In welcher Welt leben? - Eduardo Viveiros de Castro - E-Book

In welcher Welt leben? E-Book

Eduardo Viveiros de Castro

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Beschreibung

Die Vorstellungen vom Ende der Welt sind so vielfältig und zahlreich wie ihre Kulturen. Von der Sintflut über nukleare Katastrophen bis zur Vernichtung der Menschheit durch ein Supervirus reichen die Fantasien, die nicht nur die Science-Fiction durchziehen, sondern auch ganze Philosophien und Religionen begründen. Die Philosophin Deborah Danowski und der Ethnologe Eduardo Viveiros de Castro beleuchten in diesem Buch die wichtigsten und verbreitetsten Variationen des Themas vom Ende der Welt vor dem Hintergrund der globalen Umweltkrisen im Anthropozän. Die gegenwärtigen Katastrophenszenarien sind zumeist auch Gedankenexperimente über den drohenden Niedergang der westlichen Zivilisation. Es wird klar: Das Ende der Welt muss nicht gleich das Ende aller Zeiten bedeuten. In diesem in viele Sprachen übersetzten Essay ziehen die beiden Autoren eine Bilanz aus den Enden der Welt, um aus ihnen weitreichende philosophische, ökologische und anthropologische Schlussfolgerungen für die politische Praxis zu schöpfen. Ein wichtiges Buch für unsere Zeit, ein Buch, das Hoffnung macht.

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DEBORAH DANOWSKI

EDUARDO VIVEIROS DE CASTRO

In welcher Welt leben?

Ein Versuch über die Angst vor dem Ende

Aus dem brasilianischen Portugiesisch vonClemens und Ulrich van Loyen

Nachwort von Ulrich van Loyen

(Joaquim de Sousândrade)

Wenn wir, die wir die Könige der Natur sind,keine Angst haben, wer wird sie haben?

(Clarice Lispector)

Für Irene, Erdverbundene der kommenden Welt

Inhalt

Und welche gewalttätige Bestie …

Metaphysik und Mythophysik

… da die Zeit gekommen

Gaia und anthropos

Die Perspektive des Weltendes

… Kriecht nach Bethlehem, um geboren zu werden?

Die Welt vor uns

Die Welt nach uns

Außerhalb des Denkens oder Der Tod des Anderen

Ein bestimmtes Volk ohne Welt der unmittelbaren Vergangenheit

Das thanatologische Argument

»Niemand wird das Fehlen bemerken«

Am Ende allein

Ceci n’est pas un monde

Nach der Zukunft: Das Ende als Anfang

Das Große Drinnen: Die spekulative Höhlenkunde von Gabriel Tarde

Eine Welt aus Menschen

Das Ende der Verwandlungen oder das erste Anthropozän

Anthropomorphismus gegen Anthropozentrismus

Das Ende der Welt der Indios

Menschen und Erdverbundene im Krieg von Gaia

Die unmögliche Spezies

Das Ende der Welt als fraktales Ereignis

Die Welt in der Schwebe

An die Welt glauben

Danksagung und Postscriptum

Ulrich van Loyen: Nachwort

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Und welche gewalttätige Bestie …

And what rough beast, its hour come round at last / Slouches towards Bethlehem to be born?

(W. B. Yeats)

Das Ende der Welt ist ein im Wortsinn grenzenloses Thema – wenigstens solange es nicht eintrifft. Das ethnographische Register verzeichnet eine große Verschiedenheit von Weisen, in denen Kulturen das Auseinanderbrechen des Raum-Zeit-Gefüges der Geschichte zum Gegenstand ihrer Vorstellung gemacht haben. Einige dieser Vorstellungen haben seit Beginn der 1990er Jahre an neuem Leben gewonnen, als sich der wissenschaftliche Konsens über die laufenden thermodynamischen Veränderungen unseres Planeten herausbildete. Die Materialien und die Analysen über die (menschengemachten) Ursachen und die (katastrophalen) Konsequenzen der planetarischen »Krise« akkumulieren sich ständig und mit extremer Geschwindigkeit, und sie mobilisieren sowohl die populäre, von Medien beeinflusste Wahrnehmung als auch die akademische Reflexion.

