Große Damen, große Steine - Martina Schäfer - E-Book

Große Damen, große Steine E-Book

Martina Schäfer

0,0

Beschreibung

Johanna Schmid möchte nur das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden: Eine Besichtigung archäologischer Stätten in Frankreich für die Planung ihrer nächsten Exkursion und gemeinsame Wohnmobil-Ferien mit ihrer englischen Freundin Scarlett. Doch was entspannte, genüssliche und manchmal auch lehrreiche Zweisamkeit werden sollte, wird unversehens durch reisende Esoterik-Damen, gestohlene Museumsschätze und einen verschwundenen Archäologen zu einem Ereignis ganz anderer Art. Interessant, findet Scarlett. Doch denken das auch die französischen Gendarmen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 399

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Große Damen, große Steine

Krimi

Martina Schäfer

 ©Martina Schäfer 2023   

Machandel Verlag
Neustadtstr.7, 49740 Haselünne

Cover: Elena Münscher, Bildquelle Foto: Wikipedia, Jean-Charles Gruillo

Bildquelle Vektorgrafik: depositphotos.comLandkarte: Lesniewski /depositphotos.com

Informationen zum Buch 

Alle Personen sind frei erfunden, doch die Beschreibung der archäologischen Stätten und die Folgerungen der Archäologen aus den Funden entstammen wissenschaftlichen Arbeiten und werfen ein interessantes Licht auf unsere ferne Vergangenheit.

In diesem Buch gibt es einige erklärungsbedürftige Wörter und Anspielungen, jeweils gekennzeichnet mit (*). Diese numerierten Klammern sind gleichzeitig ein Link zu den Erklärungen und Anmerkungen im Anhang.

Von den Nummern der Anmerkungen im Anhang können Sie direkt zurückspringen zu der Textstelle, die Sie verlassen haben.Sie können natülich auch das Buch einfach lesen und den Anhang komplett ignorieren. Dann sehen Sie bei einem späteren Blick in den Anhang des Buches, ob Ihr kriminalistischer Spürsinn gut ausgeprägt ist und Sie die Bedeutung der unbekannten Wörter richtig erraten haben.

Widmung

Gewidmet FemArc, 

dem Netzwerk archäologisch arbeitender Frauen e.V.

www.femarc.de 

Landkarte

Große Damen, große Steine

Tag 1 am Nachmittag

Leise dümpelte der Körper ...

Scarlett Maddison lief mit weiten Schritten an der Wasserkante entlang, bückte sich hin und wieder, hob etwas hoch, besah es im Gegenlicht und ließ es dann entweder wieder in den Sand fallen oder steckte es zufrieden in eine der weiten Taschen ihres dunkelgrünen Allwetter-Mantels.

Hin und wieder wandte sie den Kopf und warf Johanna Schmid, die im Sand vor der niedrigen Steilküste saß, von weitem einen symbolischen Handgruß zu, wobei ihr der Seewind die rote Haarmähne über das markante Hakennasenprofil wehte.

Johanna pulte mit den Zehen Löcher vor sich in den Sand, der durchsetzt war mit Muschelscherben und kleinen Steinen. Der Strand war schön, doch noch schöner fand sie das Ziel des Weges, der etwa einen Meter oberhalb ihres Kopfes verlief: Les Pierre Plattes, eine der schönst gelegenen Megalithanlagen der Welt. Das fand sie zumindest – und sie kannte eine Menge dieser Anlagen zwischen Sligo und Gibraltar. Klar, Les Pierre Plattes war für jeden unbedarften Touristen nichts weiter als eine lang gestreckte Steinkammer in einem 120 Grad Winkel, einen sogenannten Knickdolmen, an dessen Eingang außerdem ein etwa zwei Meter hoher Menhir emporragte. Tapfer der Witterung trotzend peilte er über das Meer hinweg eine kleine Insel an, die Einheimische gegenüber den Touristen mit leichtem Grinsen als „Popo-Berg“ bezeichneten. Doch Johanna war sich der wahren Bedeutung des einheimischen Namens dieser uralten Steine bewusst. Korrekt übersetzt bedeutete er „Brüste der Meabhan“, einer mythischen Königinnen- oder Göttingestalt aus dem irisch-bretonisch-walisischen Sagenkreis.

Einem Sagenwesen, das auch ihrer englischen Freundin, der Jugendherbergsleiterin Scarlett, nicht unbekannt war.

Johannas Gedanken wanderten zurück zum Beginn dieser Ferien.

Aus ihrer rheinischen Universitätsstadt war sie mehrere hundert Kilometer mit ihrem klapprigen Wohnmobil angereist, das sie sich mittlerweile von ihrem schmalen Assistentinnengehalt leisten konnte. An der Fähre von Calais war ihre Freundin Scarlett, frisch aus dem Norden angeschippert, ihr um den Hals gefallen und hatte sodann schnurstracks ihr Gepäck in das Mobil gehievt. Innerhalb kürzester Zeit waren sie Richtung Westen, Sonnenuntergang und Bretagne unterwegs – mit Unterbrechungen, die dem Ausgleich ihrer beinahe dreimonatigen gegenseitigen Abstinenz dienten, hatten sie sich doch das letzte Mal am siebten Januar geküsst, als Johanna schweren Herzens ihre englischen Weihnachtsferien in Scarletts Heimatdorf Rosefieldsgarden under Newdover upon River Test beenden musste.

Doch nun war es März, vorlesungsfreie Zeit, zu deutsch Semesterferien, und der blühende Ginster überschüttete die grüngrauen Hügel Nordwestfrankreichs mit einem vagen Versprechen nach Frühling, Muschelsammeln und kleinen Austernbars in leicht heruntergekommenen Hafenstädtchen am Meer.

So konnte Johanna das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, nämlich der Vorbereitung einer Exkursion des Hauptseminars „Nordeuropäisches Neolithikum“ zu den Megalithanlagen und weiteren prähistorischen Sehenswürdigkeiten in der Bretagne. Es war schließlich die Arbeit am Institut für Ur- und Frühgeschichte, die ihr die Butter auf dem Brot, das Benzin für den Wohnbus sowie häufiges Pendeln zwischen Nordrhein-Westfalen und  Hampshire ermöglichte.

Besagtes Wohnmobil parkte derzeit auf einem großen, meist leeren Parkplatz hinter dem Deich, während Johanna und Scarlett die letzten Sonnenstrahlen am Strand genossen.

Hin und wieder hörte Johanna hinter und über sich auf dem Weg die trappelnden Schritte und aufgeregt murmelnden Stimmen kleinerer oder größerer Touristengruppen aus aller Herren Länder, die entweder aus dem laufnahen Kerpenir herüber gewandert waren oder einem der Busse entstiegen, die immer mal wieder auf dem großen Parkplatz Halt machten.

Doch ihr Interesse galt anderen Dingen. Vorsichtig hatte sie ein paar der größeren Kieselsteine aus dem Sand aufeinandergesetzt und darum herum einen Zwergensteinkreis aufgebaut. Scarlett wandte sich nun von der Wasserlinie ab und kam mit ihren weiten Schritten langsam den Strand herauf auf sie zu.

