Wenn wir von Nähe reden - Jana Bennings - E-Book

Wenn wir von Nähe reden E-Book

Jana Bennings

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Beschreibung

Über Mütter und Töchter und die Kunst, zu vergeben »Wenn wir von Nähe reden« ist ein emotionaler, authentischer und sehr berührender Mutter-Tochter-Roman über die komplizierte Mischung aus Liebe und Widerspruch, die uns mit unseren Müttern – und Töchtern – verbindet.  Ein Nachmittag im April droht die Beziehung zwischen Iris Zimmermann und ihrer 16-jährigen Tochter Livia für immer zu zerstören: Wie so oft hat Iris es nicht geschafft, rechtzeitig aus dem Büro zu kommen, um Livia abzuholen. Wie so oft hat Livia sich schließlich ihr Fahrrad geschnappt, um doch noch pünktlich bei ihrem Sport-Workshop zu sein. Doch diesmal hat die sportbegeisterte Teenagerin, die sich Hoffnungen auf eine Olympia-Teilnahme machen darf, einen schweren Unfall. Von jetzt auf gleich scheint Livias großer Traum beendet. Iris zerbricht beinahe an ihren Schuldgefühlen – bis sie erkennt, dass sie kämpfen muss, will sie Livia – und sich selbst – nicht verlieren.  Liebevoll und mit ganz viel Gefühl erzählt Jana Bennings in ihrem Familienroman, wie es ist, zwischen Liebe und Schuldgefühlen beinahe zerrissen zu werden. Und wie stark die Bindung zwischen Müttern und ihren Töchtern am Ende trotz allem ist.  

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Seitenzahl: 332

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Jana Bennings

Wenn wir von Nähe reden

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Seit 16 Jahren ist Iris Zimmermann alleinerziehende Mutter – der Vater ihrer Tochter Livia, so heißt es, kam noch vor der Geburt ums Leben. Mit all ihrer Kraft versucht Iris, Livia zu beschützen. Doch die sportbegeisterte Teenagerin, die sich Hoffnungen auf eine Olympia-Teilnahme machen darf, droht ihr Stück für Stück zu entgleiten. Als Livia dann auch noch einen schweren Unfall mit dem Fahrrad hat, der ihren großen Traum abrupt beendet, zerbricht Iris beinahe an ihren Schuldgefühlen.

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Drei Monate später

Anmerkung und Danksagung

 

 

 

Für Emma,du bist auch eine Hochleistungssportlerin, nur anders

 

 

 

Die Iris wird auch als Schwertlilie bezeichnet und steht für eine positive Nachricht. Gleichzeitig ist sie ein Symbol für Kreativität, Energie und Beständigkeit. Eine verschenkte Iris sagt dem Beschenkten: »Ich stehe bedingungslos zu dir«, und ist so ein Zeichen der Treue.

Prolog

Iris lächelte, als sie die beiden Grappa-Gläser in die Spüle stellte. Seit Katja mit diesem Tobi, einem Biobauern aus dem Alten Land, zusammen war, kam sie jedes Mal mit einem neuen selbst gebrannten Obstler an: Zwetschge, Mirabelle, Birne-Zimt. Gestern war es Kirsch-Ingwer gewesen. Ausgesprochen lecker, das musste Iris zugeben. Aber sie hätte nach dem zweiten Glas Schluss machen sollen. Das gab ihr Kopf ihr deutlich zu verstehen. Iris trank so gut wie nie Alkohol. Sie mochte das Zeug einfach nicht. Aber der Abend mit ihrer besten Freundin war es, wie immer, wert gewesen. Die Vorstellung, wie Katja, die Familienanwältin, sich jetzt an ihren freien Wochenenden im Gemüseanbau verdient machte, war einfach zu komisch.

Iris legte sich kurz einen nassen Lappen an die Stirn. Schwimmen wäre jetzt genau das Richtige.

Es war Sonntag, und wenn nichts anderes anstand, ging sie sonntags mit ihrer Tochter fast immer schwimmen. Ein Ritual.

»Hast du deine Tasche gepackt, Schatz?« Iris merkte, wie sie sich unmerklich anspannte.

Pause. Iris seufzte. »Libby?!«, rief sie, nun schon eine Oktave höher.

»Was?«, kam es schließlich aus dem Nebenzimmer zurück, aus dem lautstark Popmusik erklang. Sia oder Lukas Graham – irgendwas, das sich Iris nie merken konnte.

»Ich habe gefragt, ob du deine Schwimmsachen in die Tasche gepackt hast.« Sie versuchte, heiter zu klingen.

»Kannst duuu das nicht machen?«, fragte ihre Tochter nun in diesem süßen Kleinkindton zurück, mit dem Livia sie schon so oft hatte um den Finger wickeln können. Ein bisschen maulig, ein bisschen einlenkend. Wenn Iris dem jetzt nachgab, hatte sie für zehn Minuten Ruhe. Um dann vor der nächsten Herausforderung zu stehen. Iris fuhr sich durch die schulterlangen Haare.

»Nein! Kann ich nicht. Mach dich bitte fertig. Wir fahren in fünf Minuten.«

Die Tür ging auf, und ein hochgewachsenes, sechzehnjähriges Mädchen mit den dunkelbraunen Augen ihrer Mutter kam in den Flur gestampft, um energisch ihren Sportbadeanzug und die Taucherbrille in die offene Schwimmtasche zu schmeißen.

»Zufrieden?«

In dem früher so warmen Blick ihrer Tochter lagen Gleichgültigkeit und Provokation. Iris’ Herz zog sich zusammen.

Livia war oft so schroff in letzter Zeit. Als hätte sich irgendwann die Währung geändert, und Vertrauen wurde mit Zorn getauscht, Liebe mit Abwehr.

Katja hatte versucht, sie zu trösten: Das renkt sich schon wieder ein, hatte sie gesagt, das ist normal in dem Alter. Iris war sich da nicht so sicher.

Entschlossen griff Iris nach der Badetasche. Es war Sonntag, und sie fuhren in die Schwimmhalle mit dem Zehnmeterturm. Und dieses Mal würde sie springen. Sie hatte es Libby versprochen. Hundertmal. Und sich selbst. Tausendmal.

Es war doch nur dieser eine Schritt. Augen zu und vorwärts.

Es konnte nichts passieren. Beine zusammen. Kerzengerade Haltung und sich einfach fallen lassen. Ins hellblaue, erleuchtete Wasser.

Von unten sah es immer so schön aus, weich und vertraut.

Aber wenn man dann oben stand, gab es nur die Tiefe.

