Steinherz - Martina Schäfer - E-Book

Steinherz E-Book

Martina Schäfer

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Beschreibung

Unverhofft bekommt die Selbstverteidigungs-Trainerin Jana Müller den Auftrag, für die behinderten Frauen der heilpädagogischen Michaels-Werkstätten einen Kurs zu geben. Aber wer sollte ausgerechnet diese Frauen in ihrem idyllischen Refugium bedrohen? Wie sie schnell erfährt, ist die Bedrohung allerdings überaus real. Zwei Bewohner der Michaels-Werkstätten wurden bestialisch ermordet, und die Polizei befürchtet einen weiteren Mordversuch. Jana wurde bewusst hierher gelockt, weil Ermittler Schmidtken glaubt, dass sie die Frauen eher zum Reden bringen kann. Auch wenn ihre Liebste, die Polizeifotografin Rosi Kramer, ihr sowohl bei dem Kurs als auch bei den Ermittlungen zur Seite stehen kann, ist Jana sauer. Es ist wahrhaftig nicht ihr Lebensziel, unter fadenscheinigen Vorwänden als Ermittlungsgehilfin ausgenutzt zu werden. Doch dann merkt sie, dass nicht nur die Heimbewohnerinnen in Gefahr sind ...

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Seitenzahl: 211

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Steinherz

Martina Schäfer

Für Regina

©Martina Schäfer 2024

Machandel Verlag Haselünne

Charlotte Erpenbeck

Cover-Bild: Elena Münscher, Bildquelle deyan_georgiev / yayimages.comText der Überschriften: Rudolf Steiner, 1861-1925

1. Auflage 2024

ISBN 978-3-95959-430-1

Die Personen

Die Toten:

Margret van der Felden, neunundzwanzig Jahre

Tim Bülow, zweiunddreißig Jahre

Das „Sauerland-Team“:

Jana Müller, Wen-Do-Trainerin

Rosi Kramer, Polizeifotografin und ihre Liebste

Schmidtken, Polizist

Die Geschehnisse, die zur ersten Zusammenarbeit des „Sauerland-Teams“ führten, finden Sie in dem Buch   von M. Samasow: In Teufels Küche. Elsdorf/Hillesheim 1999 

Mitarbeiter der Michaelswerkstätten:

Die GruppenleiterInnen der einzelnen Wohnhäuser:

Marie-Luise Regard, Haus Andreas

Sylvia Anders, Haus Stefan

Annemarie Berger, Haus Lukas, wo Margret van der Felden lebte 

Heimleiter Johannes Wildenberg, Haus Johannes, 

         (wo Tim Bülow lebte)

Adelbert Meier, genannt „Fettsack“, Haus Georg

Hannah Ehrenberg, eine Eurythmistin und Therapeutin 

Else Schmitt, Küchenhilfe

Gerd Ahrens, ein Zivildienstleistender im Haus Georg 

Fritz Seidenberg, Werkstattleiter und Annemarie Bergers Freund

Die Kursteilnehmerinnen:

Uta Bergenbaum

Tibbie van der Felden

Manuela Kaufmann

Gabriele Finken

Ursula Weber

Ulrike Sören

Anna Jasziozinsky

Angelika Meier

1. Das Schöne bewundern

„Ach, es gibt noch etwas.“

Der Heimleiter drehte sich auf der Treppe zu mir um, nachdem er mich durch das Hauptgebäude der Wohn- und Werkstättenanlage geführt hatte, das am Rande einer großen Wiese lag, und mir alles gezeigt hatte, was für unsere Kursdurchführung wichtig war.

Die Räume waren recht anständig. Natürlich hatte man mir nicht das Allerheiligste, den Eurythmieraum nämlich, für meinen profanen Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungskurs überlassen, aber ein ausgeräumter kleiner, ehemaliger Speisesaal tat es auch, und die Gutwilligkeit, mit der die verantwortlichen Leute dieser Institution die für sie ungewohnten blauen Turnmatten besorgt hatten, rührte mich doch.

„Gehen wir in mein Büro. Dann können wir auch gleich Ihren Honorarvertrag ausfüllen und ich bekomme Ihre Bankverbindung für eine schleunige Abrechnung.“

Ich nickte begeistert, denn das kann ich sehr gut leiden: Leute, die mein schwer verdientes Honorar pünktlich überweisen und nicht erst zwei Monate später, wie ich das einmal bei einem Jugendamt in der gleichen Stadt erleben durfte. Die Beamten würden schön schnauzen, wenn sie ihr Gehalt erst so spät bekämen!