Johanna schaute ihr lächelnd entgegen, als sie hinter sich eine Frauenstimme hörte, die auf Deutsch sagte: „Steinkreise haben keine Mitte, sie sind sowieso meistens eher oval – eben, ein Symbol für das Weltenei.“ Anscheinend waren irgendwelche Touristen auf dem Weg stehen geblieben und schauten wohl auf ihr kleines Kunstwerk hinunter. Nun erklang eine energische Stimme: „Gehen wir rasch weiter – da vorne ist das Grab.“ Johanna konnte sich gerade noch vornüber beugen und ihr Gesicht hinter ihrem neuesten Archäologiekrimi verstecken, denn diese Stimme kam ihr ganz ungeheuer bekannt vor! Auf keinen Fall wollte sie sich und Scarlett diesen schönen Frühlingsnachmittag am Meer durch eine Begegnung der ganz anderen Art verderben: Nämlich mit Dr. Adele Breitmann-Donnerstag, oder wie auch immer genau diese Dame hieß, der sie, respektive der tapfere bayrische Kommissar Trettenhuber, vor einigen Jahren auf einer Tagung an einem süddeutschen Pfahlbausee das Leben gerettet hatten. Die Mörderin, eine weitere Wissenschaftlerin , hatte sie dort zum zweiten Opfer ihres eifersüchtigen Rachefeldzuges auserkoren. Das erste Opfer war leider dieser gütige Professor gewesen, der sie gerne als Assistentin an sein Institut geholt hätte.(*1)

„Freitag – Freitag war‘s, nicht Donnerstag oder Montag oder so.“

„Please?“ Scarlett stand plötzlich vor ihr und schaute sie verdutzt an. „Friday? Robinson Crusoe’s friend?“

„Nein, nein, Dr. Adele Breitmann-Freitag – eigentlich Adelheid Breitmann-Freitag, eine – ach nee, besser,  die  Vertreterin der sogenannten Matriarchatsforschung in unserem Lande, in ihrer Einbildung allerdings der ganzen Welt. Ich hatte sie auf einer Tagung erlebt, auf der ein möglicher neuer Chef von mir ermordet wurde. Ein ziemlich verrücktes Huhn und nur allzu bereit, anderer Leute Theorien im Sinne ihrer Ideologie zu verdrehen.“

„Drahm loves her, I guess?“

„Aber sicher – er ist bis heute der tiefen Überzeugung, dass ich nur durch ihn dem Sumpf dieser Esoterikerinnen entkommen konnte.“

„Und die läuft hier frei herum?“

„Ja, ist auch nicht so verwunderlich. Die Bretagne mit all ihren Dolmengöttinnen und Busenbergen ist wohl ein Mekka für Leute wie sie.“

„Stonehenge den Esomännern und die Bretagne den Esofrauen?“

„So in etwa! In einem Frauenreiseführer zu archäologischen Plätzen in ganz Europa kannst du auf der Seite 223 lesen: ‚Erstaunlich ist bereits hier, wie die Steinanlagen auch von offizieller Seite als Kultplätze der Göttin benannt werden.’“ (*2) 

Johanna Schmid schnaubte empört und Scarlett lachte: „Das ist gut fürs Tourismusgeschäft, findest du nicht?“

„Das ist Okkupation des Heiligen zum Aufblasen des eigenen Egos.“

„Du nennst diese Plätze also auch heilig.“

„Aber wir wissen nicht, wem sie heilig waren, weshalb sie heilig waren, welche Inhalte mit dieser Heiligkeit verbunden waren.“

„Maybe the fear for death? Ist das nicht der Urgrund aller Religion?“

Sie setzte sich neben Johanna und fuhr ihr liebevoll durch die Haare.

„Or love ...“ Scarlett richtete sich auf. „Ich hätte wirklich Lust, mal zu hören, was sie erzählt. She doesn’t know me ...“,  sprang hoch, klopfte sich den Sand aus ihrem grünen Reitermantel und stapfte leise vor sich hin kichernd den Steilhang Richtung Les Pierres Plattes hinauf.

Johanna schüttelte den Kopf und vertiefte sich wieder in ihr Buch. Das Traurige vieler Krimis, die im Prähistoriker- oder Archäologiemilieu spielten, war wohl, dass sie nicht von Prähistorikerinnen oder Archäologen geschrieben wurden und dass man ihnen das anmerkte: An die Exaktheit einer Agatha Christie würde wohl nie jemals wieder eine Autorin oder ein Autor heranreichen.

Sonnenhochstand am Tag der Grablegung vor ungefähr 6000 Jahren

Sorban richtete den Heiligen Speer neben sich auf und ließ seinen Blick schweigend über den Strand, die umliegenden Dünen und die Menschenmenge streifen, welche das Lange Grab mit der neu angebauten Kammer umstanden. 

Unten, vor dem Eingang zum Langen Grab, hatten die Träger die Bahre mit dem Toten am Fuße des Menhirs abgesetzt. Es waren die edelsten, tapfersten und klügsten Männer seines und des Toten Clans, schnelle, geschickte Fischer, starke, unverwüstliche Jäger, geduldige Austernsammler, sonnenverbrannte Bauern mit schwieligen Händen und Väter oder Brüder der Axtschlägerinnen, die drüben, auf der Insel der Meabhan, die heiligen Geräte aus den groben Rohstücken schlugen, die von weit her aus dem Inland angeliefert wurden.

Sorban hatte sich so aufgestellt, dass sein Speer, der Menhir am Fuße des Hügels vor dem Eingang zur Kammer und die ferne Einkerbung zwischen den Brüsten der heiligen Insel in einer Linie lagen, Drohung und Ehrfurcht zugleich, Angriff oder Schutz. 

Doch der Himmel war trübe und grau, die Sonne verhüllte sich angesichts des Schrecklichen, das geschehen war, das Meer kabbelte ungeduldig und nagte am Strand. Er musste den richtigen Zeitpunkt des Höchststandes der Sonne auf anderem Wege erkennen, den Moment, da der Schatten des Menhirs den Eingang in die Unterwelt kennzeichnen würde. Denn da war kein Schatten, nur trübe, graue Luft, als trauerten selbst die Großen Kräfte um Soltans frühen Tod.

Hinter den Trägern standen die Bewohner der Dünen-Siedlung, deren kleine Dächer kaum über die Bodenwellen herausragten. Große Körbe gefüllt mit allem Reichtum umgaben die Bahre seines Mutterbruders (*3): Helles Getreide, dunkel geräucherte Fleischstücke, Krüge, überschäumend vom Met in kleinen, feuchten Lachen, als wütete selbst dieses Getränk, das Vergessen bescherte, gegen die Ungeheuerlichkeit dessen, was wohl drüben auf der Heiligen Insel geschehen war, tropfende Körbe voller Austern und eine kleine Schale mit den Perlen, die sie hin und wieder in den Muscheln fanden, dem wahren Reichtum der Austernfischer und somit auch seines Clans.

Abordnungen aus anderen Siedlungen und Stammesgebieten waren herübergekommen. Sie legten Fellbündel, Decken, kunstvolle Geräte, die seltenen, kleinen Grünsteindolche von weit her aus dem Süden und Töpferwaren am Fuße des neben dem Grabeingangs stehenden Menhirs ab, Tontöpfe voller Linsen und Bohnen, Vorratsgefäße, die zum Aufhängen in Netze gewickelt waren und in denen sich getrocknetes Obst befand, das eher landeinwärts wuchs: Pflaumen und Äpfel, von fleißigen Händen gesammelte Haselnüsse und Eicheln aus den höher gelegenen Nachbargebieten, Säcke mit Emmer und Einkorn, bauchige Gefäße mit vergorener Gerste und gestocktem Rinderblut.

Nun fehlten nur noch die heiligen Äxte aus Feuerstein, manche so groß und schwer, dass sie kaum mit einer Hand angehoben werden konnten, manche klein und filigran, eingefügt in Arm- und Halsketten, in Diademe der Großen Kräfte, die sie alle umgaben.

Sorban wandte den Blick von all der Fülle ab und schaute über das unruhige Meer, auf dem sich jetzt neun Coracles näherten. Im vordersten stand SIE, hoch aufgerichtet, mit wehendem Haar, dahinter die anderen Boote, tief liegend, schwankend in der unruhigen See, beladen mit den Zeichen der Großen Kraft aus der Tiefe, die nun mal in den Frauen schlummerte und ihnen Macht verlieh.

Auch die Äxte würden mit dem Toten in die Tiefe des Grabes gegeben werden in der Hoffnung, dass er, wie alle Toten, einst wieder geboren würde aus dem Schoss der Erde, verwandelt, verjüngt, das Rad des Lebens weiter zu treiben.

Und sich zu rächen!

