In einer anderen Welt - Jo Walton - E-Book

In einer anderen Welt E-Book

Jo Walton

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Beschreibung

Die fünfzehnjährige Morwenna ist auf der Flucht vor einer Mutter, die sich der finsteren Magie verschrieben hat, vor der staatlichen Fürsorge und vor der Erinnerung an den Tod ihrer Zwillingsschwester. Am schlimmsten trifft sie jedoch, dass sie ihre Heimat verlassen muss, das märchenhafte Wales, und damit ihre einzigen Freunde, die Feen und Geister, die dort in den Wäldern zu Hause sind. Auch ihr Vater, den sie nie gekannt hat, möchte sie nicht bei sich aufnehmen und schickt sie auf ein Mädcheninternat, wo sie mit der Verständnislosigkeit der Lehrer und dem maßlosen Ehrgeiz der anderen Schülerinnen fertig werden muss. Verzweifelt greift sie zu der Magie, die sie seit ihrer Kindheit begleitet, einer Magie, die niemand außer ihr sehen kann. Und zu ihren Büchern. In Science-Fiction- und Fantasy-Romanen findet sie mehr als nur flüchtigen Trost: Sie öffnen Tore zu anderen Welten, und das nicht nur im übertragenen Sinne. Als ihre Mutter zu einem neuerlichen Schlag ausholt, sind es Bücher, in die Morwenna ihre ganze Hoffnung setzt ... Ausgezeichnet mit dem Hugo Award als bester Roman des Jahres Nebula Award als bester Roman des Jahres British Fantasy Award als bester Roman des Jahres Kurd Laßwitz Preis als bester Roman des jahres

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Seitenzahl: 526

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Titel

Impressum

Among Others

Die Originalausgabe erschien 2010 bei TOR Books in New York.

Hinweis zur Übersetzung:

Sofern eine – nicht völlig abseitige – deutsche Ausgabe eines in diesem Roman genannten

Textes vorliegt, wird auf deren Titel zurückgegriffen (und daraus zitiert); ansonsten bleiben die englischsprachigen Originaltitel stehen, was auf den ersten Blick etwas gewöhnungsbedürftig

sein mag, es aber interessierten Lesern ermöglicht, die jeweiligen Bücher aufzufinden.

Eine Liste der in In einer anderen Welt genannten Bücher hat die Autorin in ihrem LiveJournal

unter http://papersky.livejournal.com/509278.html#cutid1 zur Verfügung gestellt. Diese Liste ist, ergänzt um die Angaben zu deutschsprachigen Ausgaben, auf der Internetseite des Golkonda Verlages zugänglich (unter »Jo Walton«).

Übersetzer und Verlag danken Christian Pree für seine äußerst nützliche Bibliographie deutschsprachiger Science Fiction-Stories und Bücher (http://www.chpr.at/sfstory.html).

© 2010 by Jo Walton

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin

© dieser Ausgabe 2013 by Golkonda Verlag GmbH

© der Übersetzung 2013 by Hannes Riffel

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Simone Heller

Korrektur: Robert Schekulin

Gestaltung: s.BENeš [www.benswerk.de]

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes »Amon Sûl« von Maxim Kartashev

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

Golkonda Verlag

Charlottenstraße 36

12683 Berlin

[email protected]

www.golkonda-verlag.de

ISBN: 978-3-942396-75-2 (gedruckte Ausgabe)

ISBN: 978-3-942396-76-9 (E-Book)

Dieses Buch ist für die Bibliotheken auf dieser Welt

und für die Bibliothekare, die dort Tag für Tag sitzen

und den Menschen Bücher ausleihen.

Danksagung und Anmerkungen

Ich möchte Tante Jane danken, die es als gegeben hingenommen hat, dass ich Schriftstellerin werde, und ihrer Tochter Sue (Ashwell), die mir den Hobbit und Le Guins Erdsee-Trilogie in die Hand gedrückt hat. Außerdem bin ich Mrs Morris dankbar, meiner Walisisch-Lehrerin, die sich dreißig Jahre lang um mich Sorgen gemacht hat.

Marcy Lace und Patrick Nielsen Hayden haben mich ermutigt, während ich dieses Buch geschrieben habe. Meine LiveJournal-Brieffreunde haben mich immer wieder mit den verschiedensten wertvollen Informationen versorgt, vor allem Mike Scott, ohne den das alles unmöglich gewesen wäre. Manche Leute beschäftigen Vollzeit-Rechercheassistenten, die nicht so schnell und wohlinformiert sind. Vielen Dank, Mike.

Emmet O’Brien und Sasha Walton und, ziemlich oft, Alexandra Whitebean haben es mit mir ausgehalten, während ich geschrieben habe. Alter Reiss hat mir ein DOS-Laptop gekauft, damit ich weiterschreiben konnte, und Janet M. Kegg hat mich mit den nötigen Batterien versorgt. Mein Nachbar René Walling hat einen Titel für dieses Buch gefunden. Meine Freunde sind die allerbesten. Ehrlich.

Louise Mallory, Caroline-Isabelle Caron, David Dyer-Bennett, Farah Mendlesohn, Edward James, Mike Scott, Janet Kegg, David Goldfarb, Rivka Wald, Sherwood Smith, Sylvia Rachel Hunter und Beth Meacham haben dieses Buch gelesen, als es fertig war, und haben nützliche Anmerkungen dazu gemacht. Liz Gorinsky und die fleißigen PR-Leute bei TOR kümmern sich immer wunderbar um meine Bücher und sorgen dafür, dass sie ihre Leser finden.

Es heißt immer, man solle über etwas schreiben, womit man vertraut ist, aber ich musste feststellen, dass das weit schwieriger ist, als sich etwas auszudenken. Es ist einfacher, sich über eine vergangene Zeit zu informieren als über das eigene Leben, und es ist viel leichter, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die einem emotional nicht so nahegehen. Deshalb werden Sie feststellen, dass es in Wales keine Valleys gibt, keine ausgebeuteten Kohlebergwerke und keine roten Busse; ein Jahr wie 1979 hat es nie gegeben, niemand war je fünfzehn Jahre alt, und auch ein Planet namens Erde existiert nicht. Die Feen allerdings, die sind real.

Er’ perrehnne.

Ursula K. Le Guin, Die Geißel des Himmels

Wenn Sie ihrem jüngeren Ich einen einzigen Rat geben könnten, wie würde dieser lauten, und für welches Alter wäre er bestimmt?

Für jedes Alter zwischen 10 und 25:

Es wird besser. Ehrlich. Da draußen gibt es wirklich Menschen, die du mögen wirst und die dich mögen werden.

Farah Mendlesohn, LiveJournal, 23. Mai 2008

IN EINER ANDEREN WELT

Donnerstag, 1. Mai 1975

Im Umkreis von drei Kilometern um die Phurnacite-Fabrik waren alle Bäume abgestorben. Das hatten wir mit dem Kilometerzähler nachgemessen. Die Fabrik sah aus wie etwas aus den tiefsten Tiefen der Hölle, schwarz mit himmelwärts lodernden Flammenschloten, die sich in einem dunklen Teich spiegelten. Alle Vögel und alle anderen Tiere, die aus diesem Teich tranken, starben kurz darauf. Der Geruch war unbeschreiblich. Wenn wir daran vorbeifahren mussten, kurbelten wir die Autofenster immer so weit hoch wie möglich und versuchten, den Atem anzuhalten, aber Opa sagte, so lange kann niemand den Atem anhalten, und er hatte recht. Es roch nach Schwefel, einer Chemikalie, die, wie jedermann weiß, direkt aus der Hölle stammt, und nach anderen, noch schlimmeren Sachen – nach namenlosen heißen Metallen und faulen Eiern.

Meine Schwester und ich nannten die Fabrik »Mordor«, und bisher waren wir noch nie alleine dort gewesen. Wir waren zehn Jahre alt. Doch obwohl wir schon so groß waren, fassten wir uns, sobald wir aus dem Bus gestiegen waren und hinüberschauten, an den Händen.

Der Abend dämmerte bereits, und je näher wir der Fabrik kamen, umso schwärzer und schrecklicher ragte sie vor uns auf. Sechs der Schornsteine spuckten Feuer, aus vier weiteren quoll widerlicher Rauch.

»Das kann nur ein Werk des Feindes sein«, murmelte ich.

Mor wollte nicht mitspielen. »Bist du sicher, dass das klappt?«

»Die Feen waren sich sicher«, sagte ich so beschwichtigend wie möglich.

»Ich weiß, aber manchmal frage ich mich, wie viel sie von der realen Welt verstehen.«

»Ihre Welt ist real«, widersprach ich. »Nur eben auf andere Weise. Aus einer anderen Perspektive.«

»Ja.« Ihr Blick war noch immer wie gebannt auf die Fabrik gerichtet. »Aber ich weiß nicht, wie viel sie von der Perspektive der alltäglichen Welt verstehen. Und in dieser Welt befinden wir uns jetzt. Die Bäume sind tot. Hier gibt es weit und breit keine Feen.«

»Deshalb sind wir ja hier«, sagte ich.

Wir kamen an einen Zaun, der aus drei dünnen Drähten bestand, der oberste mit Stacheln. Auf einem Schild, das daran hing, stand: Zutritt für Unbefugte verboten. Vorsicht vor den Wachhunden. Das Tor befand sich auf der anderen Seite des Geländes.

