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Ein Cold Case in schwindelerregender Höhe Zwei Liebende zwischen dunklen Geheimnissen Können sie die Wahrheit ertragen? Verena wollte nie mehr zurück in ihre Heimat an den Felsenhimmel. Zu sehr haben sie die fatalen Ereignisse des vergangenen Sommers geprägt. Doch dann führt sie ein Modeljob ausgerechnet wieder dorthin, wo sich ihr Leben für immer verändert hat. Zu allem Überfluss muss sie sich auch noch mit dem attraktiven, aber viel zu direkten Mattia ein Chalet teilen. Verena ahnt nicht, dass der ehemalige Polizist den Auftrag hat, die Wahrheit des letzten Sommers ans Licht zu bringen … Kehre zurück an den Felsenhimmel: Die berührende New-Adult-Suspense-Serie von #1-SPIEGEL-Bestsellerautorin Kristina Moninger »Fesselnd, authentisch, romantisch. Kristina Moninger schreibt wahrhaftig meisterhaft.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Kathinka Engel
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Seitenzahl: 507
Veröffentlichungsjahr: 2025
In Love at Last
KRISTINA MONINGER wurde 1985 in Würzburg geboren und hat ihre Kindheit in einem kleinen Dorf auf dem Land verbracht, in dem sie auch heute noch mit ihrem Mann und ihren Zwillingen lebt. Sie hat bereits mehrere gefühlvolle Romane veröffentlicht und ist #1-Spiegel-BestsellerAutorin. Findet man sie nicht am Schreibtisch, dann sehr wahrscheinlich mit der Nase in einem Buch oder mit Familie und Hund in der Natur.Instagram: @moningerkristinaTikTok: @kristinamoninger_autorin
WIE NAHE WAGST DU DICH AN DEN ABGRUND, WENN JEMAND VERSPRICHT, DICH AUFZUFANGEN?Verena wollte nie mehr zurück in ihre Heimat an den Felsenhimmel. Zu sehr haben sie die fatalen Ereignisse des vergangenen Sommers geprägt. Doch dann führt sie ein Modeljob ausgerechnet wieder dorthin, wo sich ihr Leben für immer verändert hat. Zu allem Überfluss muss sie sich auch noch mit dem attraktiven, aber viel zu direkten Mattia ein Chalet teilen. Verena ahnt nicht, dass der ehemalige Polizist den Auftrag hat, die Wahrheit über den Sommer ans Licht zu bringen, der alles verändert hat ...Die neue New-Adult-Suspense-Serie von #1-Spiegel-Bestsellerautorin Kristina Moninger
Kristina Moninger
Red Summer
Forever by Ullsteinwww.ullstein.de
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ISBN 978-3-98978-040-8
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Content Note
Prolog
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Epilog
Quellen
Triggerwarnung
Danksagung
Leseprobe: Story of My Life
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Content Note
Für Pascal
It’s too late for choosing sides
Two-faced, caught in the middle
aus »Two Faced« von Linkin Park
Dieses Buch beinhaltet sensible Themen, die für manche Menschen belastend sein können.
Am Ende des Buches befindet sich eine ausführliche Triggerwarnung.
Die Reifen des weißen Vans knirschen auf dem Kies. Einen Moment lang glaube ich, der Wagen würde nicht rechtzeitig vor der Parkplatzabsperrung zum Stehen kommen. Ich bleibe trotzdem sitzen, mitten in einer Staubwolke. Darauf wartend, dass sie mich sieht. Durch die Scheibe ist im Dunkel der Nacht nicht viel zu erkennen. Ich bilde mir dennoch ein, ihren scharfen Blick erahnen zu können.
»Hey, Kleine«, will ich sagen. Wie am Telefon. Aber etwas an diesen Worten ist falsch. Der alte Kosename passt nicht mehr.
Hab ich dich erschreckt?
Wenige Stunden ist das her und jetzt ist sie hier und ich bin erleichtert. Seit vielen Wochen bin ich ein Schatten und ein Geist und ein Halbmensch. Ich bin da und bin es doch nicht. Es ist seltsam befreiend und beängstigend zugleich, wenn alle Menschen, die du liebst, dich für tot halten. Nur hab ich dabei offenbar verlernt, die Konsequenzen meines Handelns ausreichend zu bedenken. Aurora hätte vor Schock einen Unfall bauen können.
Die Tür öffnet sich. Zuerst springt ein Hund heraus, der ein drohendes Bellen von sich gibt. Ich stehe auf. Alles passiert sehr langsam. Ganz anders als in den letzten Wochen. Das hier war nie Plan A. Aurora ist nur meine allerletzte Chance. Meine Schwester pfeift den Hund zurück, dann stolpert sie auf mich zu. Noch im Laufen geben ihre Knie nach und dann kann ich nicht sagen, wer von uns beiden wen auffängt. Sie hängt in meinen Armen und ich in ihren. Wir sichern uns gegenseitig vor einem weiteren Absturz.
»Du …«, fängt sie an. Die Scheinwerfer ihres Vans erhellen unsere Gesichter. Ihre grünen Augen suchen meinen Blick. Der Hund ist ihr gefolgt, hat sich neben ihr hingelegt und ich fühle mich seltsam beobachtet. Aurora hebt die Hände, betastet mein Gesicht. Ihre schmalen Finger wandern über meine Wange. Sie triggern eine vergessen geglaubte Erinnerung. Als Aurora klein war, habe ich so getan, als gäbe es sie nicht, hab sie ignoriert aus Eifersucht. Die kleine Aurora hat umso mehr meine Nähe gesucht, sich nachts in mein Bett geschlichen und mein Gesicht gestreichelt. Was für eine Ironie, dass ich jetzt seit Wochen so tue, als gäbe es mich nicht. Jetzt drehe ich das Spiel erneut um. Ich brauche ihren Pass, ich brauche ihren Van, ich brauche einen Ausweg, denn sonst hätte ich gleich in der Schlucht bleiben können.
»Du lebst«, keucht sie. Ihre warmen Tränen tropfen auf meine Schulter. Und ich fühle die Liebe zwischen uns, fühle den Wunsch, mich in ihren Haaren zu vergraben und nie mehr wegzugehen. Ich kann nicht. Ich bin ihre große Schwester und ich muss sie schützen. Doch das ist unmöglich, wenn ich bleibe. Ich verlagere mein Gewicht auf das linke Bein, manchmal schmerzt der Oberschenkel noch immer.
»Em!«, schluchzt sie. »Em … warum?«
Erst da begreife ich wirklich, dass ich es ihr sagen muss. Nicht nur einen Teil meiner Geschichte. Die ganze schmutzige Wahrheit. Einfach alles. Ich schmecke den Staub auf meinen Lippen, mit ihm die Scham, Angst und Verzweiflung. Meine Muskeln spannen sich an, ich werde steif in ihrer Umarmung und will sie von mir schieben. Aber sie hält mich fest.
»Warst du in Wien? Warst du bei Mama, in Spittal? Wo verdammt noch mal warst du, Emilia, und was hast du getan?« Da ist Wut in ihrer Stimme. Emilia, nicht Em.
»Ich sag es dir, ich sag dir alles«, flüstere ich. »Aber du musst mir schwören, es niemandem weiterzuerzählen. Niemandem, Aurora. Versprich es mir.«
Fünf Typen von F*Boys, es piepst kurz, wie ihr sie erkennt und beim nächsten Mal eure eigenen Muster durchbrecht, tönt es durch meine AirPods, ehe die Stimme meiner Freundin Oksana jäh von einem Anruf unterbrochen wird. An der Ecke Kafkastraße bleibe ich kurz stehen und leite direkt auf Voicemail um. Der Anruf reiht sich mühelos in die rot markierten Namen und Nummern auf meinem Handydisplay. Julian (4) listet direkt hinter Agentur (3), was genau genommen auch Julian, nur vom Festnetz, ist. Ich weiß, was er von mir will, doch leider ist es nicht das, was ich will. Ich tippe erneut auf das Playzeichen, sodass ich wieder Oksanas weiche Stimme höre, die einen schönen Kontrast zu ihren harten Themen und Worten ergibt. Dann schlinge ich den schwarz-weißen Schal enger um meinen Hals und laufe weiter.
Nummer 1 – Mr. Candy Shop – Genau genommen ist dieser Typus Mann noch ein Kind, das glaubt, sich im Süßwarenladen bedienen zu können. Wann immer und wo immer es will. Mr. Candy Shop lebt den Lifestyle eines Rappers aus den Nullerjahren, als noch niemand in Frage gestellt hat, warum die einzige Aufgabe von Frauen in Musikvideos darin bestand, sich in zu kleinen Goldlackbikinis am Pool zu räkeln.
Ich muss ein wenig grinsen. Oksana drangsaliert mich seit Tagen damit, mir Folge 51 endlich anzuhören. Ihrer Meinung nach wäre das eine Art Therapie für mich, um beim nächsten Mal nicht wieder auf einen der Typen hereinzufallen, die sie katalogisiert und gnadenlos in abschließbare Schubladen gesteckt hat. Und natürlich hat sie wie auch sonst mit jedem einzelnen Wort recht. Nur dass ich nichts ändern kann, weil ich trotz Oksanas Ratschlägen meistens erst merke, dass Menschen, besonders männliche, mir nichts Gutes wollen, wenn mein Herz längst wie ein Tausend-Teile-Puzzle in Stücke gestanzt ist.