Sorban presste die Lippen aufeinander, dann hob er kurz entschlossen den Speer: „Halt!“ Er blickte vom Grabhügel den kleinen Steilhang hinunter, der Wind trug seine Stimme über den Strand und über die See: „Halt!“

Erstaunt sahen die Menschen zu ihm hinauf und er meinte selbst aus der Entfernung zu sehen, wie ein höhnisches Lächeln über IHR Gesicht glitt.

„Was wagst du kleiner Clanführer?“

Die Menschen bewegten sich unruhig, als sie diese offensichtliche Herabsetzung ihres Anführers vernahmen. Doch Sorban zuckte nur mit den Schultern. Die Meabhan, die Herrin über die Heilige Insel der Äxte, war nun mal mehr, als alle Clanführer hier an den Stränden zusammen genommen. SIE wusste, wie das Heilige Gestein, das von so weit herkam, bearbeitet werden musste, um in Farbe und Maserung wie ein Abglanz des Himmels zu strahlen. SIE allein war in der Lage, jene Kraft in die Äxte zu legen, die den Toten die Wiedergeburt garantierte. SIE schickte jährlich ausgewählte junge Frauen ins Inland zu dem mächtigen anderen Brüsteberg, aus dessen Tiefe das heilige Gestein für die Äxte geholt wurde, oder sogar noch weiter in den Süden hinab, zu den Bergwerken mit dem hell leuchtenden Feuerstein.

Im Gegenzug versorgten alle Stämme und Siedlungen die Küste hinauf und hinab die Heilige Insel mit dem, was dort zum Leben gebraucht wurde: Nahrungsmittel, Stoffe und Leder für Kleidung, Holz für die Behausungen der Handwerkerinnen, Werkzeuge, das hellgrün, blutrot, erdgelb schimmernde Gestein zu bearbeiten.

„Niemals, niemals wieder wirst DU diese Küste hier betreten. Es sei denn, DU bringst mir die Mörderin meines Mutterbruders gefangen, gefesselt hierher, dass wir Gericht über sie halten, wie es sich gebührt.“

„Wer sagt denn, dass es eine von uns war? Hatte er nicht auch seine Männer dabei, sein Gefolge?“

„Aber DU garantierst den Frieden auf der Heiligen Insel. Selbst Blutsfeinde beten nebeneinander im Schatten ihrer Brüste, Verfolgte fliehen in den Schutz ihrer Großen Kraft. Doch dieser Frieden wurde gebrochen! Wer schlug meinen Soltan nieder? Wer bohrte ihm eine Klinge ins Herz, als er nichtsahnend und voller Vertrauen die Riten begehen wollte?“

„Keine der Frauen! Frauen morden nicht! Sie geben Leben!“

„Ha!“ Sorban stieß einen verächtlichen Ruf aus. „Die Heilige Insel ist nicht mehr heilig, niemand kann mehr darauf vertrauen, dort unverletzt zu verhandeln oder sich mit seinen Sorgen an die Großen Kräfte zu wenden. Die Konflikte zwischen den Dörfern werden zu Flammen werden, zur Feuersbrunst ein Streit zwischen den Clans. Der Ort, an dem alle sich trafen, ist zerstört, der Segen der Großen Kräfte dahin. Halt!, sage ich, halt!“

Während seiner Rede waren die Coracles näher an den Strand herangefahren und die Frauen machten Anstalten, den am Ufer Stehenden Seile zuzuwerfen, um sich aufs Trockene ziehen zu lassen.

Auf ein Zeichen Sorbans hin sprangen mehrere seiner Männer zum Strand herab, drängten die Werdemänner (*4), die meistens die Seile in Empfang nahmen, zur Seite und stellten sich mit gekreuzten Speeren am Wasserrand auf.

„Gebt den Männern die Körbe mit den Heiligen Äxten, dann fahrt zurück und kommt erst wieder, wenn ihr wisst, wer ihn getötet hat, wer den Heiligen Frieden brach!“

„Sollen auch keine Heilerinnen und Hebammen mehr kommen?“, fragte eine der anderen Frauen spöttisch, doch die Meabhan runzelte nur die Stirn, bedeutete der Fürwitzigen mit einer kurzen Handbewegung, sich zurückzuhalten, senkte den Kopf und dachte kurz nach.

„Den Frieden brecht ihr, Sorban. Doch sei es. Der Mord geschah auf meiner Insel, da hast du Recht, und auch ich werde nicht ruhen, bis der Täter oder die Täterin gefunden wurde. Ich beuge mich, für dieses Mal, deinem Wunsch. Aber wenn euch ein Unfall geschieht, eine Krankheit ausbricht, eine Frau im Kindsbett liegt, dann werden wir die Heilerinnen herüber schicken und ihr werdet das sicher annehmen. Mögen euch die Heiligen Äxte Frieden bringen und deinem Onkel einst die selige Wiederkehr.“

SIE gab den Frauen in den Coracles ein Zeichen und diese stellten die schwer beladenen Körbe mit den Äxten, die eigentlich ein Abbild des weiblichen Schoßes waren, aus dem alles neu geboren wurde, in das flache Wasser, von wo sie eilig von umstehenden Werdemännern an den Wächtern mit ihren Speeren vorbei den Strand hinauf geschleift wurden.

Aus einem der Boote rief nun eine Frau der Meabhan etwas zu, was Sorban auf seinem erhöhten Posten nicht verstehen konnte, aber die jungen Leute stockten und auch einige der Speermänner nickten zustimmend.

Die Meabhan wandte sich noch einmal an Sorban: „Um wirklich nachforschen zu können, reicht es nicht, wenn wir uns auf die Bewohnerinnen der Heiligen Insel beschränken. Wir müssen die Möglichkeit haben, auch hier, an Land, Nachforschungen anstellen zu können.“

Einer der Speermänner warf ihr eine Frage zu und die Meabhan nickte: „Sorbans Mutterbruder, der große Clanführer, der die Dörfer hier an der Küste einte und den Weg ins Inland sicherer machte, war nun mal nicht alleine bei uns, sondern einige Männer begleiteten ihn. Unter anderem auch du!“ SIE starrte Sorban finster an.

„Glaubst du etwa, ich...?“ Beinahe wäre er vom Grabhügel herunter gesprungen und IHR an die Kehle.

„Ich glaube gar nichts!“, rief die Meabhan. „Doch im Augenblick bist du, der Sohn seiner Schwester, der Einzige, den ich hier sehe, der von seinem Tod Vorteile hat: Du bist nun Clanführer! Wolltest du das nicht schon immer sein?“ 

Alle Körbe waren mittlerweile ausgeladen und SIE bedeutete den Frauen, die Coracles zu wenden.

„Mara!“ 

Eine junge Frau hob den Kopf und schaute zu Sorban hoch. 

„Mara ist die Tochter von Soltans jüngstem Bruder, ich denke, dass du ihr vertrauen kannst, ist sie doch aus deiner Sippe. Sie ist klug, eine erfahrene Jägerin und begabte Steinschlägerin. Wenn ich Fragen an das Festland habe, werde ich Mara zu euch schicken und ich erwarte, dass ihr ehrlich antwortet und ihr in allen Dingen helft, um die sie euch bittet.“

Mit einem letzten finsteren Blick über die Schulter befahl SIE den Frauen in den neun Coracles, die nun leichter und höher auf dem immer unruhiger werdenden Wasser schaukelten, die Paddel ins Wasser zu tauchen. Gemeinsam im Rhythmus singend fuhren die Frauen ihre Rundboote auf die Heilige Insel zurück.

Tag 1 am Nachmittag

Leise dümpelte der Körper im brackigen Wasser ... 

Ein kurzes Schleifen hinter ihr. Scarlett kam den sandigen, kleinen Abhang herunter geschlittert und ließ sich lachend neben Johanna auf die Decke fallen.