»Sind da Hunde drin?«, fragte Mor. Sie hatte Angst vor Hunden, und Hunde wussten das. Mit mir spielten sie immer ganz fröhlich und ausgelassen, aber bei ihr sträubte sich ihnen das Nackenfell. Meine Mutter sagte, so könnten uns die Leute wenigstens auseinanderhalten. Womit sie recht gehabt hätte, wäre – und das war typisch für sie – diese Methode nicht so entsetzlich böse und außerdem furchtbar unpraktisch gewesen.

»Nein«, sagte ich.

»Woher willst du das wissen?«

»Wenn wir jetzt umkehren, nachdem wir uns solche Mühe gemacht haben und schon so weit gekommen sind, war alles umsonst. Außerdem ist das eine Quest, und du kannst nicht einfach eine Quest aufgeben, weil du Angst vor Hunden hast. Ich weiß nicht, was die Feen dazu sagen würden. Denk doch mal, was Leute, die sich auf eine Quest begeben, alles erdulden müssen.« Ich wusste, dass ich mir umsonst den Mund fusselig redete. Während ich sprach, starrte ich mit zusammengekniffenen Augen in die aufziehende Finsternis. Mor umklammerte meine Hand noch fester. »Außerdem sind Hunde auch Tiere. Selbst ausgebildete Wachhunde würden das Wasser trinken, und dann würden sie sterben. Wenn es da wirklich Hunde gäbe, lägen wenigstens ein paar Hundekadaver neben dem Teich, und ich sehe keine. Die bluffen nur.«

Wir krochen unter dem Zaum hindurch, wobei wir ihn abwechselnd hochhielten. Der stille Teich schien aus beschlagenem Zinn zu bestehen; die Flammen, die über den Schornsteinen zitterten, spiegelten sich darin. In den Fensteröffnungen der Fabrik brannte Licht – das Licht, bei dem die Nachtschicht arbeitete.

Hier gab es keinerlei Vegetation mehr, nicht einmal tote Bäume. Klinker und Schlacke knirschten unter unseren Füßen, und wir mussten aufpassen, dass wir nicht umknickten. Offenbar gab es hier außer uns nichts Lebendiges. Die Fenster, die auf dem gegenüberliegenden Hügel wie Sterne leuchteten, schienen unfassbar weit weg zu sein. Eine Klassenkameradin von uns wohnte dort, und als wir sie einmal besucht hatten, war uns gleich der Geruch aufgefallen, selbst im Haus. Ihr Vater arbeitete in der Fabrik. Ob er jetzt wohl hier war?

Am Rand des Teichs blieben wir stehen. Seine Oberfläche war spiegelglatt, nicht die kleinste Welle kräuselte sich am Ufer. Ich kramte in meiner Hosentasche nach der magischen Blume. »Hast du deine?«, fragte ich.

»Sie ist ein bisschen zerdrückt«, erwiderte sie und fischte sie heraus. Ich betrachtete beide. Meine sah auch nicht viel besser aus. Da standen wir nun mitten auf dem verwüsteten Gelände an dem toten Teich, in der Hand ein paar Gauchheilblüten, die, so hatten uns die Feen erklärt, die Fabrik zerstören würden. Unser Plan war mir noch nie so kindisch und dumm erschienen.

Mir fiel nichts Passendes ein, was ich hätte sagen können. »Also gut – un, dai, tri!«, flüsterte ich, und bei drei warfen wir die Blumen in den bleiernen Teich. Sie gingen unter, und im nächsten Moment war das Wasser wieder spiegelglatt. Nichts geschah. Dann bellte irgendwo weit weg ein Hund, und Mor drehte sich um und rannte los. Ich hetzte ihr nach.

»Da ist gar nichts passiert«, sagte sie, als wir die Straße erreicht hatten. Wir hatten die Strecke in einem Viertel der Zeit zurückgelegt, die wir auf dem Hinweg gebraucht hatten.

»Was hast du erwartet?«

»Dass die Fabrik in sich zusammenfällt und ein heiliger Ort wird«, erwiderte sie, als wäre das die normalste Sache der Welt. »Entweder das, oder ein paar Huorns.«

An die Huorns hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht, und ich trauerte ihnen wirklich nach. »Ich dachte, die Blüten würden sich auflösen, und dann würden sich kreisförmig Wellen ausbreiten, und die Fabrik würde einstürzen, und die Bäume und der Efeu würden vor unseren Augen die Trümmer überwuchern, und aus dem Wasser würde wieder richtiges Wasser, und ein Vogel würde daraus trinken, und dann würden die Feen kommen und sich dort niederlassen.«

»Aber es ist überhaupt nichts passiert«, erwiderte sie mit einem Seufzer. »Wir müssen ihnen morgen sagen, dass es nicht geklappt hat. Komm jetzt – laufen wir nach Hause, oder warten wir auf den Bus?«

Aber es hatte geklappt. Am nächsten Tag lautete die Schlagzeile im Aberdare Leader: »Phurnacite-Fabrik schließt: Tausende werden arbeitslos.«

Diese Episode erzähle ich am Anfang, weil sie kurz und bündig ist, und außerdem hat sie Hand und Fuß, während sich das, was nun folgt, nicht so leicht erklären lässt.

Halten Sie das, was ich hier schreibe, ruhig für meine Memoiren. Für Memoiren, die später – zum Entsetzen aller Leser – angezweifelt werden, weil der Verfasser gelogen hat und sich herausstellt, dass er eine andere Hautfarbe und ein anderes Geschlecht hat, dass er einer anderen Schicht und einer anderen Konfession angehört, als ursprünglich behauptet. Allerdings habe ich genau das entgegengesetzte Problem. Ich muss mich anstrengen, nicht zu normal zu klingen. Geschichten sind nett. Geschichten erlauben einem, auszuwählen und zu vereinfachen. Das hier ist keine nette Geschichte, und es ist auch keine einfache Geschichte. Aber es kommen Feen darin vor, Sie können sie also ruhig für ein Märchen halten. Sie werden sie sowieso nicht glauben.

Mittwoch, 5. September 1979

»Du wirst sehen«, sagten sie, »auf dem Land fühlst du dich ganz bestimmt schrecklich wohl. Wo es doch bei euch so ... so viele Fabriken hat. Die Schule liegt mitten im Grünen – da gibt es Kühe und Gras und gesunde Luft.« Sie wollten mich loswerden. Und was war dafür besser geeignet als ein Internat? Dann konnten sie so tun, als gäbe es mich überhaupt nicht. Sie schauten mich nie direkt an. Sie schauten an mir vorbei oder kniffen die Augen zusammen. Ich gehörte nicht zu der Sorte Verwandtschaft, mit der sie sich, wenn es nach ihnen gegangen wäre, abgegeben hätten. Er sah mich vielleicht manchmal an, ich weiß es nicht. Ich konnte ihm nicht in die Augen blicken. Ich schaute immer mal wieder kurz zu ihm hinüber, aber mehr als sein Bart und seine Haarfarbe ist mir nicht im Gedächtnis geblieben. Sieht er mir ähnlich? Keine Ahnung.

Er hat drei ältere Schwestern. Drei! Bisher hatte ich nur Fotografien von ihnen gekannt. Da waren sie noch viel jünger gewesen, aber mit denselben Gesichtern wie heute; sie waren als Brautjungfern herausgeputzt gewesen, und meine Tante hatte neben ihnen so braun wie ein Ahornblatt ausgesehen. Auch meine Mutter war auf dem Bild gewesen, in ihrem grässlichen pinkfarbenen Hochzeitskleid (pink, weil es Dezember war und wir im Juni darauf geboren wurden – ganz schamlos war sie nicht), aber er nicht. Sie hatte ihn rausgerissen. Ich hatte noch nie ein Bild von ihm gesehen, nicht ein einziges. In dem Roman Jane of Lantern Hill von L. M. Montgomery erkennt ein Mädchen, dessen Eltern geschieden waren, ihren Vater auf einem Bild in der Zeitung, ohne ihn jemals vorher gesehen zu haben. Nachdem wir das gelesen hatten, schauten wir uns einige Bilder an, aber sie sagten uns nichts. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass wir meistens nicht groß an ihn dachten.

Selbst als ich in seinem Haus stand, war ich fast überrascht, dass es ihn gab, ihn und seine drei herrischen Halbschwestern, die von mir verlangten, dass ich Tante zu ihnen sagte. »Nicht Tantchen«, erklärten sie mir, »Tantchen klingt so gewöhnlich.« Also sagte ich Tante zu ihnen. Ich weiß, dass sie Anthea, Dorothy und Frederica heißen, wie ich überhaupt viele Dinge weiß, auch wenn manches davon gelogen ist. Nichts von dem, was meine Mutter mir erzählt hat, glaube ich wirklich, solange ich es nicht überprüft habe. Manche Dinge kann man jedoch nicht in Büchern nachschlagen. Außerdem nützt es mir nichts, dass ich ihre Namen kenne, denn ich kann sie nicht auseinanderhalten, also sage ich einfach nur Tante zu ihnen. Sie sagen äußerst förmlich »Morwenna« zu mir.

»Arlinghurst ist eine der besten Mädchenschulen im ganzen Land«, erklärte eine von ihnen.

»Wir waren alle dort«, pflichtete eine andere bei.