Während sich das Ausmaß der aktuellen Umwelt- und Zivilisationskrise immer deutlicher abzeichnet,1 proliferieren neue und aktualisieren sich alte Variationen jener uralten Idee, die wir kursorisch das »Ende der Welt« nennen. Zu diesem Thema existieren Blockbuster der Science-Fiction,2 Dokufiktionen verschiedener »History Channel«, populärwissenschaftliche Bücher unterschiedlichster Komplexitätsgrade, Videospiele, Musik- und Kunstwerke, Blogs jedweder politischer Provenienz, wissenschaftliche Kongresse, akademische Zeitschriften, Berichte und Erklärungen verschiedenster Weltorganisationen, stets auf neue frustrierende sogenannte Klima-Gipfel, theologische Konferenzen und päpstliche Verlautbarungen, philosophische Essays, New-Age- und neopagane Zeremonien, eine exponentiell wachsende Anzahl politischer Manifeste – kurzum, jede nur denkbare Art von Texten, Kontexten, Medien, Sprechern und Publikum. Das Thema hat sich in der Gegenwartskultur zunehmend geltend gemacht, und ebenso das, worauf es hinweist: die Multiplikation der Veränderungen unserer Erd-Umwelt.

Das Aufkommen dieses alles andere als euphorischen Diskurses läuft dem »humanistischen« Optimismus zuwider, der die Geschichte des Westens seit den letzten drei oder vier Jahrhunderten dominiert. Er spiegelt etwas, das aus dem Horizont der als Epos des Geistes verstandenen Geschichte ausgeschlossen ist: den Ruin unserer globalen Zivilisation aufgrund ihrer eigenen unwidersprochenen Hegemonie, ein Untergang, der beträchtliche Teile der menschlichen Bevölkerung mit sich reißen könnte. Es fängt bei den elenden Massen an, die in Ghettos und auf den geopolitischen Abfallhalden des »Weltsystems« leben; aber es liegt in der Natur des bevorstehenden Kollapses, dass er in der einen oder anderen Weise alle erreichen wird. Genau deshalb sind es nicht nur die die dominierende Zivilisation verkörpernden Gesellschaften – ihrer Prägung nach westlich, christlich, und industriekapitalistisch – , die in diese Krise gestürzt werden, vielmehr ist es die gesamte menschliche Gattung – auch und besonders jene zahlreichen Völker, Kulturen und Gesellschaften, die nicht am Ursprung der besagten Krise stehen. Ganz abgesehen von den unzähligen Vorfahren der Lebenden, die aufgrund der durch die »menschliche« Aktivität herbeigeführten Umweltmodifikationen bereits von der Erdoberfläche verschwunden sind.

Ein solches demographisches und zivilisatorisches Desaster wird gemeinhin als Folge eines »globalen« Ereignisses imaginiert, etwa ein radikaler Bevölkerungsrückgang oder auch die plötzliche Auslöschung der menschlichen Spezies, wenn nicht gar des gesamten irdischen Lebens, verursacht durch den »Willen Gottes« – ein tödlicher Supervirus, eine gigantische Vulkanexplosion, der Einschlag eines Himmelskörpers, ein gigantischer Sonnensturm – oder aufgrund eines kumulativen Effekts menschengemachter Einwirkungen auf den Planeten, wie im Film The Day After Tomorrow (2004) von Roland Emmerich, oder als Ergebnis des guten alten Nuklearkriegs. Andere Male pflegt das Desaster in realistischerer Manier beschrieben zu werden (besonders wenn man die Entwicklung der von der Wissenschaft vorgeschlagenen Szenarien verfolgt, die sich aus der Interaktion zwischen Geosphäre, Hydrosphäre, Atmosphäre und Biosphäre – den Komponenten des sogenannten Erdsystems – ergeben), wie ein bereits begonnener Verfallsprozess der Umweltbedingungen des menschlichen Lebens im Holozän (an das Pleistozän anschließender Zeitabschnitt innerhalb des Quartär-Systems, das vor 11.700 Jahren begonnen hat), der extrem intensiv, zunehmend beschleunigt und in vielerlei Hinsicht unabänderlich verläuft, und zwar mit Trockenperioden, auf die Hurrikanes und Überschwemmungen folgen, die massive Ernteeinbrüche und menschliche wie tierische Pandemien nach sich ziehen, mit völkermordenden Kriegen inmitten von biologischen Auslöschungen, die Arten, Familien und ganze phyla betreffen, in einer Sequenz perverser Rückkopplungseffekte, die den Spezies in einem Prozess »langsamer Gewalt« (Nixon 2011) – der gar nicht so langsam scheint – eine materiell und politisch degradierte Existenz auferlegen. Isabelle Stengers (2009) hat dies die »kommende Barbarei« genannt, die noch barbarischer ausfallen wird, je schonungsloser das dominierende techno-ökonomische System (der integrierte Weltkapitalismus) seine Flucht nach vorne fortsetzt.

