In Isrogant. Erzählungen. Band Drei. - Cairiel Ari - E-Book

In Isrogant. Erzählungen. Band Drei. E-Book

Cairiel Ari

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Beschreibung

Das Leben ist ein Traum Fünf Autoren reisen nach Isrogant Im Königreich Nermedijn werden zwei junge Adlige in die Intrigen der Hauptstadt gezogen, wo Religion und Politik mit Macht aufeinander treffen. -- In den Ausläufern der Orkenai rettet eine menschliche Forschergruppe einen jungen Ork vor dem sicheren Tod. -- Auf der magischen Halbinsel Teralion lernen ein fahrender Krieger und eine junge Zauberin über den Wert des Lebens. -- Ein alternder Fischer erlebt die Katastrophe, die das Leben in Isrogant so entscheidend prägt: Die Große Flut. Mit diesem Band setzt das Isrogant-Team die beliebte Reihe von Erzählungen fort, deren erste beiden Bücher mittlerweile vergriffen sind.

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Table of Contents

Title Page

Inhalt

Bashir

Töknurday

Die Flut

Teralion

Isrogant

 

In Isrogant

Erzählungen.

Band Drei.

 

 

 

 

Mit Beiträgen von

 

Cairiel AriHeike Korfhage

Heero Miketta

Michael Porritt

Tian Di

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Xin Publishing

an imprint of Xin He Ltd.

The Wonder Inn, 29 Shudehill

Manchester M4 2AF

United Kingdom

 

© Xin He Ltd. 2016

Alle Rechte vorbehalten.

 

Titelgestaltung:

M.H. He

 

ISBN 978-3-942357-28-9

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

 

 

 

Bashir

Cairiel Ari & Heero Miketta

 

Töknurday

Heike Korfhage

 

Die Flut

Michael Porritt

 

Teralion

Tian Di

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Find us on Facebook:www.facebook.com/isrogant

 

 

 

 

Bashir

Cairiel Ari & Heero Miketta

 

Alle Tische der Gaststätte waren besetzt. Bashir sah es kommen, dass sich die beiden Jungspunde an seinen Tisch setzen würden – und das taten sie auch.

Der eine schwang wie selbstverständlich sein Bein über die grob gezimmerte Holzbank, ließ seinen Arsch auf die Sitzfläche plumpsen, stellte den tönernen Humpen und den Teller so laut auf den Tisch, dass es wohl jeder gehört hätte, ohne den Lärm im Wirtsraum rundherum.

Der andere, zurückhaltender, mit freundlichem Lächeln in Bashirs Richtung: »Dürfen wir?«

Bashir grunzte, in sein Fleisch beißend.

»Der da hat ja schon entschieden.«

Er deutete mit dem Kopf in Richtung des ersten Jungen.

Dieser blickte ihn an, verständnislos, noch immer arrogant, schwarze Haare, dunkle Augen, schmales Gesicht über einem sehnigen Körper. Muskelstränge unter der Haut seines Armes zeugten entweder von harter Arbeit oder hartem Training. Dem Gehabe des jungen Mannes nach schloss Bashir auf letzteres. Sein Reisemantel war teuer und jetzt schmutzig von langem Ritt. Als er ihn von den Schultern gleiten ließ, sah Bashir ein Familienwappen; eines dieser fantasielosen, wie es sie überall im Königreich bei kleinen Adeligen gab. Geformt wie ein Schild, ein Schwert kam darin vor, ein Bogen, irgendein Tier, das ein Rehbock so gut sein konnte wie ein großer Hund. Das Blau und Gelb des Wappens passte gut zur dunklen Kleidung und düsteren Ausstrahlung des Jungen.

Der Freundlichere der beiden ließ sich jetzt auch nieder. Er war blond, langhaarig, mit Bartflaum im Gesicht, der sicher einmal ein stattlicher Vollbart werden würde. Das konnte nicht mehr allzu lange dauern. Bashir schätzte die beiden auf sechzehn bis achtzehn Jahre. Ein gutes Alter für junge Adelige, um sich von der heimischen Burg zumindest für ein paar Jahre zu verabschieden und auf der Suche nach Abenteuern in die Welt zu ziehen.

Der Blonde trug kein Wappen. Seine Kleidung war nicht nur schmutzig, sondern auch abgenutzt. Seine Eltern waren offensichtlich nicht reich.

»Wir hatten einen langen Tag auf dem Königsweg. Vergebt uns, falls wir barsch gewesen sind, Meister«, sagte er.

Bashir nickte und musterte das Essen auf den Tellern der beiden. Hausmannskost, typisch für die Wirtshäuser am Königsweg. Als Reisender im Königreich Nermedijn durfte man kein Feinschmecker sein, aber nahrhaft war es überall. Fleisch, Brot, Gemüse. Viel Fett und Gewürz.

»Lass es dir schmecken«, sagte der Blonde jetzt zu seinem Begleiter. Der antwortete mit einem Knurren. »Ihr natürlich auch«, fügte der junge Mann in Bashirs Richtung hinzu.

»Unterwegs in den Norden?« fragte der.

Die beiden jungen Männer wechselten einen Blick, der Dunkle zuckte die Achseln, und es war wieder der Blonde, der antwortete: »Ja, in die Hauptstadt. Wir dürfen dort eine Zeit lang beim Waffenmeister des Königs lernen.«

»Aha«, machte Bashir. »Das ist eine große Ehre.«

Der Dunkle schnaubte, doch der Blonde antwortete ehrlich: »Es geht so, Meister. Junge Adelige aus dem ganzen Königreich können den Waffenmeister besuchen, er hat wohl immer einige hundert am Hof, die er täglich ein paar Stunden unterrichtet.«

»Schleift«, warf der Dunkle ein. »Nicht unterrichtet. Ist so eine Tradition am Königshof, mein Vater hatte die Ehre auch schon.« Er nahm einen großen Schluck aus seinem Krug. »Sogar beim gleichen Waffenmeister. Er ist ein echter Veteran, wie man hört.«

»Ja, das erzählt man sich«, sagte Bashir, strich sich mit einer knotigen Hand durch den buschigen grauen Bart. »Allerdings soll er viel unterwegs sein. Gut für die jungen Krieger am Hof, da können sie sich erholen.«

»Oh, Ihr kennt Euch aus?« Das Interesse des Blonden war geweckt, und auch der Dunkle verlor etwas von seiner über­heblichen Attitüde.

»In der Hauptstadt sind die Geschehnisse bei Hofe immer Thema für Klatsch und Tratsch.« Bashir nahm eine Röstzwiebel von seinem Teller und biss knirschend hinein. Salzig und gut.

