In Teufels Küche - Martina Schäfer - E-Book

In Teufels Küche E-Book

Martina Schäfer

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Beschreibung

Es sollte ein einfacher Selbstverteidigungs-Kurs für Frauen sein. Schön abgelegen, in einem Gewerkschaftshaus, das an diesem Wochenende für alle Männer gesperrt ist. Da sind nur ein paar Kleinigkeiten, mit denen Wen-Do-Trainerin Jana Müller nicht gerechnet hat. Zum Beispiel, dass sie kurz nach der Ankunft überfallen wird. Dass am nächsten Morgen in der Küche ein Toter liegt. Dass mehrere Polizisten während ihrer Ermittlungen die Frauenidylle besetzen. Und dass sie dort die Liebe ihres Lebens in Form der Polizeifotografin Rosi trifft. Eine Frau, die durch sie in Lebensgefahr und damit in Teufels Küche kommt. Der erste Krimi mit dem "Sauerland-Team".

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Seitenzahl: 190

Veröffentlichungsjahr: 2024

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In Teufels Küche

Martina Schäfer

Für Regina

 Dr. Martina Schäfer 1999/2024

1. Auflage M. Samasow: In Teufels Küche. KBV-Verlag, Elsdorf/Hillesheim 1999

 2. überarbeitete Neuauflage 2024

   Machandel Verlag Haselünne 

Charlotte Erpenbeck  

Cover: Elena Münscher

Bildquelle Foto Kordel: 

ruslanchik / depositphotos.com

ISBN 978-3-95959-452-3

Hinweis:

Dieses Buch ist in der ersten Auflage 1999 mit gleichem Titel, aber unter dem Pseudonym M. Samasow erschienen.    

Die Personen

Die Ermittler (das „Sauerland-Team“):

Jana Müller, Wen-Do-Trainerin

Rosi Kramer, Polizeifotografin 

Schmidtken, Polizist

von Kerkbaum, Polizist

Die Kursteilnehmerinnen:

Anneliese

Birgitt

Frieda (Fritzi)

Irmtraud

Jasmin

Julia

Marianne (Frau Hohlfeld)

Paula

Rosemarie

Ruth

Susanne

Ursula

1. Nächtliche Umtriebe

Ich kann es einfach nicht leiden, in einem unbekannten, dunklen Zimmer von hinten ungefragt angefasst zu werden! Frau hat auf jeden Fall meistens großen Ärger damit, egal, ob es harmlos oder böse gemeint ist.

Meine Reflexe reagieren sofort, jahrzehntelang trainierte Reaktionen, ohne Sinn und Verstand, Blick und Überlegung!

Ach, diese Peinlichkeiten, dieses Nasenbluten, diese verschreckten Ausrufe, die im übelsten Fall in Gerichtsverfahren ausarten, dazu Anklagen wegen Körperverletzung, welche das ohnehin schmale Budget noch mehr belasten.

Also, nichts als Ärger schon bei harmlosem ungefragtem Anfassen.

Oder besagte Person hat es doch schlecht gemeint mit der Frau, die da in das noch unbeleuchtete Zimmer einer Heimvolkshochschule tritt! Und nicht damit gerechnet, dass Frauen wie ich blitzschnell Arme und Beine in einem knallenden Stakkato wie die indische Shiva wirbeln lassen, in erstaunte Nacken greifen, hilflose Gelenke verdrehen, knappe Handkanten auf die unmöglichsten Stellen schlagen und einfach nicht in Ruhe abwarten wollen, bis der Bösewicht sich erklärt und sie auf die vage im Dunkeln vor sich hindämmernde Sitzcouch stößt.

Ekelhaft!

Ich war müde und vom Zugrattern gerädert, hatte zudem die vierzehn Holzbrettchen, die meine Frauengruppe durchschlagen sollte, auf dem Rücken herbeigetragen, das Stück zwanzig mal zwanzig Zentimeter breit und zwanzig Millimeter stark. Jedes ungefähr fünfhundert Gramm schwer, mal vierzehn, macht siebentausend Gramm Gepäck, plus Bücher, Turnschuhe, Schlagpolster, Trainingsanzug und Junk-Food-Literatur für die Pausen im Kurs.

Ich war acht Stunden Zug gefahren im Großraumwagen, Nichtraucher selbstverständlich, mit einer Mutter hinter mir, die lauthals quäkend ihrem Sprössling Bugs Bunny vorlas – eine der gewalttätigsten Comicfiguren, die mir bekannt sind.

