In Liebe, für immer - Jana Bennings - E-Book
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In Liebe, für immer E-Book

Jana Bennings

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Beschreibung

Braucht wahre Liebe wirklich ein Happy End? »In Liebe, für immer« ist ein hochemotionaler, dramatischer Liebesroman über die eine große Liebe, die ein Leben lang währt – selbst wenn sie nicht auf Erfüllung drängt. Es ist mehr als Liebe auf den ersten Blick, als Juli und Richard sich 1979 in Hamburg begegnen: ein Gefühl so tief und wahr, wie Liebe nur sein kann. Trotzdem folgt auf einen leidenschaftlichen Sommer die erste Trennung. Es wird nicht die letzte bleiben: Über vier Jahrzehnte wird das Leben Juli und Richard immer wieder zusammenführen, immer wieder wird sie da sein, diese eine, große Liebe – und immer wieder werden Missverständnisse und unglückliche Zufälle verhindern, dass Juli und Richard wirklich zusammenkommen. Doch wahre Liebe ist etwas fürs Leben, und das ist immer für eine Überraschung gut … Mit viel Gefühl hat Jana Bennings einen ebenso ergreifenden wie lebensweisen Liebesroman für alle geschrieben, die wieder einmal ganz in einer großen Liebesgeschichte versinken wollen.

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Seitenzahl: 546

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Jana Bennings

In Liebe für immer

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Es ist mehr als Liebe auf den ersten Blick, als Juli und Richard sich 1979 in Hamburg begegnen: ein Gefühl so tief und wahr, wie Liebe nur sein kann. Trotzdem folgt auf einen leidenschaftlichen Sommer die erste Trennung. Es wird nicht die letzte bleiben: Über vier Jahrzehnte wird das Leben Juli und Richard immer wieder zusammenführen, immer wieder wird sie da sein, diese eine, große Liebe – und immer wieder werden Missverständnisse und unglückliche Zufälle verhindern, dass sie wirklich zusammenkommen. Doch wahre Liebe ist fürs Leben, und das ist immer für eine Überraschung gut …

Inhaltsübersicht

Motto

Teil 1

Juli

Richard

Juli

Richard

Juli

Juli

Richard

Juli

Richard

Juli

Richard

Juli

Richard

Juli

Juli

Richard

Juli

Richard

Juli

Richard

Juli

Teil 2

Juli

Richard

Juli

Richard

Juli

Richard

Juli

Teil 3

Juli

Richard

Juli

Juli

Richard

Juli

Richard

Juli

Juli

Richard

Juli

Richard

Juli

Juli

Richard

Juli

Richard

Juli

Richard

Juli

Juli

Teil 4

Juli

Juli

Richard

Juli

Juli

Richard

Juli

Juli

Richard

Juli

Juli

Richard

Juli

Teil 5

Juli

Richard

Juli

Juli

Richard

Juli

Richard

Juli

Epilog

Danksagung

 

 

 

 

Für dich. Und immer für dich.Rio Reiser

 

Teil 1

1979 – Der Anfang

»Nights in White Satin«Moody Blues

 

April 1979

Juli

Genervt schloss Juli Sommer die Tür vom Blumenladen Fleurs du Bien hinter sich ab. Hannes hatte ihr versprochen, pünktlich zurück zu sein. Er wusste schließlich, dass sie mit Caro auf das Konzert im Legend17 wollte. Sein Treffen mit der Stadtteilgruppe der Autonomen hatte um vier begonnen, und Juli vermutete stark, dass er über den hitzigen Diskussionen zu der Mahnwache am Sonntag einfach die Zeit vergessen hatte. Es ging um die geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben. Hannes war schon im März bei dem Protestmarsch in Hannover dabei gewesen, und die Chancen standen gut, dass die Regierung die Pläne zu der Atomanlage im Wendland noch kippte.

Juli zog den Fellkragen ihres gefütterten Zottelmantels enger um sich. Es war wirklich erstaunlich kalt für Ende April. Beinahe roch es nach Schnee.

Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Hannes, dieser unverbesserliche Pazifist. Blumen statt Böller. Das hatte er tatsächlich ernst gemeint, als er vor vier Jahren seinen Laden hier im lebendigen Hamburger Stadtteil Eimsbüttel eröffnet hatte. Juli war als frischgebackene Floristin zu dem Zeitpunkt gerade auf Jobsuche gewesen und hatte den Aushang im Schaufenster gesehen. Und weil die beiden sich auf Anhieb gut verstanden, hatte sie mitgeholfen, das Geschäft aufzubauen. Heute konnte man darüber streiten, wer im Hause Fleurs du Bien eigentlich das Sagen hatte. Kundinnen und inzwischen auch Freundinnen wie Antonella, Maren oder natürlich Caro fanden, dass Juli längst das Regiment übernommen hatte. Ihrer Meinung nach schlug in jedem kunstvoll präsentierten Arrangement Julis Herz, und in jeder Vase, in jeder mit Moos und Korkenzieherhaselzweigen dekorierten Ausstellungsfläche komme Julis warmherzige und leidenschaftliche Seele zum Ausdruck. Juli lachte solche Schmeicheleien einfach weg, aber auch wenn Hannes vielleicht nur noch auf dem Papier ihr Chef war, so war er doch sicher ihr engster Vertrauter und fast so etwas wie ein väterlicher Freund. Da waren sich alle dann wieder einig. Allen voran Juli, die ihren Vater aufgrund der Folgen einer Kriegsverletzung früh verloren hatte. Und immerhin war Hannes elf Jahre älter als sie. Mit zweiundzwanzig machte das schon etwas aus.

Juli ging zu ihrem Fahrrad und ruckelte an dem Zahlenschloss. Wenn das nicht bald einen Tropfen Öl bekam, würde sie es irgendwann nicht mehr aufkriegen, sagte sie sich zum gefühlt hundertsten Mal. Sie spürte, wie ihr eine zarte Schneeflocke auf der Nase schmolz, und blinzelte in den grauen Hamburger Himmel. Das gibt’s doch nicht, dachte sie. Jetzt schneit es wirklich! Sie überlegte kurz, das Rad stehen zu lassen, entschied sich aber dagegen. Die Straßen waren ja trocken, und sie hatte es nicht weit.

Sie verstand Hannes’ Engagement und teilte es in Ansätzen sogar, ging es ihr durch den Kopf, während sie langsam über das Kopfsteinpflaster den Eppendorfer Weg entlangholperte. Als typisches Nachkriegskind hatte er den Wiederaufbau Deutschlands und die fehlgeleiteten Triebe, die im Sommer ’67 im Tod des Studenten Benno Ohnesorg einen ersten traurigen Höhepunkt fanden und Bewegungen wie die RAF und die ganze schreckliche Militarisierung überhaupt erst ermöglichten, hautnah und ganz anders miterlebt als sie. Sie fand es gut, wie sehr er sich für die Demokratisierung der Bundesrepublik einsetzte. Ganz ungünstig war es nur, wenn sein Einsatz heute auf ihre Kosten ging, da sie verabredet war und er versprochen hatte, zum Ladenschluss zurück zu sein und das Aufräumen und die Kassenabrechnung zu übernehmen. Und ihre Schicht am Samstag natürlich.

Caro konnte sie nun auch nicht mehr erreichen. Eigentlich waren sie genau jetzt am Legend17 verabredet. Caro hatte am Nachmittag zum Friseur gewollt, um sich diesmal den Traum von einem roten Minipli-Lockenkopf zu erfüllen. Aber Caro wollte sich, was ihren Körper betraf, ständig irgendeinen Traum erfüllen. Seit sie sich kannten, und das reichte jetzt auch schon bis in die Realschulzeit zurück, wollte Caro anders sein, als sie war.

Juli verstand das nicht, denn für sie war Caro perfekt: Sie war groß, dünn, ja fast schon dürr, hatte blonde, glatte Haare, die zwar vielleicht keine Löwenmähne hergaben, aber doch kräftig genug waren, um nicht wie Strippen an ihrem Gesicht runterzuhängen. Sie dagegen, Juli, war mehr der Sophia-Loren-Typ: schwingende Hüfte, pralle Brüste, schmale Taille, dunkle Locken. Caro ging eher in Richtung Twiggy. Und genau das störte sie, sodass sie nun auch noch zweimal die Woche in eins dieser Bodybuilding-Studios ging und dort knapp vierzig Mark im Monat ließ, um ihren grazilen, schmalen Körper in ein sehniges Drahtgestell zu verwandeln. Zum Glück war Caros Wunsch meist größer als ihr Wille, sodass Juli hoffte, ihre Freundin würde bald die Lust an diesen Geräten verlieren und ihre biegsame Gestalt bewahren.

Aber so war sie nun mal, ihre Caro. Und Juli machte sich jetzt schon darauf gefasst, die Freundin trösten zu müssen, weil die Frisur natürlich ganz anders aussah als bei den Frauen auf den Zeitschriftenausschnitten, die Caro sicher beim Friseur dabeigehabt hatte.

Blieb die Frage, wie sie nun mit dem Konzert umging. Sie war sich nicht sicher, ob Caro allein und womöglich vollkommen unglücklich wegen ihrer Frisur überhaupt noch in den Musikklub gehen und auf sie warten würde.