»Und es war wirklich prima«, schloss die dritte. Es scheint eine Angewohnheit von ihnen zu sein, abwechselnd zu sprechen.

Und ich? Ich stand einfach nur vor dem kalten Kamin, schaute unter meinen Ponyfransen hervor und stützte mich auf meinen Stock. Der ebenfalls zu den Dingen gehörte, die sie nicht sehen wollten. Als ich aus dem Wagen ausgestiegen war, hatten sie mich mitleidig gemustert. Das kann ich nicht ausstehen. Ich hätte mich gerne hingesetzt, aber ich wollte nicht darum bitten. Inzwischen kann ich auch viel besser stehen. Ich werde wieder gesund, ganz gleich, was die Ärzte sagen. Manchmal sehne ich mich so sehr danach zu rennen, dass mir alles wehtut, nicht nur das Bein.

Ich wandte mich um und betrachtete den Kamin – irgendwie musste ich mich ja ablenken. Er war aus Marmor, mit zahlreichen Ornamenten geschmückt, und einige herbstliche Birkenzweige waren kunstvoll darin arrangiert. Alles war sehr sauber, aber nicht besonders gemütlich. »Deine Uniformen besorgen wir dir gleich heute in Shrewsbury, und morgen fahren wir dich hin«, sagten sie. Morgen. Sie konnten es wirklich nicht erwarten, mich loszuwerden, mich und meinen hässlichen walisischen Akzent und mein Hinken. Schlimm genug, dass es mich überhaupt gab! Ich wollte auch ganz bestimmt nicht hier sein. Das Problem ist nur, dass ich nirgendwo anders hin kann. Bevor du sechzehn bist, erlauben sie dir nicht, alleine zu wohnen. Das habe ich im Heim herausgefunden. Außerdem ist er wirklich mein Vater, obwohl ich ihn noch nie zuvor gesehen habe. Und in gewisser Hinsicht sind diese Frauen auch meine Tanten. Wenn ich daran denke, fühle ich mich gleich noch viel einsamer. Ich bin so weit weg von zu Hause, und ich vermisse meine richtige Familie – meine Familie, die mich im Stich gelassen hat.

Und dann sind wir einkaufen gegangen, den lieben langen Tag. Die drei Tanten und ich, aber ohne meinen Vater. Ich wusste nicht, ob ich deswegen froh oder traurig sein sollte. Die Arlinghurst-Uniform musste man in einem speziellen Laden kaufen, wie damals meine Uniform fürs Gymnasium. Was waren wir stolz gewesen, als wir die Aufnahmeprüfung bestanden. »Die Elite der Valleys« haben sie uns genannt. Das ist jetzt alles vorbei, und stattdessen werde ich gezwungen, auf dieses piekfeine Internat zu gehen, wo sie die merkwürdigsten Dinge von einem verlangen. Eine der Tanten hatte eine Liste dabei, und wir kauften alles, was darauf stand. Am Geld sparten sie jedenfalls nicht. So viel hatte noch nie jemand für mich ausgegeben. Schade, dass alles so scheußlich ist. Auch jede Menge Sportausrüstung war dabei. Ich wies sie nicht darauf hin, dass ich davon so bald nichts anziehen würde. Wenn überhaupt. Diesen Gedanken verdrängte ich lieber. Wir waren meine ganze Kindheit hindurch gerannt. Wir hatten Wettläufe gewonnen. In der Schule waren wir meistens gegeneinander angetreten und hatten das übrige Feld weit hinter uns gelassen. Opa hatte von den Olympischen Spielen gesprochen, und auch wenn er nur geträumt hatte, hatte er sie doch immerhin erwähnt. Bei den Olympischen Spielen seien noch nie Zwillinge angetreten, hatte er gesagt.

Als die Schuhe an der Reihe waren, gab es ein Problem. Ich ließ sie Hockeyschuhe und Laufschuhe und Turnschuhe kaufen, denn die konnte ich anziehen oder auch nicht. Aber als die Uniformschuhe an der Reihe waren, für den Alltag, musste ich sie bremsen. »Ich habe spezielle Schuhe«, erklärte ich, ohne sie anzuschauen. »Mit Spezialsohlen. Sie müssen extra angefertigt werden, von einem Orthopädisten. Ich kann sie nicht einfach kaufen.«

Die Verkäuferin bestätigte, dass wir solche Schuhe nicht einfach passend zur Uniform kaufen konnten. Sie hielt einen der Schulschuhe in die Höhe. Er war hässlich und unterschied sich nicht allzu sehr von den klumpigen Schuhen, die ich trage. »Könntest du in diesen hier laufen?«, fragte mich eine der Tanten.

Ich nahm den Schuh in die Hand und betrachtete ihn eingehend. »Nein«, erwiderte ich dann und drehte ihn um. »Er hat einen Absatz.« Dagegen ließ sich nichts einwenden, auch wenn die Schule wahrscheinlich nicht glaubt, dass ein Mädchen, das etwas auf sich hält, einen Schuh mit einem niedrigeren Absatz tragen würde.

Es war nicht ihre Absicht, mich vollends zu demütigen, während sie sich wie die Glucken über die Schuhe und über mich und meine maßgefertigten Schuhsohlen beugten. Das musste ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, während ich wie ein Klotz dastand, ein gequältes Lächeln auf den Lippen. Sie hätten mich gerne gefragt, was mit meinem Bein nicht in Ordnung war, aber ich schaute sie stur an, und sie trauten sich nicht. Das munterte mich wieder ein wenig auf. Schließlich beließen sie es dabei und erklärten, dass die Schule das wohl oder übel würde verstehen müssen. »Meine Schuhe sind ja auch nicht gerade rot und glamourös«, sagte ich.

Das war ein Fehler, denn daraufhin starrten sie alle meine Schuhe an. Es sind Krüppelschuhe. Bei Krüppelschuhen für Damen gibt es keine große Auswahl – man kauft sie entweder in Braun oder in Schwarz. Meine sind schwarz. Mein Gehstock ist aus Holz. Früher hat er mal Opa gehört, der immer noch am Leben ist, im Krankenhaus liegt und sich bemüht, wieder gesund zu werden. Wenn er wieder gesund wird, darf ich vielleicht nach Hause zurück. Alles in allem ist das eher unwahrscheinlich, aber es ist meine einzige Hoffnung. Am Reißverschluss meiner Strickjacke baumelt mein hölzerner Schlüsselring. Er ist aus einer Baumscheibe geschnitzt, mit Rinde und allem. Er stammt aus Pembrokeshire. Ich hatte ihn schon ... na ja, vorher. Ich berührte ihn, in etwa so, wie wenn man auf Holz klopft, und sah, dass sie die Geste bemerkt hatten. Ich sah, was sie sahen – einen sonderbaren, launischen verkrüppelten Teenager mit einem schmutzigen Stück Holz. Was sie stattdessen hätten sehen sollen, sind zwei strahlend selbstbewusste Kinder. Ich weiß, was passiert ist, aber sie nicht, und sie würden es auch nie verstehen.

»Ihr seid sehr englisch«, sagte ich.

Sie lächelten. Wo ich herkomme, ist »Saes« eine Beleidigung, eine Provokation – das Schlimmste, was man zu jemandem sagen kann. Es bedeutet »englisch«. Aber jetzt bin ich in England.

Wir aßen an einem Tisch zu Abend, der für sechzehn Gäste klein gewesen wäre. Doch das fünfte Gedeck, das für mich aufgelegt worden war, wirkte irgendwie fehl am Platze. Alles passte zusammen, die Tischsets, die Servietten, die Teller. Ganz anders als bei uns daheim. Das Essen war erwartungsgemäß schauderhaft – zähes Fleisch, wässrige Kartoffeln und irgendso ein grünes, längliches Gemüse, das nach Gras schmeckt. Die Leute haben mir mein Leben lang erzählt, wie furchtbar englisches Essen ist, und es ist beruhigend, dass sie recht haben. Bei Tisch wurde über Internate gesprochen, denn sie sind alle auf eins gegangen. Mir war nichts davon neu. Schließlich habe ich die Greyfriars-Serie, alle Dolly-Bücher und sämtliche Werke von Angela Brazil gelesen.

Nach dem Abendessen bat er mich in sein Arbeitszimmer. Die Tanten wirkten davon nicht allzu begeistert, aber sie sagten nichts. Das Arbeitszimmer war eine Riesenüberraschung, denn es ist mit Büchern vollgestopft. Eigentlich hatte ich elegante alte Lederausgaben von Dickens, Trollope und Hardy erwartet (Oma liebte Hardy), aber stattdessen sind die Regale gerammelt voll mit Taschenbüchern, das meiste davon SF. Zum ersten Mal, seit ich das Haus betreten hatte, seit ich ihm gegenüberstand, entspannte ich mich ein wenig. Wenn es hier Bücher gab, würde vielleicht nicht alles so schlimm sein.

In dem Zimmer gab es noch andere Dinge – Stühle, einen Kamin, ein Tablett mit Gläsern, einen Plattenspieler –, aber das ignorierte ich und lief, so schnell und unbeholfen mir das möglich war, zu dem SF-Regal.

