, als »präsuizidales Syndrom« bezeichnet.[3] Als typische Bestandteile des Syndroms benannten sie eine extreme Einengung der Wahrnehmung, starres Denken, Hemmung von Aggressionen. Mit diesen Eigenschaften könnte man auch das politische System der DDR, die SED-Parteidiktatur charakterisieren. Kann daher aus der hohen Selbsttötungsrate ein hoher Grad an »sozialer Pathologie« in der sozialistischen Gesellschaft der DDR abgelesen werden?

Antworten auf diese und andere Fragen nach dem »Warum« von Selbsttötungen in der DDR werden im ersten Teil dieser Arbeit[4] auf verschiedenen Wegen gesucht. Die Untersuchung beginnt, nach einer einführenden Sichtung wichtiger Ergebnisse der soziologischen und medizinischen Selbsttötungsforschung, mit einer Überprüfung der vorhandenen Erklärungsansätze der hohen Suizidneigung in der DDR. Dazu wird das quantifizierende methodologische Paradigma Emile Durkheims aufgegriffen und für eine auf – zum größten Teil erstmals veröffentlichtes – statistisches Material gestützte Kritik der Selbsttötungsdiskurse fruchtbar gemacht.

Gleichzeitig wird in synchronen und sektoralen Vergleichen die Bundesrepublik verstärkt in den Blick genommen, die als Norm vielen Untersuchungen zur DDR-Geschichte ohnehin inhärent ist und hier als Bezugsgröße sichtbar und produktiv gemacht wird. Damit wird teilweise auch eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte geschrieben, indem zum Beispiel die Instrumentalisierung von Selbsttötungen in den Auseinandersetzungen des Kalten Krieges hinterfragt wird. Im dritten Kapitel werden Einzelfälle analysiert; dabei steht die Frage im Mittelpunkt, welche Rolle politischen Maßnahmen und repressiven Sozialstrukturen im konkreten Suizidfall beizumessen ist. Das vierte Kapitel erweitert die Fragestellung, indem der Einfluss der politischen bzw. ökonomischen Verhältnisse der SED-Diktatur, die im zweiten Kapitel als statisches Gebilde behandelt wurde, nun unter dynamischen Gesichtspunkten untersucht wird.

Grundlage der Erörterungen im ersten, quantifizierenden Teil bilden die jeweils zeitgenössischen Repräsentationen von Suizidalität. Selbsttötungen werden in der westlichen Industriegesellschaft vor allem durch den Prozess der statistischen Erfassung als solche konstituiert. Diesem liegt eine pragmatische Selbsttötungsdefinition zugrunde, deren Determinanten die Identität von Handlungssubjekt und -objekt, ein knapper Zeithorizont und eine erkennbare Intention zu sterben sind. Zweifelsohne zieht diese Definition eine willkürliche Grenze, indem sie tragische Unfälle, riskante Lebensstile oder langfristige Selbstzerstörung (wie zum Beispiel durch Überarbeitung oder Drogensucht) ausklammert; andererseits bildete sie die Grundlage des Selbsttötungsdiskurses des 20. Jahrhunderts, und erscheint deshalb als angemessen für die vorliegende Untersuchung.

Der zweite Teil dieser Arbeit untersucht den Umgang mit Selbsttötungen in den 40 Jahren des Bestehens der DDR. Insgesamt werden fünf Aspekte analytisch getrennt. Zunächst werden Deutungsvorgänge, d. h. ethisch-moralische Bewertungen von Selbsttötungen und deren Entwicklung untersucht. Danach werden die Praktiken des Verbots herausgearbeitet. Die Entstehung und Entwicklung dieser Praktiken stand, wie sich im siebenten Kapitel zeigen wird, in engem Bezug zum politischen Protestpotenzial von Selbsttötungen.

Neben den Tendenzen zur Tabuisierung gab es in der DDR aber auch Tendenzen der Enttabuisierung. Dazu zählten die Bemühungen um Suizidprävention, die vor allem im medizinischen Bereich stattfanden; vergleichbare Anstrengungen gab es zudem in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Als Beleg für allgemeine Enttabuisierungstendenzen in der DDR-Gesellschaft wird schließlich im neunten und letzten Kapitel die Verwendung des »Selbstmord«-Themas in der DDR-Literatur untersucht.

Ursachen und Häufigkeit von Selbsttötungen in der SBZ/DDR

I. Ursachen und Häufigkeit von

1 Selbsttötung als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung

Herausbildung und Gebrauch der in der deutschen Alltagssprache synonym verwendbaren Begriffe Freitod, Selbstmord, Selbsttötung und Suizid standen jeweils in enger Beziehung zu bestimmten Deutungskonzepten des Todes durch eigene Hand. »Selbstmord« transportiert in seiner Wortgestalt noch die moralische Verurteilung von Selbsttötungen durch die christliche Kirche als Todsünde, während der Begriff des »Freitodes« in bewusster Antithese dazu geprägt wurde und im Zusammenhang mit einer philosophischen Überbetonung des Freiheitsaspektes suizidalen Handelns entstand. Das im 17. Jahrhundert erfundene neulateinische Wort »Suizid« ist spätestens seit den 1970er Jahren eng mit dem medizinischen Bereich verbunden, während dessen deutsche Übersetzung »Selbsttötung« vor allem im juristischen Bereich in Gebrauch ist; der letzte Begriff wird wegen seiner sachlich-neutralen Form auch in der vorliegenden Arbeit favorisiert.