Doch dieses Mal würde sie den Schritt gehen. Sie musste es tun.

Für sich. Für Libby.

 

»Kommst du – Mama?«

Iris durchströmte ein warmes Gefühl. Livia betonte das nicht oft so, dieses Mama, so voll und rund und mit dieser Leerstelle nach dem »Kommst du …«.

Iris schöpfte Mut. »Na klar.«

Gemeinsam stiegen sie die Wendeltreppe des Sprungturms hinauf. Die Schwimmhalle war warm und stickig von diesem Chlorgeruch, der einen einlullte. Iris fühlte sich mutig. Wären doch nur die Stufen nicht so kalt. Mit jedem Schritt, den sie tat, verstärkte sich das Gefühl, in eine klamme Eishöhle aufzusteigen. Die Feuchtigkeit an den Füßen war so kalt. Iris sah nicht hinunter. Dieses Mal würde sie es schaffen. Das Geländer war offen, der Blick auf das wunderbar helle Wasser blieb frei. So tröstlich. Aber warum entfernte sie sich mit jedem Schritt von dem, was ihr ein Gefühl von Sicherheit verlieh? Iris zögerte, als sie bei fünf Metern angekommen waren.

»Wollen wir nicht hier vielleicht mal einen Probesprung machen?«, fragte sie zaghaft.

Livia war schon drei Stufen weiter und sah sich lachend um. »Ach Mama, hast du schon wieder Schiss? Komm einfach!«

Iris trat der Schweiß auf die Stirn.

Das Chlorwasserheizungsgemisch.

Ihre Finger krampften sich um den feuchten Handlauf. Sie starrte einfach auf ihre Knie, die sich abwechselnd hoben und senkten, während sie weiter nach oben stieg. Auch eine Art, sich im Kreis zu drehen, dachte sie noch, bevor sie endlich auf dem Tartan des Sprungturms angekommen war. Bis hierhin hatte sie es schon unzählige Male geschafft.

Bis hierhin. Und nie weiter.

Livia stand vor ihr. Mit der athletischen Figur, dem schon so reifen Körper für ihre sechzehn Jahre, den schlanken Beinen, den langen, glatten Haaren, auf die sie so schimpfte, weil sie gerne Locken gehabt hätte. Ein Erbe von Iris. Nicht von ihrem Vater.

Iris wusste es. Sie würde nicht springen. Wieder einmal.

Livia drehte sich zu ihr um. Ihr Lächeln erstarb. »Ach, Mama.«

Iris blickte an sich herab und sah die bläulichen Adern auf den weißen Beinen. Sie sah die Narbe, die lange vor Livias Zeit eine Spur auf ihrem Knie hinterlassen hatte, schaute auf ihre etwas zu kurzen Zehen, die jetzt auf dem Zehnmeterbrett vor und zurück tänzelten.

So fröhlich sie konnte, rief sie ihrer Tochter zu: »Spring nur, ich komm gleich nach.«

Libby, durchtrainiert, aufrecht, nickte und sagte: »Schon klar.«

Dann war sie weg.

Iris wartete noch das klatschende Geräusch des Eintauchens ab, bevor sie gebückt den Rücktritt antrat. Zum Glück waren nicht viele Besucher in der Schwimmhalle. An mehr als drei mitleidig ausweichenden Menschen musste sie heute nicht vorbei. Sie atmete auf, als sie die letzte Stufe nach unten genommen hatte, und schüttelte über sich selbst den Kopf. Gut, sie war sicherlich kein waghalsiger Typ, aber niemand würde sie direkt als ängstlich bezeichnen. Vielleicht brauchte sie einfach den Bodenkontakt.

Iris schwamm noch zehn Fünfzigmeterbahnen, bevor sie aus dem Wasser stieg, um nach ihrer Tochter zu sehen.

Sie hätte ihr gern ein Handtuch gereicht, sie damit abgerubbelt, so wie früher. Ihr mit den Frotteeecken durch die zarten Zehenspalten gerieben und ihr die Sache mit dem Fußpilz erklärt. Iris suchte die gesamte Schwimmhalle ab, fand Livia aber nicht. Wahrscheinlich war sie schon bei den Umkleiden.

Iris ließ es sich dennoch nicht nehmen, noch ausgiebig heiß zu duschen. Sie liebte die Gänsehaut, die das warme Wasser verursachte. Während sie sich das Shampoo aus den Haaren wusch, verfluchte sie sich dafür, Livia jemals dieses Versprechen mit dem Sprung vom Zehnmeterturm gegeben zu haben. Es war eine Laune gewesen, und Iris war sich sicher, es wäre ein Klacks. Aber es war kein Klacks. Bei der Höhe erfasste sie eine bis dahin unbekannte Panik und Unsicherheit. Es war ihr einfach nicht möglich, sich fallen zu lassen. Und bei jedem gescheiterten Versuch sah sie die wachsende Enttäuschung in Livias Augen. Für ihre Tochter war es einfach nur ein Versprechen mehr, das die Mutter nicht einlöste.

Als Iris sich umgezogen hatte und den Badebereich verließ, saß Livia bereits geföhnt und angekleidet auf einer Bank im Vorraum.

Wortlos schulterte sie ihre Tasche und ging zum Ausgang.

»Wenn wir zu Hause sind, bestellen wir uns ’ne Pizza und machen uns einen gemütlichen Frauentag, ja?«, versuchte es Iris mit einer Aufmunterung.

Irgendwie musste dieser Tag doch noch zu retten sein.

1

Iris sah auf die Uhr und warf Handy, Schlüssel und Tuch in ihre Tasche. Kurz vor fünf.

Mist, dachte sie. Das wird knapp.

Es war Freitag, und Iris hatte mit Livia vereinbart, sie an diesem Tag zu ihrem Leichtathletikcamp zu fahren. Es war einer jener unzähligen Workshops und Trainings, die Livia nicht nur auf die nationalen Olympiawettkämpfe, sondern vor allem auf die angepeilte Nominierung für eine der nächsten Meisterschaften vorbereiten sollte. Livia war im Kader, seit sie acht war.

Iris hatte nie ganz verstanden, woher Livia diesen Ehrgeiz nahm; warum ihre Tochter vor zwei Jahren, mit vierzehn, schon mehr über Low Carb und eiweißhaltige Ernährung gewusst hatte als Iris mit ihren damals fünfundvierzig. Livia hatte sich nie für Monsterhai-Puppen oder Zeichentrickfilme interessiert, sondern stattdessen Dokumentarserien über die jüngsten Olympioniken und die außergewöhnlichsten Sportler verschlungen. Sie hatte sich mit so viel Disziplin und Unterwerfung unter das Joch des Leistungssports gestellt, dass Iris sie manchmal am liebsten geschüttelt hätte.