Wenige Minuten später stehe ich im Flur des Hauses, in dem ich noch bis vor ein paar Monaten mit meinem Bruder gewohnt habe, und öffne die schwere Tür. Vor den Briefkästen lehnt der Lenker eines Fahrrads, der nicht verhindert, dass ein längliches Kuvert aus dem Schlitz mit der Nummer fünf herausragt. Seufzend schiebe ich das Rad beiseite. Ich pausiere den Podcast und atme tief durch. Ich könnte die Post weiter im Fach lassen, aber leider wird sie davon nicht in ein Paralleluniversum verschwinden. Und vor allem nicht in eins, in dem mein Kontostand hoch genug ist, die so harmlos wirkenden Beträge zu begleichen.
Innerlich gehe ich die Absender durch, die mich erwarten. Eine Mahnung für den Kauf meiner Insulinpumpe, weil die Kostenübernahme mit der italienischen Krankenversicherung noch immer nicht geklärt ist, die zweite Zahlungserinnerung zur Stromrechnung, dann sehr wahrscheinlich noch die dritte Rate für meinen Rebuy-Laptop und … ich schlucke … die Miete steht auch noch aus. Seit Jakob nicht mehr die Hälfte übernimmt, sind meine Finanzen eine einzige Katastrophe. Ich schaue auf mein Handy. Kapitalmanagement ist leider nicht Oksanas Businesszweig. Die Lösung ist dennoch einfach, ich müsste nur Julian zurückrufen und einen Auftrag annehmen.
Deine Computerspielchen zahlen die Miete nicht, Honey, höre ich Leo im Geist sagen. Als ob ich das nicht selbst wüsste. Mit Computerspielchen meinte er meinen Freelancerjob in der Werbeagentur. Leo, der tot ist. Leo, dessen Spitzfindigkeiten ich seither lauter höre als je zuvor. Mit deinem Gesicht setzt man sich nicht vor einen Bildschirm, da posiert man vor einer Kamera.
Ich ziehe die Post aggressiver als nötig aus dem Briefkasten. Auf den ersten Blick sehe ich am Absenderstempel, dass sich meine Befürchtungen mehr als bewahrheiten. Einer der Briefe enthält eine Mahnung für den ÖH-Beitrag für das letzte Semester. Mir wird heiß und kalt und ich spüre, wie meine Finger um die Post herum verkrampfen. Verdammt. Es ist kein hoher Betrag, aber zusammen mit der Pumpe, der Miete … Ich setze mich auf die Steintreppe und versuche, ruhig zu atmen. Wie konnte ich mir nur einbilden, die Wohnung halten zu können, ohne meinen Bruder? Und ohne die gut bezahlten, schwer verhassten Modeljobs. Die Fahrten nach Hause, die Ausfälle wegen der Befragungen zu den Vorfällen am Felsenhimmel … Sofort schießt mein Puls wieder in die Höhe. Mir wird schlecht und ich kontrolliere meinen Blutzuckerspiegel auf meiner App. Alles im Normbereich. Scheiß Psyche.
Der Gedanke an ein neues Casting ekelt mich an.
Ich fokussiere mich stattdessen auf den letzten Teebeutel Rooibos mit Bratapfel in meiner Küche, auf die Couch, auf das Buch, das ich schon ewig lesen will und das unangerührt auf dem Tisch liegt. Auf die zweiunddreißig Minuten Bad Girls 4 Life, die ich noch anhören will. Auf den Chat mit meinen besten Freundinnen, in dem ich mich zwar nicht über meine Ängste bezüglich der Bergtour, aber über alles andere auslassen kann. Ich beschließe, Kemi, Alina und Oksana nachher in unserem Freundinnen-Chat ›NextFlex‹ zu schreiben. Der Name war Kemis Idee, weil unsere Netflix-Seriensucht so ziemlich das Einzige ist, was wir wirklich alle gemeinsam haben. Mit Kemi und Alina habe ich genauso viele Sandkastenkuchen gebacken wie heimliche Zigaretten geraucht und Piccolos aus dem Lager des Chalets stibitzt.
Oksana ist meine erste Freundin aus Wien und kam später dazu, als ich sie nach einem Wellnesswochenende in einem heruntergekommenen Spa in Bozen meinen beiden Freundinnen aus der Kindheit vorgestellt habe.
Oben lässt sich die Wohnungstür nicht öffnen, sie hakt, und ich ziehe daran, ehe ich an das Zusatzschloss denke, das ich Magnus zu verdanken habe. Ich bin mir sicher, dass das niemanden abhält. Es ist nur eine Sperrholztür, wenn jemand reinkommen will, tritt er sie einfach ein. Magnus’ Sorge hat mir schon vor Wochen mehr Angst gemacht als die vermeintliche Bedrohung an sich. Vermeintlich … ich schüttele mich bei dem Gedanken und rufe mir das letzte Telefonat mit meinem Bruder ins Gedächtnis. Der Verdacht gegen ihn hat keine weitere Bestätigung erhalten. Jakob könnte, wenn er wollte, jederzeit zu Aurora in den Van steigen und die Welt bereisen. Er ist frei. Aber der Felsenhimmel leidet schwer unter den Anschuldigungen, die Buchungen bleiben aus. Und Jakob versucht alles, um das Familienunternehmen zu retten. Mit Auroras Hilfe. Aber ich, ich bin wirklich frei. Oder nicht? Der Red Summer liegt hinter uns, das Grauen sollte ein bisschen an Intensität verloren haben. Zumindest bis es früher dunkel wurde, der Herbst sich ankündigte und mit ihm eine seltsame Paranoia. Seit Wochen drehe ich mich ständig um, wenn ich alleine nach Hause gehe, und immer wieder bilde ich mir ein, diese Person im Buff-Tuch zu sehen.
Ich schaue hinunter auf meine Fußmatte. Wo ein einzelner Briefumschlag liegt. Mit dem Schlüssel hantierend, die Post unter den Arm geklemmt, mache ich einen Schritt über die Bastmatte und lege drinnen alles ab, ehe ich mich bücke und den Umschlag aufhebe. Er ist leicht. Ich ziehe etwas dünnes Weißes mit schwarzer Schrift heraus. Mein Mund wird trocken, die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen und ich muss heftig blinzeln, um den Satz fokussieren zu können.
Nichts ist zu Ende, bis es zu Ende ist.
Hastig trete ich die Tür hinter mir zu, mein Herz reagiert unmittelbar auf die Botenstoffe, die mein Hirn aussendet. Nie zuvor hat ein winziger Glückskekszettel eine bedrohliche Wirkung auf mich gehabt. Ich drehe den Schnipsel in den Fingern, versuche, mich zu beruhigen, mir eine plausible Erklärung dafür einfallen zu lassen, aber in mir ist nichts als Leere.
Dann merke ich, dass hinter dem Glückskeksspruch ein zweiter hängt. Ich trenne die beiden voneinander und lese die Worte, während ein unangenehmes Pfeifen in meinen Ohren alle anderen Geräusche killt. Das kann nicht sein. Das ist absolut unmöglich. Sie ist … es ist … Monate her.
Falls du auf ein Zeichen gewartet hast.
HIER
ist es.
»Ich mache es nicht, Julian. Den Auftrag. Ich kann das nicht. Ich will das nicht. Ich wünschte wirklich, ich …«
»Was?«, fragt er ein bisschen lauter. »Wünschst du dir, du wärst hässlich und würdest nicht mehr gebucht werden?«
Irgendwie trifft es das ziemlich genau. Direkt auf die Zwölf. Aber das kann ich nicht laut aussprechen, es klänge undankbar. Es wäre undankbar.
Julian beugt sich ein wenig zu mir nach vorn, er schaut über den Brillenrand. In was für eine Kategorie F*Boy Julian fällt, wird mir plötzlich klar, als sähe ich den Junior Arts Director der Agentur, für die ich seit Monaten Aufträge erfülle, zum ersten Mal.
Mr. Napoleon gehört zur gefährlichsten Kategorie. Man denke an … größenwahnsinnige kleinwüchsige Männer … Da kann ich nur sagen: Run, Baby, run!
Er ist Mr. Napoleon. Klein, unempathisch, egoistisch und größenwahnsinnig, was seinem Job vermutlich nicht schadet.
»Ich würde mir einfach wünschen, dass mein Kopf gefragt wäre«, sage ich leise, weil er mich noch immer mit dieser Mischung aus Unverständnis und Abschätzigkeit mustert.
»Dein Kopf ist gefragt, weil er verdammt hübsch ist, aber vielleicht kommen wir ja über deine äußeren Werte auf die inneren und bieten dir nach der Kampagne eine Festanstellung an. Das ist in etwa so wahrscheinlich wie … wie …«, Julian sucht händeringend nach einem Vergleich.