»Ihr kommt aus der Hauptstadt!« Der Blonde war tatsächlich ein Landei.

»Ja, dort lebe ich«, entgegnete Bashir. »Und Ihr?«

»Aaaah«, antwortete der Junge. »Niemand kennt das, wo ich herkomme. Mein Vater hat ein kleines Lehen in Rinsh’eff, im Schatten des Westkastells.«

»Ja, ja.« Nachdenklich kaute Bashir auf seiner Zwiebel. »Das ist schon fast auf dem Gebiet der Geteilten Lande.«

»Naja, mein Vater ist sehr froh, zu den Lehnsmännern des Königreichs zu gehören und sich aus den Wirren der Geteilten Lande heraushalten zu können. Und es gab schon lange keine Unruhen mehr, die Grenze zum Königreich wird respektiert.«

Zu diesem Thema hatte Bashir schon anderes gehört, aber wenn der Junge es aus erster Hand so berichtete, war das ein gutes Zeichen. »Ist das so?«

»Meistenteils. Aber mein Vater hält Kämpfer unter Waffen und auch engen Kontakt zum Westkastell. Es ist nicht so ruhig und beschaulich bei uns wie in der Baronie.« Damit grinste er zum Dunklen hinüber, der ihm eine Grimasse schnitt. Es schien, dieser junge Mann stammte aus den ruhigen Gefilden westlich des Mittelwaldes und südlich der Stadt Aijhav. Das passte gut zu seiner Arroganz. Die Lehnsmänner dort waren wohlhabend und schöpften aus dem Vollen.

»Also habt Ihr schon zu kämpfen gelernt«, stellte Bashir fest. »Da wird sich der Waffenmeister in der Hauptstadt ja freuen.«

»Oha, kämpfen lernt man auch in der Baronie!« Die Stimme des Dunklen war entnervend selbstgefällig, aber vielleicht lag es auch nur am ersten Eindruck, den Bashir von ihm gehabt hatte.

»Aber nur mit Holzschwertern«, feixte der Blonde mit freundlichem Grinsen.

Der Dunkle schnaubte wieder, diesmal aber gutmütig. Bashir beobachtete das interessiert. Immerhin möglich, dass der Bengel eigentlich doch ganz in Ordnung war. Zeigte wieder einmal, wie wichtig es war, sich bei der Begrüßung eines Fremden anständig zu benehmen. Nachdenklich aß er weiter. Der Lärm der Umge­bung hüllte sie in eine warme Decke von Gemütlichkeit.

»Sagt an, Meister, was sollten wir wissen, wenn wir in die Hauptstadt reisen?« Die geschraubte Ausdrucksweise des Blonden verriet einmal mehr das Landei. Das würde sich wohl abschleifen, wenn er erst in Rezwuha angekommen war. Die Hauptstadt war eine gewaltige Erfahrung für junge Leute, vor allem für Männer.

Bashir räusperte sich, nahm eine weitere Zwiebel. Kauend strich er sich durch den Bart.

»Was Ihr wirklich meiden solltet um diese Jahreszeit, das sind die Nördlichen Sümpfe. Der Königsweg ist eine scheußliche Erfahrung im Sommer.« Ein Schluck aus seinem Krug, dessen Inhalt zur Neige ging. »Moskitos so groß wie Tauben. Ganz grässlich. Es ist gut, dass König Mäander nach der Großen Flut die Sümpfe um die Hauptstadt hat trockenlegen lassen.«

Die beiden jungen Männer hingen an seinen Lippen.

Er leerte den Krug und schmatzte vernehmlich. »Männer«, sagte er dann. »Ich erzähle Euch gerne mehr, aber dafür muss wieder Bier in meinen Krug.« Damit stellte er den Becher vor den Dunklen.

 

 

 

Ein erstaunter Blick traf ihn. Bashir begegnete ihm offen. Er wusste, welche Wirkung seine Augen hatten, die aus einem zerklüfteten Gesicht funkelten. Sein dichter Bart verstärkte die Wirkung noch.

Schließlich stand der Junge auf, nahm den Becher und verschwand zur Theke. Bashir grinste ihm wohlwollend hinter­her. Sein Bart verbarg die Zahnlücken, die nicht vom Alter rührten, sondern von heftigen Schlägereien in seiner Jugend.

Als er noch wild und stark gewesen war.

Er grübelte ein bisschen darüber nach, bevor er den Blick des blonden Jünglings bemerkte. »Was ist?«

»Na, ich habe Vonkem noch nie so bereitwillig für jemanden aufstehen sehen. Und ich kenne ihn schon recht lange.«

»Vonkem, hm?« Bashir dachte nach, aber der Name sagte ihm nichts, und bis er etwas fragen konnte, kam der Dunkle auch schon zurück. Er brachte drei Krüge statt einem, die er vor sie hinstellte.

Mit Schwung ließ er sich fallen und hob den seinen. »In Ordnung«, verkündete er. »Bier ist vorhanden, lasst uns anstoßen.«

Bashir hob seinen Krug mit einem wölfischen Lächeln, das nun breit genug war, um seine fehlenden Zähne überdeutlich zu betonen. »Klingt gut! Auf gute Träume!«

Sie tranken. Bashir betrachtete die beiden jungen Männer eine Weile, wie sie ihr Essen hungrig in sich hineinstopften.

»Um diese Jahreszeit«, sagte er dann und machte eine kurze Pause, bis er ihrer Aufmerksamkeit sicher war, »reist man besser per Schiff in die Hauptstadt. Die Wasser an der Braunen Küste sind ruhig im Sommer, nicht stürmisch wie in der dunklen Jahreszeit, und man spart sich viel beschwerlichen Weg. Und vor allem die Moskitos.«

Die beiden Jungkrieger wechselten wieder einen Blick.

»Mag sein«, antwortete dann – wie üblich – der Blonde. »Aber Schiffspassagen sind teuer. Und wir sind schneller zu Pferd.«

»Hmmm«, brummte Bashir. »Von hier sind es zwei Tagesreisen bis Bijenfa an der Kreuzung des Rjed. Dort wartet ein Schiff auf mich.« Er nahm einen tiefen Zug Bier. »Ich reise den Rjedni hinunter bis Cestivor, von dort die Braune Küste entlang direkt in die Hauptstadt. Länger als eine Woche werden wir dafür nicht brauchen.«

»Eine Woche?« Diesmal war es der Dunkle, der das Wort ergriff. »Was ist denn das für ein Schiff?«

Bashir lachte. »Königliche Marine, Galeere. Ich habe das Glück, sie benutzen zu dürfen.«

»Bei den Wassern der Flut, das ist wirklich großes Glück!« versetzte der Junge, misstrauisch Bashirs abgewetzte Kleidung und den unordentlichen Vollbart musternd.