Als ich vor Jahren den Sohn meiner damaligen Geliebten in einen solchen Film ausgeführt hatte, warf es mich hernach mit Kopfweh in ihre Arme und Bauchweh vor die Kloschüssel, denn ich reagiere nun einmal sehr empfindlich auf Gewaltdarstellungen jeglicher Art, ich kann sie nicht leiden.

Ein Herr im Großraumwaggon schien eine ähnliche Einstellung zu haben, denn als er, mit seinem frisch erstandenen Pappbecher heißen Kaffee wieder zu seinem Sitz hinter mir und vor der lauthalsen Mutter zurückschlingerte, beugte er sich vorsichtig zur Seite und murmelte etwas wie „... bitte leiser ...“ Das war nicht so gut zu verstehen, denn im gleichen Augenblick legte sich der Intercity mit Schwung in eine weichenreiche Kurve, und ich hörte den indignierten Aufschrei der Mutter: „Oh, mein Rock!“ Und das Kieksen des Knaben: „Bäh! Der ganze Kaffee auf'm Bugs Bunny!“

Ich drehte mich, ehrlich gesagt ein wenig schadenfroh, herum und beobachtete vergnügt, wie sich der Herr tausendmal entschuldigte, seine Adresse feilbot, um die Reinigungskosten zu übernehmen, Mahlzahn oder so ähnlich war sein Name, ein Taschentuch herauszog, um wenigstens das schreckliche Comicbuch sauber zu wischen, und auch sonst sehr verlegen und aufgeregt wirkte. Zu dumm – da war er vom Kritiker zum Schuldner geworden! So schnell kann das gehen!

Ich habe wohl die empfindlichsten Ohren der Eifel – behauptet zumindest mein junger Nachbar, mit dem ich mich in regelmäßigen Abständen über zu laute Musik in die Wolle kriege. Außerdem liebe ich klassische Musik und er das wummernde Gegenteil. Er sagt, ich sei nicht normal. „Du bist nicht normal, nä, nicht das mit den Frauen, deine Ohren, Mensch! Das gibt's doch gar nicht – so überempfindlich!“

Zum Glück, denn auf diese Art und Weise haben eben jene ungewollt anfassenden Personen in dunklen Räumen kaum eine Chance, ihr böses Werk ungeschoren an mir zu vollenden.

Auch wenn ich eigentlich todmüde und überlastet bin, wie jede berufstätige Frau.

Und hungrig dazu.

Nach dreimaligem Umsteigen, da ich von der Provinz linksrheinisch in eine andere Provinz rechtsrheinisch fuhr, hungrig, denn ordentliche Kleinstadtbahnhöfe schließen gegen fünf Uhr am Nachmittag, wie immer knapp bei Kasse, da ich das Taxi zur Heimvolkshochschule, reizend gelegen in einem großen Waldareal, erst einmal vorstrecken musste, in vollem Vertrauen darauf, dass die Organisatorinnen mir die zweimal vierunddreißig Mark (Rückfahrt gibt es auch noch, Honorar wird sechs Wochen später frühestens überwiesen!) wahrscheinlich nicht zurückzahlen würden. („Ach, warum kommen Sie denn nicht mit dem Auto? So, Sie haben gar keines? Ach, hätten wir das gewusst ... Sie haben das gesagt ... die Bretter? Tja, aber ob der Paritätische Wohlfahrtsverband Taxikosten übernimmt ...?“ Sie sind auch nicht von der Steuer absetzbar, obwohl eine bundesbahntaxifahrende Person dreimal so billig ist wie eine im Auto!)

Also denkbar schlechtester Laune, zumal der Schlüssel für das Haus plus Zettelchen mit meiner Zimmernummer unter einem konspirativen Blumenstock verborgen lag. Schließlich war es bereits halb acht Uhr abends, dunkel gar und auch Angestellte solcher Bildungshäuser auf dem Land haben das Recht auf ihren Feierabend. Was muss die Referentin auch so spät eintrudeln? Kann doch um sechs Uhr in der Früh aufbrechen! Oder? Mit einem Auto wäre sie längst dagewesen!