»Wie die Reunion von Sophie Turner und Joe Jonas?«, helfe ich aus.
»Ja, genau«, sagt er mit etwas zu viel Enthusiasmus in der Stimme. Ich schaue auf das Papier mit den Details der Kampagne, versuche, die aufkommenden Gefühle zu unterdrücken, aber es gelingt mir nicht.
Meine Brust wird eng, ich ringe nach Atem. Ich will nicht nach Hause. Nicht nach Italien. Nicht nach Meran und schon gar nicht an den Felsenhimmel. Allerdings … Mit einem Schlag wären all meine Geldsorgen Vergangenheit. Es wäre dumm, nicht zu unterschreiben. Genauso dumm, wie es ist, schon wieder etwas zu machen, was ich nicht will. Mein Körper ist mein Kapital und das mit der Erweiterung des Portfolios will einfach nicht klappen, egal, was ich mache. Ich wünschte, der Inhalt meines Kopfes wäre interessanter als der meines BHs, meine Schlagfertigkeit gefragter als mein Augenaufschlag. Aber es hilft nichts. Ich brauche Geld. Und auf die Festanstellung in der Agentur habe ich schon fast zu hoffen aufgehört.
»Hast du wirklich nichts anderes?«, frage ich. Irgendetwas, nur nicht ausgerechnet zu Hause.
»Nope.«
Meine Verzweiflung scheint Julian nicht zu bemerken oder aber sie ist ihm schlicht egal.
»Das war wirklich ein happy coincidence«, sagt er und vergisst dabei offensichtlich, dass es für das gebuchte Model wohl eher ein sehr unglücklicher Zufall war, sich vor zwei Tagen mit der Ex-Frau ihres Freundes geprügelt zu haben und nun wegen der dicken Veilchen im Gesicht nicht kampagnentauglich zu sein. Julian ist noch nicht fertig. »Wobei ich ja glaube, dass dein background das main criteria war. Die Authentizität, mit der man spielen kann. Das ist alles so real.«
Ich lächele gezwungen und schaue an ihm vorbei durch die Glasfront auf die Wiener Innenstadt. »Es ist ein tolles Angebot«, sage ich leise. Das ist nicht einmal eine Lüge. Julian strahlt. »Ich war auch echt invested, nicht so einfach bei deiner oldschool Sedcard, und Werbespots hast du bisher eher selten gemacht. Auf Social Media bist du auch ein bisschen unterrepräsentiert. Wann hast du das letzte Mal was gepostet? Dein pretty face kann es nicht immer rausreißen, Verena. Aber ich habe hart verhandelt.«
Ich erwidere nichts. Was auch? Ich kann weder Ja noch Nein sagen. Beides schließt sich rigoros aus.
»Wir könnten sicher noch was rausholen, wenn dir das Geld nicht reicht«, sagt Julian mit dieser Stimme, die klingt, als würde er ein Kleinkind zurechtweisen.
Ich schüttele den Kopf vorsichtig. »Das ist es nicht, ich … ich kann nur nicht … Ich kann doch nicht …«
Dorthin, wo alles passiert ist. Schon wieder. Dorthin, wo Leo und Emilia gestorben sind, Tristan gestorben ist, ein Mörder frei herumläuft.
»Ich kann nicht in meiner Heimat vor der Kamera posieren und so tun, als wäre ich eine Touristin. Ich kann doch nicht Darstellerin in einer Tourikampagne sein«, presse ich heraus.
»Hä?«, macht Julian sehr deutsch und rutscht auf seinem Stuhl herum. »Gerade deswegen. Das macht das Ganze doch so authentisch! Komm schon, das wird special.«
Davon bin ich überzeugt. Aber so special will ich es gar nicht haben.
»Du posierst ein bisschen vor dem Eiger, zeigst den Bergen deine Features und kassierst einen fetten Betrag und Publicity.«
Ich verzichte darauf, Julian zu erklären, dass der Eiger in der Schweiz liegt und auch, dass ich mir nichts aus Publicity mache.
Er spielt mit dem Kuli und wechselt dann das Thema. »Sag mal, hast du nicht neulich erzählt, dass dein Bruder mit seinen Chalets ziemlich tight ist?«
Ob Julian sehr verletzt wäre, wenn ich ihm sage, dass er es neuerdings mit den Anglizismen etwas übertreibt?
»Was hat das mit mir zu tun?« Ich reibe meine Hände an meiner Hose, sie sind klamm und der Stoff ist zu glatt, als dass es helfen würde.
»Na ja«, er dehnt seine Worte, dann funkelt er mich vergnügt an. »Es geht ja um die area und man könnte ja dafür sorgen, dass der Felsenhorizont besonders gehighlightet wird.«
»Himmel«, sage ich.
»Whatever …, sodass euer Chaletdings einen prominenten Platz in der Kampagne bekommt. Sicher gut für eure Zahlen.«
Er bemerkt mein Zögern sofort und ich sehe, wie es in seinen Augen blitzt. Er hat gewonnen. Er weiß es. Ich weiß es.
»Kannst du mir das garantieren?«
Er zuckt leicht mit den Achseln, rückt die Brille auf der Nase zurecht und sagt dann nach einer Kunstpause: »Safe.«
Ich atme tief ein, laut wieder aus. »Wo muss ich unterschreiben?«
Den Kopf an die Scheibe gelehnt, schaue ich zu, wie die Stadt immer schneller an mir vorbeifliegt. Weil Wien so weit östlich liegt, ist es hier noch früher dunkel als in Meran. Zu Hause bekomme ich am Nachmittag um die dreißig Minuten mehr Tageslicht.
Ich fahre rückwärts, weil ich das liebe, weil ich so nur sehe, was hinter mir liegt, und immer das Gefühl habe, das Ziel rücke schneller näher.
»Sitze im Zug«, tippe ich an Jakob.
Er schickt einen Daumen nach oben und: »Soll ich dich vom Bahnhof abholen?«
Ich: Nicht nötig, danke.
Jakob: Hast du einen neuen besten Bruder?
Ich: Nein, aber du hast genug zu tun.
Jakob: Würde trotzdem kommen und dich holen.
Ich: Weiß ich. Vielleicht laufe ich.
Jakob: Schick mir ein Foto von deinem Koffer.
Ich schicke ein GIF von einer Frau, die auf einem Koffer sitzend einen Berg hinunterrollt, und denke mal wieder, wie schön und gleichzeitig erschreckend es ist, wie gut Jakob mich kennt.
»Ich komme nach Hause«, schreibe ich im NextFlex-Chat.
Kemi schickt sofort ein GIF mit einem Minion, das in die Luft springt.
Alina: Wann? Club? Kino? Essen?
Kemi: Alles.
Ich hänge einen Daumen an beide Nachrichten.
Ich tippe noch ein paar Nachrichten an Freundinnen in Wien. An Hannah, damit sie sich keine Sorgen macht, und an Oksana, mit der ich am Wochenende verabredet war. Entschuldige mich bei allen und verspreche, mich ganz bald zu melden. Kein Wort über die Kampagne, weil ich es nicht ertrage, wenn sie mir begeisterte Nachrichten schreiben und mich beglückwünschen, und weil ich es noch weniger ertrage, zu hören, dass ich doch eigentlich gar nicht mehr modeln wollte. Dann stecke ich mir die AirPods in die Ohren und höre endlich Folge 51 von »Bad Girls 4 Life« zu Ende. Manchmal habe ich Oksana in Verdacht, dass ich ihre liebste – heimliche – Inspo für ihren Psychologiepodcast bin.
Die aktuelle Folge ist bei Typ Nummer drei angekommen, den Oksana als Mr. Golden Retriever bezeichnet.
Golden Retriever haben einen guten Ruf, fair enough. Für Anfänger geeignet, leicht zu erziehen, intelligent, familienfreundlich. Das ist der Typ, der dir Autotüren aufhält, dir in den Mantel hilft und im Flieger dein Handgepäck verstaut. Aber hat dir schon mal jemand gesagt, dass auch der Golden Retriever zum Wildern oder Streunern neigen kann? Also Augen auf, selbst der schönste Goldie stammt vom Wolf ab.
Oksanas Stimme in den Ohren, lehne ich mich gegen den Sitz und schließe die Augen.
Ich liebe, was meine Gedanken machen, wenn ich eindöse. Dinge, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, vermischen sich. Am besten kann ich das beim Zugfahren. Ich versuche, so lange wie möglich in diesem Schwebezustand zwischen Wachsein und Schlafen zu verharren. Nur nicht fest einschlafen, dann kommen die Träume wieder. Irgendwann lässt sich jemand unsanft neben mich fallen und reißt mich aus dem gemütlichen Dämmerzustand. Ich blinzele, schlage mit dem Kopf gegen die Scheibe und sehe, dass draußen dichter Nebel aufgezogen ist. Durch die dicken Kopfhörer meines neuen Sitznachbarn dringt der dumpfe Hall von Bässen und ich weiß, dass ich jetzt weder schlafen noch dösen kann. Der Podcast ist zu Ende, ich schalte die AirPods auf Noise Cancelling, aber die Funktion ist nicht ausreichend für das tiefe Wummern aus den Kopfhörern neben meinem Ohr. Nicht stark genug, um gegen die Geräusche aus der Vergangenheit zu bestehen, auf die ich geradewegs zurase. Rückwärts und mit 265 Kilometern die Stunde.