»Wie auch immer.« Bashir fischte in einer Tasche nach seinem großen Taschentuch, das er stets bei sich trug, um sich über Bart und Gesicht zu wischen. »Morgen früh zur achten Stunde breche ich auf. Wenn Ihr mögt, seid dabei. Es ist noch Platz auf der Galeere.«

Er starrte auf ihre offenen Münder, als er sich schwerfällig erhob. Sein Rücken schmerzte, ebenso seine Hüfte, und auch der alte Bruch, der seinen rechten Arm empfindlich und schief hinterlassen hatte.

»Glotzt nicht so, Jungs. Ich langweile mich auf langen Reisen schnell. Ich bin gespannt, mehr über die westlichen Lehen des Königreichs zu hören. Mir kommt das sehr gelegen.«

Die Münder schlossen sich, und der Blonde setzte zu einem Dank an, den Bashir abschnitt, indem er seinen dicken Eichen­stock nahm, der neben dem Tisch lehnte. Er stützte sich darauf und lehnte sich vornüber. »Wisst ihr, ihr zwei, in meiner Jugendzeit war ich selbst ein ganz passabler Kämpfer.« Er lachte heiser, wischte sich mit der Hand, die sich nicht auf den Stock stützte, über den Bart. »Naja, ein Raufbold vielleicht eher. Ich hätte nichts dagegen, mir Eure Kampfübungen ein bisschen anzuschauen, und an Bord der Galeere werdet ihr auch ein paar handfeste Trainingspartner finden, da bin ich sicher.«

Wieder lachte er.

Die beiden nickten.

Er hob die Hand. »Möge die Flut Euch verschonen. Gute Träume!«

Damit humpelte er davon durch den Schankraum in Richtung seines Zimmers.

 

 

 

Der alte Mann in der abgewetzten Reisekleidung hinterließ zwei ratlose junge Adlige. Vonkem von Mayshed und Rondres von Chastibal wussten nichts anzufangen mit dem kauzigen Opa und seinem ungewöhnlichen Angebot.

»Der hat doch nicht wirklich eine Passage auf einer königlichen Galeere«, stellte Vonkem fest.

»Das kann ich mir auch beim besten Willen nicht vorstellen.« Rondres schüttelte den Kopf, kaute nachdenklich auf seinem Essen herum. »Und wenn doch, wieso sollte er uns eine Mitreise anbieten? Der kennt uns ja kaum.«

»Vielleicht ist er eine Schwuchtel. Steht vermutlich auf dich mit deinen Goldlöckchen.« Vonkem grinste. »Wir wissen ja, dass du diese Wirkung auf Hinterlader hast, vor allem die Alternden.«

Rondres wusste, worauf sein Freund anspielte. Allerdings kannte er auch die wahre Geschichte, die Vonkem niemals verstehen würde, und hatte deswegen keinerlei Bedürfnis, das Thema zu vertiefen. Vonkems Arroganz nervte ihn. Den adligen Familien der Baronie ging es einfach zu gut.

»So einen Eindruck machte er nicht«, wiegelte er ab. »Ich frage mich trotzdem, wieso er die königliche Marine für seine Reisen nutzen darf.« Er dachte ein wenig nach über die letzten Worte des Alten. »Wenn ich ganz ehrlich bin, finde ich die Aussicht auf Übungskämpfe mit stiernackigen Galeerensoldaten auch nicht so prickelnd.«

»Also bleiben wir auf dem Pferderücken und auf der Straße?«

Rondres zuckte die Achseln. »Ich mag keine Moskitos.«

»Nää, ich auch nicht. Eklige Viecher.«

Rondres hob seinen Bierkrug. »Prost.«

 

 

 

Bashir war Zeit seines Lebens kein Frühaufsteher gewesen. Es war dennoch eine Übung, der er sich fast jeden Tag unterzog. Zum einen hing er dem Glauben an, dass er damit seine eigene mentale Stärke förderte, zum anderen konnte er es sich nicht leisten, vor seinen Untergebenen Schwäche zu zeigen.

Gerade darum hasste er Menschen, die schon beim Frühstück gut aufgelegt waren. Selbstverständlich gehörte der junge Vonkem dazu. Er saß fast alleine im Schankraum, als Bashir zur sechsten Stunde hinunterkam, direkt nach dem Hahnenschrei. Ein großer Topf Hafergrütze stand vor dem Jungen, und das überraschte Bashir für einen Moment. Er hatte Vonkem für verwöhnt gehalten, aber anscheinend war er im Stande, sich zu bescheiden.

»Guten Morgen, Meister!« rief Vonkem ihm entgegen. »Ihr seid früh auf den Beinen, wolltet Ihr nicht erst zur achten Stunde reisen?«

Bashir brummte etwas. Er fühlte sich nicht zum Schwätzen aufgelegt, nicht vor dem ersten Tee des Morgens. Den holte er sich jetzt vom Schankwirt, der ebenfalls müde wirkte hinter seinem Holztresen und vor dem frisch entfachten Herdfeuer, das noch kräftig qualmte.

Vonkem hatte ihm so eifrig und einladend Platz auf der Bank gemacht, dass er es nicht ohne weiteres ignorieren konnte. Er setzte sich zu dem Jungen.

»Ihr seid ganz schön wach, Kleiner«, grummelte er in seinen Bart.

»Es war eine miese Nacht«, lautete die Antwort. »Eure vogel­großen Moskitos haben uns schon hier eingeholt.«

»Aha.« Bashir trank seinen Tee. Er war überraschend heiß, nahm man den Zustand des Kochfeuers als Maßstab, und er schmeckte würzig. Das war gut.

»Rondres schläft noch, aber er schien fest entschlossen, Euer Angebot anzunehmen, wenn es ihm das nächtliche Summen und die Stiche erspart.«

»Hmm.« Die Hafergrütze sah scheußlich aus. Bashir wollte etwas anderes, am liebsten etwas Süßes. Der junge Adlige schaufelte das eklige Zeug trotzdem munter in sich hinein. Wenn er mit diesem Appetit weiter futterte, würde er spätestens im Alter von Dreißig fett sein wie Al'Adjam, der Zwergenkönig.