Es sind nicht nur die Naturwissenschaften und die von ihr gespeiste Massenkultur, die das Abgleiten der Welt registrieren. Sogar die Metaphysik, angeblich die ätherischste der philosophischen Disziplinen, ist von diffuser Unruhe ergriffen. In den letzten Jahren haben wir einer Ausarbeitung neuer und sophistischer Argumente beigewohnt, die sich alle auf ihre Weise vornehmen, »die Welt zu Ende zu bringen«.3 Die Welt, die unausweichlich als eine »Welt für Menschen« begriffen wird, soll überwunden werden, um einen epistemischen Zugang zu einer »Welt ohne uns« zu rechtfertigen, die sich vollständig vor der Jurisdiktion des Verstandes artikulieren soll; die Welt soll aber auch insofern »zu Ende gebracht werden«, als sie Sinnträger ist, um dadurch das Sein als pure indifferente Exteriorität zu bestimmen – als müsse die »wirkliche« Welt, in ihrer radikalen Kontingenz, gegen Verstand und Sinn »verwirklicht« werden.

Zugegeben stehen viele dieser Ende-der-Welt-Metaphysiken lediglich in indirekter Kausalbeziehung mit dem physischen Ereignis der planetarischen Katastrophe; trotzdem vermögen sie dieses auszudrücken, dem schwindelerregenden Gefühl der Inkompatibilität – wenn nicht Unvereinbarkeit – zwischen Mensch und Welt ein Echo zu verschaffen, denn nur wenige Regionen der gegenwärtigen Vorstellung sind unbetroffen von dem gewaltsamen Wiedereintritt der westlichen Noosphäre in die Erdatmosphäre, in einem wahrhaftigen und beispiellosen Prozess der »Transzendenz«. Wir glaubten uns bestimmt zum weiten siderischen Ozean, und da sind wir nun von neuem zurückgeworfen an den Hafen, von dem wir in See stachen …

Die Dystopien also nehmen zu; und der Zeitgeist scheint in einer gewissen panischen Perplexität (abwertend als »Katastrophismus« etikettiert), ja sogar in einem makabren Enthusiasmus (jüngst unter dem Signum des »Akzelerationismus« populär geworden) zu schweben. Das berühmte »no future« der Punk-Bewegung findet sich plötzlich revitalisiert – sofern das der passende Begriff ist –, ebenso wie erneut tiefe Unruhen auftreten, die gegenwärtig mit Dimensionen vergleichbar sind, wie sie durch das atomare Wettrüsten während des Kalten Krieges vor nicht allzu langer Zeit hervorgerufen wurden. Da erscheint es unmöglich, sich nicht an die nüchterne und düstere Schlussfolgerung von Günther Anders in seinem Schlüsseltext »Die Frist« von 1960 zu erinnern, in dem er über die »metaphysische Metamorphose« (Günther Anders 1993: 177) der Menschheit nach Hiroshima und Nagasaki reflektiert: »Die Zukunftslosigkeit hat schon begonnen« (219) – in dem Maß, wie der Mensch die Zukunft, das heißt: ihr Ende ›bereitet‹.