Da standen eine Menge Bücher von Poul Anderson, die ich noch nicht gelesen hatte. Quer über dem Buchstaben A lag Die Suche der Drachen, offenbar eine Fortsetzung von »Die Drachenkönigin«, einer längeren Erzählung, die ich in einer Anthologie gelesen hatte. Auf dem Regal darunter entdeckte ich einen John Brunner, den ich noch nicht kannte. Noch besser – zwei John Brunner, nein, drei John Brunner, die ich noch nicht kannte. Mir schossen die Tränen in die Augen.

Den Sommer hatte ich fast ohne Bücher verbracht, denn ich besaß nur das, was ich mitgenommen hatte, als ich von Zuhause weggelaufen war – die dreibändige Taschenbuchausgabe von Der Herr der Ringe natürlich; Die zwölf Striche der Windrose von Ursula Le Guin, für mich die beste Storysammlung aller Zeiten; außerdem war ich damals gerade mittendrin in John Boyds Der Überläufer, das mir aber inzwischen nicht mehr so gut gefiel. Ich hatte Als Hitler das rosa Kaninchen stahl von Judith Kerr gelesen, aber nicht mitgenommen, und wenn ich daran dachte, dass Anna ihr geliebtes rosa Kaninchen zurückgelassen und stattdessen ein neues Spielzeug mitgenommen hatte, als ihre Familie das Dritte Reich verließ, wurde mir ganz unwohl, wann immer ich den Boyd anschaute.

»Kann ich ...«, wollte ich fragen.

»Du kannst dir jedes Buch ausleihen, das du möchtest, wenn du darauf achtgibst und es wieder zurückbringst«, sagte er. Ich schnappte mir einen Anderson, den McCaffrey, die Brunners. »Was hast du da?«, fragte er. Ich drehte mich um und zeigte es ihm. Wir sahen beide die Bücher an, nicht einander.

»Hast du das erste davon gelesen?«, fragte er und deutete auf den McCaffrey.

»Aus der Bibliothek«, sagte ich. Ich habe die ganze Science-Fiction- und Fantasy-Sammlung in der Bibliothek von Aberdare verschlungen, von Andersons Im Dienst der Erde bis zu Roger Zelaznys Götter aus Licht und Dunkelheit, ein seltsames Buch, über das ich mir noch immer nicht ganz im Klaren bin.

»Hast du irgendetwas von Delany gelesen?«, fragte er. Er schenkte sich einen Whisky ein und trank einen Schluck. Es roch seltsam, abscheulich.

Ich schüttelte den Kopf. Er reichte mir einen Ace-Doppelband, der zur Hälfte aus Imperiums-Stern von Samuel R. Delany bestand. Ich drehte das Buch um, weil ich wissen wollte, was die andere Hälfte zu bieten hatte, aber er ließ ein missbilligendes »Ts-ts-ts« hören, und daraufhin sah ich ihn tatsächlich an.

»Die andere Hälfte ist Mist«, sagte er abfällig und drückte mit viel zu viel Kraft seine Zigarette aus. »Wie steht’s mit Vonnegut?«

»Alles«, sagte ich selbstsicher.

»Katzenwiege?«

»Frühstück für starke Männer, Geh zurück zu deiner lieben Frau und deinem Sohn ...« Ich spulte die Titel herunter. Er lächelte sichtlich erfreut. Lesen war mir stets ein Trost gewesen, und ich war geradezu süchtig nach Büchern, aber bisher hatte das noch niemanden gefreut.

»Und Die Sirenen des Titan?«, fragte er, als ich fertig war.

Ich schüttelte den Kopf. »Davon habe ich noch nie gehört!«

Er stellte sein Glas ab, bückte sich, zog ohne lange zu suchen das Buch heraus und legte es auf meinen Stapel. »Und Zenna Henderson?«

»Wo ist unsere Welt?«, hauchte ich. Das Buch hatte wirklich zu mir gesprochen. Ich liebe es. Niemand sonst, den ich kenne, hat es gelesen. Ich hatte es nicht aus der Bibliothek. Meine Mutter besaß eine amerikanische Ausgabe mit einem Loch im Einband. Ich glaube nicht, dass es eine britische Ausgabe gibt. Henderson stand nicht im Bibliothekskatalog. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass er sie, wenn er mein Vater ist, was er in gewissem Sinne auch ist, vor langer Zeit gekannt hat. Er hat sie geheiratet. Er hatte die Fortsetzung von Wo ist unsere Welt? und zwei Sammelbände mit Erzählungen. Ich nahm sie, wobei ich nicht wusste, was ich von ihm halten sollte. Der Bücherstapel rutschte mir fast aus der Hand. Ich schob alles in meine Tasche, die mir über der Schulter hing, wie immer.

»Ich glaube, ich gehe jetzt ins Bett und lese«, sagte ich.

Er lächelte. Er hatte ein nettes Lächeln, ganz anders als wir. Zeit meines Lebens war mir erzählt worden, dass wir ihm ähnlich sehen, aber ich finde das nicht. Wenn er Lazarus Long ist, und wir Laz und Lor sind, dann müsste ich mich doch in ihm wiedererkennen. Aus unserer Familie haben wir niemandem ähnlich gesehen; von der Augen- und Haarfarbe abgesehen, sehe ich allerdings auch keine Übereinstimmung zwischen ihm und uns. Aber das spielt keine Rolle. Ich habe Bücher, neue Bücher, und solange ich Bücher habe, kann ich alles ertragen.

Donnerstag, 6. September 1979

Mein Vater fuhr mich in die Schule. Auf dem Rücksitz ruhte ein schicker Koffer, den ich noch nie zuvor gesehen hatte und in dem sich, wir mir die Tanten versicherten, alle Uniformen befanden, ordentlich zusammengelegt natürlich. Daneben stand eine Ledertasche mit meinen Schulsachen. Beide waren nicht im Mindesten zerschrammt, also waren sie ganz neu. Bestimmt hatten sie ein Heidengeld gekostet. In meiner eigenen Tasche befand sich alles, womit ich weggelaufen war, und außerdem die Bücher, die ich mir ausgeliehen hatte. Ich hielt sie fest an mich gedrückt, auch als sie versuchten, sie mir wegzunehmen und hinten rein zu tun. Ich nickte ihnen zu, brachte jedoch keinen Ton heraus. Schon seltsam, dass es völlig unmöglich ist, diesen Leuten gegenüber irgendwelche Gefühle zu zeigen, geschweige denn in ihrer Anwesenheit zu weinen. Sie sind nicht meine Familie. Sie sind nicht wie meine Familie. Das klang wie die ersten Zeilen eines Gedichts, und ich hätte sie am liebsten in mein Notizbuch geschrieben. Ich stieg in den Wagen. Was sehr wehtat. Wenigstens hatte ich da genug Platz, um die Beine auszustrecken. Vordersitze sind besser als Rücksitze, das ist mir schon früher aufgefallen.

Ich brachte ein »Dankeschön« und ein »Auf Wiedersehen« zustande. Die Tanten küssten mich alle auf die Wange.

Mein Vater sah mich nicht an, während er fuhr, was bedeutete, dass ich ihn von der Seite anschauen konnte. Er rauchte, wobei er sich jede neue Zigarette an der Kippe der vorherigen anzündete, genau wie sie. Ich kurbelte das Fenster herunter, wegen der frischen Luft. Ich finde noch immer nicht, dass er uns irgendwie ähnlich sieht. Was nicht nur an dem Bart liegt. Ich fragte mich, was Mor von ihm gehalten hätte, und verdrängte den Gedanken, so gut es ging. Nach einer Weile sagte er zwischen zwei Zügen: »Ich habe dich als ›Markova‹ angemeldet.«

So heißt er. Daniel Markova. Das habe ich schon immer gewusst. Dieser Name steht auch in meiner Geburtsurkunde. Er war mit meiner Mutter verheiratet. Sie heißt auch so. Aber ich habe den Namen nie verwendet. Mein Nachname lautet Phelps, und so wurde ich auch in der Schule genannt. Phelps bedeutet etwas, zumindest in Aberdare – meine Großeltern, meine Familie. Mrs Markova dagegen, das ist die Verrückte, meine Mutter. Aber in Arlinghurst spielt das bestimmt keine Rolle.

»Morwenna Markova ist ein ziemlicher Zungenbrecher«, brummte ich nach einer ganzen Weile.

Er lachte. »Das habe ich auch gesagt, als ihr auf die Welt kamt. Morwenna und Morganna.«

»Sie hat gesagt, du hättest die Namen ausgesucht«, entgegnete ich leise, während ich aus dem Fenster starrte. Felder, die aussahen wie Flickenteppiche, glitten an uns vorbei. Auf manchen standen noch die Stoppeln, andere waren bereits umgepflügt.

»Das ist wohl wahr«, sagte er. »Sie hatte eine Liste gemacht, und ich sollte entscheiden. Alle Namen waren sehr lang und sehr walisisch. Ich habe ihr erklärt, das wären alles rechte Zungenbrecher, aber sie hat gesagt, die Leute würden schon Kurzformen finden. Haben sie das?«

»Ja«, erwiderte ich, den Blick weiterhin abgewandt. »Mo oder Mor. Oder Mori.« Wenn ich einmal eine berühmte Dichterin bin, werde ich mich Mori Phelps nennen. Diesen Namen schreibe ich auch in meine Bücher. Ex libris Mori Phelps. Und was hat Mori Phelps mit Morwenna Markova zu tun und mit ihrer neuen Schule? Eines Tages wirst du darüber lachen, redete ich mir ein. Du wirst zusammen mit Leuten darüber lachen, die so klug und kultiviert sind, wie ich mir das heute gar nicht vorstellen kann.