Er hatte überhaupt noch weitere gute Angewohnheiten, dieser Leiter einer anthroposophischen Wohn- und Werkstätteninstitution für geistig behinderte Menschen. Ich persönlich nenne sie lieber „lebensklug-bildbar“ und hoffe, dass auch ich zu diesem Personenkreis zähle. Aber wer kennt schon diesen Ausdruck, zumal ich ihn selbst erfunden habe?

Jedenfalls, er setzte sich nicht hinter seinen Schreibtisch in einen Sessel und mich davor auf einen unbequemen Stuhl. Für Frauen mit breiten Hüften und stämmigen Schenkeln, wie sie so ein Leben nach zwanzig Jahren Kampfsport mit sich bringt, sind 80 Prozent alle Stühle unbequem, schmal, auf das Maß der herrschenden Männerpopos und angepassten Damenhüften herabreduziert. Stattdessen führte er mich zu einer mit hellbraunen Leinenstoffen bezogenen Sitzecke neben der Türe.

„Sie haben eine Vorstellung, warum wir gerade Sie gebeten haben, mit unseren Bewohnerinnen einen Selbstverteidigungskurs durchzuführen?“

Er putzte gedankenverloren seine sehr starken Brillengläser und setzte sie wieder auf.

„Nun ja, es gibt schon sehr wenig Wen-Do-Lehrerinnen, die mit Behinderten allgemein arbeiten, und mit Lebensklug-Bildbaren – da denke ich, dass ich die Einzige bin, die ein Konzept dazu entwickelt hat.“

„Seelenpflegebedürftig“, murmelte er, eher gewohnheitsmäßig, denn auch die Anthroposophen haben sich vor achtzig Jahren ihren eigenen, für damalige Zeiten durchaus politisch korrekten Ausdruck einfallen lassen. Er schüttelte leise den Kopf.

„Und Sie wissen, dass ich meinen Diplompädagogen über anthroposophische Heilpädagogik gemacht habe. Vielleicht erhoffen Sie sich ja von mir etwas weniger feministische Radikalität als von meinen Kolleginnen?“

Er winkte müde ab.

„Ach was, das wird uns nur guttun. Ich weiß sogar, dass Sie lesbisch leben. Aber im Vertrauen gesagt, ich glaube durchaus, dass auch unser Rudi in Liebesdingen kein unbeschriebenes Blatt war.“ Er lächelte leicht hinter seinen starken Brillengläsern hervor und mir fiel auf, dass unter dieser melancholischen Heiterkeit eine Last, eine Sorge ruhte, die um einiges schwerer schien als das, was solche Leiter einer großen Institution allgemein am Halse haben.

Mit „Rudi“ meinte er natürlich nicht Rudi Dutschke, den früh verstorbenen Meister meiner Generation, sondern Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie, besser bekannt als Initiator einer alternativen Pädagogik sowie ökologischer Landwirtschaft. Ein Meister unserer Groß- oder sogar Urgroßelterngeneration der Jahrhundertwende.

„Sie sind mir empfohlen worden.“

„Ja? Von meiner Verwandtschaft?“

„Nein, sagt Ihnen der Name ‚von Kerkbaum‘ etwas?“ 

Aber natürlich! Der Kriminalchef aus den sauerländischen Wäldern, der unfreiwillige Begleiter eines ziemlich mörderischen Wen-Do-Kurses in einem gewerkschaftsnahen Tagungshaus, auf dem ich aber immerhin meine große Liebe und pfiffige Polizeifotografin kennenlernen durfte.

„Der hat mich empfohlen? Ich hatte oft das Gefühl, ihm nur im Wege herumzustehen.“

„Immerhin wurde der Fall in drei Tagen gelöst! Von Kerkbaum ist ein alter Schulfreund von mir und auf einem Klassentreffen erzählte ich ihm kürzlich von unserem – äh – Problem. Er machte mich auf Sie aufmerksam.“

„Außer als Lockvogel war ich nicht sehr dienlich.“

„Von Kerkbaum bezog sich auch eher auf ihre, nun ja, etwas unkonventionelle Lösung der ganzen Angelegenheit. Er meinte, Sie wären vielleicht auch für uns die richtige Frau, um im Umfeld ein wenig herumzuschnuppern.“

Ich wurde langsam ungeduldig und beugte mich vor. „Aber was ist denn bei Ihnen passiert? Was soll ich – hm – herausschnuppern? Und wie stellen Sie sich das sonst vor? Sie wissen doch auch, dass Therapeuten und verwandte Berufe einer absoluten Schweigepflicht unterliegen. Ich denke, das kennen Sie? Sie arbeiten doch therapeutisch?“