Mein Rucksack liegt auf dem Bett, mehr Pullover als T-Shirts, lange Hosen, eine Winterjacke. Jetzt muss ich nur noch die Tasche mit dem Laptop packen und dann … Ich sehe aus dem Fenster, hinaus auf meine Stadt. Neapel wird mir fehlen, aber ich weiß, wofür ich es tue. Und vor allem, für wen. Noch einmal gehe ich meine Notizen durch, auch wenn das gar nicht nötig ist. Ich habe ihre Namen inzwischen gut im Kopf, kann mir ihre Gesichter einigermaßen vorstellen, weiß, wen ich finden muss.
Die Skizze auf dem obersten Blatt sieht fast aus wie ein family tree. Die Truppe am Felsenhimmel. Verena, Jakob, Emilia, Leo, Tristan, Magnus. Sechs vermeintliche Freunde, von denen die Hälfte inzwischen tot ist.
Verena Hofer, Jakobs Zwillingsschwester, hat einen Social-Media-Account, auf dem ich zwar nichts über die Bergtour finde, bei der Leo Weidl und Emilia Martini im vergangenen Frühsommer abgestürzt sind, der mir aber verrät, dass sie in Wien lebt und als Model arbeitet. Sie und ihr Bruder haben zu dem Absturz ausgesagt. Sie haben fast identische Geschichten erzählt, die sich so ähnlich sind, dass sie abgesprochen sein mussten. Einer von ihnen hat den anderen gedeckt. Ich schaue auf den Ausdruck, den ich mir direkt von der Homepage der Tadigo Group gezogen habe. Es ist ein Nachruf auf Tristan Grasser. Den dritten Toten des Red Summer. Wie sein Cousin Magnus ist er Teil eines riesigen Firmenkonsortiums. Oder besser: war. Tristan Grasser, der Todestag datiert nur wenige Wochen nach dem fatalen Sturz von Leo und Emilia in die Schlucht des Felsenhimmels. Niemand ist für den Tod der Wanderer zur Verantwortung gezogen worden. Er wurde als Unfall deklariert. Anders als bei Tristan, dessen Körper in der Passer entsorgt wurde, der aber nicht am Fundort ermordet wurde. Sein Fall ist ein Cold Case. Noch. Ich greife nach dem Prepaid-Handy und checke die Anweisung. Datum, Uhrzeit, Ort. Meine linke Hand zuckt zu dem gerahmten Foto neben dem Bett, will es nehmen und auf den Koffer legen. Aber im letzten Moment entscheide ich mich dagegen. Lucas Gesicht ist wie auf meine Netzhaut gebrannt. Ich muss seine Augen nicht auf einem Foto betrachten, sein trauriger Blick verfolgt mich auch so. So lange, bis ich mein Versprechen endlich eingelöst habe. Und selbst dann … werde ich mir wahrscheinlich nie verzeihen, ihn nicht gerettet zu haben. Ich werfe das Handy in die Tasche und schließe den Koffer, während sich ein neues Kapitel öffnet.
Schneebedeckte Gipfel ragen wie angespitzte Bleistifte über Meran auf. Dennoch habe ich die Temperaturen wohl etwas unterschätzt. Mein Pullover ist zu dick, ein T-Shirt hätte es auch getan. Die Luft ist klar und herbstlich. In Neapel hat es selbst jetzt Mitte November um die 20 Grad und in der Via Mirelli hängt Laura noch immer Sommerkleider zum Trocknen auf den Balkon, auf dem ich nie mehr Rotwein trinken werde. Um ehrlich zu sein, hatte ich mich auf ein bisschen Kälte gefreut. Das hab ich jetzt davon, Davide zum ersten Mal im Spätherbst zu besuchen und nicht zu wissen, wie mild der hier sein kann. Besuchen … Das trifft es nicht wirklich. Als ob es nur ein Besuch wäre. Als ob. Seufzend setze ich mich mit meinem Gepäck auf dem Rücken in Bewegung, die Schiebetüren unter dem gelben Rundbogen öffnen sich.
Der kleine Innenraum des Meraner Hauptbahnhofs ist leer, bis auf zwei Teenager, die kichernd vor einer altmodischen Waage stehen und mit ihren Handys Fotos machen. Der Mann hinterm Schalter schaut kurz auf, als ich zum Zeitschriftenkiosk mit dem Schriftzug »Alto Sera« schlendere, zuerst vorgebe, die Postkarten zu studieren, und dann meinen Ärmel ein winziges Stück nach hinten schiebe und ihm das verabredete Zeichen zeige. Der Verkäufer hinterm Tresen versteht.
»Einmal das Tagblatt, bitte«, sage ich auf Italienisch. Der Mann nickt mir zu und ich komme nicht umhin, mich zu fragen, ob er sonst auch hier Zeitungen verkauft oder ob er als Kontaktmann nur heute an den Kiosk abkommandiert wurde, um mir die aktuelle Ausgabe von Alto Sera inklusive eines Kuverts im Innern zu überreichen. Meine Anzahlung und zugleich mein Auftrag. Ich fühle mit den Fingern über der Zeitung nach, reiche den abgezählten Betrag aus meiner Hosentasche über den Tresen und verabschiede mich knapp.
Draußen sehe ich mich um. Mit dem Geld und den Informationen möchte ich ungern mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Vieran fahren und den Berg hochwandern. Ich könnte Davide anrufen, damit er mich abholt, aber dann ist das Überraschungsmoment dahin. Besser, ich nehme mir ein Taxi.
Das allerdings stellt sich als schwieriger heraus als gedacht. Draußen stehen die Wartenden eng aneinandergedrängt unter einem Häuschen. Es hat angefangen zu regnen und offenbar ist gerade ein Zug mit einigen Touristen angekommen. Nur ein einziges Taxi ist am Stand übrig. Eine blonde Frau steht gebeugt dahinter, mit einem Knie auf dem Koffer, und macht eine wegwerfende Handbewegung in Richtung des Taxifahrers. Ich gehe auf die beiden zu. Der Fahrer wendet sich ab, lässt die Frau einen prallen Koffer, bei dem sich offenbar der Reißverschluss gelöst hat, selbst in den Kofferraum einladen und setzt sich in den Wagen.
»Kann ich helfen?«, frage ich. »Das sieht ziemlich schwer aus.«
»Nein«, sagt sie, ohne aufzuschauen. »Danke.« Sie stopft etwas Rotes durch die Ritze des Verschlusses zurück in den Koffer und flucht dabei leise.
»Aber …«, setze ich an und betrachte kurz ihre zierliche Figur. »Ich kann gern helfen, wirklich.«
»Sehe ich so aus, als würde ich das nicht allein schaffen, oder interessierst du dich auch für den Inhalt meines Koffers?« Sie blitzt mich aus großen Augen an.
»Okay, sorry.«
Dann eben nicht. Ich drehe mich weg und will mich hinter das Taxi stellen, als der Fahrer sich aus dem geöffneten Fenster lehnt und ein lautes »Wird’s bald?« von sich gibt. Sein fettiges, in den Nacken gekämmtes Haar macht ihn älter, als er vermutlich ist.
»Wo musst du hin?« Ihre Stimme ist auf einmal sehr viel zarter als eben noch. Fast schon entschuldigend. Sie hat es tatsächlich geschafft, den Koffer in den Wagen zu wuchten, und pustet sich eine Strähne aus dem Gesicht.
»Schon gut, ich nehme das nächste Taxi.«
»Wo musst du hin?«, wiederholt sie, und jetzt sehen wir uns zum ersten Mal direkt in die Augen. Ihre sind blau. Blauer als blau, stechend und klar wie ein Bergsee. Ich möchte ihren Blick halten, bis auf den Grund sehen, aber sie schaut zur Seite. Sie lässt den Kofferraumdeckel zufallen und zupft ihren grünen Mantel zurecht.
Wie war die Frage noch? Ich räuspere mich. »Nach Vieran, aber …«
»Ich muss auch nach Vieran«, sagt sie mit fest aufeinandergepressten Lippen. »Sorry für eben. Ich wollte dich nicht anblaffen. Dieser Typ … egal.« Sie bricht ab.
»Wir könnten uns das Taxi teilen? Und die Kosten. Das wäre doch praktisch«, schlage ich vorsichtig vor.
Sie nickt langsam.
Sie hat nicht nur die intensivsten blauen Augen, die ich je gesehen habe. Ihre Haare sind genauso außergewöhnlich. Sehr hell. Sie haben dazu einen leichten Stich ins Rötliche. Als hätte man einen Tropfen Kirschsoße in Vanilleeis gerührt. Sie ist von Kopf bis Fuß durchgestylt. Ein Mix aus Materialien und Farben, der eine erstaunliche Harmonie ergibt. Ihr Handy hält sie in der Hand vor sich, als müsse sie dringend Distanz schaffen. Ich versuche, ihr Alter zu schätzen. Mitte, Anfang zwanzig, vielleicht auch jünger.