Mit fröhlich-vollem Mund sprach Vonkem weiter: »Wenn Euer Angebot noch steht, heißt das. Reist Ihr zu Pferd, Meister?«

»Zur achten Stunde«, bestätigte Bashir. Er stand auf, um Essen zu ordern, erhielt Brot vom vorigen Abend, das schon etwas trocken war, einen Schlag Butter und eine Fruchtmarmelade auf einem hölzernen Teller. Besser als erwartet.

Er nickte Vonkem auf eine Art und Weise zu, die er selber für freundlich hielt, der Junge aber als ausgesprochen grimmig empfand, und trat den Rückzug auf sein Zimmer an, um erst einmal etwas in den Magen zu bekommen, bevor er sich dynamischen Frühaufstehern widmete.

 

 

 

Obwohl er seinen Freund gut verstand, hätte Rondres sich doch gewünscht, dass Vonkem weniger offenkundig glotzte. Der Mund stand ihm so weit offen, dass es wirkte, als hinge ihm tatsächlich die Zunge heraus. Der Grund dafür war das Pferd, das der alte, ungepflegte Mann, der sich ihnen als Bashir vorgestellt hatte, aus dem Stall der Wirtschaft führte.

»Das gibt’s nicht«, flüsterte Vonkem heiser. »Das Tier ist ein Vermögen wert, ich glaube, so was habe ich noch nie gesehen, die Größe allein ...«

Bashirs Hengst war ein gewaltiges Streitross in edlem Grau mit der Schulterhöhe eines großen Mannes, und so muskulös, dass es den stärksten Ackergäulen an Breite Konkurrenz machte. Nur war da nichts von der Schwerfälligkeit solcher Arbeitstiere. Das Pferd tänzelte locker und beweglich aus dem Stall.

Neben diesem Koloss wirkten ihre eigenen Tiere – ganz sicher nicht die schlechtesten aus den Ställen ihrer Väter – wie Ponys.

Bashir selbst war freundlicher als zwei Stunden zuvor, was Rondres sehr erleichterte. Vonkems Schilderung seiner Begegung mit dem alten Mann hatte nicht zu seiner Beruhigung beigetragen. Er hatte in der Nacht nicht nur mit Mücken gerungen, sondern auch mit der Entscheidung, das Angebot der Schiffspassage anzunehmen oder nicht.

Die ganze Reise in die Hauptstadt, so spannend sie auch war und so viele Chancen sie bot, war ihm in vielerlei Hinsicht ein Grauen. Er sah sich vor unberechenbare Herausforderungen gestellt und mit Gefahren konfrontiert, die er nicht einschätzen konnte.

Bashir wirkte ruppig, und noch immer hatte Rondres un­schöne Fantasien von Raufereien mit hartgesottenen Marinesol­daten, die ihm manche Erniedrigung eintragen mochten, vielleicht aber auch schlimme Blessuren. Zu hören, dass der alte Mann am Morgen auch noch grantig gewesen war, gab ihm den Rest.

Doch jetzt, während sie aufsaßen, war wieder alles in Ordnung. Die Sonne schien, der Himmel war wolkenlos. Leichter Wind sorgte dafür, dass zumindest für den Augenblick die Mücken Ruhe gaben.

Als sie die Pferde vom Hof des Gasthauses auf die Straße lenkten, herrschte dort schon rege Betriebsamkeit: Bauern mit Karren, vor die sie Pferde, Esel und manchmal auch eine Ziege gespannt hatten. Fahrende Händler. Bürger zu Fuß, zu Pferd und dazwischen auch schon einmal in einer Kutsche. Ein paar Landsknechte mit Hellebarden, deren Wappen Rondres nicht zuordnen konnte.

Eine kleine Rotte Schweine wurde von einer Bauersfamilie vorbeigetrieben, allen voran eine Tochter im jugendlichen Alter, die ihr grobes Baumwollkleid so gekonnt um sich drapiert hatte, dass es jede Kurve ihres Körpers betonte und den Blick auf wohlgeformte Beine freigab.

Rondres bewunderte die Eleganz, mit der das Mädchen sich bewegte. Das war gekonnter als manche adlige Dame, auch wenn die Kleine keine Schuhe trug.

Ein Seitenblick zu Vonkem zeigte, dass der ganz andere Dinge sah. Es lag ein lüsterner Zug in seinen Augen, den Rondres nicht mochte. Vonkem ging achtlos mit Frauen um, grob und roh, auch wenn er es gut zu verbergen wusste. Sein Charme und seine Eleganz standen der des Bauernmädchens in nichts nach, es lag sogar etwas Feminines darin.

Der Gedanke brachte Rondres zum Grinsen. Vonkem hätte jegliche Weiblichkeit in seiner Persönlichkeit heftig bestritten. Er sah sich als Kerl, als ganzer Mann, als Krieger. Er nutzte all die Strategien, die halfen, dieses Selbstbild aufrecht zu erhalten: Großmäuligkeit, Ignoranz und Selbstverliebtheit.

Sein gutes Aussehen nahm er als Selbstverständlichkeit, nicht erkennend, wie sehr ihm diese glorreiche Fassade nutzte und wie viel schwieriger sein Leben andernfalls wäre.

»Was lachst du?«

Rondres zuckte die Achseln. »Ich lache nicht. Ich schmunzele nur.«

»Und worüber?«

»Nichts Wichtiges.«

»Aaaach.« Vonkem warf in gespielter Verzweiflung die Arme in die Luft, die Zügel fallenlassend, was bedeutete, dass er sein tänzelndes Pferd wieder beruhigen musste, bevor er weiter­sprechen konnte. »Sei nicht so weibisch, Alter. Woran hast du gedacht?«

Rondres hielt weiter seinen Mund. Vonkem würde das Thema sowieso fallen lassen, zum Nachfragen fehlte ihm die Geduld, und so feminin war er nun doch nicht, dass das Schweigen seines Freundes ihn verunsichert hätte.

Genau im richtigen Moment brach ein Tumult auf der Straße vor ihnen los. Rondres erfasste nicht sofort, worum es ging. Das Gedränge war zu dicht, auch wenn er vom Rücken seines Pferdes einen besseren Überblick hatte als die meisten anderen um ihn herum.

Es gab Geschrei, Geschubse, er sah wieder die Landsknecht­uniformen. Davon gab es unzählige in Nermedijn, viele Adlige unterhielten private kleine Armeen. Der Königshof tat nichts dagegen. Dabei erschien es Rondres allzu eindeutig, dass eine Überzahl an unterbeschäftigten Bewaffneten im Land zu Konflikten führen musste.

Die Gegner der Uniformierten waren keine Soldaten. Er erkannte Handwerkerschürzen, Kappen der Zimmermanns­innung und Umhänge mit dem charakteristischen Siegel der Steinmetze.