So nahe die Umgangssprache bestimmten wissenschaftlichen Konzepten kommt, so fern sind die in Presse, Rundfunk und Fernsehen anzutreffenden Erklärungen und Wertungen suizidaler Handlungen oft den Ergebnissen wissenschaftlicher Selbsttötungsforschung. Während Psychiater und Psychologen davon ausgehen, dass bei normalen Persönlichkeiten Schicksalsschläge allein keinen Suizid auslösen, sondern erst dann, wenn damit eine krankhafte psychische Entwicklung verknüpft ist, dominiert in der Öffentlichkeit ein additives Stressmodell, das Selbsttötungen aus einer Kumulation negativer Lebensereignisse erklärt, die jemanden »in den Selbstmord treiben«. Aber auch zwischen den verschiedenen Richtungen der Selbsttötungsforschung bestehen gravierende Unterschiede in der Herangehensweise, die eine Verständigung erschweren.

Während Ärzte in der täglichen Praxis mit einzelnen Hilfsbedürftigen konfrontiert werden und das Suizidproblem vor allem als ein akutes und individuelles wahrnehmen, überblicken Soziologen größere Populationen und längere Zeiträume. Gemeinsam ist beiden, dass die Suizidhandlung als Effekt von Wahrscheinlichkeiten und Risikofaktoren erscheint, was als dritte Perspektive die Frage nach dem Freiheitsaspekt von Selbsttötungen aufwirft.

Will man suizidales Verhalten in seiner vielschichtigen Bedingtheit verstehen, entsteht nahezu zwangsläufig die Forderung nach interdisziplinärer Forschung. Deshalb steht am Beginn dieser Untersuchung ein Überblick über wichtige Ergebnisse der modernen Selbsttötungsforschung.

1.1 Selbstmord und Gesellschaft

Die Makro-Soziologie des Selbstmords, als deren Begründer der französische Soziologe Emile Durkheim (»Le Suicide«, 1897) gilt, stellt die Häufigkeit von Selbsttötungen in den Mittelpunkt. Durkheim blendete die Frage, warum sich einzelne Menschen das Leben nehmen, völlig aus; stattdessen arbeitete er soziale Parameter heraus, die für Unterschiede der Selbsttötungshäufigkeit verantwortlich gemacht werden können: den Grad an sozialer Integration und die soziale Reglementierung. In Durkheims strukturalistischer Perspektive bestimmten allein diese die Höhe der Selbsttötungsrate. Während die Suizidgefährdung bei moderaten Werten von sozialer Integration bzw. Reglementierung minimal war, stieg sie bei extremer Intensität eines der beiden Faktoren.[1]

Durkheims Untersuchung entstand in einer besonderen historischen Situation – im Verlauf des 19. Jahrhunderts stiegen die registrierten Selbsttötungsraten in Westeuropa stetig an. Der Soziologe erklärte den Anstieg vor allem als Folge der Individualisierung (Desintegration) im Zuge des Zivilisationsprozesses. Durkheim stellte fest, dass nicht alle Menschen in gleichem Maße empfindlich sind für soziale Veränderungen. Er wies nach, dass vor allem eine intakte Familienstruktur und eine feste religiöse Einbindung das Suizidrisiko vermindern und im Fall eines kritischen Lebensereignisses oder einer pessimistischen Zukunftsperspektive die Realisierung von Suizidgedanken verhindern können.[2]

Durkheims These gilt in modernisierter Form bis heute, wobei man statt von Familie oder Religion allgemein von »sozialen Netzwerken« spricht, welche imstande sind, belastende Lebensereignisse »abzupuffern«. Soziologen in der Tradition Durkheims, vor allem im angloamerikanischen Sprachraum, haben im 20. Jahrhundert versucht, die suizidhemmende Kraft sozialer Beziehungen genauer zu spezifizieren, um sie messen zu können. Das stellte sich als schwierig heraus, da bei sozialen Netzwerken keineswegs automatisch »aus den Merkmalen Größe, Dichte und Komplexität direkt auf das Unterstützungspotential geschlossen« werden kann; das tatsächliche Ausmaß an sozialer Unterstützung ist nicht allein aus formalen Parametern ermittelbar: »Es ist jeweils genau zu untersuchen, welche Teile des sozialen Kontakt- und Beziehungsnetzwerkes einer Person wirklich als ›Unterstützungs‹-Netzwerk bezeichnet werden können und welche anderen Teile eventuell nichtunterstützend oder sogar belastend sein können.«[3]