Einlass war ab neunzehn Uhr, aber die Bar-Kays, eine amerikanische Funkrock-Band, die hierzulande noch nicht so bekannt war – was Juli erstaunte, denn sie selbst fand die Gruppe mit diesem leicht souligen, melancholischen Einschlag geradezu anbetungswürdig –, würde vor einundzwanzig Uhr sicher nicht zu spielen anfangen. Und die Vorgruppe kannte sie nicht.

Seufzend machte sie ihr Fahrrad an einer Straßenlaterne fest. Es hatte ganz leicht angefangen zu schneien, aber davon würde nichts liegen bleiben. Sie wollte jetzt schnell noch etwas essen, sich dann umziehen, schminken und dann nichts wie wieder los. Vielleicht hatte sie ja Glück und traf auf ihre Freundin. Ansonsten wäre sie eben allein auf dem Konzert. Immer noch besser, als am Freitagabend auf der Couch zu sitzen. Viel besser.

Eine halbe Stunde und zwei Scheiben Schwarzbrot mit Bierschinken später sah Juli zufrieden in den Spiegel. Sie hatte sich für schwarz-weiß karierte Hotpants und ein fließendes Satintop mit weiten Ärmeln und U-Boot-Ausschnitt entschieden, weil das so schön ihre ausgeprägten Schlüsselbeine zur Geltung brachte. Dazu schwarze Strumpfhosen und ihre weißen Lackstiefel.

Die Haare hatte sie oben etwas hochtoupiert und die Ponysträhnen wie ein Stirnband eng um den Kopf nach hinten geschlungen. Der Rest fiel in großen Wellen über ihre Schulter. Lidstrich, Mascara und knallroter Lippenstift – fertig ist die Laube, befand Juli. Weil sie im Laden meistens nur Jeans und Strickpulli trug und nur im Hochsommer mal ein schlichtes Kleid, genoss sie es, sich ab und an zurechtzumachen. »Juli, mein Schatz, du siehst astrein aus«, sagte sie gut gelaunt zu ihrem Spiegelbild und entdeckte dabei noch etwas roten Lippenstift auf ihrem Zahn, den sie rasch mit der Zunge ableckte. »Jetzt aber los.«

Durch den frühen Tod des Vaters und die zehrende Mühsal, die es der Mutter abverlangt hatte, den kleinen Eisenwarenladen im Norden Hamburgs am Laufen zu halten, hatte Juli in jungen Jahren durchaus die Härte des Lebens kennengelernt, doch ihrem zuversichtlichen und zutiefst fröhlichen Naturell hatte all das nichts anhaben können. Sicherlich hatte es aber ihre Sensibilität geschliffen und ihre Dankbarkeit für die schönen Dinge geschärft, und vielleicht hatte Juli aus diesem Grund auch irgendwann mit dem Aquarellmalen begonnen. Sie liebte die Harmonie und die Weichheit der Farben. Das Malen schenkte ihr Zuversicht.

Sogleich musste sie an Caro denken, und ihre Miene verdunkelte sich sorgenvoll. Juli fragte sich so manches Mal, ob ihre Freundin die helle Seite überhaupt kannte, nicht zuletzt, weil sie sich immer noch die Schuld am Unfalltod ihres jüngeren Bruders vor sechs Jahren gab. Caro war damals vierzehn Jahre alt gewesen, Tim acht. Caros Eltern, die van Meeschs, gehörten zur Hamburger Hochfinanz und waren mal wieder zu einem dieser Bankette eingeladen gewesen. Und natürlich hielt man die ältere Schwester für groß genug, um auf den kleinen Bruder aufzupassen. Es gehörte sich ja auch so. Die van Meeschs besaßen auch einen Hund, einen braun-weiß gescheckten Collie namens Fanny. Nachdem ihr Bruder eingeschlafen war, schlich Caro auf leisen Sohlen hinunter ins Erdgeschoss, gab Fanny das Zeichen zum Spazierengehen und verließ das Haus.

Wie hätte sie ahnen können, dass Tim ausgerechnet an diesem Abend schlecht träumen und seine Schwester panisch im ganzen Haus suchen und nicht finden würde?

Dass er dann barfuß und im Pyjama mutig das Haus verlassen und aus dem Park in einiger Entfernung ihren Hund bellen hören würde?

Dass er vermutlich erleichtert und sorgenvoll gleichermaßen losrennen und ausgerechnet in diesem Moment ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit die ansonsten ruhige Wohnstraße entlangrasen würde?

Tim war auf der Stelle tot.

Caro hatte das nie richtig verwunden und war seitdem erst richtig kapriziös geworden. Aber speziell Caros Vater hatte ihr auch nie Grund gegeben, sich nicht schuldig zu fühlen.

Juli schüttelte den Kopf. Jeder, dachte sie, bekam einfach sein Päckchen mit auf den Weg. Bei manchen war es mit Schleifchen und Bändern bunt verpackt. Bei anderen kam es ohne Verpackung und schon bei der Übergabe kaputt an.

Juli hatte einfach Glück gehabt.

 

Der 25er Bus Richtung Altona war fast leer. Auf zwei gegenüberliegenden Sitzbänken saßen plaudernd und lachend vier junge Leute, zwei Männer und zwei Frauen, die sich offenbar nicht ganz entscheiden konnten, ob sie noch Hippies oder schon Hedonisten sein wollten. Sie sahen toll aus: die beiden Männer mit akkurat gestutzten Koteletten und braun gemusterten Hemdkragen, die spitz bis über die Schulter zuliefen, die Frauen mit farblich auf die Schlaghose abgestimmten Turbanen in Pastell, bestickten Blusen und riesigen getönten Brillen. Juli schätzte sie etwas jünger als sich selbst, und sie war sich sicher, dass sie mit dem Wohlstand ihrer Eltern kein Problem hatten. Aus der Fransentasche der einen Frau ragte eine Flasche Krimsekt. Juli war erst einmal in Westberlin gewesen – auf einem Ausflug der Berufsschule –, aber sie wusste, dass jeder, der von dort einen Abstecher in den Osten der Stadt machte, den Zwangsumtausch von 25 Ostmark in das russische Gesöff investierte. Und in eine Karl-Marx-Gesamtausgabe in der Buchhandlung am Alexanderplatz.

Juli tippte bei dem Quartett auf eine private Studentenparty, denn für den Kiez war es definitiv noch zu früh. Und für das Legend17 waren sie nicht das richtige Publikum.

Juli selbst hatte nie ernsthaft darüber nachgedacht, das Abitur zu machen und zu studieren. Landschaftsgärtnerei oder sogar Kunstgeschichte wären naheliegend gewesen, aber es war ihr nie wirklich in den Sinn gekommen. Zum Teil lag es sicher an ihrer Geschichte: Eisenwaren Sommer gab es bereits seit 1896, und der Laden war in Hamburg eine kleine Institution. Zu Hause war es um Einkauf, Verkauf, die Stahlpreise, die Ölkrise, die bösen großen Kaufhäuser und die Altersvorsorge gegangen. »Vergiss nicht zu kleben, Helga, du musst unbedingt kleben.« Den Satz hatte ihre Mutter oft zitiert, weil ihr Vater ihn ihr sorgenvoll wohl noch auf dem Sterbebett eingebläut hatte. Begriffe wie Universität, Bildung, akademische Laufbahn kamen in Julis Familie einfach nicht vor.

Aber sie klangen in Julis Ohren auch jetzt nicht richtig für sie. Zu wenig bodenständig irgendwie, zu theoretisch, richtungslos. Nein. Juli liebte Blumen. Und Erde. Da wusste sie genau, woran sie war. Und fühlte sich immer von Schönheit umgeben. Das passte.

Juli fiel auf, dass die Sitzbänke in der Reihe hinter den Männern willkürlich aufgeschlitzt worden waren und der Schaumstoff an zwei Stellen herausquoll. Die Gruppe schien das nicht zu stören, doch Juli irritierte dieser zunehmende Vandalismus. Hannes hatte schon recht mit seiner Friedensbewegung. Diese Republik wusste nicht so recht, wohin sie wollte. Die Menschen wussten es nicht.

Die beiden Pärchen gingen Juli langsam mit ihrem lauten Lachen und ihrem verbalen Geplänkel auf die Nerven, mit dem sie doch nur auszuloten versuchten, wer nachher mit wem ins Bett ging. Juli mochte so etwas nicht. Es schien ihr einfallslos und keineswegs so subtil, wie die Jugendlichen vielleicht glaubten.

Sie wandte ihren Blick ab.

Am Bahnhof Altona stieg Juli in den 181er um und ging dann die letzten Meter zu Fuß Richtung Große Freiheit. Als sie um Viertel nach acht endlich an dem Musikhaus ankam, stand noch eine kleinere Traube Menschen rauchend und Bier trinkend davor. Sie suchte die Umgebung ab, entdeckte Caro aber nicht, was bei der Kälte nicht verwunderlich war. Auch sie hätte drinnen gewartet. Also zeigte sie dem Türsteher ihre Eintrittskarte, bekam den Stempel auf den Handrücken und ging auf die wummernden Bässe zu.

Von dem Raum konnte man nicht viel erkennen. Die einzige Lichtquelle kam von der Bar und von ein paar heruntergedimmten Scheinwerfern auf der Bühne. Natürlich waren die Wände schwarz angemalt, lediglich ein paar fluoreszierende Schlangenlinien und Kringel in Blau, Rot, Grün und Gelb strahlten zusätzlich ein wenig Helligkeit ab. An den Seiten gab es rechts und links ein paar Stehtische. Das war’s.