»Also …«, sagt sie. Ich höre sie ausatmen. Sie lächelt leicht. Weiße, gerade Zähne, eine kleine Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen. Ein wenig, als hätte sie es einstudiert, dieses Lächeln. Es erreicht ihre Augen nicht, sie bleiben unbeteiligt und kühl.
»Möchtest du vorn sitzen?«, biete ich an.
»Nein«, erwidert sie schnell. »Danke. Geh du ruhig nach vorn.«
Ich öffne die Tür hinter dem Fahrer und halte sie ihr auf. Ihre Augen werden noch ein bisschen runder. Zögerlich kommt sie einen Schritt näher. Sie ist fast so groß wie ich. Zarte Hände mit kurzen, lackierten Fingernägeln. Ich betrachte sie. Die Finger, das Gesicht, Details ihrer Kleidung, die kleinen Perlenohrringe, der weiße Kragen einer Bluse unter einem wild gemusterten Oversize-Pulli, die schwarze Jeans mit dem weiten Bein, die braunen Wildlederschuhe.
Ohne ein weiteres Wort umrunde ich den Wagen, platziere meinen Rucksack mit dem Flecktarnmuster auf dem freien Platz hinter dem Beifahrersitz und steige ein. Der Innenspiegel ist so ausgerichtet, dass ich, ohne mich zu verrenken, heimliche Blicke auf sie werfen kann. Sie hat ihre Augen auf ihr Handy geheftet und schält sich währenddessen etwas umständlich aus ihrem grünen Mantel. Ihre Wimpern sind lang, dunkel getuscht, aber ich frage mich, ob sie darunter so hell sind wie ihre Haare. Sie hat eine kleine, perfekte Stupsnase mit einem winzigen Schwung nach oben, einen vollen Mund, dessen Oberlippe ein tiefes, sinnliches V formt. Sie ist bildschön, keine Frage. Ich senke die Augen, weg vom Innenspiegel. Aber zu spät, sie hat längst bemerkt, dass ich sie anstarre.
Da ist mehr. Etwas, das sich wie ein Schatten über sie legt. Ich kenne das, ich suche nach dem richtigen Wort. Und schlucke, als es mir einfällt. Das, was wie eine Schicht Make-up über ihren Zügen liegt, ist mir so bekannt wie vertraut. Sie ist traurig. So traurig, wie ich es war, bevor ich wütend wurde. Ich will etwas sagen, ohne zu wissen, was. Dein größter Fehler ist, dass du immer denkst, alle anderen hätten ein Problem, das nur darauf wartet, von dir gelöst zu werden. Was geht mich die Traurigkeit dieser Frau an? Dabei bist du das fucking Problem, Mattia. Weil du einfach nicht loslassen kannst. Niemand bringt ihn dir wieder, egal, was du tust.
Aus dem Augenwinkel, um mich von den düsteren Gedanken abzulenken, beobachte ich, wie sie das Handy senkt. Auf dem Screen zeichnet sich ein Diagramm ab. Aktienkurse vielleicht.
Ein winziges Lächeln spielt um ihre Lippen. Jetzt ist es ein echtes Lächeln. Auf die bezauberndste Art traurig. Und ebenso schnell wieder verschwunden, wie es aufgetaucht ist. Ich muss aufhören, sie so anzustarren.
Eine Weile gelingt es mir, mich auf die Straße zu konzentrieren. Auf die Zeitung in meinem Schoß. Die erste Spur seit Monaten. Sie haben alle recht. Papa, Mama, Davide, Laura, Sylvie … Ich mache Luca nicht wieder lebendig, aber ich kann für Gerechtigkeit sorgen.
»Alto Sera, hm?«, knurrt der Taxifahrer und tippt mit seinem Zeigefinger auf die Zeitungsrolle in meinem Schoß. Automatisch schließen sich meine Finger fester um das Papier.
Er lacht verächtlich. »Nichts Spannendes mehr seit dem Mord im Sommer. Kannst du dir sparen, das Käseblatt. Seit sie den Roten Sommer ausgeschlachtet haben, nur noch Politik und manchmal eine Halbnackte auf der Rückseite.«
Ich wünschte, er würde die Klappe halten. Ich möchte mich nicht mit ihm unterhalten. Ich möchte mich mit ihr unterhalten und habe keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Was ich sagen soll. Schönes Wetter trifft nicht zu, draußen regnet es inzwischen stärker. Ich kann auch schlecht fragen, ob und wo genau sie Urlaub macht, ohne wie ein Stalker zu wirken. Da vibriert mein Handy. Es ist Sylvie.
»Hoi, Sylvie«, sage ich.
»Seit wann bist du hier?«, will sie wissen, ohne Umschweife, ohne Begrüßung.
»Vor etwa einer Stunde angekommen. Wo bist du?«
»Auf einer Demo mit den Jungs. Ich brauche noch ein bisschen. Meinst du nicht, du solltest Davide Bescheid geben? Er glaubt wirklich, du und ich …« Sie stöhnt und hält inne. »Ich hab, was du wolltest, aber vielleicht wäre es Zeit für die Wahrheit, Mattia.«
Diese Diskussion führe ich nicht zum ersten Mal mit Sylvie, und obwohl ich meine Schwägerin wirklich gernhabe, verfluche ich mich selbst dafür, sie meinem Bruder vor drei Jahren vorgestellt zu haben. Es hat unser beider Leben nicht gerade weniger kompliziert gemacht. Ich atme tief ein, versuche, so ruhig wie möglich zu bleiben.
»Auf keinen Fall. Wir können es ihm nicht sagen. Das geht nicht. Du und ich, sonst niemand, Sylvie. Er ist mein Bruder, ich kann das nicht riskieren.«
Die Ampel schaltet auf Grün und wir fahren wieder. Neugierig, ob meine Mitfahrerin dem Gespräch lauscht oder sich überhaupt nicht für mich interessiert, linse ich in den Innenspiegel. Und sehe direkt in blaue Augen. Sie wendet den Blick nicht ab, sie fixiert mich und ihr schöner Mund ist auf einmal schmal und verkniffen.
»Ich weiß nicht …«, murmelt Sylvie in den Hörer und holt mich gedanklich zurück zu unserem Gespräch.
»Gib mir noch ein wenig Zeit, um alles zu klären, ohne dass wir Davide da mit reinziehen. Bitte.«
»Ich fühl mich nicht gut dabei.« Sylvies Stimme zittert ein wenig. »Die Ermittlungen wurden eingestellt, ich hatte keine Chance. Das ist alles verdammt gefährlich, Mattia. Auch für mich.«
»Ich bin für dich da, okay. Wir bekommen das hin«, beruhige ich sie, merke aber dabei, wie sich meine Finger um das Handy verkrampfen.
Der Fahrer donnert um die nächste Kurve und gibt Vollgas, um bei der nächsten Ampel nicht stehen bleiben zu müssen. Hinter mir schnaubt es verächtlich. Die Frau auf dem Rücksitz murmelt etwas vor sich hin. Irgendetwas über Hunde.
Ich verabschiede mich von Sylvie und drehe mich dann um.
»Alles okay?«
»Sicher«, sagt sie mit spitzen Lippen und richtet den Blick demonstrativ aus dem Fenster.
»Hast du etwas von einem Golden Retriever gesagt?«
»Nein, siehst du hier einen?«
Ihr Kopf schnellt herum und sie schießt Eispfeile in meine Richtung.
Jetzt bin ich noch irritierter als zuvor. Ich suche in meinem Kopf nach etwas, womit ich diesen Stimmungswechsel provoziert haben könnte, aber komme auf kein Ergebnis. Vielleicht hätte ich einfach nicht so starren sollen.
»Halten Sie da an!«, ruft sie dem Fahrer plötzlich zu und deutet auf das kleine Bushäuschen am Wanderweg. »Ich will hier raus.«
»Infreddolito«, ruft Davide mir zu. Frostbeule, von wegen! »Wieso siehst du aus, als wolltest du die Antarktis erforschen? Hier oben gibt’s keine Eisbären, da muss ich dich enttäuschen.« Ich rucke den schweren Rucksack auf meiner Schulter zurecht und schaue hoch auf die Terrasse.
Davide lehnt den Besen, mit dem er eben noch gegen den Laubteppich gekämpft hat, an die Bruchsteinwand des Hauses und kommt mit weit geöffneten Armen und langen Schritten auf mich zu. Er ähnelt unserem Vater dabei in Gang und Körperbau so sehr, dass ich schmunzeln muss. Seine leichten X-Beine stecken in Jeans, die zwei Nummern zu kurz sind, er trägt wie immer ein altes Fußballtrikot und seine wirren Locken stecken unter einer verwaschenen Kappe. Er zieht mich in eine feste Umarmung und wuschelt mir durch meine kinnlangen dunklen Locken, so wie er es schon immer gern gemacht hat. Dann betastet sein rechter Arm hinter meinem Rücken das Gepäck. Ich drehe mich ein wenig zur Seite. Aus alter Gewohnheit, mir nicht in die Karten, nicht ins Gepäck, schon gar nicht in die Gedanken schauen zu lassen.