„Äh, ja, natürlich, Sie haben ja recht.“ Er wischte sich mit seinen feinen Höherer-Sozialarbeiter-Händen über das Gesicht. „Bei uns geht ein Mörder um. Er hat bereits zwei unserer Bewohner getötet.“ 

„Wie bitte?“

„Eine junge Frau und ein junger Mann sind auf fürchterliche Weise umgebracht worden. Die beiden waren miteinander befreundet und es stand gerade die Frage an, ob wir sie in eine eigene Wohneinheit ziehen lassen sollten.“

„Eifersucht eines abgewiesenen Liebhabers?“

„Nein, sie wurden mit vermutlich schallgedämpfter Waffe erschossen. Ich glaube kaum, dass unsere Leute Zugang zu Schusswaffen haben oder überhaupt schießen können.“ 

„Weiß man das Kaliber, die Art der Waffe?“

„Nein. Ich deutete es Ihnen ja eben schon an: Der Täter muss ein Wahnsinniger sein. Er hat den beiden jungen Leuten nach der Tat das Herz herausgeschnitten, darin saß wohl die Kugel.“ Herr Wildenberg verbarg sein Gesicht in den Händen und ich schwieg erschrocken.

„Ich habe Tim gefunden.“ Sein Gesicht tauchte auf und ich konnte sehen, dass er geweint hatte.

„Ich bin gleichzeitig Gruppenleiter seiner Wohngruppe. Morgens jogge ich immer durchs Institutsgelände – er lag direkt neben der Eingangstüre, als ich zurückkam. Tim war 32 Jahre und ich kannte ihn seit fast 15 Jahren, seit er zu uns in die Michaelswerkstätten kam. Ein lustiger Bursche, ziemlich gut drauf, hat viermal schon den Ritter Georg im Michaelsspiel gespielt ...“

Er musste erneut seine Brille putzen und ich sah, dass er sehr feine, langgliedrige Finger hatte wie ein Pianist oder ein Geigenspieler. Solche Rollen zu übernehmen wollte viel heißen. Es bedeutete, dass Tim eine Art Vorzeige-Behinderter war, der sich durch gutes soziales Verhalten, freundliches Wesen und wahrscheinlich auch eine bessere Sprachfähigkeit vor seinen MitbewohnerInnen auszeichnete, denn dieser Ritter Georg hat einige edle und fromme Monologe von sich zu geben. Vermutlich hielt Tim auch vor geladenen Gästen kleine Ansprachen oder bedankte sich artig im „Namen aller“ bei liebenswürdigen Spendern.

„Demnach ist es eigentlich auch gar nicht sicher, ob die jungen Leute tatsächlich erschossen wurden?“

Johannes Wildenberg schüttelte stumm den Kopf.

„Es könnte sich also auch um ein ausgefallenes Mordinstrument handeln: Pfeil und Bogen zum Beispiel oder eine sarazenische Klinge.“ 

„Sie meinen, das mit dem Herz ist keine Wahnsinnstat?“ 

„Möglicherweise. Aber hören Sie mal: Hat von Kerkbaum Ihnen auch erzählt, dass es im Sauerland drei Mordanschläge auf mich gab, dass meine frisch erworbene Geliebte beinahe mit irgendeinem bescheuerten Tablettencocktail um die Ecke gebracht wurde?“ 

„Ja ja! Er fand, Sie hätten das gut verkraftet, deshalb ...“ 

„Ach ja? Warum kommt er nicht selber, wenn er Ihnen helfen möchte?“

„Er ist unterwegs, im Bayrischen Wald, bearbeitet da irgendeine dubiose Holzgeschichte zwischen Bayern und dem Sauerland. Aber er hat den hiesigen Behörden einen seiner Kollegen ausgeliehen, ein sehr fähiger Mann, kennt sich aus im Milieu.“

Mir schwante Schlimmstes. „Ach ja?“, murmelte ich ahnungsvoll. „Welches Milieu denn?“

„Der Kollege ist Waldorfschüler gewesen, kann sich zumindest einfühlen in die Mentalitäten und Stimmungen einer anthroposophischen Institution. Wir sind ja doch in unserer Art ein wenig ungewohnt für Außenstehende.“

Er lächelte schief und ich schnaufte ungeduldig. Seit den Zeiten des New Age gab es windelweiche Mystiker und langberockte Weiblichkeitsfanatikerinnen durchaus auch in hellen Scharen außerhalb der heilen Welt anthroposophischer Institutionen. Leider hatten sich ihre oft ausgesprochen aufrechten, starken Frauen, sehr freundlichen und liebevoll weisen Männer sowie die wunderschönen Eurythmietänzerinnen nicht in gleicher Weise über die Welt verteilt.