Die Vorgruppe spielte eine Art Elektropop. Ganz cool, fand Juli. Sie hielt sich rechts, damit sie die Bar im Auge hatte, blieb aber erst mal halb im Eingang stehen, um sich einen Überblick zu verschaffen und nicht direkt in der verqualmten Luft zu stehen. Das Legend17 war nicht riesig groß, aber doch zu unübersichtlich, um sich zwangsläufig über den Weg zu laufen.

Juli hoffte, dass sie Caro noch treffen würde, aber sie kam auch so langsam in Stimmung. Der Beat war echt groovy. Juli wiegte sich im Rhythmus leicht hin und her. Blöd, dass sie es nicht früher geschafft hatte. Mit Hannes würde sie am Montag echt ein Hühnchen rupfen.

Richard

»Mann, Jonas, komm endlich raus da. Ich muss los«, rief Richard durch die geschlossene Badezimmertür.

»Keine Hektik. Gut Ding will Weile haben«, kam es etwas gehetzt durch die Tür zurück.

»Sag mal, wichst du da etwa? Du bist so ein Freak. Deine Tittenfotos kannst du dir auch in der Küche angucken.«

»Aber … da kann ich mir nicht … so ungestört einen runterholen. Und jetzt lass mich in Ruhe.«

Richard schüttelte missbilligend den Kopf. Jonas war kein schlechter Kerl, und so eine Männer-WG hatte echte Vorteile, aber Jonas war für seine dreiundzwanzig noch ein ziemlicher Kindskopf und manchmal auch ein verwöhntes Einzelkind. So wie jetzt.

»Jonas, echt jetzt … ich muss da rein.«

»Oh, Mann, du kannst echt nerven.« Was auch immer sich hinter der Tür abgespielt hatte, es schien vorbei. »Wann fängt deine Schicht denn an?«

»In zwanzig Minuten!«

»Oh.«

Jonas und Richard hatten sich im Legend17 kennengelernt. Also eigentlich hatte Richard dort gearbeitet, und während eines Konzerts, auf dem Jonas als Besucher war, hatten sie sich ein bisschen unterhalten. Jonas studierte damals Bauingenieurwesen und hatte einen Nebenjob gesucht. So hatte Richard ihn reingeholt. Auch wenn Jonas jetzt nicht mehr dort arbeitete, wusste er noch, dass Alex, der Chef, ein ganz umgänglicher Typ war, aber wenn er eins nicht ausstehen konnte, dann war’s Unpünktlichkeit. Absolutes Tabu.

Jonas öffnete noch mit halb über dem Hintern hängender Hose die Tür. »Du kannst meine Hercules nehmen.«

Richard verdrehte die Augen. »Bin ich fünfzehn, oder was? Ich fahr doch nicht mit einem Mofa!« Trotzdem lief er schnell in die Küche und warf einen prüfenden Blick nach draußen.

»Ach du Scheiße!«, rief er.

»Was is’ los?«, fragte Jonas alarmiert zurück und lief Richard hinterher. »Ist was angebrannt?«

»Es schneit!«

»Wie bitte? Wir haben April!«

»Na, dann guck doch raus!« Und mit diesem Satz war Richard auch schon im Bad verschwunden – »Leg bitte schon mal die Schlüssel für dein Dreirad raus« –, um sich in aller Eile ein wenig von seinem Lieblingsduft aufzusprühen, eine Mischung aus Amber, Eichenmoos und Leder, ganz neu auf dem Markt, und Neues gefiel Richard, und einige Haarsträhnen mit Gel im Wet Look zu stylen. Einen Arm in der Lederjacke und mit der freien Hand nach dem Schlüssel greifend, rannte Richard hinaus ins Treppenhaus und nahm polternd immer zwei Stufen auf einmal. Zum Glück wohnten die beiden auf Pauli. Knapp, aber er würde es schaffen. Und noch waren die Straßen ja nicht vereist.

Richard freute sich auf den Abend. Die Bar-Kays fand er ohnehin cool – souliger R&B, dem man die späten 60er-Jahre noch anhörte, trotzdem tanzbar, ohne die Stimmung zu sehr anzuheizen. Genau das Richtige für einen Klubabend, keine Pöbeleien, guter Verzehr.

Noch mehr aber freute er sich auf die Vorband: Master’s Dynasty. Das war eine Berliner Band, die überall gut geklaut hatte: bei den Boomtown Rats, Patti Smith und ein bisschen auch bei Chicago. Krude Mischung: raue Rhythmen, ein bisschen Reggae war auch drin, dramatische Melodien und eine Leadsängerin zum Niederknien. Was für eine Stimme! Ein Kumpel von ihm, Bassist und Gitarrist, hatte ihm vor einigen Wochen mal ein Tape der Band in die Hand gedrückt, und Richard hatte beim Abspielen gedacht, er höre nicht richtig. So was bombastisch Gutes war ihm eigentlich noch nie unterkommen. In Hamburg schon gar nicht. Wie so oft bedauerte er, dass die Polygram sein wahres Talent einfach noch nicht entdeckt hatte. Wenn es nicht bald passierte, würde er als Tontechniker bei denen versauern. Dabei wollte er selbst produzieren oder noch besser: mit am Mischpult stehen und komponieren. Und das würde auch so kommen, ganz sicher würde es das. Aber noch war es eben nicht so weit, und es hatte Richard einige Mühe gekostet, sich bei den Bossen Gehör zu verschaffen. »Mann, was für ein Scheiß!«, hatte er bei Jonas mehr als einmal geflucht, wenn er wieder abgeblitzt war. »Wenn Gott gewollt hätte, dass ich Leuten in den Arsch krieche, wäre ich ein Zäpfchen geworden! Diese Bonzen haben doch alle keine Ahnung von Musik!«

Aber es half nichts. Wenn er die Band nach vorn bringen wollte, und Richards Liebe zur Musik war größer als seine Abneigung gegen taktische Unterwerfung, musste er sich eben wie ein Zäpfchen verhalten.

Und letztendlich hatte er es ja auch geschafft. Die Band spielte heute. Er würde sie hören, er würde Backstage mit ihnen einen trinken, Kontakte sammeln … Schaden konnte das sicher nicht.

Richard betrat das Legend17 durch die Hintertür. Wie alle Keeper hatte auch er einen Schlüssel. Er ging direkt in den Personalraum, eine Mischung aus Teeküche, Umkleide und Ort zum Abhängen. Dort warf er seine Lederjacke in den Spind und strich sein schwarzes Hemd glatt. Das war Pflicht: schwarzes Hemd, schwarze Hose, schwarze Schuhe. Aber etwas anderes hätte Richard sowieso nicht gepasst. Bei den Klamotten ging er nicht gern mit der Mode. Das war ihm zu festgelegt. Beim Styling guckte er schon, was cool war, aber bei den Klamotten hielt er sich lieber elegant zurück. Zumindest bei den Mädels hatte sich das bislang immer bewährt.

Max kam zur Tür herein. Die beiden machten heute zusammen die Bar.

»Ej Alter, alles gut?« Max kam auf Richard zu und hob die Hand, und Richard klatschte sie ab, knuffte Max dann freundschaftlich gegen die rechte Schulter. »Alles super. Und bei dir?« Max und Richard teilten sich häufiger die Schichten und waren ein eingespieltes Team. Die Abende mit Max waren easy, nicht zuletzt deshalb, weil er im Gegensatz zu Jonas Richard klar als den Boss akzeptierte. Das erleichterte manche Abläufe.

»Ach, Christina hat gestern Schluss gemacht.« Max schaute ein wenig betroffen aus der Wäsche, aber auch nicht wirklich unglücklich.

»Echt? Scheiße. Warum?«

»Ach, das Übliche. Sie wünscht sich mehr Aufmerksamkeit, möchte dauernd über irgendwas diskutieren, hat das Gefühl, ich will nur Sex …«

Richard lachte. »Na, du willst doch auch nur Sex.«

»Ej Mann, jetzt komm mal runter. Nicht immer von dir auf andere schließen, ja? Wenn ich nur Sex gewollt hätte, wären wir wohl kaum sechs Monate zusammen gewesen.«

Richard pfiff ironisch durch die Zähne. »Sechs Monate … das ändert natürlich alles. Da bin ich aber froh, dass du es vor Liebeskummer überhaupt hergeschafft hast …«

Max boxte ihn spielerisch in die Seite. »Ich wusste, dass du mich verstehst«, ging er auf den Scherz ein.

»Dann wollen wir doch mal gucken, ob wir nicht heute ein schönes Sahneschnittchen für dich finden. Ich wette, es sind viele Frauen da.«

»Bist du deswegen so gut gelaunt?«, fragte Max.