Diese Zukunft, die angefangen hat aufzuhören, ist erneut gekommen – was bedeutet, dass sie vielleicht niemals aufgehört hat, schon angefangen zu haben: im Neolithikum? Mit der Industrierevolution? Mit dem Zweiten Weltkrieg? Wenn die Gefahren, die von der Klimakrise ausgehen, weniger spektakulär sind als jene aus den Zeiten nuklearer Aufrüstung (die, nebenbei bemerkt, nie aufgehört hat), ist ihre Ontologie doch komplexer, sowohl im Hinblick auf ihre Beziehung zum menschlichen Handeln als auch in Bezug auf ihre paradoxe Chronotopie.4 Die Ankunft dieser Zukunft leitet eine neue geologische Epoche ein, der Paul Crutzen und Eugene Stoermer »unseren« Namen gegeben haben: »Anthropozän«; mit der Industriellen Revolution einsetzend habe sie das Holozän abgelöst und sich nach dem Zweiten Weltkrieg immer weiter intensiviert. Das Anthropozän (oder wie auch immer man dieses Zeitalter nennen möchte) ist eine »Epoche« im geologischen Sinne des Wortes, zugleich weist sie jedoch auf das Ende der »Epochalität« als solche hin, insofern als sie unsere Spezies betrifft. Obwohl sie mit uns begonnen hat, ist es hochwahrscheinlich, dass sie ohne uns enden wird: Das Anthropozän könnte einer anderen geologischen Epoche nur nach unserem Verschwinden von der Erdoberfläche Platz machen. Unsere Gegenwart ist das Anthropozän; es ist unsere Zeit. Aber diese gegenwärtige Zeit offenbart sich als Gegenwart ohne Zukunft, als ein passives Präsens, Trägerin eines negativen geophysikalischen Karmas, das zu bereinigen wir nicht mehr die Macht haben – wodurch die Notwendigkeit seiner Besserung noch dringlicher vor Augen tritt:

»Die Revolution hat bereits stattgefunden, […] die Ereignisse, mit denen wir zu tun haben, siedeln nicht in der Zukunft, sondern sind zum größten Teil passiert […], was auch immer man tut, die Bedrohung schwebt über uns für Jahrhunderte, wenn nicht für Jahrtausende.« (Bruno Latour 2013a: 109)

Metaphysik und Mythophysik

Dieser Text ist ein Versuch, die aktuellen Diskurse über das »Ende der Welt« ernst zu nehmen, indem sie als Gedankenexperimente über die Wende des westlichen anthropologischen Abenteuers zum Verfall hin gelesen werden, das heißt als nicht notwendigerweise absichtliche Versuche der Entwicklung einer adäquaten Mythologie für die Gegenwart. Das »Ende der Welt« ist eines jener berühmten Probleme, die die Vernunft laut Immanuel Kant zwar nicht lösen, aber auch nicht zu stellen unterlassen kann. Und die Art, in der sie dies tut, führt zwangsläufig über den Weg der mythischen Fabel oder, wie wir heute sagen würden, der »Narrative«, die uns leiten und motivieren. Das der empirischen Wahrheit oder Unwahrheit gegenüber gleichgültige semiotische Regime des Mythos macht sich jedes Mal geltend, wenn die Beziehung zwischen Menschen und ihren Existenzbedingungen sich als Problem für die Vernunft offenbart. Und wenn jede Mythologie als Schematisierung der transzendentalen Bedingungen in empirischen Termen beschrieben werden kann – als Rückprojizierung, die bestimmte hinreichend imaginierte (»narrativierte«) Gründe als Wirkursachen bestätigt –, so offenbart sich die aktuelle Sackgasse als umso tragischer, oder ironischer, je fähiger wir sind, ein solches Problem der Vernunft als eines zu sehen, das die Zustimmung des Verstandes erhalten hat. Wir sehen uns hier mit einem im Wesentlichen metaphysischen Problem konfrontiert, dem Ende der Welt, formuliert in den strengen Termen von aufs Höchste empirischen Wissenschaften wie der Klimatologie, der Geophysik, der Meereskunde, der Biochemie und der Ökologie. Vielleicht wird, wie Lévi-Strauss mehrmals feststellte, die Wissenschaft dem Mythos, von dem sie sich vor ungefähr 3.000 Jahren zu trennen anfing, wiederbegegnen am Ende einer jener doppelten Drehungen, die die analytische Vernunft mit der dialektischen verflechten, gleichsam als die anagrammatische Kombinatorik des Signifikanten mit den historischen Zufällen des Signifikats.5