„Sie kennen ihn auch, heißt Schmidtlein – oder so ähnlich.“ 

„Schmidtken!“ 

Das langte mir tatsächlich! Dieser arrogante Lederjackenpedant, dessen einzige zugängliche, bessere Seite seine Ader für klassische Musik war. Der aber wahrscheinlich bis an sein Lebensende nicht fassen würde, dass auch lesbische Radikalfeministinnen gerne Mendelssohn hören oder Bachkantaten singen.

„Nein, das sage ich Ihnen gleich, nein! Sie haben mich engagiert, um einigen Frauen selbstsicheres Verhalten und Selbstverteidigung nahezubringen. Ich will auch alles daransetzen, dafür zu sorgen, dass sich zumindest die Teilnehmerinnen dieses Wen-Do-Kurses wehren lernen, dass ihnen möglichst nichts Schlimmes mehr im Leben passiert. Aber vom Detektiv-Spielen habe ich die Nase voll. Es tut mir leid für Sie und die beiden toten Menschen ...“

„Wir befürchten ein weiteres Opfer“, unterbrach er mich müde. Anscheinend hatte er schon im Voraus geahnt, wie ich reagieren würde. „Von Kerkbaum sagte mir schon, dass Sie ziemlich eigenwillig seien.“

„Was meinen Sie mit ‚ein weiteres Opfern‘?“

„Vielleicht ist die Schwester der Toten ebenfalls gefährdet. Sie ist übrigens auch in Ihrem Kurs. Tibbie wird sie gerufen. Es waren Zwillingstöchter aus sehr reichem Elternhaus ...“

„Wahrscheinlich auch Sponsoren Ihrer Einrichtung?“, murmelte ich sarkastisch, obwohl ich Social-Sponsoring im Prinzip eine gute Sache finde, solange ein Staat 1000x mehr Geld für Waffensysteme als für Menschen mit Behinderungen zum Fenster herauswirft.

„Ja, die Familie tut einiges für die Michaelswerkstätten, das stimmt. Sie kennen die Reklame ihrer Firma, hängt beinahe in jedem Bahnhof.“

Anthroposophen schauen kaum, eher nie fern und reisen ökologisch mit der Eisenbahn. Das haben sie mit mir gemeinsam. Was aber auch nicht weiter verwunderlich ist, da der anthroposophische Teil meines ansonsten eher laizistischen Familienclans in der Jugend einen starken Einfluss auf mich ausübte. Sie waren Lieblingstante und Lieblingsonkel und wenn frau jung ist, braucht es halt höhere Ideale zum Überleben als die Heiligkeitsprinzipien klassischer Musik und das Ordnungsstreben einer Bibliothekarin, meiner cellostreichenden Frau Mama.

„Margret, die getötete junge Frau, war in gewisser Weise die Intelligentere von beiden, aber körperlich stärker eingeschränkt, sodass das nur Leute wussten, die sie näher kannten. Ich würde sagen, sie war fast normal intelligent.“

„So wie ihr Freund Tim?“

„Ja, so in etwa. Die beiden jungen Menschen waren, sowohl meiner Ansicht nach als auch der von einigen eher fortschrittlicheren Mitarbeitern, durchaus in der Lage, mit beratender Hilfe einen eigenen Hausstand zu begründen. Tibbie dagegen ist körperlich nur leicht eingeschränkt, aber ...“ Er stockte und schaute mich ernst an. „Sie spricht kein Wort mehr, seit dem fürchterlichen Tod ihrer Schwester. Obwohl wir uns sehr bemüht haben, keine genaueren Informationen über die Umstände an die Bewohner durchsickern zu lassen. Wir müssen sie schonen, Sie werden das hoffentlich verstehen?“

Ich verstand gar nicht. Aber ich konnte mir lebhaft das Gemurmel und Getuschel und Getratsche vorstellen, welches nach diesem Mord durch die heiligen anthroposophischen Hallen zitterte. Und die Ängste, die Menschen bekommen, wenn man ihnen zwar sagt, da sei ein „Unfall“ passiert, aber sonst nichts Genaueres herausrückt. Das würde auch mir die Sprache verschlagen.