Schnaufend fand ich endlich den gut versteckten Schlüssel und wuchtete meine Person plus Rucksack durch die leicht verklemmte, schwer schließbare Außentür hindurch. Im Dunkeln sah ich vermutlich wie der vergebliche Einbruch eines Raumfahrers in voller Montur aus, der vergessen hat, dass auch in Juweliergeschäften irdische Schwerkraftgesetze herrschen. Sollte die Tür hinter mir doch zusehen, wie sie von alleine wieder ins Schloss zurückklackte, ich war glücklich, hindurch zu sein, würdigte sie keines Blickes mehr und fand selbst unter solch harten Bedingungen meine Gruppe sofort, wie ein treuer Hund sein versoffenes Herrchen in der Stammkneipe.

Sie saßen in der Gymnastikhalle der Heimvolkshochschule zufrieden auf ihren Matten, die sie bereits ausgelegt hatten, freuten sich, als ich mit meinem schweren Rucksack hereinstolperte, und lieferten mir einen beschaulichen Einstiegsabend, in dessen Verlauf jede Frau wacker ihre Gründe und Gefühle, Freuden und Leiden, Erwartungen und Befürchtungen zu diesem Selbstverteidigungskurs in der ersten Befindlichkeitsrunde abspulte. Ich natürlich auch – so eine Zugfahrt quer durchs nicht mehr langgestreckte Land macht allerlei her.

Das ähnelt sich seit nahezu fünfzehn Jahren, so lange mache ich das schon, und auch meine darauffolgende Darstellung der Geschichte sowie der Inhalte feministischer Selbstverteidigung und Selbstbehauptung spule ich im Halbschlaf, aber meistens sehr freundlich und witzig herunter! Ehrlich, das gehört bei mir zur Didaktik! Da ich gerne rede, sprechen auch meine Teilnehmerinnen gerne. So verging uns die Zeit wie im Flug, und ich durfte mich bereits zwei Stunden später durch den dämmerigen Gang (Nachtbeleuchtung!) in Richtung meines Zimmers zurückziehen, nicht ohne vorher noch nachgefragt zu haben, ob irgendeine der Teilnehmerinnen eine Krankheit, eine Behinderung oder sonstige Probleme habe, auf die wir Rücksicht nehmen sollten.

„Ich leide jahreszeitlich bedingt unter Asthma.“ Die Frau mit der beinahe durchscheinenden Haut und dem blassen, schmalen Gesicht fasste sich unwillkürlich an den Hals. „Falls ich einen Anfall bekomme, ich habe mein Mittel dabei.“ Sie zog ihren Inhalator aus der Tasche und zeigte uns, wie man ihr im Notfall in die Mundhöhle zu sprayen habe.

Eine hochgewachsene, leicht übergewichtige Frau erwähnte ihren Bluthochdruck. „Ist aber nicht so schlimm. Meinen Job als Bademeisterin mache ich noch anstandslos, nur Tauchen geht nicht mehr so gut wie in jüngeren Jahren!“

Eine feine, ältere Dame wies uns darauf hin, dass sie unter Altersdiabetes leide, und bat uns, ihr nicht unbedingt überzählige Nachspeisen oder gar Schokolade anzubieten. „Ich gerate noch immer sehr leicht in Versuchung!“ Sie hatte ein zauberhaftes Weise-Frauen-Lächeln, und mein Herz machte einen großen Sprung.

Und dann – nach alledem – das! Fast so schlimm wie eine Organisatorin, die „noch über den Kurs“ reden will. Fast so schlimm wie eine Frau mit Gewalterfahrungen, die das gleich am ersten Abend loswerden will, obwohl ich sie noch gar nicht kenne und sie mich auch nicht, fast so schlimm wie nach Bier und Zigarettenqualm stinkende Hausmeister, die einem aus unerfindlichen Gründen bei Nacht und Nebel nicht nur die ganze Turnhalle erklären wollen, sondern das Gelände, alle Häuser und Winkel und Essräume und Aufenthaltsbereiche und Rechte und Pflichten dazu!

Die Tür zu meinem Referentinnenappartement war unverschlossen, was aber in solchen Häusern häufiger vorkommt, wenn frau das erste Mal ihr Refugium für eine Woche Kursleitung betritt. Und ich roch ihn gleich! Nein, halt, ich will ehrlich sein: Ich roch etwas und dachte: Mist, schlecht gelüftet, mein Vorgängerreferent – unzweifelhaft männlich! – hat seine Reisebutterbrote zu lange auf der Fensterbank liegen lassen und sich mit einem billigen Rasierwasser gepflegt, auf jeden Fall starker Haarwuchs und entsprechende Körperausdünstung, hat vor einiger Zeit schwarzen Kaffee getrunken. Wahrscheinlich so ein armes Schwein wie ich: Yogalehrer vielleicht, da ich keinen Rauch spürte – nein, auf den Broten musste Wurst, Schmierwurst gewesen sein – also doch eher stellungsloser Wirtschaftswissenschaftenabsolvent, der sich in Berufsfindungskursen für höhere Angestellte übte. Das hatte ich in einem der mir zugesandten Hauszettelchen gefunden. Sicher kein Psychologe, der Motivationstraining für Lehrer an Grundschulen durchführte. Solche Leute essen keine Butterbrote unterwegs und wenn, lassen sie sie nicht liegen. Außerdem haben alle Psychologen Autos!