Bis in die jüngere Vergangenheit fortgesetzt hat sich auch jener diskursive Topos, der seit Durkheim und seinen Zeitgenossen dominierte: die selektive Wahrnehmung von Anstiegen der Selbsttötungsrate, die als »Maß sozialer Pathologie« angesehen und zur Kritik eines als »dekadent« wahrgenommenen Zivilisationsprozesses instrumentalisiert wurde.[4] Demgegenüber hat das seit zwei Jahrzehnten in vielen westlichen Industrieländern beobachtete Absinken der Selbsttötungsraten dazu geführt, dass langfristige Wellenbewegungen diskutiert wurden, so von dem Soziologen Oliver Bieri und dem Historiker Reinhard Bobach.[5] Beide stellten fest, dass der Verlauf der Selbsttötungsraten in Westeuropa, den USA und Australien zeitlich mit Konjunkturzyklen bzw. Lebenszyklen bestimmter Gesellschaftsmodelle korrelierbar ist. Obwohl sich daraus keine direkten Aussagen zur Kausalität ableiten lassen, ist die parallele Entwicklung von ökonomischen Parametern und Suizidhäufigkeit doch bemerkenswert und eröffnet neue Forschungsperspektiven.

Bisher ist zum Beispiel ungeklärt, in welchem Maße die Schwankungen der Selbsttötungsraten Ausdruck eines spezifischen Suizidrisikos bestimmter Geburtsjahrgänge (Kohorten) sind. Eine Kohortenanalyse in der Schweiz kam zu dem Ergebnis, dass »das kohortenspezifische Suizidrisiko sich nicht während des Lebenslaufs sukzessive aufbaut, sondern bereits früh – also in der Kindheit oder beim Eintritt ins Erwachsenenalter – festgelegt wird«.[6]Das heißt, bestimmte Generationen prägten eine größere Suizidanfälligkeit aus, lange bevor die Individuen, bei jeweils individuellen Anlässen, die Selbsttötung ausführten (die stets aus einem Zusammenspiel von äußerem Leidensdruck und innerer Suiziddisposition resultierte).[7]

Die Dynamik der Schwankungen der Selbsttötungsraten hat neben diesen langfristigen Effekten auch kurzfristige Aspekte, die Durkheim als Folge plötzlicher gesellschaftlicher Regellosigkeit (Anomie), beispielsweise in Zeiten ökonomischer Umbrüche, erklärte. Auch diese Erklärung findet bis heute Anwendung, beispielsweise hinsichtlich der gestiegenen Selbsttötungsraten in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion in den 1990er Jahren.[8]

Ein Vorwurf, der Durkheim oft gemacht wurde, betraf dessen relativ unkritisches Arbeiten mit Selbsttötungsstatistiken. In der Tat hat Durkheim die Prozesse der statistischen Erfassung selbst nicht problematisiert und sich auch wenig Gedanken um die Dunkelziffer gemacht. Daraus jedoch in einem Anflug von fundamentalem Skeptizismus die Brauchbarkeit von Statistiken zu verwerfen, hieße wichtige Erkenntnismöglichkeiten zu verschenken. Zwar ist bei jedem Vergleich von Selbsttötungsraten der Modus der Erfassung zu beachten, und es ist eine nicht unbeträchtliche Dunkelziffer zu veranschlagen. Andererseits legen aber bestimmte Eigenschaften der Selbsttötungsraten wie die langfristige Konstanz von Höhe, Geschlechterverhältnis und Motivstruktur den Schluss nahe, dass gravierende Veränderungen bei konstanten Erfassungsbedingungen durchaus eine Folge gesellschaftlicher Prozesse sein können.

Insofern können gut recherchierte Selbsttötungsraten einerseits als Indikatoren für die existenzielle Intensität gesellschaftlicher Entwicklungen und Krisen gelten, andererseits können sie als »Prüfsteine« für zeitgenössische Ideen und Erwartungen eingesetzt werden.