„Wir sind froh, dass sie überhaupt wieder essen mag. Sie hat drei Tage lang alle Nahrung verweigert. Sie werden sehen, die junge Frau hat sowieso eine eher zarte Konstitution.“

„Gut, das gehört zu meiner Arbeit. Ich will, so gut ich das kann, ihren Lebensmut wieder heben, ihr bei der Trauerarbeit helfen, ihr die Angst nehmen. Aber herumschnüffeln, meine Nase irgendwo in Dinge hineinstecken, die mich im Grunde genommen nichts angehen? Nein! Da hinten im Sauerland, das ist eher durch Zufall entstanden,  alldieweil ich im falschen Zimmer lag. Ich wurde quasi von den Tätern selber mit in die ganze Angelegenheit hineingezogen.“

Herr Wildenberg hob die Hand.

„Ist Ihnen nicht aufgefallen, wie kurzfristig dieser Kurs auf die Beine gestellt wurde? Die Finanzierung war innerhalb weniger Tage da ... Wir sind ohne zu verhandeln auf Ihre Honorarvorstellungen eingegangen ...“

„Reine Glückssache, vermute ich, Zufall, normalerweise plane ich Monate im Voraus, aber ein anderes Heim hier bei Ihnen in der Nähe sagte kurzfristig ab, sodass die Woche frei wurde, und dann riefen gleich Sie an.“

„Welch Zufall!“ Er schaute mich mit einem sehr doppelbödigen Ausdruck in seinem Gesicht an. In mir keimte ein seltsamer Verdacht auf. „Sehen Sie? Und in wie vielen anthroposophischen Instituten haben Sie schon Wen-Do-Kurse gehalten?“

„In keinem, leider! Ich warte seit zwanzig Jahren darauf, schließlich werden auch Waldorfschülerinnen missbraucht und Anthroposophengattinnen verprügelt.“

„Ja, ich kenne diese Problematik auch. Aber solche Themen sind nun mal in unseren Kreisen tabu. Sexualität ist luziferisch, das ‚Untere‘. Sie kennen die verklemmten Ansichten alter Anthropotanten selber recht gut.“

„Ich hatte immer den Eindruck, dass Ihre Männer schlimmer, bigotter, sind.“

„Sie mögen recht haben. Tatsache ist, wir wollen Tibbie schützen und herausbekommen, wer diese furchtbare Tat begangen hat. Und wir haben den Eindruck, dass die Polizei nicht recht vorwärtskommt. Die Familie der ermordeten jungen Frau Margret hat die Gelder für diesen Kurs bereitgestellt und ich habe mit den Kollegen des Nachbarheimes gesprochen, die uns und Ihnen viel Erfolg wünschen. Wir denken, wenn Tibbie von morgens bis abends mit Ihnen, den anderen Kursteilnehmerinnen und den beteiligten Helferinnen zusammen ist, ist das schon einmal ein sehr guter Schutz. Ganz abgesehen von der Wirkung des Kurses selbst. Da setzen wir voll und ganz auf Sie. Die Kollegen aus den beschützenden Werkstätten der Caritas haben bereits höchste Loblieder auf Sie gesungen.“

„Sie haben sich auch da über mich erkundigt? Also echt!“ 

„Natürlich.“

„Na fein! Wieso haben Sie mich eigentlich nicht direkt gefragt, ob ich für Sie herumschnüffeln will? Ich hasse solche hintenherum Aktivitäten.“

„Von Kerkbaum wies mich darauf hin, dass Sie dann wahrscheinlich ‚nein‘ sagen würden. Er riet mir, zu warten, bis Sie den Vertrag unterschrieben hätten, um Sie dann persönlich um Ihre Hilfe zu bitten.“

„Solch ein Verhalten nennt man in Jugendkreisen ‚Schleimscheißerei‘!“

Ich sah Johannes Wildenberg das erste Mal während dieses Gesprächs lächeln.

„Ja, mein alter Schulfreund sagte mir, dass Sie manchmal eine recht deftige Ausdrucksweise hätten.“

„Deftig!“

„Ach, noch eine Nachricht, um Sie vielleicht zu motivieren. Ihre, äh – Freundin wurde ebenfalls an das hiesige Kommissariat ausgeliehen und wird wohl bald hier erscheinen. Ich hörte, dass sie einen schwarzen Gurt in Aikido hat und Ihnen sehr gut assistieren kann?“

„Das ist Quatsch! Wir haben heute Morgen noch telefoniert und sie hat keinen Ton davon gesagt.“ 

„Von Kerkbaum teilte es ihr zum Dienstbeginn mit. Er nennt Sie drei inzwischen das ‚Sauerland-Team‘ und hofft auf eine gute Kooperation.“