„Oh Mann!“, grinste sie mit ihrem englischen Akzent, „what did Dr. Drahm once say? Es läbe die Beschreibung ...“

„... es sterbe die Interpretation. Nein, das war er abwechslungshalber nicht, der Satz stammt von Dr. Josche Boskarp (*5), unserem Paläolithikprofessor, er hat ihn mir auf eine meiner Seminararbeiten geschrieben.“

Johanna und Scarlett hatten einmal zu Beginn ihrer Beziehung ausgemacht, sich in den gegenseitigen Muttersprachen zu unterhalten, um in Übung zu bleiben. Nur wenn es ganz emotional hoch und her ging, war die eigene Sprache erlaubt, um das gefühlsmäßige Timbre hinter den Worten besser herüber bringen zu können.

„Tscha – Beschreibung!“ Scarlett nahm ein Stöckchen, wischte mit der Hand eine Fläche im Sand frei und malte vier abstrakte Muster in den Sand: Ein schiefes Siebeneck, ein Kreuz mit drei Querbalken, einen leicht trunken aussehenden Stern und einen eierigen Kreis.

„That’s it!“ Zufrieden blickte sie auf ihr Werk.

„Aber solche Krakeleien findet man nicht im Pierres Plattes.“

„Ach, das ist doch gar nicht so wichtig. Ich entwickle dir gerade das Weltbild der – ähm – der, wie hießen nochmal die Leute, die das hier gebaut haben?“

„Chasseen-Kultur, vermutlich.“

„Also gut – da haben wir also erst mal dieses Siebeneck, das ist ja klar, Symbol des Himmels und das Sternbild ... äh, des ...“

„Fleißigen Lieschens?“, ging Johanna lachend auf das Spiel ein.

„Richtig, das Lieschen. Du weißt ja, dass wir in den Mythen viele Spuren des früheren Wissens finden.“

„Über tausende von Jahren schriftloser Zeiten hinweg.“

„Oh ja, das ist die subversive Kraft, meine Liebe, davon zehren wir in Hampshire bis heute.“

„Ich dachte vom Tourismus.“

„Das ist doch nur eine patriarchale Spielart. Die Menschen spüren die Kräfte der Orte und kommen deshalb zu Tausenden gepilgert, bis heute.“

„Du machst das gut – und jetzt hier, das Kreuz mit den vielen Armen?“

„Na, das ist doch sonnenklar, siehst du das nicht?“

„Es steht ja nichts drunter.“

„Das muss es doch auch gar nicht. Das ist natürlich das Symbol für das Männliche. Aber weil es hinter dem Zeichen für die Große Göttin kommt ...“

„Ich dachte, das sei das Sternbild vom fleißigen Lieschen?“

„Das ist doch das Gleiche, Jo, die Himmel ist die Göttin und das Sternbild.“

„Okay, das männliche Prinzip ist also dem fleißigen Lieschen nachgeordnet. Woher weißt du eigentlich, dass die von links nach rechts schrieben – könnte doch auch von rechts nach links gehen, dann wäre das Fleißige Lieschen dem Manne untertan.“

„Jetzt bist du im typischen Klischeedenken unserer Zeit verhaftet.“

„Aha – und was ist mit dem besoffenen Stern und dem wackeligen Ei?“

„Da alles Leben aus dem Ei geboren ist ...“ 

„Jetzt liest du aber rückwärts.“

„Unterbrich mich nicht immer! Du musst deinen Geltungsdrang ein wenig zügeln, schließlich bin ich hier die Dozentin.“

„Entschuldigung.“

„Ja, viele Frauen halten es nicht aus, wenn eine von ihnen voraus ist, als Pionierin neues Land betritt. Ich habe mehr als dreißig Jahre geforscht, um Frauen an meinen Ergebnissen teilnehmen zu lassen ...“

Johanna prustete los und nahm Scarlett in den Arm: „Du warst doch bei dem Pfahlbaumord noch gar nicht dabei.“

„Erinnere dich, als ich im Herbst bei euch war, hat uns Dr. Drahm auf ein Bier eingeladen und ihr habt beide von diesem Fall erzählt.“

„Und da im Ganggrab hat sie auch so geredet?“

„Ja, und auch ein oder zwei Frauen, die Fragen stellten, so runtergeputzt. Ich habe mich vorne am Eingang aufgehalten. Als die eine der Fragerinnen nach draußen ging, bin ich ihr auf die Deckplatten gefolgt und habe sie ein bisschen ausgefragt.“

„Und?“

„Die Frau war eher kritisch gegenüber ihrer Reiseleitung eingestellt und machte ein paar ziemlich aufmüpfige Bemerkungen. Im Prinzip betet ihre Reiseleiterin, diese Adele Breitmann-Freitag, das nach, was in jedem Reiseführer steht, angereichert, wie ich es dir vorgemacht habe, durch eine Art männliches Prinzip, das von der Axt oder, ihrer Meinung nach, durch jene Stäbe, wie man sie auch im Table des Marchand sehen kann, symbolisiert wird.“

„Heros nennt sie dieses Prinzip, und der arme Kerl wird jährlich geopfert.“

„Jedes Jahr! Woher hatten die denn alle diese vielen Männer?“ Scarlett riss in gespieltem Entsetzen ihre wundervollen Rabenaugenbrauen hoch.

„Kriegsgefangene?“

„Jo, Dear, das kann doch nicht sein, Frauen sind friedlich und führen keine Kriege.“

„Seid fruchtbar und mehret euch?“

Scarlett grinste: „Aber nicht doch! Männer sind auch auf dieser Reise verboten. Aber diese aufmüpfige oder gar kritische Frau auf der Deckplatte meinte zwischendurch, sie habe das Gefühl, dass eine der Teilnehmerinnen doch irgendwo einen Lover in Petto hätte, der der Frauengruppe heimlich folge.“

„Na so was!“ Johanna warf Häufchen Sand von einer Hand in die andere.

„Doch, doch! Diese Frau Aufmüpf beschrieb sie als eigentlich reichlich verklemmt und sehr reiseleiterinnenhörig ...“

„Abhängig!“

„Sure, diese Madame Verklemmt also schliche sich immer mal abends aus dem gemeinsamen Esssaal fort, natürlich nur, wenn kein Vortrag angesagt sei.“

„Na, immerhin, schließlich haben die Mädels dafür gezahlt!“

„Einmal, hat sie erzählt, sei auch so ein kleiner, etwas dicklicher Typ im gleichen Café wie die Frauen gesessen und habe sie angestarrt.“

„Der soll sich mal nicht erwischen lassen, sonst landet er noch als Bratheros auf dem matriarchalen Grill!“ Johanna lachte vergnügt auf.

 „Aber hast du noch mehr erfahren?“

„Aufmüpf erzählte mir, dass die Frauengruppe eine zweiwöchige Tour zu den Megalithen der Bretagne mache. Aber nicht nur besichtigen und, Zitat: ‚patriarchale Wissenschaftlichkeit überwinden’, sie feiern auch Rituale, neulich nachts sind sie heimlich in das Alignement von Kerlescan eingestiegen und haben dort den Vollmond ...“

„... die Vollmondin!“ 

„... angebetet. Was hast du eigentlich gegen die armen Esofrauen? Sind doch bloß harmlose Spinnerinnen.“

„Es ist nicht unbedingt die Ideologie, die mich stört. Ideologien sind nun mal die Pickel im Gesicht der Prähistorie, das ist seit zweihundert Jahren so. Nein, aber stell dir mal vor, wir fahren irgendwo nach Japan oder Indien, gehen dann in einen der Tempel und fangen an, ein christliches Ritual zu feiern, was glaubst du, was die Leute sich freuen würden.“

„Wir Engländer haben so etwas mehr oder minder ein paar Jahrhunderte lang getan, und nun leben in Pakistan etwa drei Millionen Menschen christlichen Glaubens. Der Islam ist Staatsreligion, da haben es religiöse Minderheiten nicht leicht.“