1.2 Suizid als Krankheitssymptom

Während die Makro-Soziologie in der Tradition Durkheims in »Selbstmördern« vor allem Opfer von Störungen der sozialen Beziehungen sieht (ohne darauf auf der individuellen Ebene genauer einzugehen), behandelt die medizinische Suizidforschung Suizidenten als »anbrüchige« Persönlichkeiten, deren psychische Labilität als Ursache suizidaler Handlungen herausgestellt wird. Die im 19. Jahrhundert von dem französischen Psychiater Jean Etienne Dominique Esquirol formulierte und damals weithin akzeptierte These, nahezu alle Selbsttötungen müssten als Symptom einer psychischen Erkrankung angesehen werden, wurde allerdings im Verlauf des 20. Jahrhunderts relativiert und in eine Vielfalt von Erklärungsansätzen aufgelöst. Besonders einfluss- und folgenreich war die psychoanalytische Spekulation von Sigmund Freud, der Selbsttötungen von Neurotikern als Lösung eines Aggressionskonfliktes interpretierte. Nach Freud richten Suizidenten im Zuge einer Aggressionsumkehr einen initialen Mordimpuls schließlich (im Wortsinn von »Selbst-Mord«) gegen die eigene Person. An die Psychoanalyse anknüpfend, formulierte der Wiener Psychiater Erwin Ringel, ein Pionier der internationalen Bewegung zur Suizidprävention, Anfang der 1950er Jahre die einflussreiche These, Suizide seien Resultate krankhafter psychischer Fehlentwicklungen. Das von Ringel beschriebene »präsuizidale Syndrom« (Einengung, Aggressionshemmung und suizidale Phantasien) diente vor allem dazu, den psychischen Zustand im Vorfeld des Suizids zu beschreiben, um Suizidalität wie eine somatische Krankheit diagnostizierbar und behandelbar zu machen.[9]

Der Ulmer Psychotherapeut Heinz Henseler, der sich ebenfalls auf Freud bezog, fokussierte dagegen stärker auf die Herkunft der Suizidgefahr, die er in gestörten Mutter-Kind-Beziehungen in der frühen Kindheit und einer daraus resultierenden »narzisstischen Persönlichkeitsstörung« ausmachte.[10] Der fundamentale Einfluss der Kindheit auf spätere suizidale Verhaltensweisen, den Henseler auf der individuellen Ebene bei Suizidpatienten herausgearbeitet hatte, wurde auch in zahlreichen statistischen Erhebungen bestätigt.

Gestörte familiäre Verhältnisse und unvollständige Familien wurden in weltweiten Erhebungen bei etwa 40 bis 60 Prozent der Suizidenten festgestellt.[11] Das damit verknüpfte Schlagwort »broken home« erwies sich zwar insgesamt (ebenso wie die »narzisstische Störung«) als zu unspezifisch zur Erklärung suizidaler Verhaltensweisen, da »eine sog. ›broken-home-Familie‹ ein typisches Charakteristikum für die meisten normabweichenden Verhaltensweisen sein könnte«.[12] Nichtsdestotrotz spielten kindliche Todeserfahrungen durch Verlust eines Elternteils als Risikofaktor für suizidales Handeln eine wichtige Rolle. So fand zum Beispiel eine Untersuchung in Karl-Marx-Stadt unter den Suizidtoten einen Anteil von Waisenkindern von 14,1 Prozent, während deren Anteil an der DDR-Bevölkerung nur durchschnittlich 3,2 Prozent betrug.[13]

Gestörte Familienstrukturen führen zwar keineswegs kausal zum Suizid, aber sie können den Nährboden für suizidale Entwicklungen bilden. Wichtig ist dabei die Art und Weise des familiären Umgangs mit Verlusterfahrungen, wobei die Tabuisierung eher unheilvolle Wirkungen entfaltet. In den letzten Jahrzehnten hat der familientherapeutische Ansatz verschiedene Varianten familiärer Pathologie herausgearbeitet. So vollstrecken manche Suizidenten mit ihrer Handlung einen unbewussten Todeswunsch von Familienangehörigen.[14] Ein weiterer wichtiger Aspekt wurde mit dem Begriff »erlernte Hilflosigkeit«[15] bezeichnet; im Kontext dieses psychologischen Konzeptes werden suizidale Handlungen als Auswirkung schwerer Gewalterfahrungen in der Kindheit (und einer dadurch erzeugten Tendenz zur Selbstbestrafung) oder der Vorbildwirkung einer suizidalen Mutter (als Rückgriff auf eine vertraute Form der Konfliktbewältigung) beschrieben.[16]

Angesichts der Menge und Vielgestalt von Untersuchungen kann als wissenschaftlich gesicherte Tatsache gelten, dass eine Disposition (d. h. eine partielle Determination) für depressive Reaktionen, Verzweiflungstaten und Todeswünsche oft durch Störungen der elementaren menschlichen Beziehungen in frühen Phasen der Individualentwicklung, in Kindheit und Jugend entsteht.

Darüber hinaus hat die psychiatrisch-psychologische Suizidforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Erklärungsansätzen entwickelt, die erkennen lassen, dass es sich bei Selbsttötungen um ein vielschichtiges, nicht auf einen Nenner zu bringendes Phänomen handelt.