Eine feine Nase ist ebenso ein Fluch in unserer modernen Gesellschaft wie empfindliche Ohren. Es gibt eben triftige Gründe, warum ich hoch über allen Groß- und Kleinstädten in einem Eifeler Zweihundert-Seelen-Dorf lebe!

Dass ich irrte, erkannte ich erst, als ich schnurstracks mit allem Gepäck durch das dunkle Zimmer auf das hellere Fensterviereck zugehen wollte, um selbiges zur Lüftung aufzureißen.

Auch so eine Schwäche von mir. Ich hasse zu warme, schlecht gelüftete Räume. Zu Hause drehe ich die Heizung frühestens ab November auf und habe ein chronisch geöffnetes Kippfenster im ungeheizten Schlafzimmer. Wenn meine Kursteilnehmerinnen von all diesen meinen kleinen, individuellen Schwächen wüssten: Ich müsste verhungern, verdursten und als stellungslose Wen-Do-Trainerin (so heißt mein Fach abgekürzt) unter den Brücken von Gerolstein mein Dasein fristen.

Er stand genau zwischen mir und dem aufzureißenden hellen Fensterviereck.

Ein Dilettant!

Ich hörte, wie er die Arme ausstreckte, um begierig meinen Hals zu fassen – und das bei diesem Mief!

Mitsamt dem schweren Rucksack auf dem Rücken streckte ich, allerdings etwas beklemmt durch die Haltegurte, beide Arme mit geballten Fäusten vor und stieß ihn zurück. Natürlich torkelte er, weil Männer selbst nach über zwanzig Jahren moderner Frauenbewegung immer noch nicht daran glauben, dass Frauen sich heutzutage erfolgreich zur Wehr setzen können. Im Zweifelsfall, nach einem Wen-Do-Kurs und sicherlich nach zwanzig Berufsjahren in diesem Metier, nach Schwertkampfausbildungen und diversen schwarzen Gurten in allen möglichen und unmöglichen, fremdländisch klingenden Abkürzungskampfsportarten!

Sein Torkeln gab mir Zeit, den Rucksack mit dumpfen Plumps hinter mich fallen zu lassen. Hoffentlich lagen die beiden Notrationsbierflaschen nicht ganz zu unterst! Er dachte vielleicht, dass ich selbst gestolpert sei, und kam hoffnungsvoll abermals auf mich zu, denn da er sich ja so unprofessionell vor der einzigen, wenn auch vagen Lichtquelle posiert hatte, konnte ich seine Silhouette sehr gut, er meine schattenhafte Kämpferinnengestalt nur schlecht wahrnehmen. Ich wischte mit einem halben Unterarmschlag rechts seine Hände beiseite und schlug ihm mit der Linken eine nicht allzu heftige Handkante auf die Halsschlagader. Ich wollte ihn ja nicht umbringen, sondern nur schauen, was es wohl mit diesem seltsamen Besuch nach Feierabend auf sich hatte. Er stieß einen kurzen Laut aus und fiel auf irgendein Möbelstück, das neben ihm stand und ebenfalls einen knarrenden Laut von sich gab. Ich sprang nach, packte seinen Haarschopf und drückte sein Gesicht eifrig in die Polster. Als er weiter strampelte und um sich griff, musste ich ihm leider mit einer linken Hammerfaust – das ist die Technik, mit der unsere Kursteilnehmerinnen in den ersten fünf Minuten jedes Kurses ein Brett durchschlagen, untrainiert aber gut beraten – nochmals kräftig auf den Kopf hauen. Da war er still.

Ich schubste ihn auf den Boden hinunter, stieg über seinen kaum schnaufenden Körper zum Fenster, zerrte die Gardine beiseite und riss es endlich auf.