Sie tröstete sich damit, dass ihre Tochter dadurch wenigstens nichts mit Alkohol und Drogen zu tun hatte und auch den Lockungen des Handy- und Internetmissbrauchs weitgehend widerstand. Und dennoch war Iris mit dieser Entwicklung nicht ganz glücklich.

Verglichen mit anderen Sechzehnjährigen hatte Livia wenige Freunde, verabredete sich selten. Sie gehörte zu keiner Mädchengang, die kichernd tuschelte, wenn die Gruppe der coolen Jungs auf dem Schulhof ihre Runde machte. Sie hielt sich eher abseits, war schlank, muskulös, bildhübsch und entschlossen, ihr Ziel zu erreichen.

Iris nahm das zur Kenntnis und unterstützte sie letztlich in dem, was sie tat. Insgeheim aber fragte sie sich, ob es nicht dazugehörte, ab und zu mal etwas außer Rand und Band zu geraten, sich etwas zu trauen, die Regeln zu brechen? Livia war doch ein Teenager, Herrgott noch mal.

Vor knapp einem Jahr hatte Iris das Thema einmal angesprochen. Es war ein milder, sonniger Tag im Mai gewesen. »Schatz, warum verabredest du dich nicht mal mit Bea oder Sofie? Vielleicht fahrt ihr am Wochenende mal mit dem Rad an die Ostsee? Oder ihr macht hier eine Übernachtungsparty. Einfach mal etwas Spaß haben.«

Livia hatte nur die Augen verdreht. »Spaß haben, meinst du? Na, darin bist du ja die Expertin. Wann hattest du denn zum letzten Mal Spaß?«

Iris war so perplex über diesen unvermuteten Ausbruch, dass sie nichts hatte erwidern können. Aber Livia war noch nicht fertig.

»Wie lange hast du Katja jetzt nicht getroffen? Sechs Wochen? Sieben? Und solange ich mich erinnern kann, gab es hier auch niemals Herrenbesuch. Der einzige Mann, von dem ich ständig höre, ist dieser bescheuerte Dr. Härtling. Du gehst nie tanzen. Du malst dir nie an einem Freitagabend vergnügt die Lippen an, weil du dich auf eine Verabredung freust. Stattdessen fährst du tagein, tagaus gehetzt zur Arbeit und kommst abends müde zurück.«

Livia machte einen Schritt auf ihre Mutter zu und legte vorsichtig die Hand auf Iris’ Schulter. »Welchen Spaß, meinst du also, soll ich haben?«

Damit drehte sie sich um und ging in ihr Zimmer.

Iris hatte noch eine Weile wie erstarrt im Flur gestanden. Sie rieb sich die Stelle, auf der Livias Hand gelegen hatte. Einen Ausbruch wie diesen hatte es vorher noch nie gegeben. Sie versuchte doch alles, um ihre Tochter glücklich zu machen! Aber das schien nicht anzukommen. Stattdessen wurde ihr eigenes Leben hinterfragt.

Nicht ohne schlechtes Gewissen erkannte Iris die Spur von Wahrheit darin.

 

Das Camp an jenem Freitag fand bei einem Sportverein im Hamburger Norden statt, in Duvenstedt, zu dem man mit den Öffentlichen von Winterhude aus locker eineinhalb Stunden unterwegs wäre.

Deshalb hatte Iris versprochen, an diesem Tag pünktlich Feierabend zu machen und Livia mit ihrem alten rostlaubigen Citroën dorthin zu fahren. Das Auto war so ziemlich zur selben Zeit in ihr Leben getreten wie ihre Tochter. Es war ein auf Pump gekauftes »Geschenk« von Heiko, Livias Vater, sechs Wochen vor dem Geburtstermin: »Falls ich grad nicht da sein sollte, wenn es losgeht.«

Er war natürlich nicht da gewesen, als es losging, sondern unterwegs in einer der unzähligen Kneipen, in denen er sich nachts gern herumtrieb. Dass Livia in den Wehen trotzdem mit dem Taxi ins Krankenhaus gefahren war, hatte Heiko später nicht verstanden. »Wozu hab ich die Karre denn besorgt?«

Die Karre, die Iris dann fünf Jahre lang abbezahlt hatte.

Und mit der sollte sie nun um Viertel nach fünf beim Bäcker am Mühlenkamp warten. So lautete die Verabredung.

Iris trat auf den Flur und spähte vorsichtig nach rechts. Aufatmen! Die Tür zum Konferenzraum war immer noch geschlossen. Sie hatte vor der Mittagspause alle Zahlen präsentiert und erläutert. Es war nicht mehr an ihr, das Budget zu einer Strategie für die nächsten zwölf Monate auszubauen. Sie hatte alles Material geliefert. Sie konnte gehen und den Überbau anderen überlassen. Ihrem Chef, der mehr davon verstehen sollte als sie. Dafür wurde er schließlich bezahlt.

Sie wurde dafür bezahlt, dass das Fundament aus Zahlen vernünftig trug.

Schwungvoll warf sie sich ihre neue Nietentasche über die Schulter und schritt, ergriffen von einer ungeduldigen Vorfreude, den Flur von Orion Media Pub hinab. Sie freute sich auf ihre Tochter. Und sie freute sich auf die ersten Ergebnisse ihrer Crowdfunding-Aktion. Sie hatte sie zusammen mit Vivien, ihrer Lieblingskollegin und Pressechefin, mehr oder weniger hinter Härtlings Rücken aus der Taufe gehoben. Die beiden hatten sich mal in der Mittagspause darüber unterhalten, wie viel Geld man mit dieser Art von »Spendenaktion« machen konnte, ohne dass sich ihre größten Kunden, Banken, Versicherer, Reiseunternehmen, konkret als Schirmherr oder dergleichen nach vorne wagen mussten. Das Risiko war klein, und der Effekt konnte, wenn alles gut lief, beträchtlich sein. Wenn nicht, würde man einfach nicht drüber sprechen. So kam Iris auf die Idee mit Girls in Distress.

Und am Montag würden die ersten Zahlen online einsehbar sein.

Iris schnipste mit den Fingern und stieß ein leises »Yeah!« aus. Livia, meine Langstreckenläuferin, dachte sie lächelnd. Ich fahr dich überall hin.