»Und deine Schwester, wurde sie Mog gerufen?«, fragte er.

Bisher hatte er sie noch mit keinem Wort erwähnt. Ich schüttelte den Kopf, bis mir bewusst wurde, dass er fuhr und mich nicht ansah. »Nein«, sagte ich. »Mo oder Mor, wie ich auch.«

»Aber wie haben sie euch auseinandergehalten?« Er sah immer noch nicht zu mir herüber, sondern zündete sich eine weitere Zigarette an.

»Gar nicht.« Ich lächelte in mich hinein.

»Macht es dir etwas aus, wenn du in der Schule Markova heißt?«

»Mir ist das gleichgültig. Außerdem zahlst du ja für alles.«

Er wandte sich zu mir um, nur ganz kurz, und schaute dann wieder geradeaus. »Meine Schwestern kommen für alles auf. Ich habe kein eigenes Geld, nur das, was sie mir zugestehen. Weißt du über meine familiäre Situation Bescheid?«

Was gab es da schon zu wissen? Ich wusste nichts über ihn, außer dass er Engländer war, weshalb ich mich im Sandkasten andauernd hatte prügeln müssen, und dass er mit neunzehn meine Mutter geheiratet hatte und zwei Jahre später weggelaufen war, während sie im Krankenhaus lag und noch ein Kind bekam, das gestorben ist, und zwar an dem Schock. »Nein«, sagte ich.

»Meine Mutter war mit einem Mann namens Charles Bartleby verheiratet. Er war ziemlich reich. Sie hatten drei Töchter. Dann brach der Krieg aus. 1940 ging er als Soldat nach Frankreich, wo er gefangen genommen und in ein Lager gesteckt wurde. Meine Mutter ließ ihre drei kleinen Töchter bei ihrer Großmutter Bartleby in Old Hall, dem Haus, das wir gerade verlassen haben. Sie ging in der Kantine der RAF arbeiten, um ihren Anteil zur Verteidigung des Landes beizutragen. Dort lernte sie einen polnischen Luftwaffenoffizier namens Samuel Markova kennen und verliebte sich in ihn. Er war Jude. Ich wurde im März 1944 geboren. Im September 1944 wurde Bartleby aus dem Lager befreit und kehrte nach England zurück, wo er und meine Mutter sich scheiden ließen. Sie heiratete meinen Vater, der gerade erfahren hatte, dass seine ganze Familie in Polen ermordet worden war.«

Hatte er auch eine Frau und Kinder gehabt? Bestimmt. Ein polnischer Jude! Ich bin also zum Teil polnischer Abstammung. Und zum Teil eine Jüdin? Alles, was ich über das Judentum weiß, stammt aus Lobgesang auf Leibowitz und Es stirbt in mir. Na ja, und wohl auch aus der Bibel vermutlich.

»Meine Mutter hatte etwas eigenes Geld, aber nicht sehr viel. Nach dem Krieg hat mein Vater den Dienst bei der RAF quittiert und in einer Fabrik in Ironbridge gearbeitet. Bartleby hat sein Geld und sein Haus meinen Schwestern hinterlassen. Als ich dreizehn war, kam meine Mutter bei einem Unfall ums Leben. Meine Schwestern, die bereits erwachsen waren, kamen zu ihrer Beerdigung. Anthea machte den Vorschlag, die Kosten für meine Ausbildung zu übernehmen, und mein Vater willigte ein. Seither unterstützen sie mich. Wie du weißt, habe ich geheiratet, während ich noch auf der Universität war.«

»Was ist mit Bartleby?«, fragte ich. Er konnte nicht viel älter als mein Großvater gewesen sein.

»Er hat sich erschossen, als seine Töchter einundzwanzig wurden«, sagte er in einem Tonfall, der keine weiteren Fragen zuließ.

»Und was ... was machst du?«

»Sie haben den Schlüssel zur Kasse, aber ich verwalte den Nachlass.« Er ließ die Zigarettenkippe in den Aschenbecher fallen, der bereits überquoll. »Sie zahlen mir ein Gehalt, und ich wohne im Haus. Alles sehr viktorianisch.«

»Wohnst du schon dort, seit du weggelaufen bist?«

»Ja.«

»Aber sie haben gesagt, sie wüssten nicht, wo du bist! Mein Großvater ist zu ihnen gefahren, den ganzen weiten Weg, und hat mit ihnen gesprochen.« Ich war empört.

»Sie haben gelogen.« Er hielt den Blick starr geradeaus gerichtet. »War es schlimm für dich, dass ich weggelaufen bin?«

»Ich bin auch vor ihr davongelaufen«, entgegnete ich, was keine Antwort auf seine Frage war, aber hinreichend zu sein schien.

»Ich wusste, dass eure Großeltern sich um euch kümmern würden.«

»Das haben sie. Deswegen hättest du dir keine Sorgen machen müssen.«

»Ah«, sagte er.

In dem Moment begriff ich, dass meine Anwesenheit in seinem Wagen ein einziger großer Vorwurf war. Zum einen war ich alleine gekommen, dabei hatte er Zwillinge im Stich gelassen. Zum anderen war ich verkrüppelt. Außerdem war ich hier, weil ich von Zuhause fortgerannt war. Ich hatte ihn um Hilfe bitten müssen – und was noch schlimmer war, ich hatte mich an den Sozialdienst wenden müssen, um ihn ausfindig zu machen. Ganz offensichtlich waren die Vorkehrungen, die er für uns getroffen hatte, alles andere als ausreichend gewesen. Dass ich jetzt, in diesem Moment hier war, führte ihm vor Augen, was für ein miserabler Vater er war. Was ehrlich gesagt auch der Wahrheit entsprach. Meine Mutter mochte sein, wie sie war, aber man ließ einfach keine Kleinkinder im Stich – und schon gar nicht, wenn das bedeutete, dass sie dann ganz allein ihr ausgeliefert waren. Das war der Gipfel der Unverantwortlichkeit. Aber schließlich bin ich auch vor ihr weggelaufen.

»Anders hätte ich nicht aufwachsen wollen«, sagte ich. Meine Großeltern. Die Valleys. Meine Heimat. »Wirklich. Es war toll. Eine bessere Kindheit hätte ich gar nicht haben können.«

»Ich werde dich bald einmal zu meinem Vater mitnehmen. Vielleicht im Frühjahr.« Er setzte den Blinker, und wir bogen zwischen zwei sterbenden Ulmen hindurch in eine Einfahrt. Kies knirschte unter den Reifen. Wir waren in Arlinghurst angekommen.

Als Allererstes kam es zu einer Auseinandersetzung wegen des Chemieunterrichts. Arlinghurst ist in einem großen, eleganten Gebäude untergebracht, auf einem äußerst imposanten viktorianischen Anwesen. Aber es roch überall nach Schule – Kreide, gekochter Kohl, Desinfektionsmittel, Schweiß. Die Schulleiterin war höflich und kühl. Sie gestattete meinem Vater nicht zu rauchen, womit sie ihn gleich auf dem falschen Fuß erwischte. Ihre Stühle sind zu niedrig. Ich hatte Schwierigkeiten, von meinem aufzustehen. Aber all das hätte keine Rolle gespielt, wäre da nicht der Stundenplan gewesen, den sie mir überreichte. Erstens, jeden Tag drei Stunden Sport. Zweitens, Kunst und Religion sind Pflicht. Drittens, ich muss mich zwischen Chemie und Französisch oder Latein und Biologie entscheiden.

In Piraten im Weltraum schreibt Robert Heinlein, dass nur Geschichte, Sprachen und Naturwissenschaften es wert sind, studiert zu werden. Genau genommen fügt er noch Mathematik hinzu, doch bei mir haben sie den Teil des Gehirns, der dafür zuständig ist, weggelassen. Mor war in Mathe spitze. Aber ansonsten war es bei uns beiden dasselbe: Entweder begriffen wir etwas augenblicklich, oder sie hätten uns ebenso gut ein Loch in den Kopf bohren können, um etwas hineinzustopfen. »Wie ist es möglich, dass du boolesche Algebra verstehst, aber noch immer Probleme mit der schriftlichen Division hast?«, hatte mein Mathematiklehrer mich voller Verzweiflung gefragt. Na ja – Venn-Diagramme sind eben einfach, während schriftliche Division mir nach wie vor Probleme bereitet. Am schwierigsten waren die Aufgaben, bei denen irgendwelche Menschen ohne jede Motivation unbegreifliche Dinge taten. Dabei fiel es mir schwer, mich auf die eigentliche Rechnung zu konzentrieren, während ich mich fragte, warum es irgendjemanden interessieren sollte, wann zwei Züge aneinander vorbeifuhren (Spione), weshalb Sitzordnungen so wichtig waren (geschiedene Ehepaare) oder – was mir bis zum heutigen Tag ein Rätsel ist – wie man Wasser in eine Badewanne einlassen kann, ohne den Stöpsel reinzutun.

Geschichte, Sprachen und Naturwissenschaften stellen mich nicht vor solche Probleme. Wenn man in den Naturwissenschaften etwas berechnen muss, leuchtet es immer ein, und außerdem darf man den Taschenrechner benutzen.