Dann kletterte ich zurück zur Tür, über umgefallenen Sessel, fremden Männerkörper und achtlos hingeworfenen Rucksack, um das Licht anzuknipsen. Ich kruschtelte die Bierflaschen aus dem Rucksack, stellte sie auf den kleinen Nierentisch des Appartements, trat zurück zum Besinnungslosen und schaute ihn mir an.

Ich kannte ihn nicht, und auch meine vorherige Einschätzung musste wohl falsch gewesen sein, denn er war zu feinbürgerlich angezogen, um als stellungsloser Akademiker mit zeitweiligem Referentenjob – was ich im Grunde bin – durchzugehen. Er war auch zu breit gebaut dafür, und ich kenne keinen modernen Psychologen, der Jacketts und blaue Hemden trägt. Eher mittlerer Angestellter. Unser Volkshochschulleiter in Bad Münstereifel ist so ein Typ. Aber älter und mit einer besseren Ausstrahlung als der hier. Mein schattenhaftes Opfer war sicher sogar jünger als ich, und sein Kinn sah ziemlich intolerant aus, was natürlich auch mit seinem derzeitigen Erlebnis zu tun haben konnte. Aber sauber rasiert.

Ich zog mein Schweizer Taschenmesser heraus, ging wieder ans Fenster und schnibbelte die Gardinenschnüre so hoch und lang wie möglich ab. Jaja, von diesem Taschenmesser gibt es dann noch viel mehr zu erzählen. Ich weiß gar nicht, wie eine moderne Frau ohne ein solches im Leben zurechtkommen kann.

Der Fremde in meinem zeitweiligen Appartement war rasch verschnürt, ehe er auch nur mit den Augen blinzeln konnte. Doch dann erhob sich die Frage, wohin mit ihm. Ich wollte ja schließlich nicht meine wohlverdiente Nachtruhe in Gegenwart eines schnarchenden Übeltäters verbringen! Und dem Tempo der örtlichen, ländlichen Polizei vertraute ich auch nicht. Ganz abgesehen davon, dass Heimvolkshochschulen keine Hotels sind und sich ergo auch kein Telefon im Zimmer befand. Die dienstliche Ausgestorbenheit des Bildungsetablissements erwähnte ich ja bereits.

Und ich war müde! Und wenn ich müde bin, bin ich lebensgefährlich. Für mich selbst! Die Unfähigkeit wach zu bleiben ist ein Familienerbe in der dritten Generation: Meine Großmutter verschlief die Keuchhustenanfälle ihrer älteren Töchter, direkt neben ihrem Bett röchelnd, beinahe wäre die Grundvoraussetzung für meine Existenz, eine lebendige Mutter, nicht mehr gegeben gewesen. Eine Tante verschlief auf der Zugfahrt quer durch Deutschland in den sechziger Jahren ihren Ausstieg in Düsseldorf und erwachte fünf Stunden später und gut ausgeschlafen in Hamburg. Ich selbst musste mich schon aus drei Liebesbeziehungen werfen lassen, da ich ab zehn Uhr zu nichts mehr zu gebrauchen bin – egal, ob ich um sechs Uhr früh oder um Mittag aufstehe, und das übliche, ehrenamtlich unbezahlte Engagement in einem üblichen, landwirtschaftlichen Alternativprojekt überstand ich nur mit zeitschaltuhrgesteuerter Kaffeemaschine am Bett, die mich seitdem durch alle meine festen Wohnsitze begleitet.

Ich packte den immer noch reglosen Körper und zerrte ihn zur Tür. Dann den Gang hinunter und die Treppen hinab. Natürlich an den Armen, damit sein Kopf nicht auf die Stufen polterte. Schließlich war ich nicht im Kino und wollte auch niemanden zu so später Stunde wecken. Die große Eingangshalle lag im Dämmern noch brennender Einfahrtslampen, die vermutlich irgendwann in der Nacht mit einem leisen Plopp energiesparend auslöschen würden. Bei mir im Dorf halten sie bis ein Uhr durch, dann senkt sich rabenschwarze Finsternis auf den Weiler. Ich war nicht im Stress, denn das Umlegen und Verpacken des Unbekannten hatte nur einige Minuten gedauert, meine Nachdenklichkeit vielleicht fünf. Also noch keine dreiundzwanzig Uhr – bloß dreißig Minuten über meine übliche Ins-Bett-Geh-Zeit auf Kursen hinaus. Kein Grund sich aufzuregen!