***

Livia zog sich die Kapuze ihrer Adidas-Allwetterjacke tiefer ins Gesicht und zurrte das Band etwas fester, damit die Kopfhörer nicht nass wurden. Ein paar Minuten würde sie noch herumstehen müssen. So wie ihre Mutter eine notorische Zuspätkommerin war, neigte Livia dazu, immer ein paar Minuten zu früh an den vereinbarten Treffpunkten zu sein. Sie zog die Arme in der schützenden Jacke enger an ihren Körper. Der Regen kam in feinsten Tropfen wirklich von allen Seiten und legte sich auf die Klamotten wie eine zweite Haut. Livia machte das nichts. Wäre sie besonders wetterfühlig, wäre sie keine passionierte Leichtathletin. Sie fühlte sich draußen in der Natur sicherer als in den engen Grenzen von Häusern oder Turnhallen. Es kam ihr ehrlicher vor. Nicht so benutzt von den Menschen. So hatten ihr auch weder die trockene Hitze in Agadir noch die zweistelligen Minusgrade in Norwegen etwas anhaben können. Im Gegenteil. Je extremer die Bedingungen in den Camps waren, die sie schon besucht hatte, desto besser hatte Livia sich gefühlt. Und desto erfolgreicher war sie gewesen. Zwar war sie sonst ein gemäßigter, eher ruhiger Typ, doch man konnte Livia durchaus als extrem bezeichnen, wenn es um das Thema Sport ging. Vielleicht bedingte das eine ja das andere, denn so etwas wie ein gesundes Mittelmaß fehlte ihr.

Die Playlist auf ihrem iPhone sprang zum nächsten Lied. Queen. We Are the Champions. Livia mochte diese rockigen Motivationssongs. Sie halfen ihr, sich zu fokussieren, eine Körperspannung zu entwickeln, die sie in den nächsten Tagen brauchen würde.

Livia freute sich auf den Workshop. Endlich würde Bea auch wieder mal dabei sein. Bea war vermutlich das, was einer besten Freundin am nächsten kam. Sie war auch noch im Kader, so wie Livia, sprach aber immer häufiger davon, den Leistungssport an den Nagel zu hängen. Er fraß einfach enorm viel Zeit, und nicht nur Freundschaften litten darunter, sondern irgendwann auch die Schule. Sowohl Livia als auch Bea gingen beide aufs Gymnasium, allerdings nicht auf dasselbe. Bea war auf einem künstlerisch-musischen, und der Druck dort schien Livia ungleich höher, wenn man Bea so reden hörte. Die zehnte Klasse hatte es ohnehin in sich. Da wurde das Tempo noch mal angezogen. Und die verkürzte Schulzeit bis zum Abitur, die 2010 auch in Hamburg eingeführt worden war, machte es nicht leichter. Livia hatte das bislang noch halbwegs auspendeln können. Sie lavierte sich mit Dreien und ein paar Zweien durch die Mittelstufe. Und einer Eins natürlich, der in Sport.

Livia hatte allerdings auch den Verdacht, dass die Schule nicht der einzige Grund für Beas Überlegungen war. Im Gegensatz zu ihr war Bea deutlich anders gebaut: Sie war kleiner und insgesamt kompakter als Livia. Das half ihr bei den Ausdauerdisziplinen, und vor allem auf den zehntausend Metern war Bea kaum zu schlagen. Aber die Pubertät hatte ihren Körper noch mal verändert. An allen Stellen, an denen eine Frau rund werden konnte, wurde Bea es auch. Am Po, am Busen, selbst im Gesicht. Livia vermutete sogar manchmal eine heimliche Essstörung, denn dafür, dass sie Bea so gut wie nie essen sah, nahm sie erstaunlich zu.

Aber an diesem Workshop würde sie teilnehmen, und heute Abend würde man das Programm mit einem Sieben-Kilometer-Orientierungslauf durch den Duvenstedter Brook eröffnen. Bea und Livia hatten dort schon ein paarmal trainiert, sie liebten dieses Naturschutzgebiet, speziell wenn sie, wie heute, in der Dämmerung dort unterwegs waren. Es gab dort alles: Moor, versteppte Wiesen und Wald. Mit ein bisschen Glück könnten sie Wildschweine sehen oder einen Hirsch.

Sie würden an diesem Wochenende zu zwölft sein, und jeder würde seine Strecke von einem anderen Punkt auf einer imaginären Kreislinie beginnen. Mit einem Radius von gut zweieinhalb Kilometern verteilten sie sich gewissermaßen auf einem fiktiven Rand und liefen dann, mit dem entsprechenden Abstand und natürlich ohne sich zu sehen, erst mal bewaffnet mit einem Kompass los. Die Kunst bestand darin, kontinuierlich die richtige Kurve zu beschreiben und an einem markierten Punkt dann rechts abzubiegen bis zur Mitte. Angenommen, alle liefen im selben Tempo, was logischerweise nicht der Fall war, würden sie am Ende alle zur selben Zeit an den Mittelpunkt gelangen. Fünfundvierzig Minuten etwa, tippte Livia. Länger würden sie nicht brauchen.

Livia stellte sich vor, wie das wohl von oben aussah. Wie eine Torte, die gleichzeitig in zwölf identische Teile zerschnitten wurde. Und wenn man dann den gesamten Waldkreis einfach in der Mitte hochheben und wie einen Kreisel ins Drehen bringen könnte, dann ergäbe sich vielleicht so eine Illusionistenspirale. Das müsste doch cool aussehen, dachte Livia.

Sie versuchte, sich den Geruch des erdig-feuchten Waldbodens ins Gedächtnis zu rufen und das Geräusch knackender Zweige, wenn sie auf die Äste trat. Nach dem Regen würde man im Wald leichter laufen. Der Sand wäre feucht, und man würde nicht so tief einsinken oder über die Blaubeersträucher ausweichen müssen.

Livia lächelte. Ja, sie freute sich mächtig darauf.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hing über dem Juwelier eine große Uhr mit goldenen Zeigern: zwanzig nach fünf. So langsam müsste ihre Mutter nun aber doch mal kommen.

Livia trat jetzt von einem Fuß auf den anderen, indem sie die Füße wechselweise abrollte, so als ob sie beim Joggen an einer roten Ampel wartete. Auch so eine Sportlermacke.