„Ich werde dem ein Trio infernale bescheren! Hat der schon einmal etwas vom Selbstbestimmungsrecht gehört?“

„Herr Schmidtken und Frau Kramer sind Beamte.“

„Aber ich nicht!“

„Sie haben das richtige Know-How. Eine Caritasmitarbeiterin sagte mir, sie hätte noch nie jemanden erlebt, der – nun ja – geistig behinderte Leute so lange bei der Stange, der Konzentration halten könne, und sie zu so differenzierten Äußerungen bringen wie Sie.“

„Das Gerücht geht, ich könne ihre Gedanken lesen, nicht wahr?“

„Ja, so in etwa drückte sie es aus. Sie geben ihnen eine Stimme. Vielleicht erfahren Sie ja so auch einiges über diese schreckliche Sache.“

„Ich nehme lebensklug-bildbare und auch andere Menschen einfach ernst, das ist alles! Im Gegensatz zu Leuten wie Ihnen und Ihrem Schulfreund.“

„Bitte, schauen Sie sich die Sache wenigstens einmal an. Helfen Sie uns. Denken Sie an Tibbie und diese Familie.“

„Haben die noch mehr Kinder?“

„Nein. Die sehr, sehr schwierige Geburt der Zwillingsmädchen hat das verunmöglicht. Ihre Mutter ist körperlich nie mehr so recht auf die Beine gekommen. Übrigens eine sehr feine Dame, im Vorstand des Freundeskreises der Michaelswerkstätten. Seltsamerweise ist eher der Vater der gebrochene Mann. Ohne seinen Geschäftsführer wäre, glaube ich, diese sehr renommierte Firma längst dahin. Auch wenn er es nie zugegeben hätte: Er hat die Existenz seiner mehrfach behinderten Töchter nie so recht akzeptiert. Es ist wohl eher der Mutter zu verdanken, dass die Mädchen zu Hause aufwachsen konnten und das Bestmögliche an Schulbildung, Therapien und sonstigen Unterricht bekamen und heute das sind – ach, waren – was sie sind. Als der Vater von Margrets Tod erfuhr und den näheren Umständen, fiel er mit einer Herzattacke um. Er liegt seit dem auf einer Intensivstation!“

Hörte dieses Drama denn nie auf? Was zog Herr Wildenberg sonst noch an fürchterlichen Neuigkeiten hervor?

„Und Tims Familie?“

„Unbekannt, er wurde als drei Tage alter Säugling mit starken Unterkühlungen im Wartehäuschen eines Busbahnhofes gefunden. Na ja, dann folgte die übliche Heimkarriere. Ich denke, bei diesem jungen Menschen waren es eher die sozialen Umstände, die ihn schlussendlich auf das Niveau eines Menschen mit Lernbehinderung reduzierten. Interessanterweise hatte er eine sehr hohe soziale Kompetenz. Das macht die ganze Angelegenheit eben auch so rätselhaft, so sinnlos. Tim war einer der beliebtesten Menschen hier in unserer Institution und nahm so eine Art Zwischenstelle in den Michaelswerkstätten ein, er hatte sowohl Freunde unter den Bewohnern als auch unter den Mitarbeitern.“

„Wie ist er überhaupt zu Ihnen gekommen?“

„Sein Amtsvormund, ein sehr vernünftiger Mann, schlug das vor. Tim war doch zu intelligent für eine dieser üblichen behüteten Werkstätten. Er hat bei uns eine Schreinerlehre beendet, wenn es auch länger dauerte als bei anderen Jugendlichen und wir bei den schriftlichen Äußerungen alle Augen zudrückten. Seit er mit Margret van der Felden ging, hat sich ihre Familie auch vermehrt seiner angenommen. Der junge Mann hatte plötzlich alles, wovon die meisten Bewohner hier nur träumen können: Liebe, ein  Zuhause, eine Zukunft, einen Familienzusammenhang. Und dann das!“

„Sie mochten ihn?“

„Ja, sehr! Es gibt diese Fälle, da sieht man, dass unsere Arbeit doch von Nutzen ist, dass wir anderen Menschen durchaus helfen können, ein würdiges Leben zu führen, frei zu sein. Sie verstehen, was ich meine?“

„Tim war einer der Gründe, dass Sie sich morgens im Spiegel zulächeln konnten: Hallo! Alles wird gut und ich bin auch nicht so schlecht! Oder?“

„Ja – brauchen wir das nicht alle hin und wieder?“

„Doch, natürlich. Das ist der Grund, warum ich immer noch Wen-Do-Kurse gebe. Wer hat die junge Frau gefunden?“

„Eine unserer Mitarbeiterinnen, Frau Berger, Margrets Gruppenleiterin. Sie kann Ihnen Näheres berichten. Bitte ersparen Sie mir das Eingehen auch noch auf diese Einzelheiten.“ Er schaute mich ziemlich verzweifelt an. Und plötzlich ging mir auf, welch weiterem Druck er wohl auch noch ausgesetzt sein könnte. 