Nach 1950 dominierte in der stark von Erwin Ringel beeinflussten medizinischen Suizidforschung zunächst ein Kontinuitätsmodell suizidaler Verhaltensweisen. Ringel hatte Phänomene wie Suizidgedanken, Suizidankündigung, nicht ernsthaften Suizidversuch und finalen Suizid als unterschiedliche Intensitäten einer »Erkrankung des Lebenswillens« interpretiert, die es dann therapeutisch zu heilen galt.[17]

In den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts kam es dann aber zu einer Ausdifferenzierung der Theorien über suizidales Verhalten. So wurde festgestellt, dass »verschiedene stabile Subgruppierungen ermittelbar sind, die sich hinsichtlich verschiedener biographischer Variablen und Variablen, die mit dem suizidalen Verhalten kovariieren, signifikant unterscheiden«.[18] Vor allem wurde in der medizinischen Suizidforschung zunehmend zwischen den durch eine starke Todesabsicht gekennzeichneten Suiziden und den sogenannten »parasuizidalen Handlungen« unterschieden; bei Letzteren handelte es sich um ambivalente Handlungen mit begrenzter Todesabsicht (wie Suiziddrohungen oder demonstrative Suizidversuche). Schon in den frühen 1960er Jahren hatte der Suizidforscher Erwin Stengel auf statistisch nachweisbare Unterschiede zwischen der Population der Suizidversuchspatienten und der Population der an Suizid Verstorbenen hingewiesen.[19] Um das Jahr 1970 wurden Modelle diskutiert, die (entsprechend unterschiedlicher Anteile von Appell-, Flucht- oder Autoaggressionstendenzen) parasuizidale Gesten und parasuizidale Pausen von vorwiegend autoaggressiven Suizidversuchen unterschieden.[20] Parasuizidales Verhalten wurde zudem auch als Extremform menschlicher Kommunikation beschrieben.[21] Psychologen wiesen dabei auch auf die oft aktive Rolle des Suizidenten innerhalb einer suizidalen Konfliktpartnerschaft hin.[22]

Mit der Ausdifferenzierung der Suizidforschung kamen psychosoziale Aspekte und verhaltenstheoretische Modelle verstärkt in den Blick.[23] Erwin Ringel selbst relativierte seine apodiktische Aussage, dass alle Suizidanten entweder Psychotiker oder Neurotiker seien; er räumte ein, dass auch Suizide von Menschen vorkommen würden, die nicht neurotisch gestört seien.[24]

Aber auch hinsichtlich der psychisch Kranken im engeren Sinne (mit denen sich Ringel nicht befasst hatte) wurde deutlich, dass Suizide von Psychiatrie-Patienten zumeist ganz »normale« Ursachen (Hoffungslosigkeit, Beziehungsverlust, Verzweiflung, sozialer Abstieg) hatten, während direkt durch die psychische Krankheit verursachte Selbsttötungen (beispielsweise infolge »imperativer Stimmen«) seltene Ausnahmen darstellten.[25] Die relativ hohe Selbsttötungsrate psychisch Kranker erklärt sich daraus, »daß die Psychose lebensgeschichtlichen Ereignissen erst jenes Gewicht verleiht bzw. die Toleranz seelischen Belastungen gegenüber so herabsetzt, daß sich nur mehr der Ausweg des Selbstmordes anzubieten scheint.«[26]

Anderseits wurden seit den 1980er Jahren, nicht zuletzt auch wegen der Unspezifität der psychiatrisch-psychologischen Erklärungsansätze, physiologische und genetische Faktoren wieder verstärkt diskutiert. Bei der Auswertung von Zwillingsstudien und Untersuchungen zur Suizidneigung von adoptierten Kindern war schon seit längerem vermutet worden, dass auch genetische Faktoren für eine Disposition zum Suizid mit verantwortlich sein könnten. Neurobiologische Untersuchungen fanden bei Suizidenten häufig Veränderungen des Hirnstoffwechsels, die zu der These führten, dass mangelhafte Verfügbarkeit des Neurotransmitters Serotonin (dessen Mangel mit Verhaltensweisen wie Impulsivität und Risikoverhalten verbunden ist) suizidale Handlungen begünstigt.[27] Eine genetische Disposition zum Suizid hieße aber »auf keinen Fall, dass dieser unvermeidlich ist. Es heißt nur, dass bei sich häufenden Belastungen oder in einer verheerenden akuten Stresssituation der Selbstmord eher zur Option werden kann.«[28]

Als wichtigster Ertrag der medizinischen Suizidforschung erscheint bis heute die Kenntlichmachung von Risikofaktoren: Menschen sind überdurchschnittlich suizidgefährdet, wenn sie an einer psychischen Krankheit (Schizophrenie, Depression) leiden, wenn sie von Alkohol, Drogen oder Medikamenten abhängig sind, wenn sie alt und körperlich schwer krank sind. Ein hohes Suizidrisiko haben zudem Patienten mit vorhergehenden Suizidversuchen.[29]