Hatte sie das feuchte Regennetz um sich herum eben noch anheimelnd gefunden, so fühlte es sich nun deutlich klamm an. Siebzehn Uhr dreiundzwanzig. Wo blieb ihre Mutter denn nur? Der Ärger verdichtete sich in ihr wie ein Haarknäuel im Magen einer Katze. Konnte sie denn nicht ein Mal einfach das einlösen, was sie versprach? Livia war gespannt, welche Ausrede sie sich heute einfallen ließ. Der Verkehr wahrscheinlich. Sie überlegte, ob sie sie anrufen sollte, und entschied, noch fünf Minuten zu warten. Das Training begann um sieben. Ein bisschen Zeit hatte sie noch.

Livia spürte, wie sie unruhig wurde. Sie kam auch deswegen grundsätzlich immer etwas eher, weil sie dieses Gefühl hasste: diese angespannte Unruhe, die einen fahrig und unkonzentriert werden ließ. Dieses unbestimmte Warten, in das sich Sorge und ein Hauch Panik mischten. Siebzehn Uhr neunundzwanzig. Sie drückte die Kurzwahltaste: Mama. Es klingelte fünfmal, dann sprang die Mailbox an. Livia beendete das Gespräch, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Sie spähte den Mühlenkamp hinunter, ob sie das Auto ihrer Mutter vielleicht entdeckte. Ihre Mutter hatte keine Freisprechanlage, also konnte sie vielleicht nicht rangehen. Aber da kam nichts Rostbraunes. Nur viel Großes – BMW, Range Rover – in Schwarz und Weiß und ein Bus. Der half Livia im Worst Case aber auch nicht. Falsche Richtung und überhaupt: zu spät dafür.

Sie überlegte kurz: Bis zum Camp waren es gut zweiundzwanzig Kilometer. Unmöglich, die in anderthalb Stunden zu Fuß zu schaffen. Öffentliche waren ebenfalls gestrichen. Das Rad! Livia wog diese Variante ab. Wenn sie jetzt schnell nach Hause lief und sich das Rad schnappte, könnte sie es schaffen. Der Weg war ihr zwar nicht hundertprozentig vertraut, aber wenn sie die Autoroute nähme, müsste sie ihn eigentlich halbwegs wiedererkennen. Sie holte das Handy erneut aus der Tasche und drückte auf Wahlwiederholung. Dasselbe Spiel. Jetzt sprach sie schon aus Wut nichts auf das Band. Sollte ihre Mutter doch umkommen vor Angst, wenn sie dann doch mal hier auftauchte und Livia nicht entdeckte.

Dann rief sie Bea an, die bereits am Nachmittag in das Camp gefahren war, und schilderte ihr kurz die Situation, nicht ohne die schmählichsten Salven gegen ihre Mutter – blöde Kuh, unzuverlässige Zicke, willenlos, ferngesteuert – loszulassen.

Livia war sauer. Stocksauer. Und enttäuscht. Maßlos enttäuscht. Mal wieder. Warum konnte ihre dämliche Mutter nichts einfach mal richtig machen?

Und in dieser aufgewühlten Gefühlslage rannte Livia los, um das Rad zu holen, zum Glück ein Rennrad. Einundzwanzig Gänge. Elfhundert Euro. Das Geburtstagsgeschenk zu ihrem Sechzehnten.

***

Mit schweißnassen Händen hielt Iris das Lenkrad umklammert und versuchte mittels waghalsiger Spurwechsel ein paar Sekunden der Zeit hereinzuholen, die sie bei Orion Media vergeudet hatte. Am liebsten hätte sie das Gaspedal voll durchgedrückt, aber das würde sie ihrer Tochter auch nicht näher bringen. »So eine Scheiße«, fluchte Iris. »So eine gottverdammte Scheiße.« Sie schlug auf das Lenkrad und unterdrückte mit Not ein paar wütende Tränen.

Sie war doch schon fast draußen gewesen! Und dann wieder dieses »Frau Zimmermann!«. Fordernd freundlich. Selbstverständlich und selbstgerecht. Qua Titel machtbefugt, nicht qua Persönlichkeit. Iris hasste Unterwerfung, am meisten die, der jede Grundlage fehlte. Wahrscheinlich weil sie genau hier nie widerstehen konnte. Wer auch immer sie früher in ihrem Leben zu unbedingtem Gehorsam angehalten hatte – er hatte ganze Arbeit geleistet.

Mit leicht gerötetem Gesicht hatte Iris sich umgedreht. Wie sehr sie die Visage ihres Chefs doch hasste. Diese Härtling-Visage: nervös, hilflos fast, und in seiner Rolle doch so feist.

»Frau Zimmermann, könnten Sie bitte noch einmal kommen! Wir haben zu den Werbesachkosten noch eine Frage.«

Iris atmete tief durch. Sie wollte es wenigstens versuchen. »Es tut mir leid, Herr Härtling, aber ich bin schon spät dran. Ich muss meine Tochter abholen, die …«

»Kein Problem. Es dauert auch nur fünf Minuten.«

Diese Masche kannte sie aus dem Effeff. Nicht fragen, nicht zuhören, einfach nur andere ignorieren und den eigenen Willen durchsetzen.

Iris überlegte, warum sie das nicht auch konnte. Einfach weitergehen. Aber sie konnte es eben nicht, und Härtling wusste das.

Also ging sie zurück in den Konferenzraum, in dem neben ihrem Chef noch vier weitere Finanzmanager saßen, schaute sich die Werbesachkosten an, fand einen Fehler bei der Monatsvalutierung und sah sich die Bilanzierung des Anlagevermögens ebenfalls noch mal an, weil dort eine Differenz von zweihundertdreißigtausend Euro klaffte.

Das würde sie am Montag prüfen, sagte sie, und die Männer nickten wortlos, als sei es Iris’ Schuld gewesen, dass sie kostbare zehn Minuten ihrer Zeit in Anspruch genommen hatte.

Idioten, dachte Iris nur, und eilte aus dem Raum, beschleunigte ihre Schritte auf dem Flur und rannte schließlich die letzten Meter bis zur Tür und von dort aus zum Parkplatz.

Das war vor zehn Minuten gewesen, um siebzehn Uhr neunundzwanzig. Ein kurzer Blick auf ihr Handy hatte Iris verraten, dass Livia zweimal angerufen hatte – kein Wunder. Aber bevor sie noch mehr Zeit verlor, verzichtete Iris auf einen Rückruf.