„Darf ich Sie was Persönliches fragen?“

„Nur zu, ich glaube, ich weiß bereits, worauf Sie hinaus wollen.“ 

„Sie sind da durch die Landschaft gejoggt, zum fraglichen Zeitpunkt?“

„Ja.“

„Sie haben also kein Alibi, sehe ich das richtig?“

„Nein, die Polizei verdächtigt mich massiv. Ich pflege morgens um viertel nach sechs loszulaufen und so gegen sieben Uhr wieder zu unserem gemeinsamen Frühstück in der Gruppe einzutreffen. Die Bewohner unserer Wohngruppe stehen in dieser Stunde auf, wobei ihnen ein Zivildienstleistender und ein junger Praktikant zur Seite stehen. Dieser Frühdienst wechselt, freitags bin ich dran und laufe nicht. Aber die Tat geschah an einem Montag.“

„Und Tim?“

„Er brauchte ja keine Hilfe und war rasch fertig. Manchmal half er den anderen Männern seiner Wohngruppe oder er ging hinunter, das Frühstück vorzubereiten, machte sich anderweitig nützlich. Während dieser Zeit muss der Mord passiert sein. Er stand an jenem Montagmorgen unter der Türe des Hinterausganges, eine Tüte oder so etwas Ähnliches in der Hand, als ich losjoggte. Vermutlich wollte er zu den Müllcontainern.“

„Wurde er dort gefunden?“

„Nein“, der Heimleiter schüttelte den Kopf. „Seltsamerweise lag er an der Vordertüre unseres Hauses. Keiner von uns kann sich so recht vorstellen, wie und wo das alles geschehen sein soll.“ 

„Und diese Tüte?“

„Wie bitte?“

„Nun, als das Taxi mich vor Ihrer Institution absetzte, habe ich gesehen, dass Sie am Rand des Parkplatzes, nahe beim Hauptgebäude, eine ganze Ansammlung von Containern stehen haben.“

„Die Küche ist dort. Und selbstverständlich trennen wir allen Müll!“ 

„Ihr Gruppenhaus aber, wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, liegt am anderen Rand der Wohnanlage, mit dem rückwärtigen Teil nach außen hin, zu den Feldern. Also hätte Tim von dort aus doch einen relativ weiten Weg zu den Containern gehabt?“

„Ja, das stimmt. Die zwei Herren, die mich mehrmals verhört haben, meinten wohl etwas Ähnliches, denn als ich Tim fand, hatte er eindeutig keine Tüte oder sonst irgendetwas bei sich.“ 

„Man vermutet also, dass er auf dem Rückweg von den Müllcontainern am Haupthaus war, als er getötet wurde?“ 

„Ich glaube schon.“

„Hat man die Tüte gefunden?“

„Das entzieht sich meiner Kenntnis.“ Er blickte mich müde an, zuckte dann mit den Schultern und hob hilflos seine Hände. „Ich weiß es nicht“, übersetzte er seine Floskel. „Begreiflicherweise erzählen die mir nicht mehr alles, was sie herausfinden. Bitte, helfen Sie uns – ja, und helfen Sie mir, wenn ich ehrlich sein soll. Jetzt müssen Sie glaube ich gehen, es ist Zeit, Ihr Kurs beginnt.“ Er schaute auf seine Uhr.

Natürlich, meine Nachdenk-Ankomm-Stunde war durch dieses Gespräch verstrichen! Ich musste mich Hals über Kopf in den Kurs stürzen.

Dergleichen hasse ich, aber ich spürte schon, ein Lamento meinerseits würde dem Wildenberg gar nicht imponieren. Der hatte andere Probleme als mein seelisches und pädagogisches Wohlbefinden. Dieser feingliedrige, zarte Anthroposoph hockte selbst so tief drin in diesem Drama, das sich anhörte wie eine griechische Tragödie, dass er sogar bereit gewesen war, über tausend anthroposophische Hürden zu springen, um eine lesbische, radikal feministische Wen-Do-Trainerin mit schlechten Manieren, aber anscheinend gutem Ruf zu engagieren. Johannes Wildenberg griff nach allem, sich, seine Haut und wohl auch den Ruf des Heimes zu retten, und ich war ein solch rettender, letzter Strohhalm, ich oder das „Sauerland-Team“.