Komplementär zur Selbsttötungshäufigkeit, die im Zentrum der makrosoziologischen Forschung steht, interessiert sich die medizinische Suizidforschung vor allem für die individuelle Suizidwahrscheinlichkeit. Es gab sogar das Vorhaben, das Zusammenspiel verschiedener Risikofaktoren in Testverfahren zu erfassen, zu quantifizieren und daraus Prognosen zur Suizidgefährdung konkreter Patienten abzuleiten. Das ehrgeizige und vor allem Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre betriebene Projekt blieb jedoch weit hinter den Erwartungen zurück. Ein quantifizierendes Modell zur Abschätzung des Suizidrisikos, das der Schweizer Psychiater Walter Pöldinger entwickelt hatte, erwies sich als wenig praktikabel.[30]

Weitgehend wirkungslos blieb auch die Behandlung von Suizidpatienten mit Psychopharmaka. »Die Zahl der Suizide hat in der psychopharmakologischen Ära nicht abgenommen«, musste ein Psychiatrie-Lehrbuch im Jahr 1987 konstatieren.[31] Erfolgsmeldungen über medikamentöse Heilung Suizidgefährdeter, wie sie etwa der West-Berliner Psychiater Klaus Thomas publizierte, erwiesen sich langfristig als trügerisch.[32] Eine Langzeitstudie von 1993 bestätigte, dass in ganz Europa weder der verstärkte Einsatz psychotherapeutischer Methoden noch die Entwicklung einer Vielzahl von Psychopharmaka einen nachweisbaren Effekt auf die Häufigkeit von Selbsttötungen hatte.[33] Offenbar kamen die Psychiater selten über »konfliktzudeckende oder symptomatische Therapie« hinaus.[34] Lediglich das klassische Antidepressivum Lithium konnte bei Patienten das Suizidrisiko absenken. Demgegenüber bestand der Effekt der neu entwickelten Psychopharmaka lediglich darin, das (in vielen Regionen seit Jahrhunderten nachweisbare) Maximum der Suizide im Frühling abzudämpfen.[35]

Der Beitrag der medizinischen Suizidforschung zum Verständnis suizidalen Verhaltens besteht somit vor allem darin, dass nach der individuellen Disposition gefragt wird. Dadurch wird erklärbar, wieso in der gleichen Situation ein Menschen Suizid begeht, ein anderer hingegen nicht, wodurch ein besseres Verständnis konkreter Einzelfälle möglich und das oberflächliche Klischee eines durch äußere Umstände in den Tod getriebenen Suizidenten relativiert wird.

1.3 Suizidale Handlung als Problemlöseverhalten

Jenseits der funktionalistisch ausgerichteten medizinischen Suizidforschung und der strukturalistischen Makro-Soziologie bleibt ein unverstandener Rest: Eine Selbsttötung, so sehr sie durch äußere oder innere Zwangslagen bedingt sein mag, stellt schließlich eine menschliche Handlung dar, die nicht vollständig kalkulierbar ist. Seelische Schmerzen sind nicht messbar, die subjektiven Zukunftsperspektiven stimmen selten mit den objektiven Möglichkeiten überein. Der menschliche Wille, im Begriff des »Freitods« unzulässig verabsolutiert, vereitelt als Zufallsfaktor alle Prognosen, weil die entscheidende Sinnperspektive des Individuums mit statistischen Methoden nicht erfassbar ist.[36]

Zudem gerät der aktive, intentionale Aspekt suizidalen Handelns, wenn man das Individuum nur als Opfer von Situation oder Disposition ansieht, sehr leicht aus dem Blickfeld. Deshalb gab es in den letzten Jahrzehnten verstärkt Anstrengungen, Theorien zu entwickeln, die »auch die spezifische Problematik des einzelnen suizidgefährdeten Menschen verstehen helfen«.[37]Um auch den Einfluss des Individuums auf die Situation zu erfassen, forderte zum Beispiel Richard Lazarus im Kontext seines transaktionalen Stressmodells, statt einer Verabsolutierung von äußerer Situation oder innerer Disposition die jeweiligen Interaktionsprozesse zwischen Individuum und Situation zu beschreiben.[38] Nach Lazarus entsteht Stress, wenn ein Individuum seine subjektiven Gestaltungsmöglichkeiten gegenüber einer mit einem Anforderungscharakter versehenen Situation als gefährdet ansieht. Das wiederum wird nicht nur durch Faktoren bestimmt, die das Suizidrisiko erhöhen, sondern auch durch Möglichkeiten des Individuums, äußere Einflüsse abzupuffern.

Mehrere verhaltenstheoretische Ansätze setzten deshalb bei den Perzeptionen und Kognitionen des Individuums an.[39] Die Soziologin Christa Lindner-Braun beispielsweise kennzeichnete suizidale Handlungen als einerseits durch »Kausalprinzipien«, wie die Fähigkeit zur Verknüpfung von Verlust- und Misserfolgserfahrungen mit Schuldzuschreibungen an die eigene Person, andererseits durch »Moralprinzipien« wie Anspruchsniveaupräferenzen bestimmt.[40] In ihrem Modell wurden zudem auch das Vorhandensein geeigneter Suizidmittel und die Verfügbarkeit alternativer Handlungsmöglichkeiten (wie Flucht, Suchtverhalten oder Aggression) als Einflussfaktoren auf die Realisierung suizidaler Intentionen berücksichtigt.