»Auch«, erwiderte Richard verschmitzt. Mehr freute er sich tatsächlich auf Master’s Dynasty, aber mal wieder ein Mädchen mit nach Hause zu nehmen, wäre auch nicht verkehrt. Das letzte Techtelmechtel hatte er vor vier Wochen gehabt. Aber mehr als drei Verabredungen waren es auch nicht gewesen. Max hatte schon recht: Die Frauen, die er bisher kennengelernt hatte, wollten schnell mehr als er, wollten die Beziehung definieren, etwas Festes. Aber entweder war er nicht dafür gemacht (seine Vermutung), oder es war noch nicht die Richtige dabei gewesen (niemandes Vermutung). Also war es meist genau dann vorbei, wenn es ernst werden sollte. Bloß keinen Stress, denn von dem hatte er auch so schon genug: auf der Arbeit, mit Jonas, mit seiner Mutter, wenn sie mal wieder betrunken anrief und ihn als Nichtsnutz beschimpfte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Suff sie ins Grab brachte. Sie hatte schon immer getrunken, zuerst weil sie angeblich seinen Vater nicht ertrug, der in ihren Augen alles falsch machte. Als sie den dann erfolgreich vertrieben hatte, soff sie aber noch mehr und jammerte Richard die Ohren voll, wie ungerecht das Leben sei und dass sie diese Enttäuschung nicht verdient habe. Richard ergriff die erstbeste Gelegenheit, sich ebenfalls zu verabschieden, was einer der Gründe war, warum er das Schuljahr vor dem Abi abgebrochen und die Ausbildung zum Tontechniker gemacht hatte. Eigenes Geld hieß eigene Wohnung – und alles war besser, als das Scheppern von Flaschen und das Keifen seiner Mutter in dem Langenhorner Reihenhaus weiter ertragen zu müssen. Nun müsste er eben auf Umwegen zu seinem beruflichen Ziel gelangen, aber das würde er schon schaffen.

Und irgendwann würde er dann vielleicht doch die Richtige treffen, die, mit der er nach dreißig Jahren noch Händchen haltend auf einer Parkbank sitzen würde. Irgendwann. Im Moment reichte ihm unverbindlicher Sex aber vollkommen – dagegen war ja nichts einzuwenden, solange es beiden gefiel.

Richard ging nach vorne an die Bar. Das Legend17 hatte noch geschlossen, aber ein paar Sachen wollten vorbereitet sein. Er prüfte alle Flaschen, holte Nachschub aus dem Lager: Whiskey, Wodka, Rum, räumte den Geschirrspüler aus, legte sich sein Mixbesteck zurecht, zapfte das abgestandene Bier aus der Leitung, bis kühles, frisches nachfloss. Er schenkte sich ein halbes Glas ein und trank es in einem Zug leer. Dann steckte er sich eine weiße Stoffserviette in den Hosenbund und ging backstage. Auf der Bühne war schon alles vorbereitet, und Richard hatte den Berliner Tourbus beim Reinkommen bereits gesehen.

Er wechselte ein paar Worte mit den Leuten, die mitgereist waren, und marschierte weiter zur Garderobe. Hier hielt er einen Moment inne. Er hatte sich diese Begegnung in den letzten Wochen oft vorgestellt. Im Grunde hatte er die Band geholt. Also, so ein bisschen managerlike war das ja schon. Richard strich sich eine lockige Strähne aus der Stirn. Er trat einen halben Schritt zurück und wieder vor, wischte sich die Hände an der Serviette ab. Eigentlich müssten sie ihm dankbar sein. Er straffte die Schultern und räusperte sich. Richards Stimme konnte schön, tief und fest klingen. Hinter der Tür hörte er Gelächter. Etwas verhaltener als geplant klopfte er schließlich an.

Ein Typ mit langen Haaren und Joint im Mundwinkel öffnete die Tür. Richard tippte auf Gary, den Schlagzeuger.

»Hi«, sagte der, den er für Gary hielt. »Kann ich was für dich tun?« Dann sah er das weiße Tuch im Hosenbund, drehte sich zu den anderen um, krümmte sich und fing an, merkwürdig tonlos zu lachen. »Der Kellner kommt heute mit leeren Händen, Jungs. Sollen wir ihm einen Drink spendieren?«

Die waren ja total bekifft, dachte Richard. Diesen Auftritt hatte er sich wahrlich anders vorgestellt.

»Lass den Scheiß, Gary«, hörte er eine tiefe Frauenstimme, und gleich darauf kam auch Mel an die Tür, die Leadsängerin, in Top und roten Paillettenleggings.

»Hi«, sagte sie lächelnd und machte eine einladende Handbewegung, um Richard hereinzulassen. Der Raum war vollkommen verqualmt, und wenn Richard den Handspiegel auf der Kommode richtig deutete, wurde hier auch schon gekokst.

»Hi«, sagte er mit etwas belegter Stimme. »Richard Hertling. Wir haben telefoniert.«

Mel hob nur die Brauen und strich sich das Top glatt. »Hi, cool.« Sie reichte ihm ein Bier. »Möchtest du?«

Richard nahm die Dose schweigend entgegen.

»Ich habe gehört, du hast dich ziemlich für uns ins Zeug gelegt«, sagte Mel. »Das war sweet.« Mel musterte ihn von oben bis unten. »Bisschen ungewöhnlich, ein Barmann, der auch Konzerte organisiert. Klär mich auf.«

Die Frau kam direkt zur Sache, dachte Richard. Direkt und rau.

»Ich denke, es ist eher umgekehrt: Ich organisiere Konzerte oder auch Bands, und wenn es sich anbietet, mache ich hier manchmal die Bar.«

Wieder hob Mel nur die Brauen, leicht amüsiert, schien es Richard. Oder kokett. Von seinem Kumpel wusste er, dass sie erst einundzwanzig war. Aber sie wirkte älter.

»Wunderbar. Gut gemacht, Rich. Du hast dich für die Richtigen entschieden«, flüsterte sie ihm leise ins Ohr, wobei ihre Locken seinen Hals kitzelten.

Entweder eine Anmache, oder es kommt von den Drogen, dachte Richard. Oder beides zusammen. Er ging nicht darauf ein.

»Darf ich dann vorstellen: Den Idioten hier hast du ja schon kennengelernt, Gary am Schlagzeug, dahinten sind Mike und Jo, Gitarre und Bass. Sagt Hallo, Jungs.« Sie wandte sich wieder zu Richard um und hielt ihr Bier hoch. »Und ich bin Mel. Auf einen fantastischen Abend, Rich.« Sie stieß mit ihm an. Er konnte ihren Atem riechen. Leicht säuerlich. Richard machte einen Schritt rückwärts und stellte das Bier zur Seite. Er fühlte sich plötzlich extrem unwohl und wollte nur noch weg.

»Ja, auf einen super Abend. Ich muss los. Wir sehen uns nach dem Konzert, okay?«

Mel lachte. »Bye, bye«, sagte sie heiser und zog an dem Joint, den sie Gary aus der Hand genommen hatte.

Zurück an der Bar wischte sich Richard die Stirn. Inzwischen hatte sich der Laden mit den ersten Gästen gefüllt.

»Schön, dass du dich auch noch an mich erinnerst«, sagte Max. »Ich kann …« Er stockte. »Was ist denn mit dir los?«, fragte er. »Hast du den Tod gesehen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Richard nur knapp. »Komm, lass uns weitermachen.«

 

Richard vergaß den Vorfall im Lauf des Abends wieder, denn die Band war als Vorband wirklich saugut, hatte auf der Bühne eine ganz andere Präsenz als in der Garderobe, ernsthaft, tiefgründig, rhythmisch, und das Legend17 war richtig voll. Nicht brechend voll, aber gut gefüllt.

Die Leute tranken Cola-Rum, Cola-Whiskey, viel Bier. Draußen schien es immer noch zu regnen oder zu schneien, denn die Menschen, die nachströmten, hatten Tropfen im Haar oder feuchte Jacken. So war die Luft im Legend17 denn auch schwülwarm. Dazu der Qualm, die Musik. Richard geriet fast in eine Art Trance. Er zapfte sich selbst ein frisches Bier. Es war inzwischen sein drittes. Alkohol war während der Schichten nicht rigoros verboten, aber so langsam sollte er mal aufhören. Schließlich war es noch nicht mal neun. Der Abend war noch lang. Ob noch viele kommen würden, die nur die Bar-Kays hören wollten?

Sein Blick wanderte erneut prüfend zum Eingang und blieb dort an einer Frau hängen, die sich ein bisschen verloren, ein bisschen versonnen im Rhythmus der Musik wiegte. Sie suchte wohl etwas – oder jemanden –, denn nach dem Ende des Songs wirkte es, als würde sie aufwachen; sie schaute konzentriert nach rechts und links, bevor die Körperspannung erneut nachließ und sie sich wieder ganz der Musik überließ, als das nächste Lied begann.

Dann fiel ihr Blick in seine Richtung, doch sie schien durch ihn hindurchzusehen. Richard beobachtete diesen Wechsel von Hingabe und Aufmerksamkeit so fasziniert, dass er gar nicht merkte, wie sich der Plastikbecher füllte und ihm das Bier über den Handrücken lief.

»Ej, Kumpel!« Max stieß ihn in die Seite. »Aufwachen!«

Juli

Juli hatte bestimmt zwanzig Minuten am Eingang gestanden und ihren Blick immer wieder über die Menge schweifen lassen, um zu prüfen, ob Caro irgendwo auftauchte. Fehlanzeige. Sie war sich jetzt schon sicher, dass die Freundin ihr morgen unter Tränen lang und breit erklären würde, warum sie das Haus für die nächsten zwei Wochen nicht verlassen könne und ihr Prof am Philosophischen Lehrstuhl sich die Nietzsche-Kapitel eben mal allein heraussuchen und vervielfältigen müsse, so schlimm, wie sie aussah. Andernfalls hätte sie das Konzert nicht geknickt. So war Caro nicht.