„Wir sind auch nicht besser als ihr. Nur, weil die Menschen, denen diese großen Steine aus irgendwelchen Gründen heilig waren, nicht mehr leben, wagen wir es, ihnen irgendwelchen geistigen Schrott überzustülpen.“

„Aber  ihr  doch nicht, Jo,  ihr  seid doch anständige Wissenschaftler!“

„Dein Glaube an uns ehrt dich! Aber wenn du mal deine Nase in Texte zur Ur- und Frühgeschichte aus den 50-iger oder 60-iger Jahren des vorigen Jahrhunderts steckst, würdest du dich wundern, wieviel Schutt auch in unseren Instituten damals produziert wurde und, das ist das Blamable daran, teilweise bis heute durch die Schulbücher oder Arbeitsblätter geistert.“

„Durch die Touristenprospekte und die Schriften matriarchaler Gesinnung?“

„Oder männerbewegter Spiritualität! Dabei sollten wir lieber die Integrität jener längst vergangenen Menschen wahren. Wir schmieren die Stelen ja auch nicht an oder werfen Farbbeutel gegen die Ganggräber.“

„Muss man denn die Gefühle von Menschen achten, die schon lange verschwunden sind?“

„Ich denke schon. Das ist meiner Meinung nach eine Art ethische Grundhaltung. Ich finde es nicht so wichtig, welche religiösen Inhalte an welchem ‚Kraftort’“, Johanna machte Anführungszeichen in die Luft, „dargestellt wurden oder werden. Aber es waren Menschen dort mit religiösen Gefühlen, mit Ängsten, die sie ihren Gottheiten anvertrauten, Sorgen, Wünschen, sie kamen als Bittsteller oder Dankbare und man sollte sie achten, egal ob in Indien oder in Carnac, egal, ob sie längst tot sind oder nur weit weg.“

„Und du denkst, die Ideologen achten sie nicht?“

„Ja, das ist das Wesen aller Ideologie: Menschen sind weniger wichtig als Ideen. Solange die nicht in der Realität umgesetzt werden, bleiben sie nur Träume oder schlechte Bücher. Aber Rituale aus ihnen abzuleiten und dann zu begehen ist vielleicht der nächste Schritt, die nächste Sekte lässt grüßen und aus Träumen werden Taten.“

„In Stonehenge passiert das ganz offiziell an Wintersonnenwende.“

„Drüben auf Gavrinis auch, aber man muss sich vorher anmelden. Es gibt eine jahrelange Wartezeit, ist halt auch nicht so viel Platz wie um Stonehenge herum.“ Johanna versuchte, einen länglichen, flachen Stein auf zwei im Sand aufgerichteten wie ein Tor zu legen.

„Hoffentlich laufen uns die Damen nun nicht dauernd über den Weg“, murmelte sie und errichtete mit weiteren Steinen die nächsten Tore im Halbkreis daneben.

„Sie sind für drei Tage vor Locmariaquer in einer Jugendherberge und klappern hier die Halbinsel ab. Vorher waren sie, wie gesagt, in Carnac und natürlich auch in Gavrinis, nachher geht’s nach Norden in den Wald von Broceliande – Merlin und so, du weißt schon, Feen, halt da das ganze Programm ...“

„Mist, dann besetzen sie die Jugendherberge, die ich für unsere Studies anschauen wollte.“ Johanna hatte ihr Mini-Stonehenge fertig gebaut und wischte sich Sand von ihren Händen.

„Sie sind ja bald wieder weg. Lässt du’s stehen?“

„Klar, vielleicht kommt eine Männergruppe vorbei und spekuliert über mystische Zwergenerbauer  im Gegensatz zu den möglichen Riesen beyond the Chanel!“

Die beiden Frauen standen auf, schüttelten die Decke aus und kletterten den kleinen Steilhang hoch zum Weg, der am Meer entlang von Kerpenir zum Les Pierres Plattes führte. Auf der anderen Seite ging es hinunter zum Parkplatz, auf dem das Wohnmobil parkte. Sie hatten kaum die Türe hinter sich geschlossen, als eine fröhlich schwatzende Frauengruppe ebenfalls zum Parkplatz herunterkam und sich in der Nähe eines Busses versammelte, der nun für sie aufgeschlossen wurde.

„Und wenn heute Nacht noch mehr Leute hier stehen?“, hörten sie eine Frau fragen, die sich offensichtlich an ihrem Wohnmobil störte.

„Das glaube ich nicht, solche Touristen sind schnell wieder weg – der da vermutlich auch, denn der offizielle Campingplatz ist weiter vorne, bei Kerpenir.“

„Wenn die wüsste, dass wir ein integriertes Klo haben und überall anhalten dürfen“, grinste Scarlett.

„Die kommen heute Nacht wieder und ritualisieren ... grässlich!“

„Du wirst es überleben! Ich habe die gesammelten Starwars dabei – natürlich auf Englisch, die ziehen wir uns rein, während die draußen in der Kälte schlottern – und nun wird gekocht.“

„Ich hasse es, gemeinsam zu kochen, das strapaziert jede Beziehung.“

„Und angeblich können wir Engländer sowieso nicht kochen.“

„Eben – ziehen wir Streichhölzer? Wer gewinnt, darf in der Ecke lesen.“

Nach getanem Orakel zog sich Johanna zufrieden mit ihrem beinahe erledigten Krimi in die Sitzecke zurück, während Scarlett sich leise pfeifend an ein Irish Stew a la Bretagne machte.

Den abdrehenden Bus der Frauengruppe beachteten sie gar nicht mehr. Frieden senkte sich über die im Dämmerlicht liegende Küste vor dem Ganggrab Les Pierres Plattes.

Nach dem Sonnenhochstand am Tag der Grablegung: Eine Bestattung vor mehr oder weniger 6000 Jahren

Sorban würdigte die Coracles mit keinem Blick mehr. Er drehte langsam seinen Kopf hin und her. Ohne Sonne war es schwierig, aber nicht unmöglich, den richtigen Moment des Schattenwurfes zu erkennen. Es gab noch andere Kennzeichen in der Natur, welche den Sonnenhochstand über den Brüsten der Meabhan anzeigten. Beispielsweise diese seltsame Stille, die dann über das Land zog. Die Vögel sangen nicht, kein raschelndes Tier schlüpfte durch Laub und Gras, meist legte sich auch der Wind. Diese Zeichen waren nicht von der Sonne abhängig, sondern begleiteten ihren Weg und dann ihr kurzes Stocken am höchst möglichen Punkt. Die Erde hielt mit ihr an und öffnete sich für einen Moment, einen neuen Gast in der Unterwelt aufzunehmen.

Jetzt war der Augenblick gekommen, Sorban spürte es. Auch die Menschen, welche die letzten Momente schweigend das Lange Grab umstanden hatten, spürten es und machten sich erwartungsvoll bereit.

Sorban winkte leicht mit dem Speer und nickte den Trägern zu. Sie packten die Bahre, hoben sie an. Sorban verließ seinen erhöhten Standpunkt und gesellte sich zu ihnen vor den Eingang, der mit einer schweren Eichentüre verschlossen war. Er legte den Speer kurz auf das Holz und rief mit lauter Stimme: „Hier kommt Soltan, der Clanführer, der Einiger der Dörfer und Bezirke von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, der Friedensstifter zwischen den Menschen am Meer und den Menschen auf den Höhen an Land!“

Sorban zog die Türe nach außen und der süßlich klamme Geruch des Grabinneren wehte ihm entgegen. Im Winter, wenige Tage nach der längsten Nacht, hatten sie eine Frau aus seiner Sippe sowie ihr kleines Kind, das sie gerade geboren hatte, hier hineingelegt, und im Sommer zuvor die Frau seines Mutterbruders. Dieses war das Grab seiner Sippe, der Sippe der Clanführer. Die Gräber anderer Sippen lagen an anderen Orten weiter landeinwärts. Nur das Grab der Clanführersippe hatte den stehenden Stein, der auf die Brüste der Meabhan deutete.