Iris bog in den Hofweg ab, in dem sich vor einer Baustellenampel eine lange Autoschlange gebildet hatte. Sie war sich ziemlich sicher, dass es dieses Hindernis am Morgen noch nicht gegeben hatte. So was ging offenbar auch nur in Hamburg: An einem Freitagmittag mit Pflasterarbeiten beginnen, um sie pünktlich um vier Uhr dann für das Wochenende wieder zu beenden. Es dauerte drei Ampelschaltphasen, bis sie weiterfahren konnte. Zwei weitere rote Ampeln später kam endlich die Haltestelle am Mühlenkamp in Sicht, wo sie Livia aufgabeln wollte. Iris konzentrierte sich auf die Menschen auf dem Gehsteig, aber Livia war nicht darunter. Sie spürte einen erneuten Panikschub in sich aufsteigen und brachte den Wagen an der Haltestelle abrupt zum Stehen. Es war kurz vor sechs, und Iris musste nachdenken, was sie jetzt tun sollte.

Sie stellte sich vor, wie Livia hier auf sie gewartet hatte, erst voller Vorfreude auf das vor ihr liegende Wochenende, dann leicht ungeduldig, hilflos vielleicht oder unsicher, und zum Schluss mit Sicherheit stocksauer. Iris ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken: Wo bist du, Libby?

Iris nahm das Handy aus der Tasche und wählte Livias Nummer. Es klingelte, aber niemand hob ab. Dann rief sie Bea an. Aber auch dort meldete sich niemand.

Iris schrak hoch, als hinter ihr lautes Hupen ertönte. Der Bus. Sie hob entschuldigend die rechte Hand, startete den Wagen und fuhr erst mal in Richtung ihrer Wohnung. Sie könnte jetzt direkt ins Camp weiterfahren, warten, bis Libby dort ankam, sich wortreich entschuldigen und wieder nach Hause zurückkehren. Oder sie fuhr direkt nach Hause, schaute nach, ob Libby dort war, und wenn nicht, versuchte sie sie weiter per Telefon zu erwischen. Irgendwann würde sie schon abheben. Sie entschied sich für Letzteres. Es wird schon nichts passiert sein, tröstete sie sich. Livia war ein vorsichtiger, verantwortungsbewusster Mensch. Wahrscheinlich hatte sie einfach den Bus genommen.

2

Iris hoffte, dass ein einziger Klick nach rechts mit dem Schlüssel genügen würde, um die Tür zu öffnen. Doch sie musste ihn zweimal herumdrehen, bevor das Schloss aufsprang. Zu Hause war Livia also nicht.

Seit ihr siebzehn Jahre alter Kater Mucke vor drei Wochen nach einer Routine-Zahnoperation nicht mehr aus der Narkose aufgewacht war, weil das Herz plötzlich aufgehört hatte zu schlagen, war es in der Wohnung erstaunlich still geworden. Iris war nie ein Katzenfan gewesen, aber irgendwann hatte sie sich in den letzten fünf Jahren doch an Mucke gewöhnt, der einem maunzend entgegenlief, wenn man die Tür öffnete und sich schnurrend auf dem Schoß einkuschelte, wenn abends der Fernseher lief.

Livia und Iris hatten noch nicht offen darüber gesprochen, ob sie sich erneut ein Tier anschaffen wollten. Iris wollte es eigentlich nicht, und bei Livia hatte sie den Eindruck, dass sie ihr insgeheim an Muckes Tod die Schuld gab und nun Angst hatte, dass auch eine neue Katze früher oder später eingehen, abhauen oder sonst wie abhandenkommen würde.

Vielleicht war Muckes Tod aber auch einfach noch zu frisch. Iris hatte ihn aus dem Tierheim geholt, als Livia aufs Gymnasium kam, und damit einen Haken hinter das jahrelange Gebettel um ein Haustier – Goldfisch, Hamster, Schildkröte, Schlange, egal, Hauptsache ein Tier – gemacht. Sie könnte morgen ja einmal unverbindlich im Tierheim vorbeischauen. Iris schüttelte den Kopf. Wenn sie sich fortan bei jedem Zuspätkommen oder sonstigem Fehltritt mit einem Haustier entschuldigen wollte, wäre die Bude bald ziemlich voll.

Iris’ Hand zitterte, als sie den Schlüssel auf der Kommode ablegte. Hatte Livia wirklich den Bus genommen? Was, wenn ein fremder Wagen angehalten und der Fahrer ihr irgendeine Geschichte aufgetischt hätte? Nein. Livia verfügte über ein gesundes Misstrauen. Sie wäre bestimmt nicht eingestiegen. Aber sie war andererseits auch hübsch und erst sechzehn.

Fahrig hob Iris die Post auf und setzte sich damit an den Küchentisch, schob die drei Umschläge aber direkt wieder zur Seite. Sie griff nach dem Handy und drückte auf die Wahlwiederholung. Nichts.

Nein, beruhigte sich Iris. Es war noch zu früh. Sie war sicher noch unterwegs. Bestimmt war sie unterwegs.

Fieberhaft überlegte sie, wen sie noch anrufen könnte. Wo genau war sie im Duvenstedter Brook? Wie hieß das Sportzentrum? Iris googelte in ihrem Handy, und zu ihrer Erleichterung fand sie einen Eintrag für ein Leichtathletikzentrum. Noch als sie bereits die Nummer tippte, warf sie sich vor, dass sie die genaue Adresse tatsächlich nirgends notiert hatte.

Zu ihrer Erleichterung nahm beim dritten Klingeln jemand ab. Die Frau kannte die Namen der Teilnehmer nicht, und Jochen, Livias Trainer, war noch nicht vor Ort.

»Könnten Sie nach einer Bea fragen, Bea Garber?«, fragte Iris lauter als nötig. »Ich suche meine Tochter. Bitte!«

Die Frau hatte ein Einsehen, und kurz darauf war Bea tatsächlich in der Leitung. Als wäre dies schon die Rettung, atmete Iris einmal tief durch.

»Bea, hast du was von Livia gehört?«

»Hallo, Frau Zimmermann … ja, nein … also, sie hat mich angerufen. Um halb sechs etwa. Aber wo sie jetzt ist, weiß ich auch nicht.«

»Hat sie denn nichts gesagt?«

»Sie hat mir nur kurz auf die Mailbox gesprochen. Dass sie auf Sie wartet. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Frau Zimmermann. Sie wird bestimmt gleich kommen. Spätestens in einer halben Stunde ist sie hier. Auf Livia kann man sich verlassen.«

Iris bedankte sich und legte auf. Nur mit Mühe hatte sie die aufkommende Panik noch zurückhalten können, die sich jetzt mit aller Macht Bahn brach. Lieber Gott, flüsterte sie, mach, dass meinem Kind nichts passiert ist.