Juli fand sich damit ab, hatte aber auch keine Lust, länger hier herumzustehen. Die Musik der Band Master’s Dynasty war wirklich gut. Den Namen würde sie sich merken. Wer solche Bands wohl immer ausgrub?

Aber die kamen nun auch zum Ende, und Juli hatte Durst. Bevor sich in der Umbauphase alle an der Bar versammelten, wollte sie sich selbst noch schnell ein Bier holen.

Juli ging auf die Bar zu und wunderte sich, dass wirklich nur zwei Männer sich den Tresen teilten. Die mussten ziemlich fit sein. Kurz bevor sie die Theke erreichte, nahm sie wahr, wie der eine, der größere der beiden, den anderen, schmächtigeren, zur Seite schob und seinen Platz einnahm.

Den Platz, der dafür da war, sie zu bedienen. Juli runzelte die Stirn. Was war das denn jetzt?

»Hi«, sagte der Keeper. Freundliches Lächeln, sinnlicher Mund, grüne Augen.

»Hi«, erwiderte Juli. »Ein Bier. Aus der Flasche, bitte.«

»Ich glaube nicht.«

Juli hob ruckartig den Kopf und sah dem Kerl ins Gesicht. »Bitte?«

»Du bist nicht der Biertyp.«

Juli stutzte. Was war das denn für ein Knallkopf? »Darf ich das auch selbst entscheiden?«, fragte sie spitz, mit blitzenden Augen.

»Ungern«, erwiderte der Keeper, legte den Kopf etwas schief, sodass ihm eine seiner dunklen Strähnen über die Braue fiel, und wartete ab.

»Aha«, sagte Juli und ärgerte sich jetzt schon darüber, dass sie überhaupt darauf einging. »Was für ein Typ bin ich denn?«

Der Keeper legte den Kopf auf die andere Seite und biss sich auf die Unterlippe. »Lass mich überlegen … Hau nicht ab, okay?«

Juli legte ihren Zeigefinger über die Lippen. »Du hast eine Minute. Ich habe nämlich Durst.« Juli spürte ein Kribbeln, das sie verunsicherte. Sie erinnerte sich nicht, wann sie das letzte Mal geflirtet hatte.

»Auf jeden Fall mit Feige«, sagte er, und wenn Augen einladen konnten, dann fühlte sich Juli gerade sehr willkommen.

Der Keeper wandte sich ab, hantierte am Kühlschrank, schnitt zwei Scheiben Orangen, ließ Eis in ein Schippchen klimpern, füllte Soda ab, ließ im Auf und Ab seiner Hand eine klare Flüssigkeit in das Glas fließen. Am Ende steckte er ein Schirmchen in den Drink und streuselte Zucker darüber.

»Wieso denn Zucker auf den Schirm?«, fragte sie mit einem Lächeln, als er ihr das Longdrinkglas auf einem Bierdeckel hinstellte. Sie merkte, dass sie etwas flacher atmete.

»Schneit’s draußen nicht mehr?«

Automatisch sah Juli sich um, was sie sofort bereute. Für wie blöd musste der Typ sie denn halten, das Legend17 hatte ja schließlich keine Fenster. »Ist das jetzt ein Stillleben?«, fragte sie etwas hilflos. Natürlich hatte Juli schon Bekanntschaften gemacht, Beziehungen gehabt. Es war also nicht ein männlicher Gesprächspartner an sich, der sie verunsicherte, die Kontrolle verlieren ließ. Es war dieser eine. Und das irritierte Juli.

»Ich würde sagen, das ist dein Drink. Probier mal.«

Juli nahm einen Schluck aus dem schwarzen Strohhalm. Wow. Das war gut. Sehr gut. Fruchtig, aromatisch, ein bisschen herb auch, wenig Alkohol. Und toll sah es aus: die dickbauchige und doch zierliche Feige, die klare Flüssigkeit, das Eis. Fast wie ein Blumenstrauß zum Trinken.

Juli schaute auf. Ein bisschen wie das Eis in ihrem Glas schmolz auch ihr Widerstand. »Wie heißt der?«

Der Barmann lächelte. »Wie heißt du?«

Juli spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. »Juli.«

Der Barmann zog die Brauen hoch. »Nur so? Juli?«

Juli nickte. »Wie der Monat, ja.«

»Okay«, sagte der Keeper. »Dann ist das jetzt dein Drink, Juli.« Mit dem Daumen wischte er sanft einen versprungenen Tropfen des Strohhalms von ihrer Wange. »Sorry, aber das wäre sonst nicht perfekt.«

Das Gefühl seiner Haut auf ihrer elektrisierte sie. Juli nickte und traute sich nicht, ihm in die Augen zu sehen.

Sie, die eigentlich immer wusste, woran sie sich zu halten hatte, kam gerade regelrecht ins Trudeln. Wegen einer Berührung! Wegen dieser Berührung! Unscheinbar harmlos und doch so, als hätte gerade ein Blitz bei ihr eingeschlagen.

Juli legte den Kopf in den Nacken, fuhr sich mit der Hand über den Hals, lachte kehlig und sagte: »Ich geh jetzt tanzen, und du passt auf meinen Drink auf. Wenn ich zurückkomme, sagst du mir, wie du heißt, okay?«

Der Keeper nahm ihr das Glas ab.

»Selbstverständlich.«

Mit einem Lächeln lehnte sich Richard an die Vitrine mit den Getränken zurück und verschränkte die Arme. Juli konnte es nicht genau sehen, aber sie glaubte, dass er sie nicht aus den Augen ließ.

 

Juli tanzte, kam ab und an zur Bar zurück, nahm einen Schluck, wechselte ein paar Worte mit dem einen Keeper, beobachtete den anderen, ihren, aus den Augenwinkeln, versuchte ein bisschen, in seiner Nähe zu sein, blieb aber doch weit genug weg, dass es ihn einen Schritt gekostet hätte, auf sie zuzugehen. Sie hoffte, dass er diesen Schritt tun würde. Mehr denn je hätte sie sich Caro an ihre Seite gewünscht. Die war in solchen Dingen einfach geübter als sie selbst. Aber mit Caros Erscheinen rechnete Juli nicht mehr. Immerhin aber war sie dadurch frei, zu tun, was ihr gefiel.

Die Bar-Kays hatten längst angefangen zu spielen, doch was das Highlight des Abends hätte werden sollen, war für Juli nur mehr ein Hintergrundrauschen. Julis Highlight war der Mann am Tresen. Richard. So viel wusste sie nun schon. Vielleicht könnte sie mit ihm noch ein paar Worte wechseln, wenn seine Schicht vorbei war. Ob er das wollte? Ganz schlau wurde sie aus seinen Signalen nicht. Aber wenn er wollte, dann wollte sie auch. Sie hatte so lange keinen Mann mehr geküsst. Und dieser Richard, der war ganz sicher ein super Küsser. Das sah man ihm einfach an.

Richard

Richard konnte das Ende des Abends kaum erwarten. Dieses Mädchen hatte was. Vom ersten Moment an, als er Juli am Eingang gesehen hatte, hatte er sich gewünscht, dass diese Frau heute nicht allein nach Hause ging.

Als sich endlich auch die After-Show-Party ausdünnte, warf Richard sein Geschirrtuch zur Seite, gab Juli ein Zeichen und wollte zu ihr, als er plötzlich Mel auf sich zutorkeln sah. Mit großer Geste und in einem langen, weiten und fast durchsichtigen Kleid, eindeutig angetrunken und bekokst oder beides, kam sie nach vorn in den Konzertraum. Mist, dachte Richard, der davon ausgegangen war, dass die Band bereits abgereist war. Diesen Auftritt brauchte er jetzt ganz und gar nicht.

Mel postierte sich direkt neben Juli an der Bar und drängte sie fast ein wenig zur Seite.

»Rich«, rief sie zu laut. »Rich, mein Schatz. Du hast mir noch gar nicht gesagt, wie dir das Konzert gefallen hat. Rich, du Band-Bar-Keeper«, lachte sie, als sei das komisch.

Juli hob die Brauen und warf Richard einen fragenden Blick zu.

»Ihr wart klasse«, erwiderte Richard knapp, professionell und dennoch ein wenig verhalten. Die Begegnung war ihm sichtlich unangenehm.

»Und was ist das hier für ein Vögelchen?«, fragte Mel Richard mit einem kurzen Blick von der Seite auf Juli und rutschte dabei einmal mit dem Ellbogen von der Theke. »Singt die auch und möchte hier auftreten? Oder will sie nur mit dir ins Bett?« Mel lachte wieder laut auf.

Juli straffte die Schultern und ging etwas auf Abstand.

In dem Moment kam Richard um den Tresen herum, fasste Mel sanft, aber entschieden am Oberarm, flüsterte ihr etwas ins Ohr, das sie erneut auflachen ließ, und bugsierte sie schrittweise in Richtung Künstlergarderobe. Zu seinem Glück kamen ihm aber auch schon Mike und Jo entgegen, beide ebenfalls nicht mehr ganz nüchtern, aber offenbar doch klarer als die Sängerin.