Ich zerrte den Besinnungslosen zur „Rezeption“, was er mit beginnendem Grunzen und Stöhnen kommentierte. Das gab Grund zur Eile! Ich legte ihn hinter den Tresen, band seine verkordelten Hände und Füße mit einem Rest Vorhangschnur an eines der im Boden festgeschraubten, kurzen Metallbeine, verstopfte aber ihm nicht den Mund, da ich ihn ja nicht so unbeaufsichtigt umbringen wollte, und hinterließ noch einen kurzen Zettel, dass man mir doch bitte um acht Uhr dreißig ein Kännchen Kaffee aufs Zimmer bringen möchte, da ich spät angekommen und lange gearbeitet hätte. Ich war ziemlich sicher, dass die frühmorgendliche Heimvolkshochschulangestellte nur noch den Zettel vorfinden und mir sicherlich keinen Kaffee organisieren würde, da es sich eben nicht um ein Hotel handelte, sondern eine öffentliche Institution mit Geldern aus dem Staatssäckel, und machte mich auf, ins Zimmer zurück, um mich für die vor mir liegende Woche schlafend zu stärken.

Nicht ohne meine Tür sorgfältig zu verriegeln, einen Stuhl unter die Klinke zu drücken und den umgekippten Sessel schräg-wackelig davorzulehnen. Ich schlafe nämlich nicht nur lang, sondern auch tief. Und das tat ich nun, nachdem ich mir – kopfschüttelnd, was das alles wohl zu bedeuten habe – Reisestaub und Kampfesschweiß aus den Poren geduscht hatte.

2. Ein ungewöhnlicher Kursbeginn

Tatsächlich – ich hätte es nicht für möglich gehalten: Es klopfte um halb neun pünktlich an meine Tür, und eine Damenstimme säuselte: „Ihr Kaffee, möchten Sie aufmachen, oder soll ich ihn vor die Tür stellen?“

„Nein, nein! Ich komme schon. Einen Moment!“ Ich schwang mich erstaunt aus dem Bett, angenehm positiv überrascht, stieg in die Trainingshose, zupfte mein Betthemdchen gerade, zog so leise, wie ich irgend konnte, die Verbarrikadierungen beiseite und öffnete die Tür.

„Hallo!“, murmelte ich und rieb mir die Augen. Die Andere lächelte.

„Ausnahmsweise nur, weil Sie so spät erst angekommen sind. Morgen müssen Sie sich schon zum Frühstück herabbegeben.“

„Gibt es eine Möglichkeit, meine Thermoskanne abends zu füllen? Ich bin halt ein ausgesprochener Morgenmuffel und hasse es, meinen Kursteilnehmerinnen auf nüchternem Magen zu begegnen.“

Die junge Frau lächelte. Sie trug Jeans, einen dunkelblauen Pulli – denn es war eine gewerkschaftsnahe Heimvolkshochschule, keine kirchliche – und unter glatten Haaren ein Gesicht, das ich spätestens nach dem Anziehen wieder vergessen haben würde. Berufskrankheit!

„Wenn Ihnen der Nachmittag nicht zu früh ist, da bekommen sie sowieso Kaffee.“

Natürlich, in solchen Häusern wird ja dreimal am Tag gespeist! Frau weiß gar nicht, wo sie da ihre Stunden zwischenquetschen soll. Meistens haben die vielen Pausen zur Folge, dass ich bis spät in die Nacht arbeiten muss und kaum zum Lesen komme.

„Das ist gut. Meine Thermoskanne hält vierundzwanzig Stunden warm. Danke schön.“ Ich wollte mich bescheiden mit meiner Beute zurückziehen. Sie lächelte verlegen.

„Wissen Sie, heute Morgen geht schon alles drunter und drüber! Aber damit will ich Sie jetzt nicht vor dem Kaffeetrinken belästigen. Bis gleich dann.“

Mir schwante Übles.

„Was geht drunter und drüber?“ Ich balancierte vor ihren staunenden Augen das Tablett mit der linken Hand, goss mir mit rechts den Kaffee in die Tasse, setzte vorsichtig die Kanne wieder auf, der heikelste Moment jener Übung, hob die Tasse mit dem schwarzen, heißen Wasser des Lebens aufseufzend an den Mund und trank, stellte sie zurück und fasste rasch das Tablett wieder mit beiden Händen, ehe es zu kippeln drohte.