Ein Clanführer war ja nicht nur für die Menschen in seinen Dörfern verantwortlich, er leitete auch die großen Fischfahrten, er stand im ersten Boot und kannte den Weg, die Untiefen in den Buchten, den Geruch der Luft, ehe ein Sturm, der alle Boote mit in den Abgrund reißen konnte, das Meer zerwühlte.

Ein Clanführer kannte das Land und wusste die Zeiten für Ernte und Saat, wann der Bulle zur Herde geführt werden musste oder die jungen Männer aus den Dörfern auf die Jagd zogen.

Ein Clanführer musste alles können. Sein Onkel hatte ihn früh zu seinem Nachfolger bestimmt und unterwiesen, denn er hatte keine eigenen Söhne, und Sorbans Eltern waren bei einem Sturm ums Leben gekommen.

Vorsichtig, mit gesenktem Kopf, wozu ihn die Schwelle nötigte, betrat Sorban als Erster das Grab. 

Vom Eingang aus waren die Toten und ihre Grabbeigaben nicht zu sehen, da das Lange Grab einen Bogen bildete und abknickte, angelehnt an die Gegebenheiten der Geländestufen hinter ihm. Für den Toten, den man gerade von der heiligen Insel herüber gefahren hatte, war eine neue Nebenkammer im inneren Winkel des Grabbogens bestimmt.  Es war wichtig, den Toten bei Betreten des Langen Grabes nicht gleich und direkt gegenüber zu stehen, denn das könnte ihre Totenruhe stören und den Rückweg aus der Anderswelt gefährden. Sie mussten ja erst wachsen und ruhen, so, wie ein Fötus im Leib der Mutter ruhte und wuchs, geschützt durch den inneren, nährenden Mantel des Mutternestes und dem äußeren ihrer Haut. Sorbans Blick folgte den Ritzzeichnungen an den Wänden. Dort hatten die Angehörigen die verschlungenen Wege der Toten aus dem Jenseits bis zur Wiedergeburt dargestellt. Nur ein kleiner Weg für das neugeborene Kind, ein längerer für seine Mutter. An einer weiteren Stelle waren die Wege zweier junger Jäger eingeritzt, welche vor Jahren in den Wäldern landeinwärts einem wütenden Waldochsen (*6) zum Opfer gefallen waren.

Die verschlungenen Wege blieben als stete Erinnerung an den Wänden, die sterblichen Überreste der Toten, ihre Knochen, das, was von den Grabbeigaben übrig war, wurden in der längsten Nacht des Jahres fort geschafft und im Moor versenkt, wenn alles Fleisch von den Knochen gefallen war. Vermutlich würden sie diesen Winter diese Moorzeremonie für des Onkels Frau ausführen können. Sorban war traurig, dass Soltan diesen Ritus nicht mehr selbst leiten konnte.

Hinter ihm trugen die Träger die Bahre mit dem Ermordeten in den Gang hinein. Sorban entzündete die Fettlämpchen entlang des Ganges, schritt an der Seitenkammer vorbei und blieb dann stehen. Langsam wandte er sich um und bedeutete den Trägern, die Bahre in der Kammer abzusetzen.

Alle verneigten sich und Sorban sprach die heiligen Worte der Wiederkehr: „Komm’ zurück, komm’ zurück, komm zurück!“

Unmittelbar hinter den Trägern, die nun die Kammer wieder verließen, folgten die jungen Werdemänner mit den Äxten. Nach Anweisung Sorbans legten sie diese um den Toten herum auf der Erde ab. Je mehr Äxte desto stärker war die Kraft der Wiederkunft. Eine der Ketten mit den kleinen Äxten legte Sorban dem Toten fürsorglich um den Hals, eine weitere goldbraun im Licht der Fackeln schimmernde auf die Brust.

Dann kamen die Leute mit den Körben, dem Reichtum seiner Welt. Zuerst die Sippenmitglieder, dann alle aus der unmittelbaren Umgebung und die Abordnungen von weiter her, am Schluss die Händler, die gerade in der Gegend weilten und seit einigen Jahren auch diese kleinen dreieckigen Dolche aus Grünstein und brüchigen Nadeln, die sich so leicht verbogen, mit sich führten, eher Schmuckgegenstände denn Waffen oder sinnvolles Werkzeug. 

Die Nebenkammer füllte sich, ebenso der große Gang, in dem Sorban stand. Zum Schluss hatte er Mühe, sich an all den Gefäßen und Körben vorbei wieder nach draußen zu drängen. Sorgfältig blies er dabei ein Fettlämpchen nach dem Anderen aus, doch plötzlich stockte er und hielt inne: Er hatte etwas gesehen, nicht so richtig, eher aus den Augenwinkeln, als er seinem Mutterbruder die Axt auf die Brust legte, als er dessen Haupt anhob, um ihm die Halskette umzulegen.

Wie ein müder Stier schüttelte er den Kopf, dann nahm er eines der noch brennenden Lämpchen, drehte sich um und zwängte sich an den Grabbeigaben vorbei zurück zur Seitenkammer. Er stieg über einen Korb tropfender Austern, die bereits anfingen, leicht zu riechen, und beugte sich über den Leichnam. 

Soltan war ein stattlicher, starker Mann gewesen, der als Werdemann jeden anderen Jungen im Dorf niedergerauft hatte. Zum Spaß hatte er einmal damit geprahlt, dass er alle Kinder seiner Sippe zugleich tragen könne, und tatsächlich, es war ihm gelungen. Wie ein lachender Berg aus zappelnden Kinderarmen und –beinen und quietschendem Gejuchze, begleitet von den sorgenvollen Rufen der Mütter, hatte er auf dem Dorfplatz gestanden und gestrahlt. Das war seine Sippe, das war sein Blut!

Sorban beugte sich vorsichtig über den Toten und schob die Axt beiseite. Dann nestelte er das feine, weiß gegerbte Totenhemd aus Rehkitzleder auf und schob die Öffnung beiseite. Gedankenverloren starrte er auf die tiefe Wunde, die direkt in das Herz geführt hatte. Als man Soltan fand, war er längst tot, doch die Mordwaffe wurde nie gefunden. Der oder die Menschentöterin musste sie mitgenommen haben.

Sorban schüttelte verwundert den Kopf, dann beugte er sich vor und hob nacheinander die Hände des toten Clanführers an. Sie zeigten keinerlei Verletzungen, Brüche, Hautabschürfungen. Ganz offensichtlich hatte Soltan sich nicht gewehrt. Nun, das konnte man auch mit dem heftigen Schlag auf den Hinterkopf erklären, den er wohl zuvor erhalten hatte. Aber Sorban erinnerte sich, dass die Knie seines Mutterbruders noch staubig waren, als sie ihn fanden. Offensichtlich hatte er gekniet. Hätte der Schlag ihn von hinten getroffen, wäre er eigentlich vornüber gestürzt, vielleicht sogar mit der Stirne an den Altarstein gekracht. Doch an seiner Stirne fand sich keine Wunde. Das ganze Gesicht zeigte nicht die leiseste Abschürfung. Es wäre nach so einem Schlag außerdem ein Leichtes gewesen, den schwerverletzten Clanführer nun von hinten abzustechen, aber er war eindeutig von vorne getötet worden.

„Große Kraft!“ Sorban schlug die Hand vor den Mund. Es war genau anders herum gewesen. Jemand hatte von vorne auf Soltan eingestochen, nachdem dieser sich vom Gebet erhoben hatte – und zwar nur einmal, gezielt und ungestört. Erst dann hatte er den Toten herumgedreht und ihm den Schlag auf den Hinterkopf versetzt. 

Es sollte so aussehen, als hätte dieser Schlag den starken Clanführer außer Gefecht gesetzt. So aussehen!

Niemand hätte so ohne Weiteres und in aller Ruhe einen Hünen wie Soltan erstechen können, es sei denn ... Sorban stöhnte auf. Es sei denn, Soltan hatte die Person gekannt, ihm oder ihr vertraut, vielleicht sogar die Arme zum Willkommensgruß geöffnet.