Noch ein Wort zum Begriff des »Mythos«. Ein wichtiger, wenngleich ambivalenter Anreger für diesen Essay ist das inzwischen berühmte Traktat von Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit (2008), gewesen. Zusammen mit den Schriften anderer Gegenwartsdenker, die sich dem »Spekulativen Realismus« zuordnen lassen, scheint uns Meillassoux – nolens volens – die Bindungen zwischen metaphysischer Spekulation und mythologischem (der kantianische Kritizismus würde vermerken: »dogmatischem«) Ursprung des Denkens zu reaktivieren. Am Ende der Lektüre von Nach der Endlichkeit (und später von Ray Brassiers Nihil Unbound [2007], ein anderes wichtiges Werk der genannten Strömung) hatten wir den Eindruck, dass dieser Reflexionsstil sich nicht nur in eine von Platon zu Badiou führende Reihe einfügt, sondern auch in ein weites diskursives Universum, das sich von dem Ideenschatz, der seit Jahrtausenden in der kosmologischen Spekulation indigener Völker akkumuliert wird, bis hin zu Lars von Triers Film Melancholia (2011) und Cormac McCarthys Roman Die Straße (2007) erstreckt. Er geht dabei den langen Weg über die westliche mytho-literarische Tradition zum Thema des pays gaste, des »Waste Land« (Weston 1920: From Ritual to Romance), ohne die andauernde, wenn nicht sogar wachsende Vitalitiät des »kleinen« Genres der Science-Fiction zu unterschlagen. Die berühmte Bemerkung von Borges über die Metaphysik als Zweig der phantastischen Literatur6 verlangte nicht nur nach Reziprozität – die phantastische Literatur und die Science-Fiction als populäre Metaphysiken unserer Epoche –, sondern nahm die Berührungen und gegenseitigen Anleihen vorweg, die man heute zwischen den Gedankenexperimenten des kreativsten Bereichs der Gegenwartsphilosophie und Autoren wie Howard P. Lovecraft, Philip K. Dick, Ursula Le Guin, William Gibson, David Brin und China Miéville feststellen kann.

Unser Ziel ist es mithin, eine Bilanz einiger der Varianten des Themas »Ende der Welt« zu ziehen, so wie es sich in der gegenwärtigen Vorstellung präsentiert, um daraus bestimmte philosophische und politische Schlussfolgerungen abzuleiten. Aber beginnen wir, indem wir kurz die Schlagwörter des Problems aufrufen.

… da die Zeit gekommen

We’re not scaremongering / This is really happening

(Thom Yorke)

Gaia und anthropos

Um eine alte chinesische Verwünschung aufzugreifen, könnte man sagen, wir leben tatsächlich in interessanten Zeiten. Einer der interessantesten Aspekte dieser Zeiten ist, wie man eingehend beobachtet hat, ihre unkontrollierte Beschleunigung. Die Zeit ist aus den Fugen geraten, und immer läuft sie schneller (ab). »Die Dinge ändern sich gerade so schnell, dass es für uns schwer wird, Schritt zu halten«, hat vor wenigen Jahren Bruno Latour konstatiert (2013a: 126). Der Philosoph bezog sich auf den Status der wissenschaftlichen Erkenntnis über das Problem, aber wir können sagen, dass es nunmehr die Zeit selbst ist – die Zeit als Dimension, in der sich der Wechsel manifestiert, als »Zahl der Bewegungen«, wie Aristoteles sagen würde –, die nicht nur eine Beschleunigung zu erfahren scheint, sondern »die ganze Zeit« qualitativ verändert. Alles, was sich über die Klimakrise sagen lässt, ist schon per definitionem anachronistisch, veraltet; und alles, was hinsichtlich ihrer gemacht werden kann, ist notwendigerweise viel zu wenig und zu spät – too little, too late. Diese metazeitliche Instabilität verbindet sich mit einer plötzlichen Unzulänglichkeit der Welt – denken wir an die These von den fünf Planeten Erde, die es bräuchte, wenn die ganze Menschheit den Energiekonsum des nordamerikanischen Normalbürgers pflegen wollte –, die in jedem von uns eine Erfahrung der Auflösung der Zeit (das Ende) und des Raums (die Welt) auslöst, sowie das überraschende Absinken dieser zwei unsere Anschauung bedingenden Formen zu vom menschlichen Handeln bedingten Formen. Und das ist nur ein Aspekt, unter dem wir sagen können, dass unsere Welt aufhört, kantianisch zu sein. Beinahe sieht es aus, als ob wir hinsichtlich der drei großen transzendentalen Ideen Kants – Gott, Seele und Welt (die jeweiligen Gegenstände von Theologie, Psychologie und Kosmologie) – dem Sturz der letzten beiwohnten, nachdem Gott zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert verstorben war und die Seele nur wenig später verschwand (ihr halbempirischer Avatar, der Mensch, könnte bis Mitte des 20. Jahrhunderts widerstanden haben), so dass die Welt als letzte schwankende Bastion der Metaphysik verblieb (Gaston 2013: ix).