Während jedoch bei Lindner-Braun suizidales Handeln auf das Vermeiden erwarteter Misserfolge verengt wurde, fächerte der französische Soziologe Jean Baechler die Vielfalt der möglichen Ziele und Absichten auf. In Baechlers Typologie stand der aktive Aspekt der Selbsttötung im Mittelpunkt; suizidale Handlungen wurden vor allem als Versuche beschrieben, ein bestimmtes Problem zu lösen. Das Spektrum der Formen dieses Problemlöseverhaltens reicht nach Baechler von Flucht, Aggression, Appell, Rache, Erpressung über Selbstopferung bis zu Risikoverhalten.[41]

Aber auch den Freiheitsaspekt suizidalen Handelns sollte man nicht verabsolutieren, denn durch die instrumentale Perspektive wiederum nur ein Teilaspekt erhellt, der die Ergebnisse der medizinischen und soziologischen Selbsttötungsforschung ergänzt, nicht in Frage stellt, da äußere, oft auch unbewusste Aspekte eine suizidale Reaktion zwar nicht vollständig determinieren, aber doch stark beeinflussen.

1.4 Selbsttötung als Gegenstand der Geschichtswissenschaft

Suizidales Handeln, das als Ergebnis einer »Erkrankung des Lebenswillens«, als Produkt sozialer Ursachen oder als Resultat einer individuellen menschlichen Entscheidung beschrieben werden kann, hat zudem auch eine historische Komponente, deren Erforschung lange Zeit fast ausschließlich den Sozialwissenschaften vorbehalten blieb und erst in neuester Vergangenheit von Historikern als Forschungsfeld entdeckt wurde.

Nachdem die Schule der »Annales« in den 1960er Jahren den Umgang mit elementaren Gegebenheiten der menschlichen Existenz zum Forschungsgegenstand erhoben hatte, wurde auch der Umgang mit Sterben und Tod, im Anschluss an bahnbrechende Arbeiten wie die von Phillippe Ariès,[42] etablierter Bestandteil des Themenspektrums sozial- und kulturhistorischer Forschung. Erst mit einiger zeitlicher Verzögerung ging die historische Wissenschaft daran, durch regional und zeitlich differenzierende kulturwissenschaftliche Untersuchungen auch dem Phänomen Selbsttötung ein »konkrethistorisches Gesicht« zu geben. In den 1980er Jahren begann im angloamerikanischen ebenso wie im deutschen Sprachraum eine »Phase der kulturgeschichtlichen Ausdifferenzierung und der auf die Abbildung von Diskursen konzentrierten Forschung«.[43] In der Tradition der »Annales« publizierte Georges Minois Mitte der 1990er Jahre eine »Geschichte des Selbstmords«, die sich auf historische, juristische und literarische Quellen stützte und deren Schwerpunkt in England und Frankreich in der Zeit vom 16. bis zum

18. Jahrhundert lag.[44] Spurensuche bezüglich suizidaler Handlungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit betrieb ein von Gabriela Signori herausgegebener Sammelband.[45] Markus Schär ging der Frage nach, inwiefern der Calvinismus Zwinglis in Zürich, der Sündenbewusstsein und Triebunterdrückung gefördert hatte, auch das Ansteigen der Selbsttötungsrate bis 1800 (bei gleichzeitigem Absinken der Mordrate) mit verursacht haben könnte.[46]

Diese These blieb nicht unwidersprochen.[47] Für das ebenfalls protestantische Schleswig-Holstein rekonstruierte Vera Lind aus geistes- und ideengeschichtlicher Sicht die Diskussionen um Bewertung und Erklärung von Selbsttötungen zur Zeit der Aufklärung.[48] Ursula Baumann stellte den gesellschaftlichen Bedeutungswandel von Selbsttötungen in Deutschland für 1800 bis 1950 anhand ausgewählter Problemkomplexe wie der Beerdigungs- und Obduktionspraxis sowie durch kritische Rekonstruktion verschiedener medizinischer, juristischer und kulturkritischer Diskurse dar.[49]

Die vorliegende Arbeit knüpft an die durch diese Arbeiten konstituierte Forschungsrichtung an, indem sie ebenfalls das Selbsttötungsgeschehen durch eine Kombination von Einzelfallschilderungen (Mikroebene), Rekonstruktion von Diskursen und kritische Sichtung statistischen Zahlenmaterials (Makroebene) analysiert und beschreibt.[50]