»Ich muss unbedingt Latein und Biologie belegen und sowohl Französisch als auch Chemie«, sagte ich und sah vom Stundenplan auf. »Auf Kunst und Religion kann ich verzichten, das lässt sich also leicht arrangieren.«

Die Schulleiterin ging in die Luft, als sie das hörte, denn Stundenpläne sind anscheinend heilig oder etwas in der Art. Ich hörte ihr nicht richtig zu. »Auf diese Schule gehen über fünfhundert Mädchen. Erwartest du, dass ich ihnen allen Ungelegenheiten bereite, um dir entgegenzukommen?«

Mein Vater, der zweifelsohne Heinlein gelesen hat, stärkte mir den Rücken. Wenn ich mich zwischen Heinlein und einer Schulleiterin entscheiden muss, steht das Ergebnis von vorneherein fest. Schließlich einigten wir uns auf einen Kompromiss: Ich werde auf Biologie verzichten müssen, kann aber die drei anderen Fächer belegen, was nur einiger Umstellungen bedurfte. Den Chemieunterricht muss ich in einer anderen Klasse besuchen, aber das ist mir gleichgültig. Einstweilen hatte ich einen Sieg errungen, und so willigte ich ein, mir meinen Schlafsaal zeigen zu lassen und die Bekanntschaft meiner Hausleiterin und meiner »neuen Freunde« zu machen.

Als sich mein Vater von mir verabschiedete, küsste er mich auf die Wange. Ich sah ihm nach, wie er zur Eingangstür hinausging. Kaum war er im Freien, zündete er sich eine Zigarette an.

Freitag, 7. September 1979

Wie sich herausstellt, ist das mit der tollen ländlichen Gegend ein ziemlicher Witz.

Na ja, zum Teil trifft es schon zu. Arlinghurst steht völlig für sich zwischen den ganzen Sportplätzen, umgeben von Ackerland. Im Umkreis von dreißig Kilometern gibt es keinen Flecken, der nicht von irgendjemandem genutzt wird. Da weiden Kühe, dumme, hässliche Viecher, schwarz und weiß wie Spielzeugkühe, nicht braun wie die echten, die wir in den Ferien gesehen haben. (Zeigefinger ist die braune Kuh, die macht immer muh, muh, muh.) Sie stapfen auf der Wiesen herum, bis es Zeit zum Melken ist, und dann marschieren sie brav nach Hause. Das ist mir heute Nachmittag aufgefallen, als ich einen Spaziergang über das Anwesen machen durfte – diese Kühe sind ja so was von blöde! Kein Wunder, dass das Wort »Rindvieh« als Schimpfwort herhalten muss.

Ich stamme aus den walisischen »Valleys«, und es hat einen guten Grund, dass sie »die Täler« genannt werden. Hier haben sich Gletscher tief in die Berge gegraben, und flaches Land ist selten. Solche Täler gibt es überall in Wales. In den meisten stehen eine Kirche und ein paar Bauernhöfe, und im ganzen Tal leben vielleicht tausend Menschen. Mehr gibt das Land auch nicht her. Unser Tal, das Cynon Valley, hat, wie die benachbarten Täler auch, mehr als hunderttausend Einwohner, die alle in viktorianischen Reihenhäusern wohnen. An den Steilhängen sind Terrassen angelegt, auf denen sich die Häuser wie Weintrauben aneinanderschmiegen; dazwischen ist kaum genug Platz, um Wäsche aufzuhängen. Häuser und Menschen sind zusammengepfercht wie in einer Stadt, schlimmer als in einer Stadt, nur dass Aberdare keine Stadt ist. Hatte man die Häuserreihen jedoch erst hinter sich gelassen, begann die Wildnis. Und selbst auf den Straßen konnte man die Augen zu den Bergen aufheben.

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt – ein Psalm, der sich mir immer von selbst verstand. Die Berge waren wunderschön, grün, mit Bäumen und Schafen, und sie waren allgegenwärtig. Eine Wildnis waren sie in dem Sinne, dass jeder jederzeit dorthin gehen konnte. Sie gehörten niemandem, im Unterschied zu der flachen, eingezäunten »Landschaft« um die Schule herum. Die Berge waren Gemeindeland. Und selbst unten in den Tälern gab es Flüsse und Wälder und Ruinen, denn die Eisenwerke mussten nacheinander schließen, die Gebäude wurden aufgegeben. In den Ruinen wuchsen Pflanzen, die Wildnis eroberte sie zurück, und die Feen ließen sich darin nieder. Mit der Phurnacite-Fabrik ist tatsächlich das passiert, was wir erwartet hatten. Es hat nur ein wenig länger gedauert.

Wir spielten während unserer ganzen Kindheit in den Ruinen, manchmal allein, manchmal mit anderen Kindern oder mit den Feen. Uns war nicht klar, worum es sich bei den verfallenen Gebäuden handelte, lange Zeit nicht. In der Nähe von Tantchen Florries Haus befand sich ein altes Eisenwerk, wo wir uns besonders gerne herumtrieben. Dort trafen wir auch andere Kinder, und manchmal taten wir uns mit ihnen zusammen – zum Versteckspielen waren die Ruinen wunderbar geeignet, oder um Verfolgungsjagden zu veranstalten. Was ein Eisenwerk war, wusste ich nicht. Falls mich jemand gefragt hätte, wäre ich wohl darauf gekommen, dass dort irgendjemand mit Eisen gearbeitet hatte, aber niemand fragte mich. Es war eben ein Spielplatz. Im Herbst war alles von Weidenröschen überwuchert. Wir wussten nur selten, wie diese Orte hießen.

Die meisten Ruinen in den Wäldern hatten keine Namen und konnten alles Mögliche sein. Für uns waren sie Hexenhütten, Riesenschlösser und Feenpaläste, und wir spielten dort Hitlers letzte Bastion oder Die Mauern von Angband, aber in Wirklichkeit waren das die Trümmer ehemaliger Fabriken. Die Feen hatten sie nicht erbaut. Sie hatten, nachdem die Menschen sie verlassen hatten, zusammen mit der Vegetation dort Einzug gehalten. Falls Sie sich jemals fragen sollten, warum die Waliser nicht in ebensolcher Zahl in die Neue Welt ausgewandert sind wie die Iren und die Schotten – das liegt nicht etwa daran, dass sie keinen Grund gehabt hätten, ihre Bauernhöfe zu verlassen. Aber sie fanden woanders Aufnahme. Oder glaubten das wenigstens. Auch Engländer ließen sich dort nieder. Die walisische Sprache zog dabei den Kürzeren. Walisisch war die Erstsprache meiner Großmutter und die Zweitsprache meiner Mutter. Ich kann nur noch ein paar Brocken. Die Familie meiner Großmutter stammt aus dem Südwesten von Wales, aus Carmarthenshire. Wir hatten noch immer Verwandtschaft dort, »Mary vom Land« und ihre Familie.

Meine Vorfahren sind, wie alle anderen auch, hierher gezogen, nachdem Eisen und Kohle entdeckt wurden. Die Menschen bauten an Ort und Stelle Schmelzhütten, Eisenbahnen für den Transport, Häuser für die Arbeiter, immer mehr Schmelzhütten, immer mehr Minen, immer mehr Häuser, bis die Täler flächendeckend besiedelt waren. Die Berge blieben jedoch weitgehend unberührt, und dorthin haben sich die Feen geflüchtet. Dann ging das Eisen aus oder konnte woanders billiger produziert werden. Kohle wurde weiterhin abgebaut, aber im Vergleich mit dem, was hier vor hundert Jahren los war, war das ein Witz. Die Eisenwerke wurden aufgegeben. Gruben schlossen. Manche Leute zogen weg, andere blieben. Schließlich waren sie inzwischen hier zu Hause. Bis wir geboren wurden, war chronische Arbeitslosigkeit an der Tagesordnung, und die Feen schlichen sich langsam wieder in die Täler zurück und nahmen die Ruinen in Besitz, die niemand haben wollte.

Als wir klein waren, hinderte uns niemand daran, in den Ruinen zu spielen, und wir kümmerten uns nicht darum, wozu sie früher gedient hatten. Wir fanden es einfach nur großartig dort. Alles war verlassen, überwuchert, abgelegen. Hatte man sich erst von zu Hause fortgestohlen, begann die Wildnis. Wir konnten immer in die eigentlichen Berge hinaufsteigen, wo die Natur noch unberührt war – dort gab es Felsen und Bäume und Schafe mit grauem Fell vom Kohlestaub, die wir nicht leiden konnten. (Ich kann nicht verstehen, wie manche Leute irgendetwas für Schafe empfinden können. Oft riefen wir »Pfefferminzsoße!«, um sie zu verscheuchen. Tantchen Teg verzog darüber immer das Gesicht und sagte, wir sollten damit aufhören, aber das schreckte uns nicht ab. Die Schafe liefen runter ins Tal, warfen Mülltonnen um und zertrampelten Gärten. Deshalb musste man auch das Gatter schließen.) Aber selbst unten im Tal stieß man überall auf Bäume und Ruinen – mitten in, unter und am Rand der Stadt. Und das war auch nicht die einzige Landschaft, die wir kannten. In den Ferien fuhren wir nach Pembrokeshire und hinauf in die richtigen Berge, die Brecon Beacons, und nach Cardiff, eine Großstadt mit tollen Geschäften. Die Valleys waren unsere Heimat, der Normalzustand, den wir nie infrage stellten.