„Wo haben Sie denn das gelernt?“

„In einem Jonglierkurs während meiner Ausbildung.“

„Na, dann lassen Sie vielleicht das Tablett auch nicht fallen, wenn ich Ihnen sage, dass heute Morgen ein toter Mann im Haus gefunden wurde.“

„Was?“ Mein Gewissen schlug haushohe Wellen.

„Ein Mann – wo doch nur Ihre Frauen diese Woche belegt haben.“

„Ein Unfall? “ Um sie zu verwirren, vollführte ich das Kunststück mit dem balancierten Tablett noch einmal.

Aher auch, um mir einen kühlen Kopf zu verschaffen.

„Nein, stellen Sie sich vor, vermutlich ermordet!“

Ich erbleichte und fühlte mich schuldig. Hatte ich den Kerl doch zu hart angefasst? Und wer würde mir das glauben?

„Ja, wer macht denn so was? In dieser abgelegenen Gegend? Und wieso wissen Sie, dass er ermordet wurde?“

„Er schwamm in Blut!“ Sie umfasste schaudernd ihre Oberarme.

„In Blut?“ Das konnte doch nicht sein!

„Und das Messer steckte noch, als die Küchenhilfe ihn fand, die heute zum Frühstück machen eingeteilt war.“ „Ach, wie entsetzlich!“ Mir fiel ein Stein vom Herzen.

Mit solchen Sachen hatte ich nichts zu tun. So was Abscheuliches!

„Bisher hat ihn noch keiner erkannt. Na ja, ich muss weiter und will Sie nicht länger stören. Möglicherweise kommen die Polizisten ja auch in Ihren Kurs. Darauf sollten Sie vorbereitet sein.“

„In meinen Kurs?“

„Na ja, die ganze Bescherung wurde doch erst vor einer halben Stunde entdeckt. Vorläufig darf auch niemand das Haus verlassen.“ Und mit dieser tröstlichen Bemerkung lief sie den Flur hinunter, während ich mich kopfschüttelnd mit meiner Kaffeekanne ins Zimmer zurückzog.

Natürlich war es ja nicht sicher, dass es der gleiche Mann war. Der konnte sich auch gut selbst befreit haben, um weiter auf heimlichen Sohlen durch das mitternächtliche Haus zu schleichen. Es könnte auch sein Befreier sein, den er dann undankbarerweise umgelegt hatte. Er könnte es auch selbst sein, umgelegt vom Befreier. Es könnte weder-noch sein, sondern eine vollkommen andere Person, die rein zufällig in derselben Nacht, in der ich mich eines seltsamen Eindringlings erwehren musste, erstochen worden war. Was für Zufälle!

Ich nahm die Brettchen unter den linken Arm, die Pratzen unter den rechten, verstaute den Zimmerschlüssel tief in der Trainingshosentasche und machte mich höchst neugierig auf den Weg in den Gymnastikraum.

Unterwegs winkte mir die junge, unauffällige Frau fröhlich von der Anmeldung aus zu, was von einem über den Tresen lehnenden uniformierten Polizisten stirnrunzelnd bemerkt wurde. Er wandte sich mit einer Frage – wohl wer diese obskure Person da sei – der jungen Frau wieder zu, und ich machte, dass ich weiter kam.

Aus dem Trainingsraum her empfing mich Geschnatter und Geplapper, wie ich das eigentlich eher von Kursen mit pubertierenden Mädchen gewohnt bin. Ich beeilte mich einzutreten, um die notwendige Ruhe herzustellen.

Die Frauen standen in einer engen Gruppe beieinander, was sie für gewöhnlich am Anfang eines Kurses nicht zu tun pflegen, und blickten mich erwartungsvoll an.

„Setzen wir uns doch erst einmal!“

Sie ließen sich dankbar auf den Matten nieder, und einige kuschelten sich schaudernd in ihre mitgebrachten Decken, als ob sie frören. War ja auch schauerlich, so etwas!

„Ich bin soeben darüber informiert worden, was hier im Haus in unserer ersten Nacht geschehen ist. Ich schlage vor, wir beginnen gleich mit der Arbeit, denn irgendwann wird die Polizei wohl hier auftauchen und uns alle ausfragen wollen. Und ihr zahlt für die Zeit. Außerdem denke ich, dass die Konzentrationsübung, mit der ich jeden Kurs jeden Tag seit Jahren beginne, allen hilft, sich gegen das Kommende mental zu schützen. Dazu ist diese Übung sowieso da! Danach sprechen wir dann erst einmal über das Ereignis, und ich hoffe doch, dass wir, ehe die böse Außenwelt uns aufstört, noch dazu kommen, die Bretter durchzuschlagen!“

Diese Bemerkung rief, wie beinahe in jedem Kurs, aufgeregtes Geflüster und Getuschel hervor. Die Frauen starrten neugierig auf den Stapel, den ich in der Mitte ihres Kreises auf den Boden gelegt hatte.