»Ej, Mel, c’mon. Wir machen die Flatter. Ist schon alles im Bus.«

Kumpelhaft legte Mel beide Arme um ihre Musiker und gab ihnen rechts und links einen Kuss auf die Wange. »Auf euch ist einfach immer Verlass, Jungs«, sagte sie, drehte sich kurz zu Richard um und warf ihm eine Kusshand zu. »See you, sweety. Und danke.«

Dann waren sie verschwunden.

Richard atmete einmal tief durch. Das war jetzt knapp, dachte er, drehte sich um und hielt nach Juli Ausschau. Am Tresen war sie aber nicht, und auch auf der Tanzfläche konnte er sie nicht ausmachen.

Mist!, dachte er, sie ist abgehauen, und er konnte es ihr nicht mal verdenken. Die Frau, die sein Herz berührt hat. Seine Traumfrau der Nacht. Das war auf neue Art und Weise so gar nicht nach seinem Geschmack. Diese Juli hatte was, und er wollte unbedingt herausfinden, was es war. Gerade als Richard noch überlegte, ob sie ihm irgendeinen Hinweis gegeben hatte, wo er vielleicht nach ihr suchen könnte, legte ihm jemand von hinten die Hände auf die Augen.

Richard spürte, wie eine Welle der Erleichterung ihn durchströmte. Er erkannte sie an ihrem Geruch. Er fühlte die Weichheit ihres Körpers, ihre Brüste an seinen Rippen, ihre Nasenspitze an seinem Hals. »Wer war das denn eben?«, fragte sie sanft, und ihr Atem wärmte seinen Nacken.

Richard schloss die Augen. Nicht aufhören. Niemals aufhören. Ganz sachte suchten seine Hände ihre Hüften, und seine Finger berührten kaum spürbar den Stoff ihrer Hotpants. »Ich bin so froh, dass du noch da bist«, sagte er leise und erschrak fast darüber, wie ernst er es meinte.

»Ich war kurz auf dem Klo. Das ist ja hoffentlich nicht verboten«, erwiderte sie ebenso leise und rührte sich nicht.

»Macht fünfzig Pfennig«, konterte er.

»Sorry, ich hab kein Kleingeld dabei.«

»Dann«, sagte er und hielt den Zeitpunkt für gekommen, sich umzudrehen, »müssen wir uns was anderes überlegen.«

Sie standen dicht an dicht, und Richard fuhr ein Schauer über den Rücken. Ein paar Haarsträhnen hingen Juli inzwischen lose herab, der Mascara war vom Tanzen ein wenig verschmiert, doch ihr Blick war trotz der körperlichen Müdigkeit sinnlich und hingebungsvoll.

Statt etwas zu sagen, hob sie nur kurz die Augenbrauen. Richard legte ihr den Finger unters Kinn und hob es leicht an, und dann tat er es einfach: Er küsste sie auf die Lippen, die weich und warm waren. Nur kurz. Dann ließ er sie los und lächelte. »Sag Bescheid, wenn du wieder musst.«

Juli hielt noch einen Moment länger die Augen geschlossen, und Richard beobachtete ihren Puls in der Halsgrube. Es ging nichts, absolut nichts über diese ersten Momente der Annäherung. Wenn alles anfing, wenn alles vor ihnen lag.

Richard zog das Geschirrtuch aus dem Hosenbund und warf es sich über die Schulter. »Ich mach hier noch klar Schiff, und dann hab ich eine Überraschung für dich. Du kannst hier an der Bar warten, okay?«

Juli sah ihn an. Ihr Mund war ganz trocken. »Okay.«

Juli

Als Richard weg war und sie ihn dann unten im Keller ein paar Worte mit Max wechseln hörte, der offenbar die Abholung der leeren Fässer vorbereitete, lehnte sich Juli an einen Pfeiler und schloss noch einmal die Augen.

Was war das denn?, dachte sie nur. Wieder und wieder rief sie die Erinnerung an diesen kurzen, zarten Kuss auf, den dieser Mann ihr gerade gegeben hatte. So flüchtig wie ein Schmetterlingsschlag, und doch stand sie nun mitten in einem Tornado, den er ausgelöst hatte. Juli musste grinsen. Das Kribbeln in ihrem Körper wollte gar nicht mehr aufhören, und wenn es nach ihr ginge, sollte das für diese Nacht genauso gelten. Juli gehörte nicht zu den übermütigsten oder unbedachtesten Frauen, aber heute wollte sie alles in die Waagschale werfen. Sie kannte diesen Richard nicht. Vor allem aber kannte Juli solche Gefühle nicht. Dieses Brennen. Dieses Verlangen. Es war wie ein Sog, und sie war bislang noch nicht mal an den Rand des Strudels geschwommen. Und wenn sie heute darin untergehen sollte, dann wäre das ein fairer Preis, befand Juli.

Hätte Juli sich genau in dieser Sekunde ein bisschen besser zugehört, vielleicht hätte sie dann die Augen geöffnet, ihre Müdigkeit gespürt, die Tasche gepackt und das Legend17 im Morgengrauen verlassen.

Vielleicht.

Vermutlich aber nicht.

Es gibt Dinge, die müssen passieren. Und der Preis wird gezahlt, egal, ob fair oder nicht.

Etwa zwanzig Minuten später war Richard zurück, einen Stapel Zettel in der Hand.

Max kam ebenfalls aus der Luke nach oben gekrochen und richtete seinen Blick abwechselnd auf sie und auf ihn. Dann nickte er kurz, legte das Handtuch über den Spülmaschinengriff und tippte sich kurz an die Stirn. »Alles klar. Viel Spaß euch beiden.«

Und weg war er.

»Den hast du ja im Griff«, meinte Juli knapp.

»Es ist vier Uhr morgens. Da darf so eine Schicht schon mal enden.« Er streckte seine freie Hand nach ihrer aus. »Und jetzt machen wir unsere eigene Party. Hast du irgendwelche Lieblingslieder?«

Juli lachte. »Was?«

»Du hast jetzt die einmalige Chance, auf einer Bühne ganz für dich allein deine größten Hits zu singen … na ja, sofern ich den Text dazu habe.« Er lachte kurz auf. »Nur du, die Musik, das Licht, das Podium. Und ich bin dein Fan.«

»Ich soll singen? Wie kommst du darauf, dass ich das möchte?«

»Hast du als kleines Mädchen nie im Wohnzimmer gestanden und mit dem Kochlöffel in der Hand deinen Eltern etwas vorgesungen?«

Juli merkte, dass sie rot wurde. Zum Glück war es ja dunkel. Doch, das hatte sie.

Richard machte einen Schritt auf sie zu. »Und heute bekommst du ein echtes Mikro und eine echte Bühne. Wie in diesen Karaoke-Bars. Hast du davon schon gehört?«, fragte er leise.

Hatte sie nicht.

»Ich kann nicht singen«, versuchte sie es halbherzig, denn ihr Herz schlug bereits vor nervöser Vorfreude.

Richard küsste sie flüchtig auf den Hals. »Jeder kann singen. Einen Wunsch?«

»Gloria … Gaynor«, erwiderte sie beinahe schüchtern.

»Wusste ich’s doch«, lachte Richard. »Sekunde.«

Die letzten Gäste waren inzwischen gegangen, und Richard schloss, Juli im Schlepptau, die Tür des Legend17 von innen ab, machte sich auf den Weg zur Bühne, erklomm die drei Stufen mit ihr, drückte ihr ein Mikrofon und einen der Zettel in die Hand und sagte: »Showtime, Traumfrau der Nacht.«

Und da stand sie, Juli, im Dunkeln auf der Bühne eines Musikklubs in Hamburg, morgens um vier, mit klopfendem Herzen und einem Mikrofon in der Hand.

Sie fragte sich, was Hannes wohl sagen würde, wenn er sie jetzt hier so sähe. Geschieht ihm recht, dachte sie nur. Was hat er mich auch hängen lassen. Gott sein Dank hat er mich hängen lassen. Juli grinste. Das war doch mal ein Abenteuer, und wenn sie recht überlegte, war ihr das ziemlich neu. Erschreckend eigentlich, denn sie fühlte sich besser denn je. Sie fühlte sich wunderbar!

Und dann kam der Spot! Schlaglicht auf Juli auf der Bühne.

Und dann die Melodie. Der Sound, von allen Seiten. Der so bekannte Rhythmus. Voll und klar. Gloria Gaynor.

Juli sah auf den Zettel:

I am what I am,

I am my own special creation …

Richard drückte auf Pause. »Sing, Juli«, hörte sie ihn durch die Lautsprecheranlage. Wo er stand, wusste sie nicht. Sie sah nur das gleißende Licht um sich herum. »Das ist dein Song. Das Mikro ist an. Sing.«

So come take a look, give me the hook, or the ovation…

Und Juli sah auf das Blatt und hob das Mikro zum Mund und bewegte die Lippen …

It’s my world, that I want to have a little pride, my world,

And it’s not a place I have to hide in …

… und ihre Augen begannen zu glänzen. Ihr Körper spannte sich, und sie erhob die Stimme …

Life’s not worth a damn,

Till you can shout out, I am what I am …

… und sie hob die Arme und sang und drehte sich und sang lauter, und irgendwann vergaß sie alles um sich herum. Und sang.