Die Feen haben nie behauptet, sie hätten die Ruinen errichtet. Ich glaube auch nicht, dass wir sie gefragt haben, und wenn, hätten sie nur gelacht, wie meistens, wenn wir etwas von ihnen wissen wollten. Sie waren einfach da, und dann waren sie wieder fort. Manchmal redeten sie mit uns, manchmal liefen sie vor uns weg. Wie die anderen Kinder auch wussten wir, dass wir mit ihnen spielen konnten oder ohne sie. Letztlich brauchten wir nur uns und unsere Phantasie.

Die Orte meiner Kindheit waren durch magische Wege miteinander verbunden, die von Erwachsenen fast nie betreten wurden. Sie hatten Straßen, wir hatten die Wege. Man konnte ihnen nur zu Fuß folgen, und sie waren etwas Besonderes, breiter als ein Pfad, aber nicht breit genug für Autos. Manchmal verliefen sie parallel zu den Straßen, und manchmal führten sie aus dem Nirgendwo ins Nirgendwo, von einer Elbenruine zum Labyrinth des Minos. Wir gaben ihnen Namen, aber wir wussten blind, dass sie in Wirklichkeit »Dramroads« hießen. Laut ausgesprochen habe ich das Wort nie, sonst wäre mir vielleicht aufgefallen, was es eigentlich bedeutete: »Tram Road«, Schienenweg. Das Walisische verändert die Anfangskonsonanten. Genau genommen passiert das in allen Sprachen, aber meistens dauert es Jahrhunderte, während es im Walisischen geschieht, während man noch den Mund offen hat. Aus »Tram« wurde natürlich »Dram«. Früher fuhren auf diesen Schienenwegen Züge mit Waggons voller Eisenerz oder Kohle. So leer und von Laub bedeckt sie heute sein mögen, nur noch von Kindern und Feen benutzt, waren sie doch einmal kleine Bahnlinien.

Klar, wir hatten im Geschichtsunterricht aufgepasst. Selbst wenn wir uns auf die reale Welt beschränkten, wussten wir mehr über Geschichte als die meisten Leute. Wir hatten von Höhlenmenschen erfahren, von den Normannen und den Tudors. Wir wussten über die Griechen und Römer Bescheid. Aus dem Zweiten Weltkrieg kannten wir haufenweise persönliche Anekdoten. Sogar über die Geschichte unserer Familie wussen wir eine ganze Menge. Nur mit der Landschaft, in der wir lebten, hatte das nichts zu tun. Und es war die Landschaft, die uns geprägt hat, die uns zu dem machte, was wir waren, die auf alles einen Einfluss ausübte. Wir dachten, wir würden in einer Fantasywelt leben, dabei lebten wir in einer Science-Fiction-Welt. Ahnungslos, wie wir waren, spielten wir in den Ruinen von Elben und Riesen und glaubten, dass das, was die Feen in Besitz genommen hatten, ihnen auch wirklich gehörte. Ich gab den Schienenwegen Namen aus dem Herrn der Ringe, obwohl ich hätte erkennen müssen, dass sie aus Wem gehört die Erde? stammten.

Schon erstaunlich, wie groß die Dinge sind, die wir übersehen.

Dienstag, 18. September 1979

Die Schule ist schrecklich, wie erwartet. Zum einen weiß ich aus all den Internatsgeschichten, dass Sport zum Allerwichtigsten gehört. Und ich kann daran nicht teilnehmen. Außerdem haben die anderen Mädchen alle denselben Hintergrund. Sie stammen fast alle aus England, meist sogar aus der Gegend hier, und sind von der gleichen Landschaft geprägt wie die Schule. In Größe und Gestalt unterscheiden sie sich ein wenig voneinander, aber die meisten haben dieselbe Stimme. Meine Stimme, die für die Valleys vornehm war und jedem dort sofort meine Klassenzugehörigkeit verriet, brandmarkt mich hier als unzivilisierte Ausländerin. Als wäre es nicht schlimm genug, eine verkrüppelte Wilde zu sein, wurde ich mitten im Schuljahr in eine Klasse gesteckt, die sich bereits seit zwei Jahren kennt und in der sich Feindschaften und Bündnisse gebildet haben, die mir ein Rätsel sind.

Zum Glück habe ich das bald herausgefunden. Ich bin nicht dumm. Ich bin noch nie auf eine Schule gegangen, wo mich nicht alle bereits kannten, mich oder meine Familie, und ich bin noch nie als Einzelkind auf eine neue Schule gegangen, aber ich habe gerade erst drei Monate in einem Kinderheim verbracht, und schlimmer kann es hier auch nicht sein. Ich habe darauf geachtet, wie die Mädchen redeten, um die anderen Außenseiter zu identifizieren, eine Irin (Deirdre, die »Dussel« genannt wird) und eine Jüdin (Sharon, mit dem Spitznamen »Schussel«). Ich tue mein Möglichstes, mich mit ihnen anzufreunden.

Die anderen Mädchen starre ich wütend an, wenn sie versuchen, mich zu hänseln, oder wenn sie mich herablassend behandeln, und zu meiner Erleichterung muss ich feststellen, dass das auch hier seine Wirkung tut. Ich werde mit allen möglichen Schimpfnamen bedacht – Taffy, Dieb und rote Socke. Manches davon ist immerhin nicht völlig aus der Luft gegriffen – Krüppel oder Schleimer. Rote Socke nennen sie mich, weil sie glauben, ich hätte einen russischen Namen. Als ich dachte, er würde keine Rolle spielen, habe ich mich geirrt. Sie zwicken und schubsen mich, wenn sie meinen, dass es niemand sieht, aber richtig gewalttätig werden sie nie. Nach meinem Heimaufenthalt ist das nichts, rein gar nichts. Ich habe meinen Stock und meinen wütenden Blick, und bald habe ich, wenn das Licht ausgeschaltet wurde, angefangen, Gespenstergeschichten zu erzählen. Sollen sie mich doch fürchten, solange sie mich in Ruhe lassen. Sollen sie mich hassen, solange sie mich fürchten. Für ein Internat ist das eine recht gute Strategie, auch wenn es Tiberius nicht nur Gutes gebracht hat. Das habe ich auch Sharon gesagt, und sie hat mich angeschaut, als wäre ich ein Alien. Was? Was? An die Leute hier werde ich mich nie gewöhnen.

In allen Fächern außer Mathe bin ich inzwischen die Klassenbeste. Das ging schnell. Schneller als ich dachte. Vielleicht sind die Mädchen hier nicht so klug wie die auf dem Gymnasium? Dort haben es ein oder zwei mit mir aufgenommen, aber hier bin ich konkurrenzlos. Ich bin den anderen haushoch überlegen. Merkwürdigerweise nimmt meine Beliebtheit wegen meiner Noten gleichzeitig etwas zu und ab. Der Unterricht ist ihnen gleichgültig, und sie hassen mich, weil ich sie überflügelt habe; andererseits bekommt jedes Haus für besonders gute Noten Punkte, und Hauspunkte sind ihnen wirklich wichtig. Es ist deprimierend, wie sehr dieses Internat dem gleicht, was Enid Blyton uns gezeigt hat, und wenn es in mancher Hinsicht anders ist, dann nicht zum Besseren.

In Chemie ist es nicht so schlimm, weil ich da in eine andere Klasse gehe. Da unterrichtet der Fachbetreuer für Naturwissenschaften, der einzige männliche Lehrer an der Schule, und die Mädchen wirken weit interessierter. Es ist das beste Fach auf dem Lehrplan, und ich bin froh, dass ich darum gekämpft habe. Mir ist egal, dass ich Kunst verpasse – obwohl es Tantchen Teg bestimmt leidtäte. Ich habe ihr nicht geschrieben. Ich habe daran gedacht, traue mich aber nicht. Sie würde meiner Mutter nicht verraten, wo ich bin – sie als Allerletzte –, aber das Risiko ist zu groß.

Gestern habe ich die Bibliothek entdeckt. Ich habe die Erlaubnis, dorthin zu gehen, wenn die anderen Sport haben. Es hat seine Vorteile, ein Krüppel zu sein. Die Bibliothek ist nicht besonders toll, aber sie ist weit besser als gar nichts, also beschwere ich mich nicht. Mit den Büchern, die mein Vater mir geliehen hat, bin ich durch. (Er hat recht, was die andere Hälfte von Imperiums-Stern betrifft, aber Imperiums-Stern gehört zum besten, was ich je gelesen habe.) In den Regalen hier habe ich Der Stier aus dem Meer entdeckt und ein anderes Buch von Mary Renault, von dem ich noch nie gehört habe – The Charioteer – sowie drei SF-Romane für Erwachsene von C. S. Lewis. Die Wände in der Bibliothek sind holzvertäfelt und die Stühle mit altem, rissigen Leder gepolstert. Außer mir und der Bibliothekarin ist hier nie jemand, und ich gebe mir größte Mühe, zu Miss Carroll stets höflich zu sein.