Sorban schauderte. Genau das hatte man versucht zu verbergen. Soltan hatte seine Töterin, seinen Töter gekannt und ..., Sorban zog entsetzt die Luft durch die Nase ein, ... ihr oder ihm vertraut! Mit einem Ruck stieß er seinen Atem wieder aus.

In der Nacht vom Tag 1 auf Tag 2

Leise dümpelte der Körper im brackigen Wasser mit dem Rücken nach oben  ...

Das leise BrummMartina Schäferen eines Busses weckte Johanna Schmid auf. Scarlett Maddison neben ihr seufzte leise: „Oh Mann!“ und schob vorsichtig die Gardine am Fenster über ihrem Hochbett beiseite. Johannas Wohnmobil war zweistöckig und hatte gewissermaßen ein Hochbett, zwar nicht selbst aus Holz gebaut wie in jeder anständigen Altbauwohngemeinschaft aus ihrer Studienzeit, aber dafür über die ganze Breite des Wagens gehend. Die Frauen erreichten es über eine Leiter am Fußende, die tagsüber aus dem Weg geräumt wurde.

Der Bus hielt etwas abseits, nahe am Deich mit dem Trampelpfad, der auf den Parkplatz herabführte, und spuckte eine leise tuschelnde Frauengruppe aus.

Scarlett kicherte in ihrer so unverwechselbaren Art und schlug die Decke zurück. Nun war es an Johanna zu stöhnen: „Drei Folgen Star Wars, und auch noch in Englisch – mein Kopf platzt! Was hast du denn vor?“

„Nachschauen, komm, lass uns sehen, was die treiben, gibt sicher etwas zu lachen.“

„Dann steinigen die uns! Ich will hier im Bett bleiben. Hast du ein Aspirin?“

„Auch zwei, und den Tullamore, den ich dir mitgebracht habe.“

„Da gibt es nichts zu sehen als händchenhaltende Frauen im Kreis.“

„Du könntest ethnologische Feldstudien machen und schauen, wofür solch ein Ganggrab genutzt wurde.“

„Puh – !“

Aber die energische Scarlett Maddison, Jugendherbergsleiterin seit undenklichen Zeiten, die schon wer weiß wie viele unwillige Kids aus den Stockbetten in den englischen Dauerregen gejagt hatte, ließ Johanna keine Wahl. Sie rutschte ans Fußende des Hochbettes, kletterte die Leiter ins Parterre hinab, kramte leise murmelnd in den Kästen und Kisten und richtete sich dann auf, so dass ihr Kopf ungefähr in Höhe des Bettes auftauchte.

„Komm, raff’ dich auf! Hier, my Dear, zwei Aspirin, ein Glas Tullamore und dein schwarzer Trainingsanzug mit Kapuze.“

„Was? Ich will doch keine Bank ausrauben.“

„Nee, aber erwischt werden willst du von den furiosen Mänaden vielleicht auch nicht. Denk daran, was Orpheus passiert ist.“

„Ich kann nicht singen.“ Johanna knurrte, ergab sich aber in ihr Schicksal, weil man Scarlett grundsätzlich nicht widerstehen konnte, rutschte ebenfalls ans Fußende des Hochbettes, nahm Aspirin und Whiskey dankend in Empfang, schluckte die trockenen Tabletten und ließ das goldene Getränk in kleinen Schlucken genüsslich durch ihre Kehle rinnen, in die grundsätzlich nur Whiskey aus Irland den Weg finden durfte. Eine Meinung, die sie mit Scarlett teilte.

Scarlett hatte sich unterdessen unten im Wohnmobil bereits in nachtdunkle Gewänder gehüllt. Scarlett Maddison trug, selten bis nie Hosen, sondern meistens großkarierte oder dunkelgrün bis hellbraun gemusterte lange Tweedröcke, passende Reiterjacken oder Pullover dazu und darüber, je nach Wetter und Jahreszeit, lange, dunkelgrüne oder wie eben jetzt schwarze Reitermäntel, gefüttert oder nicht gefüttert. Der Rock, den sie ausgewählt hatte, war dunkelbraun, ihr dicker Pullover, dessen Rollkragen sie über das halbe Gesicht bis zur Nase hochziehen konnte, von einem dunklen Grau und ihre flammend roten Haare hatte sie in ein dunkelgrünes Tuch gewickelt.

Johanna glitt die Leiter herunter, in ihren dicken, schwarzen Baumwoll-Trainingsanzug hinein, den sie bei ihren morgendlichen Trainingseinheiten am windigen Strand zu tragen pflegte, zog die Kapuze über den Kopf und schaute Scarlett fragend an: „Und nun?“

Die beugte sich vor und schob die Gardine am Fensterchen der Außentür beiseite. Von hier sah man nur einen Ausschnitt mit einem Stück vom Deich und vom Weg hinauf. Der Bus lag nun im toten Winkel ihres Blickfeldes. 

Vermutlich hatten die Frauen ihre Instruktionen bereits im Bus erhalten, denn von rechts erschien eine Kette hintereinander stapfender Gestalten, die langsam den Weg zum Deich hoch stiegen und sich dann nach rechts zum Les Pierres Plattes wandten, von dem nur die Spitze des Menhirs hinter den Dünen herausragte.

„Warten wir ein bisschen, bis sie sich aufgestellt haben oder im Cairn sind, dann flitzen wir über den Deich und schleichen uns vom Strand heran.“

Scarlett öffnete vorsichtig die Türe des Wohnmobils, sie lauschten, huschten heraus, rannten geduckt den Deich hinauf und auf der anderen Seite direkt wieder hinunter zum Strand. Im seeseitigen Schatten des kleinen Dünenstreifens schlichen sie sich langsam vor, bis sie dicht vor der flacheren Stelle standen, die zum Menhir und zum Ganggrab hinaufführte.

Scarlett, die wie selbstverständlich voraus gegangen war, stoppte, legte einen Finger auf ihre Lippen und bedeutete Johanna, hinter ihr stehen zu bleiben.

Wie kleinere, atmende Menhire in schwarzen Flattergewändern standen die Frauen so um den großen Menhir angeordnet, dass der einen Teil ihres Kreises bildete. Vor dem Menhir konnte man eine Gestalt eher ahnen als sehen, die nun zu sprechen anfing.

„Das ist der Ort der Schwarzen Göttin, deren Abbilder ihr heute an den Wänden gesehen habt. Jedes Jahr war ein Heros berufen, in ihre Tiefen hinabzusteigen, um den Kreislauf des Lebens zu garantieren. Nach langen Jahrtausenden kruder Männerherrschaft und okkupierter Religion werden wir nun diesen Weg wieder öffnen und einen Heros in die Unterwelt senden.“

„Woher nimmt sie den?“, flüsterte Johanna. 

„Vielleicht der Busfahrer?“, kicherte Scarlett, doch dann schüttelte sie den Kopf: „Nein, das war, glaub’ ich, auch eine Frau, sie hat den Bus aufgeschlossen.“

„Heute, am Tag der Frühlings-Tag-und-Nacht-Gleiche beschwören wir die Kräfte der Großen Göttin ...“

„Aha, daher weht der Wind, 21. März!“ Scarlett zog verständnisvoll den Atem ein. „Muss man diese Religion auch achten? Dann sollten wir diskret zurückschleichen.“

Johanna schüttelte den Kopf. „Eine Studentin, die vor ihrem Studium zeitweilig in diesen Kreisen verkehrte, erzählte mir, dass Adele Breitmann-Wochentag in den Ritualen diesen Part übernimmt.“

„Ist das nicht lebensgefährlich?“

„Nein, nur symbolisch.“

Die Frauen hatten einzeln ihre Anrufung beendet, und jede von ihnen legte dabei irgendetwas am Fuße des Menhirs ab. Dann formierten sie sich, ein kleines Licht flackerte nun auf und jede der Frauen erhielt im Windschatten des Einganges eine brennende Kerze, ehe sie im Dunkeln verschwand.