»Was hast du da drin? Ein Maschinengewehr? Handgranaten? Sprengstoff?«, brüllt er direkt in mein Ohr. »Spinnt das Netz von La Famiglia seine Fäden jetzt auch schon bis nach Meran?« Sofort werde ich ein wenig steif unter Davides Umarmung. Er merkt es. »Sorry. War nur ein Witz.« Er löst seine Arme, hebt die Hände, als würde er sich mir ergeben. »Schlechter Witz.«
Für meinen ältesten Bruder, der mit achtzehn begriffen hat, dass Fußball sein Hobby bleiben wird, und eine Lehre auf einem Biogut in Bergamo begonnen hat und seither Norditalien treu geblieben ist, bietet alles südlich von Bologna Potenzial für Mafia-Anspielungen. Ohne eine Ahnung zu haben, wie sehr er manchmal ins Schwarze trifft. Die Straßen von Neapel, der ewige Kampf gegen Korruption, Drogen, Gewalt ist … war mein Arbeitsalltag. Während Davide sich ohne große Probleme die Stollenschuhe und den Traum vom Profifußballer aus- und die Gummistiefel samt Ziegendreck angezogen hat, habe ich nach sechs Monaten Abstand vom Polizeidienst noch immer Anpassungsprobleme. Um nicht in weitere Grübeleien zu versinken, schaue ich mich um. Alles ist, wie ich es von meinem Urlaub im April in Erinnerung habe. Auf der Terrasse räkeln sich Katzen in den letzten Sonnenstrahlen des Tages, der Selbstbedienungsautomat neben dem Wohnhaus ist mit Milchprodukten bestückt, davor stehen zwei Frauen und diskutieren miteinander. Eine von ihnen trägt eine Funktionsjacke, die andere bindet sich das dichte Haar zu einem Pferdeschwanz, während sie wild gestikuliert. Ich höre nicht, was die beiden zueinander sagen, aber ihre Körper sprechen Streit.
Davides staubiger Polaris Ranger parkt so dicht am Haus, dass man meinen könnte, er wolle vom Fahrersitz direkt auf die Couch klettern. Was vielleicht auch daran liegt, dass der Parkplatz von Pkw, einem Wohnmobil und einem Campervan mit deutschen und österreichischen Kennzeichen besetzt ist. Ich schaue mich weiter um. Sogar Mamas handgeknüpfte Hängematte baumelt noch an dem niedrigen Balken der Veranda. Nur die drei kurzgeschorenen Tiere auf einer Weide unweit der Terrasse sind neu. Davides Biohof auf 3800 m Höhe östlich von Vieran ist klein, alt, aber gut gepflegt und überlebt nicht dank des würzigen Käses, den er so stolz serviert wie früher seine gefürchteten Flanken, sondern weil er die Zimmer unterm Dach an Gäste verpachtet.
»Schön, dass du da bist.« Er mustert mich aus zusammengekniffenen Augen. »Du bist dünn. Bald dünner als ich.« Er sagt es mit einem triumphierenden Unterton. Dünnsein gilt bei den d’Alessis als der Pate unter den Beleidigungen. Ich strecke mich, ziehe ihm die Kappe vom Kopf und sage: »Kann es sein, dass du Geheimratsecken bekommst? Wie alt bist du? Fünfunddreißig?«
Direkt nach dünn kommt kahlköpfig.
»Zweiunddreißig, stupido!«, kontert er und dann folgt eine zweite Umarmung. Es ist ein ewiger, liebevoller Vergleich zwischen uns Brüdern. Einer, den Luca für immer verloren hat.
Davide hat ein wunderschönes Haus, Luca nur noch ein Grab. Davide ist der, mit dem ich mich schon immer am wohlsten gefühlt habe. Luca war der, mit dem ich am häufigsten gelacht habe.
»Also, was genau willst du hier?«
»Dich besuchen, natürlich«, erwidere ich.
Davide legt den Kopf schief und bedeutet mir, ihm auf die Veranda zu folgen. »Wir sind ausgebucht, aber du kannst natürlich gern mit den Jungs im Kinderzimmer schlafen oder auf der Couch? Wenn dir das nichts ausmacht.«
Wenn Davide sich seit meinem letzten Besuch kein neues Sofa gegönnt hat, das länger als 1,30 m ist, wird es wohl das Kinderzimmer werden.
»Ich bleib nicht so lang, vielleicht suche ich mir auch was unten im Tal.«
Es ist viel zu gefährlich, lange hier zu bleiben. Ich muss ihn finden, ehe jemand mich hier findet.
Davide zieht eine Grimasse. »Ah, du wirst sie auch noch schätzen, die Ruhe hier oben. Keine Autos, keine Seilbahn, dafür Natur, so weit das Auge reicht. Entspannung pur, Alpenfrieden, mein Lieber!«
Ich denke an die beiden streitenden Frauen von vorhin. So viel zum Alpenfrieden.
»Auf was für einer Demo ist Sylvie eigentlich?«, erkundige ich mich und bemerke meinen Fehler zu spät.
Mein Bruder verengt die Augen. Er ist immer latent eifersüchtig auf alles, was mich und Sylvie betrifft. Auf unsere gemeinsame Vergangenheit und all die Dinge, die er aus für ihn unverständlichen Gründen nie über seine Frau erfahren darf. Das Misstrauen in Bezug auf Sylvies und meine Beziehung kann ich ihm nicht abnehmen und leider auch nicht erklären. Dabei hat Davide gar keine Ahnung, welche Verbindung es zwischen uns wirklich gibt und wie sehr sie sich von seinen Vorstellungen unterscheidet.
»Du hast schon mit ihr gesprochen?«
»Ich hab sie angerufen, weil ich dachte, sie könne mich von Meran aus mitnehmen«, lüge ich und denke dabei an den misstrauischen Blick meiner Mitfahrerin im Innenspiegel. Ein Ausdruck, der jetzt auch auf Davides Zügen liegt.
»Es geht um diese Baugeschichte. Hast du sicher mitbekommen, es gibt eine Petition«, antwortet er zögerlich.
Wie gerne würde ich ihm klarmachen, dass Sylvie etwas völlig anderes für mich ist, als er befürchtet. Aber das ist unmöglich, ohne mit der ganzen Wahrheit herauszurücken. Ohne Sylvie wäre ich nicht hier. Die Frau meines Bruders und mich verfolgen die Schatten der Vergangenheit. Und seinem Schatten läuft man nicht davon. In diesem Fall ist er mir sogar von Neapel bis hierher vorausgeeilt.
Ich höre mit halbem Ohr zu, wie Davide mir irgendwelche komplizierten Immo-Deals erklärt. Ganz offensichtlich, um nicht weiter über Sylvie zu sprechen. Meine Gedanken schweifen ab und kreisen weiter um die Frage, wie viel ich meinem Bruder guten Gewissens anvertrauen kann. Ohne ihn in Gefahr zu bringen, aber auch ohne weiteres Misstrauen zu säen. Denn das hier ist anders als die Aufträge der letzten Jahre. Es ist persönlich. Vielleicht zu persönlich.
Ich komme um fünfundzwanzig Euro erleichtert, mit zerstörten Wildlederloafers und durchweichtem Mantel am Felsenhimmel an. Erneut denke ich, dass ich unbedingt ein neues Logo für das Alpenchalet entwerfen muss. Diese geschnörkelte Schrift im Medley aus Edelweiß und Weinreben schreit so sehr 2000er wie ein Weihnachtsduett von Alicia Keys und Usher.
Auch hier kleben überall auf dem Weg und in den Beeten schon die herabgefallenen bunten Blätter, aber noch sind die Bäume nicht ganz kahl, noch kämpfen Mika, Adam, Aurora und Jakob vermutlich täglich gegen die Berge an Laub. Ich höre unverkennbar das Brummen von Kits KTM über den Hof und muss grinsen. Das wilde Haar unter ihrem Helm weht um ihr Gesicht. Mit schlitterndem Hinterreifen kommt sie vor mir zum Halten, schiebt das Visier nach oben und lächelt breit. »Du bist ja schon da! Ich wollte gerade runterfahren und dich holen.«
»Lieb von dir, aber was hätten wir mit dem hier gemacht?« Ich deute auf den Koffer, während meine kleine Schwester sich von ihrem Moped schwingt und die Arme ausbreitet.
»Hinterhergezogen«, sagt sie, die Backen unter dem Helm unnatürlich weit nach oben gedrückt. »Schlimmer wäre das mit den Rollen auch nicht geworden.« Sie beugt sich leicht nach unten, was mit dem schweren Helm so aussieht, als könne sie jederzeit das Gleichgewicht verlieren. Ich folge ihrem Blick und seufze. Der Koffer ist hinüber, aber ich bin trotzdem froh, dass sich die Rolle erst verabschiedet hat, als das Taxi außer Sichtweite war. »Du bekommst auch alles klein, oder, Nena?«, kommentiert Kit nicht ganz zu Unrecht.
Dann presst sie ihren drahtigen, kleinen Körper gegen mich und ich fühle etwas, was ich nicht erwartet habe.