Jetzt habe ich auch wieder die Gelegenheit, mein Tagebuch weiterzuführen. Am meisten macht mir zu schaffen, dass es hier fast unmöglich ist, alleine zu sein – dauernd wird man gefragt, was man gerade macht. »Ich schreibe ein Gedicht« oder »ich führe Tagebuch« wäre mein Todesurteil. Nach den ersten paar Tagen habe ich es gar nicht mehr versucht, obwohl ich es wirklich wollte. Hier halten sie mich sowieso schon für verschroben. Ich schlafe zusammen mit elf anderen Mädchen in einem Schlafsaal. Nicht einmal im Badezimmer bin ich allein – die Toiletten und Duschkabinen haben keine Türen, und natürlich werden dort die tollsten Witze gerissen.

Aus dem Fenster der Bibliothek blicke ich direkt auf die Äste einer sterbenden Ulme. Die Ulmen sterben hier überall – sie sind vom Schlauchpilz befallen. Meine Schuld ist das nicht. Ich kann nichts dagegen tun. Aber damit will ich mich nicht abfinden. Wenn ich nur mit den Feen reden könnte! Gut möglich, dass schon ein kleiner Eingriff helfen würde. Die sterbenden Bäume sind sehr traurig. Ich habe die Bibliothekarin gefragt, und sie hat mir eine alte Ausgabe des New Scientist gegeben, also habe ich alles ganz genau nachgelesen. Die Pilze sind mit einer Ladung Baumstämme aus Amerika eingeschleppt worden. Das klingt, als müsste man dagegen etwas tun können. Alle Ulmen sind eine Ulme, sie sind Klone, deshalb erwischt es sie auch alle. Die Population entwickelt keine natürliche Resistenz, weil es keine Variation gibt. Auch Zwillinge sind Klone. Wenn man sich eine Ulme anschaut, würde man nie glauben, dass sie ein Teil von allen anderen ist. Man sieht eben eine Ulme. Wenn die Leute mich jetzt anschauen, ist es das Gleiche: Sie sehen einen Menschen, nicht die Hälfte eines Zwillingspaars.

Mittwoch, 19. September 1979

Nach den Hausaufgaben und vor dem Abendessen haben wir eine halbe Stunde frei. Gestern regnete es nicht, also bin ich in der Abenddämmerung noch etwas spazieren gegangen, und zwar bis zur Umgrenzung hinunter, dem Rand des Schulgeländes. Dort ist ein Feld, auf dem schwarzweiße Kühe grasen. Sie glotzten mich apathisch an. Ansonsten gibt es da noch einen Graben und ein paar vereinzelte Bäume. Wenn es hier überhaupt Feen gibt, dann dort. Es war kühl und feucht. Der Himmel verlor ohne erkennbaren Sonnenuntergang an Farbe.

Es ist schon schwer genug, mit Feen Kontakt aufzunehmen, wenn man weiß, wo sie sich aufhalten. Feen sind wie Pilze – wenn man nicht an sie denkt, stolpert man über sie, aber wenn man sie sucht, sind sie nirgendwo. Ich hatte meinen Schlüsselring nicht dabei, und alles, was ich anhatte, war neu und ohne jede Bindung, also konnte ich nichts davon verwenden. Aber mein Stock war alt und aus Holz, vielleicht klappte es ja damit. Ich versuchte, an Ulmen zu denken und daran, dass sie Hilfe brauchten. Allmählich entspannte ich mich ein wenig.

Ich schloss die Augen und stützte mich auf meinen Stock. Dabei bemühte ich mich, die Schmerzen zu ignorieren, genauso wie die gähnende Leere, wo Mor hätte sein müssen. Der Schmerz ist schwer zu verdrängen, aber ich wusste, dass er sie verjagen würde wie nichts sonst. Als ich mir irgendwo hinter Camelot einmal die Hand verletzt habe, sind sie wie erschrockene Schafe auseinandergestoben, daran erinnere ich mich noch gut. Der Schmerz in meinem Bein besteht aus zwei Teilen, einem heftigen Ziehen und einem langsamen Mahlen. Wenn ich reglos und aufrecht dastehe, lässt das Mahlen etwas nach, und das Ziehen meldet sich erst wieder, wenn ich das Gewicht verlagere. Also konzentrierte ich mich, und schließlich gelang es mir. Ich versuchte, mir ins Gedächtnis zu rufen, was wir getan hatten, wenn wir mit ihnen spielen wollten. Ich öffnete meinen Geist. Nichts geschah. »Guten Tag?«, sagte ich leise auf Walisisch. Aber vielleicht sprechen die Feen in England ja englisch? Oder vielleicht gibt es hier gar keine Feen. In einer solchen Landschaft ist nicht viel Platz für sie. Ich öffnete wieder die Augen. Die Kühe waren davongestapft. Zeit zum Melken also. Auf der der Schule zugewandten Seite des Grabens wuchsen ein Busch, eine kleine verkrüppelte Eberesche und ein Haselnussstrauch. Ich legte die Hand auf die Rinde der Esche, allerdings ohne große Hoffnung.

Auf einem der Äste saß eine Fee. Sie musterte mich argwöhnisch. Nicht zum ersten Mal fiel mir auf, wie sehr Feen Pflanzen ähneln. Menschen und Tiere folgen einem ganz bestimmten Schema: zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf – ein Mensch. Oder vier Beine plus Wolle – ein Schaf. Pflanzen und Feen dagegen ... klar, man sieht ihnen schon an, was sie sind, aber ein Baum kann beliebig viele Äste haben, die überall herauswachsen. Es ist eine gewisse Struktur zu erkennen, aber eine Ulme sieht der anderen nicht unbedingt ähnlich, vielleicht sogar überhaupt nicht, weil sie völlig unterschiedlich gewachsen ist. Feen sind entweder wunderschön oder furchtbar hässlich. Sie haben Augen, und viele haben sogar einen erkennbaren Kopf. Manche haben Gliedmaßen, die denen der Menschen in etwa gleichen, andere sehen eher wie Tiere aus, und wieder andere weisen überhaupt keine Ähnlichkeit mit irgendetwas auf. Diese Fee gehörte zu den Letzteren. Sie war lang und dürr, ihre Haut wie raue Rinde. Hätte ich ihre Augen nicht gesehen, hätte ich sie vielleicht für eine Kletterpflanze gehalten, die sich in einem Spinnennetz verfangen hatte. Um einen Vergleich zu bemühen: Eichen haben Eicheln und wie Hände geformte Blätter. Haselnusssträucher haben Haselnüsse und kleine rundliche Blätter. Die meisten Feen sind knorrig und grau oder grün oder braun, und meist wachsen ihnen irgendwo Haare. Diese Fee war grau, äußerst knorrig und gehörte eindeutig zum hässlicheren Teil des Spektrums.

Feen halten nicht viel von Namen. Den Feen zu Hause haben wir Namen gegeben, und sie haben auf sie gehört oder auch nicht. Offenbar fanden sie sie lustig. Sie verwenden auch keine Ortsnamen. Nicht einmal Feen nennen sie sich, das waren wir. Wenn ich es mir genau überlege, sind Substantive generell nicht ihre Stärke, und so, wie sie reden ... Jedenfalls, diese Fee war mir vollkommen fremd und ich ihr, und ich kannte keinen Namen und kein Losungswort, dass ich ihr hätte geben können. Sie schaute mich nur an, als würde sie jeden Moment davonhüpfen oder mit dem Baum verschmelzen. Auch das Geschlecht der Feen ist in der Regel strittig, außer wenn es unstrittig ist, weil sie bodenlanges Haar voller Blumen haben oder einen Penis, der so groß ist wie ihr ganzer Körper, oder etwas in der Art. Diese Fee bot dafür keine Anhaltspunkte, also denke ich von ihr als »es«.

»Freund«, sagte ich, um auf Nummer sicher zu gehen.

Und dann, aus völliger Reglosigkeit, fing es an zu zappeln und kreischte los: »Weg! Gefahr! Finden!« Feen sprechen nicht wie normale Leute. Ganz gleich, wie sehr du dir wünschst, dass sie wie Galadriel sind – eine solche Rede werden sie nie halten. Dieses Feenwesen sagte seine drei Worte und verschwand, alles gleichzeitig, bevor ich die Gelegenheit hatte, ihm zu erklären, wer ich war, oder es zu fragen, ob ich den Ulmen irgendwie helfen konnte. Fast glaubte ich, geblinzelt zu haben, aber das hatte ich nicht. So ist das immer, wenn sie schnell weg wollen – von einem Augenblick auf den nächsten sind sie fort, als wären sie nie da gewesen.

Gefahr? Finden? Ich hatte keine Ahnung, was es damit meinte. Ich war mir keiner Gefahr bewusst, aber ich ging in die Schule zurück, wo die Klingel zum Abendessen läutete. Ich war eine der Letzten in der Schlange, aber das Essen ist schauderhaft, ob es nun warm ist oder nicht. Von irgendeiner Gefahr keine Spur, zumindest nicht heute Abend. Ich trank meinen wässrigen Kakao und hoffte, dass es der Fee gutging. Ich bin froh, dass sie hier ist, auch wenn sie nicht sehr mitteilsam zu sein scheint. Wenigstens etwas, das mich an zu Hause erinnert.

Donnerstag, 20. September 1979

Heute Morgen habe ich herausgefunden, was die Fee mit »finden« und »Gefahr« gemeint hat. Die Post hat einen Brief von meiner Mutter gebracht.