Das Gerangel nahm zu. Schließlich wurde ein Schwert blankgezogen, eine Axt blitzte. Das war Landfriedensbruch, es konnte schreckliche Folgen haben, selbst sein friedfertiger Vater hatte schon Hinrichtungen vollstreckt, wenn es zum Einsatz von Waffen in Raufereien kam.

Die Menge auf der Straße kam zum Stehen. Rondres geriet in den Strom der sich vom Kampfgeschehen zurückziehenden Menschen. Er sah, dass auch Vonkem Mühe hatte, sein Pferd unter Kontrolle zu behalten. Nur Bashir, einige Meter vor ihnen, stand wie ein Fels in der Brandung. Sein gewaltiges Streitroß schlug ein wenig mit dem Schweif, als wolle es lästige Fliegen vertreiben, und rührte sich sonst keinen Millimeter.

Der alte Mann beobachtete konzentriert das Geschehen, nach vorne gebeugt wie ein Jagdhund, der einer Beute vorstand. Rondres hätte nicht sagen können, was Bashir schließlich zum Eingreifen bewegte.

»Genug!«, donnerte er, so laut, dass die Streithähne auseinander fuhren. Das war beachtlich – Rondres zählte mindestens zwei Dutzend Kontrahenten, und der von ihnen verursachte Lärm war beträchtlich.

Die Ruhe war nur von kurzer Dauer. Der Zorn richtete sich jetzt gegen den Störer.

»Genug?« fragte einer der Landsknechte. Er war groß, das menschliche Äquivalent zu Bashirs Reittier. Schwellende Muskeln an den Armen, Hände wie Schaufeln, ein Brustkorb wie eine Tonne. Für Rondres wurde der vierschrötige Klotz sofort zum Feindbild, doch ein Seitenblick auf Vonkem zeigte ihm, dass in dessen Blick Bewunderung lag. Faszinierend, wie rückhaltlos Vonkem derartige Kraftprotze bewundern konnte; noch inter­essanter aber, dass deren Auftreten in Vonkem keinerlei Unter­legenheitsgefühle auslöste. Rondres selbst hatte das Gefühl, zu schrumpfen, wenn er solcher physischer Überlegenheit begegnete.

Der Kraftprotz, aber auch alle anderen auf der Straße, blickten zu dem ungepflegten Zausel auf seinem unpassend massiven Reittier. Rondres spürte mit schwachem Entsetzen, dass auch sie beide in den Fokus der Wahrnehmung gerieten.

»Genug?« wiederholte der Landsknecht. »Opa, was meinst du mit genug?«

Bashir zeigte sich unbeeindruckt. »Ich meine, dass Ihr die Ehre des Hauses Mendrok genügend besudelt habt, ihr Affen.«

Kurze Unruhe, dann Schweigen.

Rondres war froh, dass die Höhe seines Sattels den Alten zumindest ein wenig schützte. Wenn die Situation sich zu sehr zuspitzte, konnten sie immer noch das Weite suchen, beritten waren sie klar im Vorteil.

Bashir glitt stattdessen zu Boden. Seine Bewegungen waren fließend und mühelos, erst als er stand, griff er nach seinem vom Sattel hängenden Stock, um sich darauf zu stützen.

»Was macht der da?« murmelte Vonkem. »Ist der völlig meschugge?«

Dieses Wort ließ Rondres wider Willen lächeln. Sein Freund hatte es von einem fahrenden Träumer aufgeschnappt, der einer kleinen Sekte des Einen Gottes angehörte und zu Gast auf der Burg seiner Eltern gewesen war. Er hatte viele solche Worte auf den Lippen geführt – Ausdrücke, die irgendwie lustig klangen und gut zu dem ebenso außergewöhnlichen Akzent passten, mit dem er Adjagard sprach.

Dem entgegengesetzt gab es keinerlei Akzent in Bashirs Aussprache. Auf seinen Stock gestützt, humpelte er vorwärts, während er den Zimmerleuten und Steinmetzen befahl, ihre Hämmer, Äxte und Messer wegzustecken. Er tat dies so beiläufig und selbstverständlich, dass die Angesprochenen tatsächlich ihre Waffen verstauten.

Das galt nicht für die Landsknechte, vor allem nicht für den Wortführer, der wie ein Berg über dem herannahenden Bashir aufragte, noch immer das Schwert in der Hand.

Das brachte den alten Mann in Rage. Empört blieb er stehen, stützte beide Hände auf seinen Stock: »Was fällt dir ein, du Lümmel? Steck das Messerchen weg!«

Das Wort »meschugge« hatte Rondres zum Lächeln gebracht, doch jetzt musste er tatsächlich lachen. »Messerchen?« fragte er, und auch Vonkem grinste.

Selbst einige der Handwerker lachten, und das brachte das Fass zum Überlaufen.

»Ihr Brandärsche und Schlammfresser!« brüllte der Riese, und seine Begleiter, die ihn wohl besser kannten, zuckten zusammen.

Mit dem Fuß stampfend, riss er sein Schwert in die Höhe, eine blitzschnelle Bewegung, der Rondres mit seinen Augen kaum folgen konnte. Die Geschwindigkeit war so schockierend, dass der junge Mann noch Jahre später davon träumte: Keine Trainingseinheit hatte ihn auf diesen Ausbruch von Gewalt vorbereitet, auf die Chancenlosigkeit, wenn man nur einen Bruchteil einer Sekunde zu spät reagierte.

Doch Bashir war nicht zu spät. Das Schwert des Riesen beschrieb einen großen Bogen, der Stock des Alten nur eine kurze Linie. Er traf genau die Hand des Angreifers, mitten in der wuchtigen Bewegung. Das Knirschen splitternder Knochen war meterweit zu hören.

Während er seines Schwertes verlustig ging, veränderte sich der Gesichtsausdruck des Riesen von wütend zu erstaunt. Erst viel später, in Rondres Wahrnehmung schien es sich um Stunden zu handeln, wechselte er zu schmerzverzerrt. Das war, nachdem Bashir das Geheimnis seines Krückstocks enthüllte: Er löste den Griff des Stockes, zum Vorschein kam eine lange, gefährlich glitzernde Klinge.

Bashir trat vor. Seine Klinge schoss zum Gesicht seines Gegners, während er den Rest des Stockes in dessen Beinen verhakte. Krachend ging der Riese zu Boden. Ganz entspannt ging Bashir um ihn herum, den Stock noch immer in seiner Kniekehle, so dass er sich auf den Bauch drehen musste, wollte er einen weiteren Knochenbruch vermeiden.