Ich fühle mich zu Hause.
»Iih, du bist nass«, sagt sie. Mit einem Lachen schiebe ich meine Hände unter ihren Helm, lege sie an ihre butterweichen Wangen und drücke das Innenfutter nach oben. »Ich hab dich auch vermisst, Kitty Kat.«
Sie haben sich einfach alle auf dem Boden versammelt, als gäbe es in Chalet 5 keine Sitzgelegenheiten. Meine halbe Familie und unsere festen Angestellten, die sich ebenfalls wie Familie anfühlen, haben es sich nicht nehmen lassen, meine Ankunft am Felsenhimmel (und die Tatsache, dass mein Modelauftrag dem Felsenhimmel nicht nur Publicity, sondern auch ein ausgebuchtes Haus beschert) mit mir zu feiern. Adam, dessen Jobbeschreibung nicht in einem Satz erklärbar ist; Mika, die nicht nur die Gäste des Felsenhimmels, sondern regelmäßig auch uns mit ihren Kochkünsten verwöhnt; mein Zwillingsbruder Jakob und natürlich Kit, die keine zwei Minuten irgendeinen Körperteil stillhalten kann. Adam hockt auf Yogablöcken, die er, wie er mir unmittelbar nach meiner Ankunft stolz mitgeteilt hat, von Aurora zum Geburtstag geschenkt bekommen hat und seither offenbar jedem Stuhl vorzieht. Kit streckt sich am Boden lang und Mika hat die Sofakissen um ein Tablett mit Falafel und duftenden Schälchen drapiert. Jakob hantiert fluchend am Kühlschrank herum, der keine Eiswürfel ausspucken möchte. Nur ich stehe da, als wüsste ich nicht, wo hier mein Platz ist. Und genau genommen weiß ich es auch wirklich nicht. Ich schaue mich um, kann Aurora aber nicht entdecken.
»Wir könnten auch rüber …«, fange ich an und breche ab. »Ich brauche kein ganzes Chalet für mich, Jakob, das ist Unsinn.«
»Aber die Chalets sind doch sowieso von den Kampagnenleuten bezahlt. Ich frag mich immer noch, wie du das hinbekommen hast«, Jakob schüttelt den Kopf. Eine Mischung aus Anerkennung und Zweifel in seinem Blick.
Ich hasse mich dafür, mich nicht freuen zu können. Nur weil ich meinen Job verabscheue, muss ich Jakob nicht madig machen, was die Buchungen für das Chalet bedeuten. Ich beeile mich, ein Lächeln aufzusetzen, und strenge mich an, es auch zu fühlen.
»War ja gar nicht mein Verdienst. Julian, der Boss der Werbeagentur, für die ich freelance, konnte das raushandeln und es war ganz praktisch. Der Felsenhimmel ist ein guter Ausgangspunkt für alle möglichen Ziele in der Gegend und preislich bist du ihnen so weit entgegengekommen, dass sie die andere Unterkunft einfach storniert haben. Was immer noch nicht heißt, dass ich ein ganzes Chalet für mich allein brauche. Mein Kinderzimmer reicht mir völlig.«
»Da gibt es ein Problem.«
Es gibt immer ein Problem am Felsenhimmel.
»Dein Zimmer ist belegt … da wohnt HaWe«, sagt Jakob und schlägt mit der Faust gegen den Kühlschrank, sodass dieser scheppernd und gurgelnd endlich Eiswürfel spuckt.
»Der Kühlschrank ist auch kein Boxsack«, höre ich Auroras Stimme. Ich schaue zu ihr. Sie hat rote Wangen und wirkt ein wenig außer Atem. Neben ihr trottet Alabaster, ihre Mischlingshündin, die direkt auf mich zusteuert und an mir herumschnüffelt, ehe sie ein tiefes Bellen von sich gibt.
Jakob lächelt Aurora verliebt an. »Da bist du ja.«
»Hi«, sage ich, unsicher, ob ich auf sie zugehen soll oder es bei dem kurzen Gruß belassen soll. Aber Aurora kommt meiner Entscheidung zuvor, sie platziert ihren Rucksack hinter einem Sofakissen, schiebt den Tisch ein wenig beiseite und lässt sich neben Kit auf dem Boden nieder.
»Unser Vater wohnt …«, nehme ich den Faden wieder auf. »Hier? In meinem Kinderzimmer? Seit wann denn das?«
»Über den Winter«, beeilt sich Kit klarzustellen. »Im Sommer gehen wir wieder hoch auf die Alm.«
Ich schaue von meinem Bruder zu Kit und wieder zurück. »Was hab ich verpasst?«
»Sagen wir mal so«, Kit greift nach einer Teigtasche und schiebt sie sich vollständig in den Mund. »Erpff ifft nicht die ganpffeee Nacht in seinem Zimmer!« Sie schluckt geräuschvoll. »Gott, sind die Dinger gut, Mika!« Sie schluckt noch einmal, ehe sie weiterspricht. »HaWe begegnet mir ab und zu auf dem Flur und tut dann so, als würde er Mamas Schlafzimmer mit dem Bad verwechseln.«
Ich runzele die Stirn und suche Jakobs Blick. Er zuckt nur mit den Achseln.
»Du meinst, er und Mama … Iiih.«
»Sie haben drei Kinder gezeugt, darunter dich«, sagt mein Bruder gelassen.
»Na und. Ich will sie mir trotzdem nicht beim Schnackseln vorstellen.«
»Dann stell es dir nicht vor.«
» Dafür ist es jetzt ein bisschen spät. Ich kann nie wieder in mein Zimmer.«
»Ich glaube, er geht zu ihr.«
Ich ziehe noch einmal eine angewiderte Grimasse, über die Jakob lacht.
»Wow, das muss ich erst einmal verkraften. Was hab ich noch nicht mitbekommen?«
»Auroras Van ist weg«, erklärt Kit, schon wieder kauend. Ich schaue zu der dunkelhaarigen Freundin meines Bruders. Noch immer, wenn ich Aurora länger betrachte, fährt mir die Ähnlichkeit zu ihrer Schwester wie ein elektrischer Schlag durch den Sehnerv. Diese Augen, das Lächeln. Ich atme durch und lasse den Blick durch den Raum schweifen, damit sie meine offensichtlichen Gedanken nicht lesen kann. Mit belegter Stimme hake ich nach. »Du hast den Van verkauft?«
Aurora meidet meinen Blick wie ich den ihren. Ob sie es mir immer noch nicht verziehen hat, dass ich ihre Schwester nicht festhalten konnte? Dass ich Emilias Tod nicht verhindert habe? Ich sollte froh sein, dass es nicht zwischen ihr und Jakob steht, aber der Wunsch, auch selbst rehabilitiert zu werden, nagt an mir. Jedes Mal, wenn ich sie sehe. Jedes Mal, wenn Jakob sie in unseren Telefonaten erwähnt. In jedem Traum, der seit unserer gemeinsamen Besteigung des Felsenhimmels im Sommer nun auch Emilias trauernde Schwester miteinschließt.
»Ich hab ihn nur verliehen«, erwidert Aurora. »An eine gute Freundin.«
»Das heißt, ihr beiden habt keine konkreten Reisepläne?«
Mein Bruder kommt auf mich zu und drückt mir eine Bionade in die Hand, die ich dankend entgegennehme. Etwas zum Festhalten.
»Gerade nicht«, sagt Aurora. Ich sehe den Blick, mit dem Jakob ihren sucht, und habe das Gefühl, sie weicht noch immer aus. Ziehen da etwa Wolken auf im Paradies? Nein, Jakob lächelt und lässt sich neben Aurora auf den Boden fallen, und sie fährt mit ihrer Hand in seine Haare. Nur weil meine Liebesbeziehungen mehr Sturmtage enthalten, muss das ja nicht für andere gelten. Es soll auch nicht für andere gelten. Schon gar nicht für meinen Bruder.
Die trägen Sonnenstrahlen des Herbstes sind eigentlich die schönsten, vielleicht weil sie nicht so verschwenderisch sind wie jene im Sommer. Absence makes the heart grow fonder. Vermutlich gilt das auch für die Sonne. Für meine Heimat auf jeden Fall. Als ich am Morgen mit einer Kaffeetasse barfuß auf die Holzdielen der Terrasse trete und meinen Blick über den Schwimmteich und die rostrot schimmernden Laubbäume dahinter schweifen lasse, kann ich ein lautes, fast schon glückliches Seufzen nicht unterdrücken. Das hier ist so ziemlich der schönste Fleck auf Erden, den ich mir vorstellen kann. Und ich wünschte, ich müsste nicht immer wieder vor ihm davonlaufen, weil er so viele Emotionen in mir hervorruft, die sich widersprechen. Wenn ich die Spitzen der Berge betrachte, die bald schon tiefer im Schnee versinken werden und aussehen, als hätte man ein Schokofrosting auf einen Cupcake gegossen, dann spüre ich nicht nur, wie alles in mir ruhig wird, ich fühle auch das schnelle Schlagen meines Herzens, die Angst vor den Bildern des letzten Sommers. Vielleicht, hoffentlich, werde ich irgendwann nicht mehr jeden Tag mit dem Gedanken kämpfen, was ich hätte anders machen können, um die Tragödie zu verhindern.