Die Menschheitsgeschichte hat verschiedene Krisen gekannt, aber die sogenannte Weltgesellschaft – eine arrogante Bezeichnung, die der kapitalistischen, auf der Technologie von fossilen Brennstoffen beruhenden Ökonomie gegeben wurde – sah sich nie zuvor einer Bedrohung wie der aktuellen ausgesetzt. Wir sprechen nicht lediglich von der globalen Erderwärmung und dem Klimawandel. Im September 2009 veröffentlichte die Zeitschrift Nature eine Spezialausgabe, in der verschiedene Wissenschaftler, koordiniert von Johan Rockström vom Stockholm Resilience Centre, neun biophysische Prozesse des Erdsystems identifizierten und herauszufinden suchten, welches die Grenzen dieser Prozesse seien, jenseits derer sich für einige Arten (darunter der Mensch) unerträgliche Umweltveränderungen einstellten: Klimawandel, Übersäuerung der Ozeane, Ozonverminderung in der Stratosphäre, Konsum der Süßwasservorräte, Verlust der Biodiversität, die Einmischung des Menschen in die globalen Zyklen von Stickstoff und Phosphor, Veränderungen in der Bodennutzung, chemische Belastung, von den Aerosolen verursachte atmosphärische Verunreinigung. Die Autoren gelangten zum Schluss, dass wir »uns nicht den Luxus erlauben können, unsere Anstrengungen auf die Prozesse isoliert zu konzentrieren. Sobald eine bestimmte Grenze überschritten ist, haben die anderen das gleiche Risiko.« Dabei stellen die Verfasser heraus, dass wir bereits die Sicherheitszone dreier dieser Prozesse verlassen haben – der Verlustrate in der Biodiversität, der menschlichen Einwirkung auf die Zyklen von Stickstoff (den Grad, in dem das N2 aus der Atmosphäre abgezogen und in reaktives Azoton für den menschlichen Gebrauch, vor allem als Dünger, umgewandelt wird) sowie des Klimawandels – und an der Schwelle von drei weiteren stünden – Aufbrauch der Süßwasservorräte, Wandel der Bodennutzung und Übersäuerung der Ozeane.