„Die sollen wir durchschlagen? Das weiß ich schon, das schaffe ich nie.“

Diesen Satz höre ich seit über fünfzehn Jahren mindestens einmal pro Woche. Langweilig, ehrlich gesagt, da ich weiß, dass zumindest in meinen Kursen alle Frauen ihre Bretter früher oder später durchschlagen. Schließlich bezahlen sie mich teuer dafür, dass ich sie an jenen Punkt führe. Ich wischte also diese Bemerkung beiseite und erklärte ihnen die Konzentrationsübung, die „Zeltaufbauen“ heißt. Durch ruhiges Atmen, entspanntes Sitzen und Bewusstwerdung aller ihrer Körperteile richten die Frauen ein geistiges Zelt auf, sodass „nichts von dem, was wir nicht wollen, von außen nach innen dringt und den Kurs stört und nichts von dem, was wir nicht wollen, von innen nach außen geht und das Vertrauen bricht.“

Hurra – ich hatte es zumindest geschafft, diese Übung abzuschließen, ehe neugierige Männerpolizisten hereinplatzten und alles durcheinanderbrachten.

Die Runde brachte mir nicht mehr Information, als ich sie selbst hatte, denn die Frauen waren bei ihrem Frühstück von der grausigen Nachricht überrascht worden. Das meiste hatte sich hinter den Kulissen des Tagungshauses in den weiten Räumen der Küche abgespielt, und die unauffällige junge Frau war nur gefasst an den Tisch der Kursteilnehmerinnen getreten, um ihnen die unangenehme Nachricht zu überbringen. Vielleicht mehr noch, um sie auf die bald eintreffenden Polizisten vorzubereiten, als um irgendeiner Fürsorglichkeit gegenüber ihren Gästen nachzukommen. Den Toten hatte noch keine meiner Frauen gesehen.

Also beschloss ich, dass es uns erst einmal wenig anginge und dass wir wohl am besten mit der Situation fertig würden, indem wir uns unserer Arbeit widmeten. Ich scheuchte die Frauen zwecks Aufwärmen durch die Halle, ließ sie ein kleines Wettspiel zur Ablenkung absolvieren und machte ein bisschen Kraftgymnastik für die Arme und Hände. Anschließend ließen wir uns leicht außer Atem wieder auf den Matten nieder, wo ich begann, das Durchschlagen der Bretter zu erklären und vorzumachen.

Die Faust muss hart geballt, der Unterarm angespannt sein. Geschlagen wird mit einer kurzen, knappen Geste aus dem Ellenbogen heraus, als schlüge frau wütend auf, nein besser, durch einen Tisch. Sie soll das Gefühl, den Willen, den Impetus haben, durch das Holz zu schlagen, durch mit wilder Entschlossenheit, durch bis auf den Boden!

Die Art, wie die Teilnehmerinnen eines Selbstverteidigungskurses diese Übung angehen, sagt mir immer viel über sie selbst aus, sodass ich aus dieser Einschätzung heraus dann sehr gut den weiteren Kursverlauf gestalten kann. Da gab es Irmtraud, die junge Gewerkschaftsfunktionärin und aufsteigende Angestellte, die das Brett natürlich auf Anhieb durchschlug. Auch Ursula, die Grundschullehrerin, wurde dank ihrer mehr als dreißig Dienstjahre unter dem gellenden Gekreisch der Klitzekleinsten unsres Bildungssystems nicht daran gehindert, mit der Faust durch das Brett wie ein Messer durch die Butter zu fahren. Anneliese, Hausfrau und Mutter von drei Kindern zwischen zwei und fünf Jahren, tat sich da schon etwas schwerer und benötigte zwei Anläufe für die Kür, aber Frieda, bereits jetzt am ersten Tag von den meisten Fritzi gerufen, Bademeisterin in dem Ort, da mich der Überlandbummelzug ausgespuckt hatte, machte das wieder wett, und auch die Buchhändlerin Rosemarie, etwa in meinem Alter und von noch fülligerer, weicherer Statur als ich, musste nur zweimal ansetzen, um ihr Brett durchzuschlagen.