„Haben Sie denn Bewegungsfreiheit?“, fragte ich ihn und er seufzte, während er mich zur Türe führte.

„Noch schützen mich mein Ruf und ein paar Fürsprecher unten in der Stadt, die sich für mich verbürgen. Ich stehe unter bestimmten Auflagen und darf das Gelände nicht verlassen. Falls aber Herr Schmidtken oder seine hiesigen Kollegen tagsüber nicht hier oben bei uns aufkreuzen, habe ich mich jeweils um 18.00 Uhr bei der örtlichen Polizeistation zu melden!“

1. Eintrag

Okay, hier bin ich also nun.

Mama hätte ihre helle Freude an mir: anerkannter Wehrdienstverweigerer, friedfertig bis ans Herz hinan! Wie dein Vater, ganz wie dein Vater!

Hätte nicht gedacht, mal bei denen zu landen! Es gab ja einige Institutionen, wo ich mich vorstellen sollte, und die Anthros standen – klar wohl, was? – zuunterst auf meiner Liste. Nach dem, was Muttern von denen erzählte.

Totale Heuchler!

Obwohl, ich denke nicht, dass seine Kollegen alleine Schuld an seinem Tod waren, wie sie meint. Klar mussten sie dem kündigen. Verständlich, was? Wenn man daran glaubt, dass Sex zum Kindermachen dient, wie die Katholos. Und die Kleinen im Himmel Papa und Mama zusammenführen. Muss ja echt ein komplexes Netzwerk da oben sein.

Aber der andere, der wohl dann abgehauen ist, der ist doch eigentlich an allem schuld gewesen. Finde ich.

Egal – was gehen mich die alten Geschichten an? Und Muttern bemüht sich ja nun schon seit einiger Zeit, ihr Leben wacker therapeutisch aufzuarbeiten.

Doch in diesem stinkigen Krankenhaus wollte ich auch nicht landen und auf Altenpflege? Nee, da geht mir denn die Nächstenliebe doch zu weit.

Hier ist‘s total sauber. Das Heim liegt irre, hoch am Berg. Das Städtchen ist ein bisschen muffig und klein. Ein Kino und irgendwo in einem Schuppen am Rand die obligate Landdisco. Aber zur City geht alle naselang ein Zug. Der Letzte um elf Uhr abends, der Erste kommt um fünf Uhr in der Früh und zerrt die Pendler aus den Betten an ihre Arbeitsplätze. Das könnte dann montags mal hart werden, wenn ich wieder antreten muss.

Die Anthroposophen sind fleißige Leute. Gut, dass der Bund für uns zwei volle Freitage vorschreibt. Die hiesigen heilpädagogischen Einheimischen haben nur einen frei.

Die Typen in meiner Gruppe sind echt urig.

Der Heimleiter scheint ein ganz netter Typ zu sein.

Auf jeden Fall ist das alles hier besser, als im Dreck zu robben oder mit ‘ner Knarre in der Hand durch den Regen zu joggen. Da hat Mama ja recht, das ist echt nicht mehr zeitgemäß. 

Heute bin ich mal zum Proviantholen gemütlich durch das Gelände geradelt. Es gibt drei Männer- und drei Frauengruppen, denn die Anthros trennen ja brav Männlein und Weiblein noch voneinander. Ob ich denen mal von den schwedischen Wohnmodellen erzähle? Aber igitt – was könnte da passieren!

Na ja, dem Tim lassen sie ja freie Hand, aber der ist auch nicht richtig behindert. Ich war sogar schon an einem freien Abend mit dem im Kino. Der ist auch nicht doofer als die Kumpels zu Hause, die nicht aufs Gymnasium gegangen sind. Wenn ich den mal besser kenne, muss ich ihn mal fragen, wieso er mit dieser langen Lahmen vom Haus Lukas vorne geht?

Komisch, ich könnte mich nie in eine behinderte Frau verlieben. Klar, sind auch Menschen, und ich habe gehört, diese Margret ist genauso fit wie Tim. Nur halt eben körperlich nicht.

Aber irgendwie sind geistig behinderte Frauen auch unangenehmer als die Männer. Jedenfalls für mich! Die starren doch allem nach, was Hosen anhat und kichern, wenn ich an ihren Häusern vorbeilaufe, wie blöd.