Von der Terrasse aus kann ich auf einen Teil der anderen Chalets schauen und erkenne Romana, die Fotografin, die soeben die Tür von Nummer acht hinter sich schließt. Wir haben schon bei zwei anderen Shootings miteinander gearbeitet. Es ist angenehm mit ihr. Sofort bin ich ein klein wenig erleichtert, auch wenn ich nach wie vor keine Vorfreude empfinden kann. Dafür hasse ich es zu sehr, meinen Körper auszustellen. Aber Romana ist eine von den Guten. Einfühlsam, geduldig, hat ein gutes Auge.
Ich beobachte, wie das Team der Kampagne sich zum Frühstück ins Haupthaus aufmacht. Danach haben wir ein Teammeeting, in dem die Details der Abläufe besprochen werden. Der größte Teil wird mich nicht betreffen. Weil ich nur das Gesicht bin, nicht der Kopf. Ich checke die App auf meinem Handy: Mein Blutzuckerspiegel schreit Frühstück, nur meine Laune hält radikal dagegen.
Ich nehme mir vor, mir ein paar Vorräte aus der Küche rüber ins Chalet zu holen oder einkaufen zu gehen. Mit der Kampagnencrew zu frühstücken, muss eine Ausnahme bleiben. Seufzend gehe ich mit dem Kaffee nach drinnen, suche nach Socken und meinen Loafers. Finde nur einen davon, der auch noch immer nass ist, und muss beim Durchwühlen meines Koffers feststellen, dass ich tatsächlich vergessen habe, ein weiteres Paar Schuhe mitzunehmen. Also werde ich wohl oder übel in den Einmalstoffslippers aus der versiegelten Verpackung im Bad rüberlaufen müssen. Die ersten sind zu klein, Größe 38, ich hab 41. Also müssen die Herrenslippers herhalten.
In engen Leoleggins, den Stoffslippers, einem pinken Hoodie und mit Sleek Bun schleiche ich mich in den Frühstücksraum. Und hoffe, mich irgendwo unerkannt an einen Tisch setzen zu können. Socialising am Morgen gehört definitiv nicht zu den Skills, die ich in meinen CV schreiben kann. Am Morgen ist mein Mund noch nicht so richtig aufs Geschlossensein programmiert, dann öffnet er sich manchmal und platzt mit ungefilterten, unüberlegten Äußerungen heraus. Deshalb bleibe ich die erste Stunde nach dem Aufwachen meist für mich. Nur dass heute mein Diabetes reingrätscht und nach Broteinheiten verlangt. Vielleicht kann ich mir schnell was vom Buffet mitnehmen und … Aber Romana hat mich entdeckt und winkt mich zu sich. Mist. An ihrem Tisch mit dem besten Ausblick raus auf die immerweiße, 3768 Meter hohe Wildspitze sitzen der neue Chef des Tourismusverbands Meran und seine Entourage. Emilio Manzini, zweiunddreißig Jahre, dunkles, leicht gewelltes Haar, sieht exakt so aus wie in der Pressemitteilung. Inklusive seines perfekt taillierten Maßanzugs in Dunkelblau, den er jetzt im Aufstehen glattstreift, um mir im Anschluss die Hand zu reichen. Auf einer Sedcard könnte er sich ebenso zeigen. Ich schäme mich sofort für den Hoodie, die Slippers und auch dafür, dass ich trotz aller mentalen Anstrengung nicht ansatzweise dankbar bin für die Ehre, meine Heimat in einer Tourismuskampagne repräsentieren zu dürfen. Ich versuche, es mit einem breiten Lächeln wettzumachen. Aus dem Augenwinkel bemerke ich Mika, die am Frühstücksbuffet das Rührei auffüllt und mich dabei beobachtet. Romana lächelt mir zu und auch Julian, der Junior Art Director von AdInspire, hat seine Augen unter der breiten Designerbrille erhoben und schaut mich an.
Manzini scheint unbeeindruckt von meinem Aufzug.
»Setzen Sie sich zu uns, Frau Hofer. Wie schön, dass wir Sie so kurzfristig als Gesicht von ›Himmel, Berg und Herz‹ gewinnen konnten.« Sein Händedruck ist fest, er sprengt fast die Manschettenknöpfe, die in ihrer Form Berggipfeln nachempfunden sind.
»Himmel, Berg und Herz? Wie Himmel, Arsch und Zwirn?«, platzt es aus mir heraus und das ist so völlig untypisch für mich, dass nicht nur ich erstarre, sondern alle um mich herum auch. Außer Manzini, der ja nicht wissen kann, dass das untypisch für mich ist. Einen Moment zuckt seine Hand in meiner, dann lacht er laut und schallend los.
Er wirft Julian einen Blick zu. Julian hat ab und an Anflüge von Humor, aber jetzt verzieht sich sein Gesicht säuerlich. Ich fühle mich sofort elend.
»Das war nicht … das war nur ein …« Ich breche ab. Scherz. Sag, dass es ein Scherz war, Verena. Himmel, Berg und Herz? Es klingt wie ein von ChatGPT lieblos ausgekotzter Slogan. Ich bekomme das Wort »Scherz« nicht raus, auch wenn ich wirklich will. Es reicht also nicht, dass ich wieder gezwungen bin, zu modeln oder schlimmer noch, zu schauspielern.
»Sie hat recht!« Manzini räuspert sich und bietet mir dann den Platz zwischen ihm und Julian an. Er dreht an seinen Manschettenknöpfen und setzt sich dann ebenfalls. »Haben Sie denn Vorschläge?«, fragt er.
»Ich?« Die Hitze kriecht mir in die Wangen. Ich würde gern sagen, dass ich aus dem Stegreif zwanzig bessere Slogans parat hätte als Himmel, Arsch und Berge, aber Julians Blicke bohren sich in meine Seite. »Ich bin nur das Model«, sage ich und lächle. Immer lächeln, besonders dann, wenn es wehtut.
»Eigentlich sollte die Kampagne ›Von den Bergen das Beste‹ heißen«, erklärt Julian und knirscht mit den Zähnen. Ein deutliches Zeichen bevorstehender Eskalation. So viel weiß ich von meinen Meetings bei AdInspire.
»Aber das war zu nah an dem Slogan, mit dem Zell am See Gold beim City Gate gewonnen hat«, ergänzt Julians Assistentin. Eine nette Werkstudentin mit erstaunlich viel eigener Meinung für Julians Geschmack. Hauptsächlich nimmt er sie deswegen ernst, weil er ihren Mikropony und ihre Fishermanhosen unattraktiv findet. Für Julian gibt es entweder hübsche Frauen oder schlaue Frauen oder solche, die beides nicht sind. Er ist einfach katastrophal fehlgeleitet in seiner Meinung zum weiblichen Teil der Bevölkerung. Was daran liegen könnte, dass er nicht nur die Werbeagentur, sondern auch die Gene seines Vaters geerbt hat.
Ich nicke und lächle. Jeder hier kennt die Kampagne, den cleveren Schnitt des Videos, die Preise, die es eingeheimst hat.
»Sie sind das Model, aber Sie sind auch von hier. Was meinen Sie? Seien Sie ehrlich.«
Manzini schiebt mir ein Paper zu, auf dem die Eckpunkte der Kampagne notiert sind. Nichts Spektakuläres, der übliche Kram. Nichts, was eine Geschichte erzählt, sondern lediglich eine Reproduktion dessen, was in den letzten Jahren erfolgreich war. Nichts, was mit Klischees spielt, sondern etwas, das sie mit dem Skistock weiter in die Köpfe vermeintlicher Wintergäste bohrt. Ich wünschte, ich könnte wie Julian neben mir in den Kaffee schauen. Oder mich wenigstens an einer Tasse festhalten. Wenn ich aber noch Chancen auf eine Festanstellung in der Werbeagentur haben möchte, darf es mir mit ihm nicht verderben.
»Das sieht toll aus und klingt wahnsinnig spannend!« Ich hasse es, dass ich manchmal Dinge sage, von denen ich noch im gleichen Moment weiß, dass sie falsch sind. Aber die ich dennoch durchziehe. Mit einem Plakatlächeln auf dem Gesicht.
Vier Wochen vor dem Fall
Der Bass dröhnt so laut, dass die überdimensionale Box in der Ecke sich langsam in den Raum hineinzuschieben scheint. Alles ist in Bewegung. Die tanzenden Leute im Dunst der Nebelmaschine. Magnus, der schwungvoll Champagner in Flöten gießt und leider auch daneben. Hannah, die sich zu ihm über den Tresen beugt und ihr Bein nach hinten streckt. Es riecht nach süßlichem Tabak, irgendetwas mit Erdbeeraroma, obwohl niemand raucht. Vielleicht ist das auch die Nebelmaschine. Mir ist alles zu viel, ich will hier raus oder zumindest auf den Balkon. Aber der ist vom stählernen Rücken eines Typen im Muskelshirt blockiert.