Unzusammenhängende Bilder schossen Iris durch den Kopf. Livias erste Zahnlücke, und wie sie unbedingt damit hatte pfeifen wollte. Ihr strahlendes, lückenhaftes Lachen. Der unbändige Stolz in ihrem Gesicht. Am Abend hatte sie, wie es damals Mode war, den kleinen Milchzahn mit dem leicht blutigen Hals sorgsam in ein Stück Haushaltspapier gewickelt und ihn unter ihrem Kissen versteckt.

»Die Zahnfee kommt doch auch durchs geschlossene Fenster, oder?«

»Natürlich tut sie das. Wäre sie sonst eine Fee?«, hatte Iris zuversichtlich lächelnd geantwortet.

Aber über Wäsche, Geschirrspüler, etlichen E-Mails und einem Telefonat mit Katja hatte Iris den Zahn einfach vergessen.

Sie wurde erst wieder daran erinnert, als Livia mit nackten Füßen und weinend, das zerdrückte Papier in der Hand, am nächsten Morgen vor ihr in der Küche stand: »Sie ist nicht gekommen, Mama. Guck mal. Die Zahnfee mag mich nicht.«

Iris wäre vor Scham fast im Boden versunken. Während sie Livia in den Arm nahm und sich tröstende Worte zurechtlegte, überlegte sie fieberhaft, wo sie noch schnell ein Stück Traubenzucker finden könnte, um es heimlich unter das Kissen zu schieben. Es gelang ihr, aber die Enttäuschung konnte es dennoch nicht ungeschehen machen.

Dann der erste Schultag, an dem Livia sich bange hinter dem Rock ihrer Großmutter versteckte und sich sorgenvoll umsah, weil Iris auch hier fast zu spät gekommen wäre, weil sie die Würstchen für das Einschulungsfest zu Hause vergessen hatte.

»Hör doch auf, dich immer so verrückt zu machen! Du bist eine super Mutter! Mehr Verantwortung kann kein Mensch übernehmen«, rief sie sich Katjas Worte in Erinnerung, aber sie wollten nicht recht verfangen.

Sie spürte diesen Riss. Haarfein zunächst, aber mit den Jahren zu einem unübersehbaren Spalt verbreitert.

Sie liebte ihre Tochter. Abgöttisch. Daran lag es ganz sicher nicht. Aber was hieß das schon? Wenn Mutterliebe unverbrüchlich war, warum hatte sie selbst, Iris, dann seit fünf Jahren kein Wort mehr mit ihrer eigenen Mutter Johanna gewechselt?

Iris verscheuchte die dunklen Gedanken wie einen Schwarm aufstiebender Stare.

Mechanisch drückte sie erneut die Wahlwiederholung für Livia auf ihrem Handy, wobei ihr Blick ziellos durch den Raum wanderte, bis er an der Brotdose hängen blieb, die Livia am Morgen offenbar vergessen hatte. Es war eine Bento-Box mit japanischen Mustern. Darin lagen wie immer, wie seit Jahren: eine Scheibe Vollkornbrot mit Käse oder Salami, ein paar Tomaten oder ein aufgeschnittener Apfel. Wie oft hatte Livia sich darüber schon beschwert: »Mama, das ist peinlich, ich bin sechzehn! Ich brauche keine Schulbrote mehr. Ich hol mir was vom Bäcker.«

Aber Iris hatte sich diese Aufgabe nicht nehmen lassen. Es machte ihr Spaß, ihrer Tochter dieses kleine Menü mitzugeben, mal mit, mal ohne eine Überraschung. Sie wollte ihr damit einfach einen schönen Tag wünschen.

Hatte Livia die Box absichtlich stehen lassen?

Wieder der Anrufbeantworter.

Ich fahre jetzt selbst hin, beschloss sie, ich fahre den Weg einfach nach. Sie wollte gerade aufspringen, um nach den Autoschlüsseln zu greifen, da klingelte ihr Telefon.

»Na endlich!«, rief sie erleichtert.

Da war es achtzehn Uhr fünfundzwanzig.

***

Zehn Minuten später raste Iris bereits mit knapp siebzig Stundenkilometern die Eppendorfer Landstraße in Richtung Universitätskrankenhaus.

»Ihre Tochter hatte einen Unfall, Frau Zimmermann. Ein Rechtsabbieger hat ihr am Maienweg die Vorfahrt genommen. Offenbar hat die Fahrerin des Wagens das Rad übersehen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Sie ist auf dem Weg ins Krankenhaus«, hatte ihr der Polizist am Telefon gesagt, der sich als Jörg oder Jorn Weber vorgestellt hatte. Iris erinnerte sich nicht genau.

In waghalsigen Manövern schlängelte sie sich durch den pulsierenden Verkehr. Der Regen hatte nachgelassen, und leichter Dampf stieg von dem feuchten Asphalt auf, den Iris, wie alles andere, nur durch einen milchigen Schleier wahrnahm. Immer wieder schossen ihr die drei neuralgischen Worte wie spitze Pfeile durch den Kopf: Livia. Unfall. Krankenhaus. Den Umständen entsprechend gut, hatte der Polizist gesagt. Aber auch: Sie solle ein Nachthemd mitnehmen, und Waschzeug. Wozu brauchte ihre Tochter ein Nachthemd, wenn sie doch nur kurz zur Kontrolle ins Krankenhaus musste? Wahrscheinlich hatte sie nur einen Schock. Bestimmt nur einen Schock, dachte Iris, und biss sich auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte und der Schleier vor den Augen dichter wurde.

Jörg oder Jorn Weber hatte sie gewarnt: »Sind Sie sicher, dass Sie kein Taxi nehmen wollen? In Ihrem Zustand sollten Sie kein Fahrzeug führen.«

Natürlich sollte sie das nicht! Aber glaubte dieser Amateurpsychologe etwa, sie würde auch nur zehn Sekunden länger als nötig in der Wohnung ausharren, um auf ein Taxi zu warten?

Phh, machte Iris laut, und dieser hörbare Ausruf des Missfallens beruhigte sie ein wenig.

Und dann sollte sie auch noch in die Notaufnahme. Notaufnahme! Wie das klang. Als Livia damals mit fünf das erste Mal ohne Stützräder gefahren war und hinfiel, musste sie auch nicht in die Notaufnahme. Da gab es den Tränenwegföhnkuss, und weiter ging’s.

Notaufnahme! Das Geräusch greller, surrender Neonröhren zuckte mit hundert Volt durch Iris’ Kopf.