§ Für die neun Parameter vgl. J. Rockström et al. 2009: 474. Die Übersäuerung der Ozeane ist als Zwillingsschwester des Klimawandels präsentiert worden, insofern als sie mit letzterer die gleichen Ursachen teilt und ebenso schwerwiegend für das zukünftige Leben auf dem Planeten ist. Es ist wichtig hervorzuheben, dass die Grenzwerte, die Rockström et al. vorschlagen, experimentellen Charakter haben; von Seiten der mit der Studie befassten Wissenschaftler gab es keine komplette Sicherheit hinsichtlich der Quantifizierung einiger analysierter Parameter. Für einen Überblick über die Diskussion vgl. Anthony D. Barnosky et al. (2012), der die Idee eines »point of no return« (tipping point) für die irdische Biosphäre bekräftigt, sowie Barry W. Brook et al. (2013), der die Existenz eines solchen tipping point im spezifischen Fall des Verlusts der Biodiversität problematisiert. Für einen ernsthaften und anregenden Versuch der kritisch-optimistischen Relektüre der planetarischen Grenzwerte aus anthropologischer Perspektive vgl. Pálsson et al. (2013), der an die Möglichkeit eines »guten Anthropozäns« zu glauben scheint und die Dringlichkeit der den Geisteswissenschaften eigentümlichen Kompetenz hinsichtlich eines theoretischen und praktischen Umgangs mit der Umweltkatastrophe herausstellt (jener Wissenschaften, die im Englischen in einer zögerlichen Verbindung als the humanities and the social sciences etikettiert werden). Die »Natur« oder »die Umwelt« seien zu wichtig, um sie exklusiv in den Händen (und den Forschungshaushalten) der Naturwissenschaften zu belassen. Umso mehr, als die Unterscheidung zwischen dem der Umwelt Verhafteten und der Umwelt selbst, zwischen Kultur und Natur, theoretisch und empirisch immer problematischer werde. Mit dieser Position und dem daraus folgenden Appell kann man nur übereinstimmen, besonders mit der These, dass, wenn die »Natur«-Wissenschaften des Systems Erde fähig sind, Parameter zu entwickeln und in quantitativer Hinsicht die geophysische Evolution der planetarischen Krise darzustellen, der Beitrag der Geisteswissenschaften unverzichtbar ist für ein Verständnis der sich daraus ergebenden soziopolitischen Konsequenzen. Ihre Aufgabe liegt dann darin, mögliche Antworten vorzubereiten und akzeptable Kompromisse zu finden für eine »Menschheit«, die sich urplötzlich geteilt sieht nach verschiedenen und widersprüchlichen Interessens- und Wissenslagen, was ihre basalen Werte betrifft, und deren zukünftige Situation wahrscheinlich so verschieden vom heutigen weltweit integrierten Kapitalismus sein wird, wie sie es auch vom Mittelalter und den paläolithischen Gesellschaften ist (was, wir beharren darauf, nicht notwendig eine optimistische Vorhersage ist). Das kritische Klischee allerdings, das das Leitmotiv des Textes von Pálsson et al. darstellt, begeistert uns weniger: die Idee, wonach »es wichtig ist, die Aussagen über Grenzen und Grenzwerte zu historisieren und zu kontextualisieren« (dort, S. 7). Das ist nicht nur offensichtlich, sondern auch maßgeblich – vorausgesetzt, es führt nicht zu dem leicht entmutigenden Schluss, dass »limits and frontiers« lediglich eine »soziale Konstruktion« seien. Andere, dem Grundsatz nach vernünftige Präzisierungen des Textes verdienen einen ähnlichen Kommentar, zum Beispiel die folgende:

»Es ist notwendig, der sozialen Verteilung der planetarischen Effekte, die nicht in jedem Fall leicht zu quantifizieren sind, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Die Ungleichheit in der Verfügbarkeit des Trinkwassers zum Beispiel wird schwerlich eine Lösung durch eine globale Neuverteilung finden können, und dies ist etwas, das spezifische Probleme der governance auslöst. Ein ›sicherer Handlungsraum für die Menschheit‹ kann im Weltmaßstab ein nützliches Instrument sein, im kleineren Maßstab ist es eine Fiktion.« (Ebd.)

Governance, »Ressourcen«, »Umweltdienste« … Uns gefällt der Manager-Sprech nicht, der diesen Text skandiert, verbunden außerdem mit dem Konzept der »Nachhaltigkeit« (das unserer Meinung nach »im kleineren Maßstab ein nützliches Instrument sein kann, im Weltmaßstab aber eine Fiktion ist«), und wir kommen deshalb nicht umhin, die Aufmerksamkeit auf die Selbstverständlichkeit zu lenken, mit der das dichotomische Bild von »lokal vs. global« aufrechterhalten wird, das objektiv betrachtet einer der am stärksten von der planetarischen Krise bestrittenen Aspekte ist. Es wäre schade, wenn wir erneut Zeugen würden von der Wiederherstellung des Dualismus Natur/Kultur durch die gleichen Gesten, die seine Inkonsistenz offenlegen. So geschieht es den Naturwissenschaftlern, wenn sie von den »geophysischen Parametern« hypnotisiert sind, aber nur einen vagen und politisch unwirksamen Begriff von »Menschheit« haben, während die Sozialwissenschaftler den ununterbrochenen und unvermeidbaren Kampf für die Rechte der Enterbten der Erde, also die »soziale Gerechtigkeit«, einfach in »Umweltgerechtigkeit« umbenennen. Entsprechend hieß es denn auch in einem der Slogans der Gründungskampagne des Instituto Socioambiental (ISA) in Brasilien: »Sozioambiental schreibt man zusammen.« Es scheint uns schließlich notwendig, den Begriff der politischen Ökologie als bloßen emphatischen Pleonasmus zu verstehen und nicht als einen hybriden begrifflichen Kompromiss, als »Arrangement« zwischen einer Natur und einer Kultur, die auf diese Weise fortfahren würden, mit versteckten Karten zu spielen. Aber vielleicht wird unsere Lektüre dem Ruf zu den Waffen von Pálsson et al. so nicht wirklich gerecht, und falls dem so ist, entschuldigen wir uns.