Das alles wirkte elegant und mühelos. Jede Bewegung des Alten folgte einer eigenen Logik. Der Hebel mit dem Stock war schlüssig. Die versteckte Klinge war eine simple und einleuchtende Lösung. Bashir tat unaufgeregt das Richtige im richtigen Moment. Wo lernte man so etwas?

Der Alte kniete sich auf seinen Stock und fixierte den Gegner am Boden. Der Riese stöhnte schmerzvoll. Bashir blickte in die Runde.

»In zehn Sekunden möchte ich hier niemanden mehr sehen. Zerstreut euch. Macht die Biege. Sofort.«

Die Menschen auf der Straße folgten seinem Kommando. Mit einem Mal war Bewegung in der Menge, alle beeilten sich, vom Ort des Geschehens zu verschwinden, Zuschauer wie Beteiligte.

Nach einer kurzen Weile erhob sich Bashir von den Beinen seines Gegners, zog den Stock zwischen dessen Knien hervor und ließ ihn genüsslich noch einmal auf das Hinterteil des Riesen klatschen; ganz so, wie ein schlecht gelaunter Müller seinen Lehrling behandeln mochte, oder ein unfreundlicher Vater seinen ungehorsamen Sohn.

»Mach’s wie die Wasser der Großen Flut«, sagte er. »Verschwinde und lass dich nie wieder sehen.« Während er zu seinem Streitross zurück marschierte, sah er zu den beiden Jungen auf ihren Pferden hoch. »Und ihr«, fügte er hinzu, »wenn es das nächste Mal Ärger gibt, sitzt ihr nicht rum wie die Steinskulpturen an den Fallfesten des Nevrizian. Ihr kommt einem alten Mann zu Hilfe, verstanden?«

 

 

 

»Riinja«, erklärte Bashir ihnen an diesem Abend, als sie an einem grob gezimmerten Holztisch im Hof eines großen Gasthauses zusammensaßen. »Eine traditionsreiche Kriegskunst aus den Myanmu-Bergen im Reich der Elf Großen Stadtstaaten. Ich hatte die Freude, einen Meister dieser Kunst kennenzu­lernen.«

»Ihr wart im Reich der Elf? Das ist doch ganz im Norden von Isrogant?« Rondres fragte sich, welche Überraschungen noch in dem alten Zausel steckten, der ihnen auf den ersten Blick wie ein Tagedieb vorgekommen war.

Doch der schüttelte den Kopf. »Ins Reich der Elf habe ich es nie geschafft. Traurig. Es ist eine Welt voller Wunder.«

Mit dieser Beschreibung konnte Rondres nicht viel anfangen. Für ihn war die Westfeste das größte Wunder, das er bisher erblickt hatte. »Was ist da so aufregend?«

Bashir starrte eine Weile vor sich hin, bevor er antwortete: »Zehn große Städte, Metropolen, wie wir sie hier in Nermedijn gar nicht kennen, verbunden miteinander durch einen jahrhun­dertealten Bund. Um das Reich ranken sich Legenden, mehr als ich spontan erinnere. Natürlich habe ich keine Ahnung, wie viel davon der Wahrheit entspricht.«

»Aber wir haben auch in Nermedijn große Städte«, warf Rondres ein. Er hatte noch immer Schwierigkeiten, sich vorzustellen, wovon der Alte sprach. Natürlich, in Legenden und Märchen waren alle Städte immer gewaltig, aber da waren auch alle Helden edel und alle Frauen schön – oder umgekehrt. Vermutlich war sogar das legendäre Adjagard am Ende nicht so großartig, wie die Märchenerzähler es beschrieben, und der Große Geysir nur ein kleiner Springbrunnen.

Doch die Erwähnung ferner Länder brachte eine Saite in ihm zum schwingen. Tief im Innern hegte er den erschreckenden Verdacht, dass seine Welt provinziell war, dass sein Horizont schmal geblieben war und er bislang viel zu viel verpasst hatte, statt sich auf die Suche nach Abenteuern zu machen.

Ein Grummeln in seinem Bauch erinnerte ihn an die Befürchtungen, die er schon mit der Reise in die Hauptstadt verband. Ein nur zu deutlicher Hinweis darauf, dass er den Wundern anderer Teile Isrogants sicherlich nicht gewachsen war. Manchmal wünschte er sich, im kleinen Tal seiner Kindheit bleiben zu können, wo sein Vater gerecht herrschte und die Welt überschaubar war.

Er musste an die alte Eiche denken, die ein wenig außerhalb des Dorfkerns an der Straße stand, die zur Westfeste führte. Eine Straße voller Versprechungen ... solange man sie nicht selbst bereisen musste, was sie in eine Straße voller Bedrohungen verwandelte.

Bashir unterbrach seine Gedanken: »Ihr wart noch nicht häufig in Städten, hm?«

Rondres schüttelte den Kopf, und der Alte wandte sich zu Vonkem: »Wie sieht‘s mit Euch aus, Junge?«

Vonkem zuckte die Achseln. Er schien erstaunlich uninteressiert am Verlauf des Gespräches. »Mein Vater hat mich häufig nach Aijhav mitgenommen«, antwortete er.

Bashir nickte. »Die Perle der Baronie, weiße Mauern, grüne Parks. Schönes Städtchen.«

Rondres sah, wie sein Freund die Stirn runzelte, weil ihm diese Bezeichnung für die Traumstadt seiner Kindheit nicht gefiel. Er sagte aber nichts.

»Wisst Ihr, wenn Ihr mich über den Fluss begleitet, werden wir Cestivor sehen. Eine Hafenstadt voller übler Gestalten, aber dem König treu ergeben. Und später natürlich die Hauptstadt. Die ist sehr beeindruckend. Aber sie ist nur ein Zehntel so groß wie die Städte des Reichs der Elf, und kein Vergleich mit den wirklichen Metropolen Isrogants.«

Nun sagte Vonkem doch etwas, und natürlich war es respektlos: »Woher wisst Ihr denn das? Habt Ihr nicht eben noch zugegeben, gar nicht im Reich der Elf gewesen zu sein, Meister Bashir?«

»Zugegeben?«, schnaubte der Alte. »Als würde ich Euch Rotzlöffeln gegenüber etwas zugeben. Ich war tatsächlich noch nie so hoch im Norden. Leider. Aber ich habe einige andere Städte gesehen, und ich habe sie ehrfürchtig hinter mir gelassen. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre nie nach Nermedijn zurückgekehrt.«

Rondres warf Vonkem einen warnenden Blick zu. Es war Wehmut in den Worten des alten Mannes, und er wollte verhindern, dass sein Freund darüber wegtrampelte und dabei einen schlechten Eindruck hinterließ. Der jedoch zeigte sich erstaunlich einfühlsam: »Das wäre zu schade, Meister Bashir! Dann hätten wir den ganzen Weg reiten müssen!«

Bashir lachte rau. »Das ist wahr. Und wer weiß, ob ich andernorts so alt geworden wäre? Nermedijn ist ein sicherer Ort, und freundlich.«

Wenn er an die Geschehnisse auf dem Königsweg an diesem Morgen dachte, fand Rondres diese Einschätzung erstaunlich. Wie gefährlich war denn das Leben in Isrogant, wenn es in Nermedijn sicher war?