Bestimmt war es nur der Schock. Sie war ja ansprechbar gewesen, hatte dieser Weber gesagt. Möglich, dass das Fahrrad im Eimer war. Aber wen kümmerte das schon? Das würde sie ruckzuck ersetzen. Wenn es doch sonst nur der Schock wäre. Bitte, bitte … nur ein Kratzer und der Schreck …, betete Iris.

3

Iris wartete gefühlt stundenlang. Erst in der Notaufnahme, in der man ihr nach einer eingelieferten »Messerstecherei«, einem »Schlaganfall« und einer »Verätzung« endlich sagen konnte, dass ihre Tochter bereits in die chirurgische Station verlegt worden war und dort operiert wurde.

Und dann saß sie dort. C 21, hellgelb getünchte Wände, weiße Hartschalenstühle.

Sie versuchte mehrfach, bei den Schwestern Auskunft zu bekommen, doch immer hieß es kurz: »Bitte gedulden Sie sich noch ein wenig. Der Arzt wird sicher gleich für Sie da sein!«

Während die Wanduhr in dem Wartezimmer immer langsamer tickte, schlug Iris’ Herz zunehmend schneller.

Ihre Tochter lag hier irgendwo, und sie konnte sie weder sehen noch ihre Hand halten, noch den Rucksack mit ihren Sachen und dem letzten schon völlig abgeschmusten Kuscheltier irgendwo aufbauen, um wenigstens eine Illusion von Geborgenheit zu schaffen. So lagen die Sachen nur zerrupft auf Iris’ Schoß, und das dazugehörige Küken war weg.

Ein lange vergessener Satz schoss Iris durch den Kopf: »Mensch, Kind, du musst wirklich besser auf deine Sachen aufpassen!« Ihre Mutter Johanna hatte früher stets ein Talent dafür gehabt, ihr in Situationen größter Not – und die unauffindbare Box mit den Lebensmittelfarben oder der verlegte grün-gelbe Stein für die Freundin war für eine Neun- oder Elfjährige durchaus eine Situation größter Not – zu verstehen zu geben, dass sie einfach zu schusselig und verantwortungslos war. Kein Gedanke daran, dass sie beim Suchen helfen könnte oder eine neue Packung Farben anbrach. Warum auch? Iris war ja selbst schuld.

Iris stöhnte auf. Jetzt bitte nicht diese alte Leier. Wie viele Jahre hatte sie gebraucht, um sich den Mantel mütterlicher Überwerfung abzustreifen? Du könntest dich auch öfter mal melden. Na ja, du musst es ja wissen. Und das Beste waren immer die Sätze, die mit »Kein Wunder« anfingen. »Kein Wunder, dass du niemanden kennenlernst, so viel wie du arbeitest.« – »Kein Wunder, dass du nicht befördert wirst, wenn du immer nur Dienst nach Vorschrift machst.« Wenn Iris dann aber doch mal mehr machte, zum Beispiel die berufsbegleitende Fortbildung zur Bilanzbuchhalterin, dann kamen die gefährlichen Pass-auf-Sätze: »Pass auf, dass dir am Ende nicht noch gekündigt wird, wenn du morgens immer so müde bist.« – »Pass auf, dass du Livia nicht vernachlässigst.«

Wie sie es auch machte, sie machte es in Johannas Augen irgendwie immer falsch. Und das war einer der Hauptgründe gewesen, warum sie nach der Schule mit gerade mal siebzehn ihre Ausbildung direkt in Hamburg machte und nicht in Lüneburg. Das war zwar nicht das andere Ende der Welt, aber ein guter Grund für das erste WG-Zimmer. »Pass auf, mit wem du dich da einlässt«, war Johannas Rat gewesen. Nach den Tränen am Anfang – »Ach, Schatz, muss das sein, so weit weg?« –, der Hilfe beim Umzug und dem Aufhängen der frisch gewaschenen Gardinen war dies der letzte Satz gewesen. Auch Johanna konnte so ihre Haken schlagen.

Es hatte lange gedauert, bis Iris ansatzweise verstanden hatte, dass auch Johanna nur eine Tochter war. Aufgewachsen mit dem für die Kriegsgeneration typischen Stell-dich-nicht-so an-Credo. Was sollte eine Frau in den 1950er-Jahren sich mehr wünschen als einen anständigen Mann, der nicht soff, nicht fremdging und die Familie versorgte? Das war das Mantra, das der kleinen Johanna von ihrer Mutter mit auf den Weg gegeben wurde. Die Wegweiser zu Emanzipation und Selbstbestimmung lagen unter den Trümmern des Kriegs noch nicht begraben. Die wurden später aufgestellt. Aber da war auch Johanna schon verheiratet gewesen. Mit Wolfgang, Iris’ Vater, geboren im Schicksalsjahr 1945, in dem man für einen Liter frische Milch drei Kilometer laufen und manchmal lange betteln musste. Oder die Kuh nachts heimlich selbst auf der Wiese melken. Insofern war Wolfgang stets ein kränkelnder, zu Infekten und Allergien neigender Knabe gewesen, der diese Schwächen im Erwachsenenalter zunehmend mit Strenge und Jähzorn zu kompensieren versuchte. Dann nicht immer ganz so anständig.

Für Johanna war dies der Grund, sich immer mehr und mit der Zeit fast manisch um den Garten zu kümmern. Und für Iris war es der zweite wichtige Grund für den frühen Auszug.

Alle waren sie immer nur Töchter.

Oder die Frauen von … Nun, wenigstens das hatte Iris hinter sich gelassen. Heiko würde gewiss nie wieder eine Rolle in ihrem oder Livias Leben spielen.

All das ging Iris seit Langem mal wieder durch den Kopf, als sie auf dem harten Plastikstuhl saß und wusste: Hätte sie besser aufgepasst, hätte sie diese lächerliche Etatdifferenz und ihren Chef einfach mal ignoriert, dann säße sie jetzt nicht hier.

Iris seufzte und drückte die Sachen von Livia noch etwas fester an sich. Ein Kaffee wäre jetzt gut.

In diesem Moment kam ein schlanker, großer Mann in grünem Kittel zu ihr und stellte sich als Oberarzt Dr. Markus Mendez vor.

Er reichte ihr die Hand und zwang sie damit, aufzustehen.

»Frau Zimmermann?«

Er sah müde aus, und vielleicht wirkte er deswegen zugänglicher als die Schwestern.

»Ja … immer noch.« Es war ihr so herausgerutscht, und Iris entschuldigte sich mit einem verlegenen Lächeln.

Der Arzt lächelte ebenfalls. »Das wurden Sie heute schon häufiger gefragt?«