Auf Gloria Gaynor folgten Dancing Queen und San Francisco, die Bohemian Rhapsody natürlich, dann Lady in Black, Moviestar – Richard spielte treffsicher alles, was noch Groove hatte, ohne in diesen neumodischen Discopop abzudriften, gleichzeitig aber doch Mainstream und Emotion genug war, um das Herz jeder Frau von Anfang zwanzig höherschlagen zu lassen. Er war Frauenkenner und Musikliebhaber, Frauenliebhaber und Musikkenner, und er täuschte sich auch diesmal nicht: Legte Richard nicht schnell genug auf, kam von Juli bereits ein flehentliches: »Hast du noch eins? Eins noch!« Und immer folgte noch eins. Und Juli sang, und jeder, der sie so hätte sehen können, hätte das Glück in ihr erkannt. Die vollkommene Bereitschaft.

Richard sah sie. Und er erkannte. Nicht zuletzt seine eigene Sehnsucht.

Irgendwann wurden die Lieder auch deutsch: Hilde Knef, Marianne Rosenberg und bei Himbeereis zum Frühstück kam schließlich auch Richard auf die Bühne und nahm ihr das Mikro aus der Hand:

Du –

ich seh dich noch wie heut’

du trugst ein Hochzeitskleid …

Verschmitzt grinste Richard Juli an und holte sie damit ein wenig zurück aus ihrer Trance, und als das Stück zu Ende war, umfasste er eng ihre Taille, drückte sie ein wenig an sich und sagte: »So, Julimond, du hast die Wahl: Himbeereis zum Frühstück oder Highway to Hell?«

Juli lehnte ihren Oberkörper ein wenig zurück in Richards Arm: »Auf die Gefahr hin, dass das eine zum anderen führt: Ich bin für Frühstück.«

Und dann küssten sie sich, er sie, sie ihn, lang, innig, vertraut, besiegelnd. Richard schmeckte herb nach Gin und Bier. Julie süß wie gezuckerter Schnee im April.

***

Es wurde bereits wieder dunkel, als Juli sich am Samstag in den Laken rekelte, einen Arm nach Richard ausstreckte, um sich zu vergewissern, dass sein warmer Körper tatsächlich noch neben ihr lag, sich an seine Seite drängte und ihn auf die Schulter küsste. Ob im Schlaf oder Halbschlaf, bewegten sich seine Finger wie zu einer Berührung.

Es war fast elf Uhr vormittags gewesen, als sie schließlich in ihrer Wohnung angekommen waren. Zu sich nach Hause wollte Richard nicht, wegen seines etwas »gewöhnungsbedürftigen« Mitbewohners, wie er sagte. Aber Juli war das auch ganz recht so. Lieber nahm sie einen Fremden mit in ihre Wohnung, als dass sie zu einem Fremden ging. Ihr war auch so schon nicht ganz geheuer, wozu sie bereit war in dieser Nacht und wie blind sie Richard vertraute. Das war alles andere als typisch für die Tochter von Eisenwaren Sommer.

Nach dem Legend17 hatte Richard sie an die Hand genommen: »Bist du gut zu Fuß?«, hatte er gefragt. »Ich möchte dir etwas zeigen.« Und obwohl Juli das Gefühl hatte, nicht einen Schritt mehr tun zu können, hatte sie stumm genickt und gedacht, dass sie lieber zusammenbrechen würde, als auch nur eine Sekunde auf Richards Nähe zu verzichten.

Und tatsächlich führte er sie zunächst Richtung Hafen die Elbe entlang, dann am Baumwall in den Freihafen, von dort an den alten Hafenspeichern vorbei, an Industriebrachen, Kaianlagen und Raffinerien längs, bis Juli rechts fast die Pfeiler der riesigen Köhlbrandbrücke anfassen konnte. Sie war überrascht, welch riesiges Areal sich hier so unbehaust ganz nahe der großen Stadt entdecken ließ.

Vor einem leer stehenden Fabrikgebäude stoppte Richard. »Jetzt nur noch ein paar Stufen«, sagte er und betrat das Gebäude durch eine halb aus den Angeln gefallene Eisentür. Sie stiegen die fünf Stockwerke der Fabrik hoch und liefen dann nach rechts in eine Art Nebengebäude, das Juli von unten gar nicht gesehen hatte. Irrte sie sich, oder war das eine Kapelle?

»Das hier ist eine ehemalige Wollfabrik. Und der Eigner, Helmut Wismer, ein gläubiger Christ, wollte seinen Schäfchen die Möglichkeit geben, zu beten und in Stille der gefallenen Soldaten zu gedenken.« Richard schien ihre Gedanken zu erraten. »Komm!« Noch weiter zog er sie hoch in einen Turm mit einer Glocke, der jedoch der Klöppel fehlte. Richard öffnete eine weitere Tür, und Juli fand sich auf einem kleinen Rundweg wieder, der ihr einen atemberaubenden Blick in alle Richtungen eröffnete.

»O mein Gott, Richard«, sagte sie. »Das ist … unglaublich.«

Richard zog sie auf die Ostseite, wo ganz zaghaft der Tag in leichten Rosé- und Gelbstichen die Nacht ablösen wollte.

Die beiden setzten sich auf den Steinboden, und Juli schmiegte sich eng an Richard, den Kopf auf seiner Schulter.

»Ich habe den Platz mal aus Zufall entdeckt, während eines Sommerjobs. Es ist zwar nur Industrie, mit viel Angst, Schweiß und Tränen besetzt, und ich erkenne auch die Romantik nicht, die viele darin sehen, aber ich mag es hier trotzdem. Vielleicht gerade deswegen …«

Juli lachte kurz auf. »Du redest schon wie Hannes.«

»Wer ist Hannes – dein Freund?« Die Worte kamen schnell, aber nicht unbedingt nervös.

Juli zögerte. »Eigentlich ist er mein Chef«, sagte sie. »Aber ja, er ist auch mein Freund, ein Freund«, präzisierte sie.

»Das ist gut!«

»Was?«

»Alles«, sagte Richard, neigte den Kopf ein wenig zur Seite, biss sich kurz auf die Unterlippe und gab Juli dann einen Kuss auf die Wange. »Hast du Hunger? Ich könnte so langsam mal was zu essen vertragen. Und was zu trinken. Es gibt in der Nähe einen ganz guten Laden. Frische Brötchen, Rührei, Speck, Hering …« Er stand auf, ohne ihre Antwort abzuwarten, und reichte ihr die Hand, um sie hochzuziehen.

»Klingt super! Ich sterbe fast.«

Er umfing sie und drückte sie an sich. Juli sog den Duft der Lederjacke und seiner Haut ein.

»Solange ich bei dir bin, Julimond, stirbt hier niemand. Dafür werde ich sorgen. Und jetzt komm.«

 

Nachdem sie sich in dem urigen Laden, in dem letzte Nachtschwärmer und erste Hafenarbeiter in trautem Miteinander Bier oder Kaffee tranken und ihre Brötchen aßen, gestärkt hatten, machten sie sich endlich, endlich auf den Weg in Julis mit Batiktüchern, Traumfängern, Schellenketten und Duftschälchen anrührend zudekorierte Wohnung, die eher an ein Indianerzelt erinnerte. Juli ließ sich direkt und in voller Montur auf ihr Bett plumpsen. Obwohl sie hundemüde war, war an Schlaf nicht zu denken. Die ganze Zeit schon hatte Juli diese kurzen elektrischen Schläge gespürt, wenn Richard sie kurz berührt oder angesehen hatte. Ihr Körper stand gänzlich auf Empfang, und Juli atmete schwerer, als Richard sich zu ihr kniete, ihr mit dem Finger eine Strähne aus dem Gesicht strich, über ihren Hals fuhr, das Dekolleté, über dem Stoff ihres Tops die sanften Linien ihrer Brust nachzeichnete und sich langsam mit der anderen Hand die Jacke auszuziehen begann.

Er studierte ihren Körper, bemerkte, wie ihr Atem tiefer wurde, beobachtete, wie sie die Arme mit geschlossenen Augen über den Kopf legte, sah ihre Erregung und spürte seine eigene wachsen.

»Verlieb dich nie in den Sex«, sagte er noch mit belegter Stimme.

Und Juli dachte, dass es dafür schon jetzt zu spät war, und beschloss, ihrer Verliebtheit in den ganzen Richard danach auch noch genügend Platz einzuräumen. Aber jetzt erst mal, aber jetzt …

 

Juli drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Alles an ihr roch noch danach: nach Lust, nach Leidenschaft, nach Sex … Dieses warme Gefühl, dem immer auch der Hauch des Verbotenen anhaftete. Warum bloß? Sie war erwachsen. Und frei. Warum sollte sie ein schlechtes Gewissen haben, wenn ein Mann ihren Körper eroberte – wissend, einfühlsam, in einvernehmlicher, wortloser Kommunikation?

Juli dachte an ihre Mutter und ihren Vater. Für eine lustvolle und freie Kindheit war die Frauenbewegung vor zehn Jahren definitiv zu spät gekommen. Da konnte man für Selbstbestimmung auf die Straße gehen und »Mein Körper gehört mir!« skandieren – der Körper, um den es ging, wusste genau, dass er nicht sich selbst gehörte.

Juli seufzte, und darin lag beides: Bedauern und größte Zufriedenheit, denn so oder so: Der Sex mit Richard war eine Erweckung gewesen. Der absolute Hammer, und wenn sie nur daran dachte, begann es schon wieder überall zu kribbeln.