»Wisst ihr, Jungs, ich war zwar nie im Reich der Elf, aber ich war ziemlich viel unterwegs. Auch wenn Nermedijn klein ist, so reichen die Interessen des Königs doch weit über seine Grenzen hinaus.«

»Ihr wart im Auftrag des Königs unterwegs?« Rondres hatte sich so etwas schon gedacht – das Streitroß, die Galeere, die Nonchalance, mit der Bashir kämpfte. Das war kein normaler Bürger, und für einen Adligen war er zu nachlässig in Kleidung und Umgang.

»Ja, recht häufig. Ich komme aus armem Hause, Jungs, nicht wie ihr, die ihr mit dem goldenen Löffel im Mund groß geworden seid.«

Es lag etwas Abfälliges in seinem Tonfall, und Rondres war froh, dass Vonkem es nicht zu bemerken schien. Anscheinend war auch bei ihm jetzt das Interesse erwacht an dem, was der Alte aus der großen, weiten Welt erzählte.

»Es gibt viele gute Leute am Königshof, die nicht aus dem Adel stammen. Das solltet ihr zwei wissen, wenn ihr dort ankommt.« Bashir starrte vor sich hin, die Hand an seinem Bierkrug, und schien nur langsam wieder zu erwachen. »Jedenfalls ist der Dienst des Königs für Leute aus schlechten Verhältnissen eine gute Chance, herumzukommen. In eurem Alter bin ich den Großen Fluss hinaufgereist bis zu den Fallfesten, habe Boasp gesehen und bin in Orkgebieten gereist.«

»Orks!« rief Vonkem, so laut, dass sich Köpfe an anderen Tischen herumdrehten.

Bashir lachte heiser. »Ja, Orks. Ziemlich beeindruckend, vor allem für einen jungen Mann, der sich noch für unbesiegbar hält. Lehrt unsereins Demut, eine Orkhorde.«

»Wie sehen die aus?« fragte Vonkem. Seine Augen funkelten. Das war nach seinem Geschmack.

»Es gibt Orks in allen Sorten und Farben. Die Horde, der ich begegnet bin, wirkte katzenhaft. Nur dass es riesige Katzen waren, aufrecht gehend, mit gewaltigen Klauen, und schwer bewaffnet. Und die Gesichter ... die waren gar nicht wie bei unseren Stubentigern. Die sahen eigentlich ziemlich menschlich aus.« Bashir nahm einen langen Zug aus seinem Bierkrug. »Verdammt harte Burschen waren das.«

Kein Wunder, dass der riesenhafte Landsknecht auf dem Königsweg den alten Mann nicht beeindruckt hatte.

»Und wenn wir von Städten reden ... Boasp, das ist die größte Stadt, die ich jemals gesehen habe. Und vielleicht die schönste. So nahe an Avenicum Dalor, und dennoch eine Metropole, in der es sogar noch Zauberei gibt.«

Vonkem rümpfte die Nase. »Zauberei! Eine Pest, die Gott sei Dank der König in Nermedijn ausgerottet hat. Einmal wenigstens hat er Stärke bewiesen!«

Rondres zuckte zusammen. Den König so offen zu kritisieren, stand einem Landedelmann nicht zu, und schon gar nicht einem so jungen. Vonkem redete sich um Kopf und Kragen.

Auch er selbst hielt nichts von den magischen Künsten, hatten sie doch Jahrhunderte lang die Menschheit geknechtet. Sein Geschichtslehrer hatte ihn das gelehrt, der weiseste Mann, den er je getroffen hatte. Er hatte auch von den Kriegen der Dunklen Jahre berichtet, und davon, dass es erst in der Ius Adjagard den Kaisern gelungen war, die Macht der Mystiker zu beschränken. Seit die Kaiser und ihr Adjagaren-Orden mit der Großen Flut verschwunden waren, wuchs das Risiko, dass Magier und ihre nichtmenschlichen Verbündeten die Macht wieder an sich rissen.

Vonkem dachte in anderen Bahnen. Er glaubte fest an die Lehren der Kirche der Zweiten Offenbarung, die lautstark verkündete, dass die Mystik für die Verwüstungen der Großen Flut verantwortlich sei. Das war die vorherrschende Auffassung in Nermedijn, wo die Bischöfe und der Kardinal der Kirche jede Entscheidung des Königshauses begleiteten.

Rondres fand die Idee absurd. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Eine Gott tatsächlich ganz Isrogant bestrafte, weil Einzelne Magie wirkten. Um so mehr, da es nur so wenige Mystiker gab; schon in der Ius Adjagard spielten sie keine bedeutende Rolle mehr, wenn die Überlieferungen stimmten.

Es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass er vielleicht nur einen kleinen, ausgesuchten Bruchteil von Überlieferungen kennengelernt hatte. Die Welt erschien ihm abwechselnd einfach und klar ... und unüberschaubar chaotisch. Überkam ihn letzteres Gefühl, verließ er sich normalerweise auf das sichere Wissen, das ihm während seiner Ausbildung vermittelt worden war. Das brachte alles stets in Perspektive.

Bashir kommentierte Vonkems Worte nicht, schmatzte stattdessen an einigen Feigen, die sie zum Nachtisch bestellt hatten. Dann klopfte er auf den Tisch, als sei ihm gerade ein großartiger Gedanke gekommen.

»Religiöse Fragen«, brummte er. »Dafür gibt es Experten. Klügere, als Ihr es seid, kleiner Mann.« Er grinste sein lücken­haftes Grinsen und drehte sich um, bevor Vonkem sich über diese Bezeichnung beschweren konnte.