Für viele der kulturgeschichtlichen Darstellungen zu Suizidalität in früheren Jahrhunderten stellte das Fehlen verlässlicher und in statistisch relevanter Menge vorhandener Quellen ein großes Problem dar. Daher blieb oft unsicher, ob es sich bei den geschilderten Einzelfällen um zeittypische Ereignisse gehandelt hatte, von allgemeinen Quantifizierungen ganz zu schweigen. So zweifelte Vera Lind, ob es angesichts der unzuverlässigen Erfassungsbedingungen überhaupt möglich sei, Aussagen über die Entwicklung der Selbsttötungshäufigkeit vor 1800 zu treffen.[51]

Dieses Problem hat die vorliegende Untersuchung nicht. Im Unterschied zu den angeführten Studien konnte auf wesentlich mehr Einzelfälle (mehrere tausend) und auf ein ungleich besser abgesichertes Zahlenmaterial zurückgegriffen werden, so dass differenzierte Untersuchungen des Selbsttötungsgeschehens in der DDR möglich sind.

2 Zur Häufigkeit von Selbsttötungen in der SBZ/DDR

2.1 Die hohe Selbsttötungsrate der DDR – Folge vorbildlicher statistischer Erfassung?

Die DDR gehörte zu den Staaten, in denen überdurchschnittlich viele Menschen durch eigene Hand starben. Im weltweiten Vergleich der Selbsttötungsraten (d. h. der Anzahl von Selbsttötungen pro 100 000 Einwohner pro Jahr) nahm der »erste sozialistische Staat auf deutschem Boden« seit seinem Bestehen einen Spitzenplatz ein. Jährlich beendeten etwa 5000 bis 6000 DDR-Bürger ihr Leben durch eigene Hand. Zwar waren Selbsttötungen in ganz Deutschland recht häufig, die Statistiken verzeichneten aber in der DDR durchgängig höhere Selbsttötungsraten als in der Bundesrepublik.

Abb. 1: Selbsttötungsraten in den Westzonen/BRD und in der SBZ/DDR 1946–1989.[1]

Generell wirft das die Frage auf: Kann man den Statistiken glauben? Haben sich Menschen in der DDR tatsächlich häufiger das Leben genommen als in der Bundesrepublik, oder handelte es sich hierbei möglicherweise um eine Folge unterschiedlicher Erfassungsmodi?

Prof. Hans Girod, bis 1994 Dozent für Kriminalistik an der Humboldt-Universität, hat mehrfach die These vertreten, dass der Unterschied zwischen den Selbsttötungsraten von DDR und Bundesrepublik im Wesentlichen auf eine höhere Dunkelziffer in der Bundesrepublik zurückgeführt werden kann:

»Die DDR-Zahlen sind zwangsläufig deshalb höher, weil mehr Selbsttötungen aufgedeckt wurden. Eine vorbildlich geregelte Leichenschauanordnung, die gerichtsmedizinische Leichenöffnungspraxis (im Vergleich zur Bundesrepublik wurden wesentlich mehr Autopsien vorgenommen) und eine hohe Qualität der kriminalistischen Untersuchung gewährleisteten, das Dunkelfeld auf ein sehr geringes Niveau zu begrenzen.«[2]

Gründlichkeit und Pflichterfüllung im realsozialistischen Osten, Vertuschung und Ungenauigkeit im demokratischen Westen?

Girod begründete seine Skepsis gegenüber den Statistiken der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik (SZVS), die auf ärztlichen Angaben der Todesursache basierten, mit eigenen Erfahrungen: In einer von Girod betreuten kriminalistischen Diplomarbeit aus dem Jahr 1981 konstatierten die Autoren eine übertriebene Neigung der Ärzte der Dringlichen Medizinischen Hilfe, einen unnatürlichen Tod zu bescheinigen; bei »23 Prozent aller als nichtnatürlicher Tod angegebenen Sachverhalte« stellte die Obduktion dann aber einen natürlichen Tod fest.[3] Allerdings lieferten die Autoren einer anderen, ebenfalls von Girod betreuten Diplomarbeit auch ein gegensätzliches Beispiel: »Beim Abtransport einer weiblichen Leiche stellte man fest, daß diese Person eines nichtnatürlichen Todes gestorben war. Die Schnüre eines Wäscheständers waren fest um den Hals der Frau geschlungen. Erst jetzt wurde die Kriminalpolizei benachrichtigt.« Im Gegensatz zu der Ärztin, die »die ›Leichenschau‹ von der Zimmertür aus durchgeführt hatte«, ermittelten die Polizisten dann das Vorliegen einer Selbsttötung.[4] Es könnte sein, dass sich die Irrtümer in der großen Menge der Suizidfälle wieder ausgeglichen haben: Berichte der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik und der Volkspolizei, die Mitte 1977 unabhängig voneinander für Staats- und Parteichef Erich Honecker angefertigt wurden, lassen jedenfalls erkennen, dass sich die durch die Kriminalpolizei ermittelten und die auf ärztlichen Angaben beruhenden Suizidzahlen kaum unterschieden:

Jahr

1973

1974

1975

1976

Zahlen der SZVS

5775

6122

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