Gleichwohl nahm das schlechte Gewissen hartnäckig seinen Platz ein: Erstens nämlich hatte Juli nach dem zweiten Anruf das Telefon ausgestöpselt, weil sie wusste, dass es nur Caro sein konnte. Und zweitens hatten sie nicht verhütet. Juli nahm nicht die Pille, und Richard hatte kein Kondom benützt. Seine Frage zu dem Thema war nur ein Blick gewesen, kurz bevor er in sie eindrang. Ihre Antwort das Umfassen seiner Hüften. »Ich pass auf«, hatte er noch gemurmelt, und da Juli gerade erst ihre Tage gehabt hatte, sollte das wohl reichen … Und im schlimmsten Fall gab es ja auch in der Bundesrepublik inzwischen Mittel und Wege.

Langsam kehrten jetzt auch bei Richard die Lebensgeister zurück. Er drehte sich auf die Seite und legte ein Bein und einen Arm um Juli. Dann gab er ihr einen Kuss auf das Ohr. »Guten Morgen, schöne Frau.«

Juli lachte. »Guten Morgen ist gut. Es wird schon wieder dunkel.«

»Ach was. Ist das so?« Er streckte sich. »Dann wird es ja höchste Zeit für einen Imbiss und das Downstairs in Ottensen. Kennst du den Laden?«

»Nein. Was ist da?«

»Da spielt heute eine ganz angesagte Band aus Irland. Hast du Lust mitzukommen?«

Juli spürte einen kleinen Stich. Sie wäre lieber mit Richard hiergeblieben, hätte gern etwas gekocht, sich unterhalten. Sie war noch ganz gerädert von der letzten Nacht. Außerdem war sie so viel Alkohol nicht gewöhnt und hatte wirklich keine Lust auf den nächsten dunklen Schuppen und laute Musik. Aber wahrscheinlich freute er sich schon seit Längerem auf das Konzert und konnte ja nichts dafür, wenn sie ihm jetzt »dazwischenkam«. »Wenn es dir wichtig ist, komme ich mit«, sagte sie schließlich vage.

»Nö, nicht unbedingt, wenn du keinen Bock hast. Aber das könnte ganz lustig werden.«

Julis Herz machte einen Freudensprung. Also würde er doch ihretwegen darauf verzichten. Das war doch eigentlich alles, was zählte. »Und ob ich Bock habe«, sagte sie und umschlang ihn ebenfalls. Der Rest konnte warten.

Und so ließen die beiden sich auch durch die zweite Hamburger Nacht treiben, aßen Bratnudeln mit Stäbchen, lasen sich die Botschaften ihrer Glückskekse vor, küssten sich auf offener Straße, tranken zu viel Bier, lachten so sehr, dass Juli sich hinhocken musste, um sich nicht in die Hose zu machen, tanzten zu irischem Folk, miteinander und mit anderen, immer wieder miteinander. Als das Downstairs dann um vier Uhr morgens schloss, wäre Juli eigentlich gern wieder mit Richard nach Hause gegangen, aber an der U-Bahn-Station Reeperbahn beugte er sich zu ihr hinunter, küsste sie auf die Halsbeuge und sagte: »So, Sweetheart, jetzt muss ich aber los.«

Mit einem Schlag war Juli nüchtern. »Du kommst nicht mehr mit zu mir?«, fragte sie.

»Nö. Ich muss duschen und überhaupt. Mal nach dem Rechten sehen.«

Unnötig zu sagen, dass auch Juli ein Badezimmer mit fließendem Wasser hatte.

»Okay«, sagte sie und biss sich auf die Unterlippe. Sehen wir uns wieder?, war der Satz, den sie dabei zerquetschte.

Zum Abschied nahm Richard sie fest in den Arm, küsste sie lange. »Das war wunderschön, Julimond. Ich melde mich, okay?«

Juli nickte. Sie wusste nicht recht, was sie von alldem halten sollte. Hätte Richard nicht zumindest nach ihrer Nummer fragen müssen?

Juli

»Mein Gott, Juli, na endlich!«, brüllte Caro in den Hörer. »Kannst du dir vorstellen, dass ich fast umkam vor Sorge? Ich dachte, du bist tot, entführt, verirrt vor Neuwerk und die Flut kommt … Ich rechnete schon fast mit einer Spontanergrauung … ich hoffte darauf … na ja, beides vielleicht. Dieses Rot sieht vielleicht beknackt aus. Das musst du dir ansehen«, quasselte sie, ohne dass Juli auch nur ansatzweise dazwischenfunken konnte. »Aber im Ernst jetzt, wo warst du denn?«

»Liebste Caro«, flötete Juli und biss von ihrer Sesamstange ab, »wenn du wie verabredet um neunzehn Uhr ins Legend17 gekommen wärst, dann wüsstest du, wie sich dieser Abend weiterentwickelt hat. Die Frage ist also nicht, wo ich war, sondern was du gemacht hast!« Sollte Caro erst mal ihr Herz ausschütten. Vorher würde sie sowieso nicht richtig zuhören.

»Ach, Juli«, fing sie auch direkt an zu jammern. »Ich hätte so was von auf dich hören sollen. Diese Minipli ist der letzte Scheiß. Als würde mir gekräuseltes Geschenkband aus dem Kopf wachsen. Und dieses Rot – das hat schon jetzt im Licht einen Grünstich … Ich sehe aus wie ein Alien.«

»Caro …« Juli spürte, dass sie eingreifen musste. In solchen Situationen flossen sonst gern mal Tränen.

»Was?«, maulte diese.

»Caro, ich bin mir sicher, dass du maßlos übertreibst. Ob mit Locken schulterlang oder ohne. Selbst mit Glatze würdest du noch umwerfend aussehen.«

»Du meinst, ich sollte mir eine Glatze rasieren?«

»Nein, natürlich nicht.« Juli hatte es ja schon vermutet, dass Caro mal wieder maßlos übertrieb. »Ach, Caro, komm schon. Wir treffen uns morgen, und dann werfe ich einen Blick auf das ganze Ausmaß der Tragödie.«

»Wieso morgen erst? Was machst du denn heute Abend? Wo warst du überhaupt?«, fand die Freundin jetzt zu ihrer Ausgangsfrage zurück.

Und Juli fing an zu grinsen, satt und breit. Und dachte an Richard und hatte schon wieder dieses warme Kribbeln im Bauch.

»Ich war … unterwegs«, meinte Juli sparsam. Je langsamer sie erzählte, desto länger der Genuss.

»Ja, natürlich warst du unterwegs. Am Freitag. Jetzt ist Sonntagnachmittag. Das Konzert war also gut?«

»Mhm … war es.«

»Juli, geht’s vielleicht noch knapper? Was ist denn los mit dir? Du klingst auch ganz komisch.«

Juli lachte. »Echt? Wie klinge ich denn?«

»Ich weiß nicht, bekifft irgendwie. Hast du gekifft?«

Juli lachte noch mehr. »Nein, habe ich nicht.«

»Juli?«

»Ja?«

»Mit wem warst du aus?«

Juli fasste sich an die Brust. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Ohne Witz. »Mit Richard.«

Schweigen. Dann: »Was?«

»Ich sagte: mit Richard.«

Erneutes Schweigen. Und dann, so meinte Juli, schien bei Caro endlich der Groschen zu fallen, denn sie hörte ein lang gezogenes Ausatmen. »Nä?«

Und Juli zog die Beine an, kratzte sich die Wade und sagte bestens gelaunt: »Doch!«

»Und who the fuck ist dieser Richard?«

Und Juli begann zu erzählen, von Hannes, der sie versetzt hatte, vom Schnee, wie sie auf sie, Caro, gewartet hatte, von diesem Barmann und seinen Augen, wie der ihr das Bier verweigert und ihr stattdessen einen Feigencocktail gemixt hatte, vom Singen, vom ersten Kuss, vom Himbeereis, von allem. Sie ließ nichts aus, bis auf ein paar Deziliter Alkohol und die Sache mit dem Abschied. Bei beidem hätte Caro auf eine Art nachgehakt, die Juli nicht geschmeckt hätte.

»Und du hattest direkt in der ersten Nacht Sex … und der war gut, sagst du?«

»Bom-bas-tisch.«

»Wow«, sagte Caro nur. »Und jetzt bist du verknallt, so richtig?«

»So richtig richtig.«

»Mensch, Juli, das freut mich so für dich. Das freut mich wahnsinnig. Und der klingt gut, dein Richard. Der klingt saugut. Wär der nicht auch was für mich?«, setzte sie kokett nach.

»Bis Freitag vielleicht, aber jetzt, mit deinen roten Korkenziehern auf dem Kopf … ich glaube nicht«, scherzte Juli mit.

Dann war es einen Moment lang still in der Leitung.

»Bist du noch dran?«, fragte Juli. »Ich hab das nicht so gemeint mit den Haaren …«

»Ja… klar. Ich überleg nur grade was.« Der Stimme nach war es etwas Ernstes.

»Klär mich auf.«

»Ich meine, es ist ja nicht wichtig und so, eigentlich blöd, dass ich überhaupt frage, aber hast du dir mal überlegt, wie du das Hannes sagst?«

Juli legte sich den Bademantel über die Füße und zog an einem Faden. »Hannes? Wieso?«

»Na ja … ich meine ja nur.«