»Hey, Junge«, sagte Bashir zu einem schräg hinter ihm an einem anderen Tisch sitzenden Reisenden. Erstaunt blickte dieser sich um. Er saß für sich, hatte einen dampfenden Teller vor sich und einen Krug, in dem so gut Wein wie Wasser sein konnte. Er wirkte noch jung, ebenmäßige Gesichtszüge ohne Falten, hohe Stirn und lebhafte, freundliche Augen. Kein Trinker, eher ein Gelehrter.

»Ja?« fragte er, den alten Mann und seine beiden Begleiter musternd. Ihm war anzusehen, dass er die kleine Gruppe nicht einordnen konnte.

»Wir haben theosophische Fragen hier«, erklärte Bashir mit rauer Stimme. »Und Ihr scheint mir ein Fachmann.«

Ein Lachen war die Antwort. »Wie habt Ihr denn das erkannt?« Lachen wie Stimme waren freundlich und machten den jungen Mann sofort sympathisch. Er klang amüsiert, offenherzig, neugierig.

Bashir wedelte mit der Hand an seinem eigenen Kopf herum. »Die Frisur«, sagte er. »Ist ziemlich typisch für die neuen Klöster. Kurz an den Seiten, länger in der Mitte.«

»Ihr meint, ich sei einer Mode aufgesessen und hätte mich damit erkennbar gemacht?«

Bashir grunzte zustimmend. »Und natürlich die Flamme auf Eurem Mantel.«

Der junge Mann schlug sich vor die Stirn. »Nicht zu fassen. Die habe ich vergessen.« Er lächelte breit. »Aber ich bin ohnehin nicht inkognito unterwegs.«

»Wanderjahre?« fragte Bashir.

Der Mann nickte. »Ich will nach Rezwuha, zur Dombaustelle. Aktive Arbeit für den Einen Gott.« Wieder lächelte er, breit und ungezwungen.

Bashir brummte zustimmend. »Das mag ich an den Priestern des Einen Gottes«, stellte er fest. »Keine Schwätzer. Keine Träumer. Verkünden das Wort und arbeiten in seinem Sinne.«

»Überall in Isrogant«, bestätigte der Mann. »Die Worte der Zweiten Offenbarung verbreiten sich rasch.«

»Auch wenn Ihr manchmal nachhelfen müsst.«

»Was meint Ihr?«

»Ich meine die Flammzüge der Kirche, mit denen Ungläubige auf den rechten Weg gebracht werden.« Es lag kein Vorwurf in Bashirs Stimme, und doch zuckte Rondres zusammen. Der alte Mann nutzte starke Worte, und wenn er es richtig verstand, gegenüber einem Priester der Kirche des Einen Gottes.

Der verzog das Gesicht. »Die Flammzüge richten sich nicht gegen Ungläubige, sondern gegen die Umtriebe von Mystikern.«

»Hmm«, machte Bashir und nahm einen Schluck aus seinem Humpen. »Hab’ ich schon gehört, sowas, ja. Wollt Ihr uns nicht Gesellschaft leisten? Meine beiden jungen Gefährten sind wissbegierig und noch sehr grün hinter den Ohren.«

Rondres spürte Vonkems Zorn über diese herablassenden Worte, eine Gefühlsregung, die er gut verstehen konnte. Andererseits schüchterte ihn die Gegenwart des Priesters ein. Die Geweihten des Einen Gottes waren gut geschulte Männer, gebildet und voller Spiritualität. In den Landgemeinden von Nermedijn waren sie ebenso wichtig wie der Adel, der die Menschen regierte.

»Warum nicht?« sagte der Priester.

Wieder blitzte sein einnehmendes Lächeln auf, dann griff er nach Teller und Krug, stellte sie neben Bashir auf den Tisch und kletterte von einer Bank auf die andere.

Er reichte erst Rondres, dann Vonkem die Hand, stellte sich vor: »Fredjof Ojrem, Priester der Zweiten Offenbarung.« Dann legte er sie auf Bashirs Schulter. »Es ist schön, dass Ihr mich an Euren Tisch einladet. Darf ich erfahren, mit wem ich die Ehre habe?«

»Bashir aus Rezwuha«, antwortete der alte Mann. »Ich reise im Auftrag des Königs. Vielleicht habe ich eine bequeme Reisemöglichkeit für Euch, Meister Fredjof. Es sei denn, Euer Glaube gebietet Euch, zu Fuß zu gehen.«

»Gott bewahre!« Fredjof musterte die drei Männer, schien nachzudenken, was diese Reisegruppe wohl zusammengebracht hatte. »Die Priesterschaft des Einen Gottes hat besseres zu tun als mit unsinnigen Regeln Zeit zu vergeuden. Die Wanderjahre sind eine Zeit des Lernens, nicht der Selbstkasteiung.«

Er streckte seinen Rücken. »Ihr beiden seht nicht aus, als wäret Ihr auf einer spirituellen Reise zum Dom von Rezwuha?«

Unisono schüttelten Vonkem und Rondres ihre Köpfe, aber antworten konnten sie nicht, denn Bashir schnitt ihnen das Wort ab.

»Junge Adlige«, sagte er, als erkläre das alleine schon alles, fügte dann aber doch noch hinzu: »Von ihren Papas in die Hauptstadt geschickt worden, um beim Schwertmeister des Königs zu üben.«

Fredjof verzog das Gesicht. »Das klingt nach Schweiß und Erniedrigung.«

Dafür erntete er Lachen von Bashir. Die beiden Jungen reagier­ten unterschiedlich: Hochmütig-abschätzig der eine, mit einem freudlosen Verziehen des Mundes der andere.

»So schlimm wird es nicht werden«, sagte Bashir. »Ich höre, dass die Gäste des Schwertmeisters die Zeit meist nutzen, um sich zu amüsieren. Scheint, der Mann ist nachsichtig.«

Bevor Fredjof antworten konnte, unterbrach sie eine andere Stimme. »Ich habe gehört, der Schwertmeister sei ein echter Bastard. Ein Schleifer ohne Gnade.«

Die Gruppe am Tisch wandte sich dem Sprecher zu. Er warf einen großen Schatten: Breite Schultern, muskulöse Arme, kräftige Beine, das alles betont von der eng geschnittenen Uniform der Königsgarde. Dunkles Braun, schwarze Mütze aus weichem Samt, ein Schwert am Gürtel. Der schneidige Eindruck des Mannes wurde nur getrübt von einem schwarzen Tuch, das die rechte Hälfte seines Gesichtes verhüllte. In Dreiecksform war es um seinen Kopf gebunden, verbarg seinen Hals, ein Auge, die Nase und den Mund. Das andere Auge funkelte Bashir und seine Begleiter an.

Dieser seufzte. »Ich darf vorstellen: Gardist Momo Mowiam.«