„Wenn alle drin sind, könnten wir auf den Pierres Plattes klettern und hören, was drinnen geschieht“, regte Scarlett aufgeregt an und wollte bereits aufstehen, um loszuschleichen.

„Ach, ich weiß nicht. Ich könnte mir Schöneres vorstellen. Sie werden da drin allerlei murmeln und rituell-symbolisch veranstalten, dann kommen sie in einer langen Reihe wieder heraus, ihre Heros-Gura hoffentlich ebenfalls ...“, 

„... lebendig!“ 

„Genau! Dann geht es in den Bus zurück. Morgen haben sie dann vermutlich einen Tag zur freien Verfügung und können ausschlafen. Sollen wir uns das echt antun?“

„Maybe it’s funny?“

„Glaub’ ich kaum, eher langweilig.“

„Schädlich?“

„Weniger, solange sie nichts an die Wände schmieren. Die Studentin erzählte, dass meistens ein oder zwei besser betuchte Frauen bei den Ritualen oder Reisen dabei seien, vielleicht auch ein höheres Behördenmitglied. Die bekommen dann spezielle Aufgaben im Ritual zugeteilt, fühlen sich geehrt und sorgen im nächsten Jahr oder so dafür, dass Adeles Verein eine deftige Spende erhält oder verbilligt Räume in der Stadt des Behördenmitglieds mieten kann.“

„Also doch sektenmäßig?“

Johanna zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, so gut kenne ich mich in diesem Milieu nicht aus, es gibt X solcher Gruppierungen zum Rumhoppeln in der Natur, mal nur für Frauen, mal nur für Männer oder gemischt“

„Okay, dann ab ins Nestchen.“ Scarlett richtete sich auf und wollte gerade zurück zum Deichweg laufen, als sie Johanna wieder in den Sand zog und nach vorne zum Weg zeigte: „Schau’ mal, da kommt ihr Heros.“

„Was?“

„Ja, kuck, den Dünenweg herab. Vielleicht ist das der heimliche Lover deiner Frau Verklemmt?“

Tatsächlich, Johanna musste grinsen. Die Gestalt, welche den Weg zum Strand herunter stieg, war eindeutig ein Mann. Er bewegte sich selbstsicher, mit den Händen in den Hosentaschen, und näherte sich der Stelle, an der Johanna und Scarlett kauerten.

„Bonsoir, mesdames?“ Er sah sie fragend an und Scarlett antwortete auf Englisch, dass sie nur einen romantischen Nachtspaziergang machen würden.

„So, so“, antwortete er nachdenklich und wies hinter den Deich: „Ist das ihr Wohnmobil da hinten?“

„Ja.“ Johanna lächelte ihn freundlich an.

„Der Campingplatz ist weiter weg, bei Kerpenir.“

„Das wissen wir, aber wir haben integrierte Sanitäranlagen. Wenn es nicht zu lange geht, dürfen wir überall stehen.“

„Sie kommen aber nicht aus England? Das Wohnmobil hat ein deutsches Kennzeichen.“

„Es ist meins, ich komme aus dem Rheinland.“

„Gehört der Bus auch zu ihnen? Er hat ebenfalls ein deutsches Kennzeichen.“

„Nein, um Himmels willen! Das ist eine Touristinnengruppe. Wir haben sie heute Nachmittag das erste Mal hier gesehen.“

„Qui, ich glaube, dass die mir auch schon über den Weg gelaufen sind.“ Der Mann lächelte verhalten. „Eine reine Frauengruppe auf den Spuren der bretonischen Göttin. Wo sind sie denn jetzt hin verschwunden?“

„Ins Ganggrab.“

„Merde!“

„Na ja“, mischte sich Scarlett wieder ein, „Les Pierres Plattes liegt öffentlich da, es steht nirgendwo ein Schild, dass man nachts nicht hineindarf, ein Zaun oder so.“

„Leider! Wenn wir von jeder Gruppe, die hier des Nachts herumgeistert und Rußflecken an die Orthostaten macht ...“

„Die stehenden Steine“, flüsterte Johanna Scarlett zu.

„... und vergammelte Essenreste für die Ratten zurücklässt, Eintritt nähmen, wäre satt Geld da, wirkliche Archäologie in dieser Gegend zu betreiben und nicht nur den Schmus auszubreiten, den alle Touristen hören wollen.“ Er schnaubte empört. 

Johanna kam eine Vermutung: „Sind sie vom Fach?“

„In der Tat, wir graben drüben bei Lopérec in der kleinen, weißen Kapelle namens Saint-Pierre. Das ist auf der anderen Seite der Bucht.“ Er wies vage am Menhir vorbei übers Meer.

Johanna Schmid sah ihn fragend an und Scarlett rief erfreut: „Ah, noch ein Archäologe! Wir sind auch Archäologen!“

„Prähistoriker! Ich  bin Prähistorikerin.“ Johanna drückte dem Mann die Hand: „Johanna Schmid, Assistentin und Mädchen für alles an unserem Institut. Derzeit genieße ich hier die vorlesungsfreie Zeit und bereite eine Exkursion für unser Neolithseminar vor.“

„Sehr erfreut, Jean Briard. Ich bin eigentlich Mediaevist. Unter der Kapelle wurden bei Restaurationsarbeiten menschliche Gebeine gefunden, wir machen eine kleine Notgrabung.“

„Oh, das ist ja interessant. Und wieso steigen Sie dann hier bei Nacht und Nebel herum?“

„Ich war mit dem Rad unten bei uns am Strand – dann sah ich über die Bucht hinweg Lichter, also bin ich um die Bucht  herumgefahren, um nachzuschauen. Ich finde es beschämend, wenn die ersten Touristen morgen früh Bierflaschen am heiligen Ort finden.“

„Really?“

„Ist alles schon vorgekommen. Die vom Museum am Table des Marchands haben uns gebeten, während wir ausgraben, ein bisschen ein Auge auf das übrige Gelände zu haben.“

„Diese Frauen da feiern nur so Göttinnenrituale, die trinken sicher kein Bier.“

„Wie man’s nimmt,“ Briard lachte leise, „die Jungfrauen sind wohl nicht nur auf den Spuren der Göttin, eine der Damen folgt nach meinem Eindruck eher den Spuren des anderen Geschlechts oder der Gockel den ihren, wie ich dieser Tage beobachten konnte.“ Er grinste vergnügt, wurde jedoch gleich wieder ernst: „Kerzenruß reicht mir schon. Am besten mische ich die ein bisschen auf und erkläre ihnen, wie schädlich das Zündeln im Dolmen ist. Und ganz sicher liegt allerlei Essbares am Menhir!“

„Da möchte man Mäuschen sein.“

„Oder Praktikant vom Museum. Das ist so eine Art Pfadfinderaufgabe für Schüler und Schülerinnen aus den Gymnasien der Umgebung. Nun ja, ich will Sie nicht länger aufhalten. Bon nuit!“

Er stapfte an ihnen vorbei durch den Sand.

„Sollen wir Ihnen nicht helfen?“, rief Scarlett ihm hinterher.

„Ach was!“ Jean Briard winkte über seine Schulter hinweg ab. „Ich vermute mal, dass sie vernünftigen Argumenten zugänglich sind. Im Zweifelsfall lade ich sie ein, unsere Notgrabung zu besichtigen. Das ist die beste Kur gegen Spiritismus und Kultgläubigkeit.“

„Spiritualität, er meint Spiritualität. So nennt man seit den späten 70er  Jahren solche Esotrips, wenn man es nett meint“, warf Johanna ein.

„Spirituality – oh ja. Im Englischen gibt es den Begriff seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Er war damals eher für evangelikale, neuchristliche Strömungen reserviert.“

„Mit seinen vielen Fragen kam mir der Herr Briard übrigens eher wie ein Privatdetektiv vor denn wie ein Mediaevist.“