§ Ein sicheres Indiz für den Klimawandel ist die Schmelze der wichtigsten Polkappen der Erde. Der vierte Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) von 2007 schätzt, dass das arktische Eis bis zur nächsten Jahrhundertwende verschwunden sein könnte. Der Rekord der Eisschmelze wurde jedoch schon im August 2012 erreicht. Einige Wissenschaftler wagen bereits, für dieses Jahrzehnt einen komplett eisfreien Sommer in der Arktis vorherzusagen. Die Zusammenfassung des fünften Klimareports der Arbeitsgruppe I von 2013 hält die Abwesenheit von Meereis in der Arktis im Monat September bereits vor der ersten Jahrhunderthälfte für »wahrscheinlich«. Die letzten Entwicklungen in den Polarzonen sind erst nach dem Bericht des IPCC bekannt geworden und betreffen die schwindelerregende Geschwindigkeit des Abschmelzens der monumentalen Eisvorkommen in der Antarktis und in Grönland, wodurch die (zeitlichen und räumlichen) Vorhersagen über die Erhöhung des Meeresspiegels beträchtlich verändert wurden. Das Manifest von Marx und Engels paraphrasierend: »Alles, was fest ist« – angefangen mit dem ältesten Eis der Erde – »löst sich im Meer auf.«7

Wir stehen an der Schwelle (oder wir sind schon eingetreten, und die Unsicherheit darüber illustriert die Erfahrung des zeitlichen Chaos) zu einem komplett neuen Klimaregime, das mit dem vergangenen nichts zu tun hat. Die nächste Zukunft wird – außerhalb der Imaginationsräume der Science-Fiction oder der messianischen Eschatologien – unvorhersehbar, wenn nicht sogar unvorstellbar.

Es gibt verschiedene beeindruckende Diagramme hinsichtlich des Phänomens der beschleunigten Umweltveränderungen mit einer wahrnehmbaren Spitze im Laufe von ein, zwei Generationen. Beispiele hierfür sind die hockey stick graphs, die die schwindelerregende Zunahme diverser kritischer Parameter seit dem Ende des 19. Jahrhunderts anzeigen – mittlere globale Temperatur, demographische Zunahme, Energiekonsum pro Kopf, Rate der Auslöschung der Arten etc. –, oder die »Keelingkurve«, die die Entwicklung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre seit 1960 darstellt, wobei die 400-ppm-Marke zum ersten Mal am 9. Mai 2013 überschritten wurde.8 Es handelt sich nicht nur um die Breite der Veränderungen hinsichtlich einiger Referenzwerte (zum Beispiel der 280 ppm CO2 zu Beginn der Industriellen Revolution), sondern um ihre wachsende Beschleunigung – die Intensivierung der Variation und der anschließende Verlust jedes Referenzwertes.

Wir leben in einer Zeit katastrophischer Spitzen und Kurveninversionen. Auf immer neue Rekordhöchsttemperaturen folgen – immer weniger – Rekordtiefsttemperaturen. Beinahe täglich diskutiert man über die Geschwindigkeit der zunehmenden CO2-Konzentration (was eine große Debatte über die Ökonomie der Schwellenländer impliziert); man diskutiert die »Sensibilität« des Systems Erde und den folgenden Grad der Erhöhung der weltweiten Durchschnittstemperatur aufgrund der verdoppelten CO2-Menge, die sich im System akkumuliert hat. Auf der anderen Seite verhindert die Abnahme des weltweiten Volumens der Gletscher keineswegs ihre (provisorische?) Ausweitung in einigen Regionen des Planeten; ein Phänomen, das auf die Modifikation ihrer Konsistenz, ihrer Farbe und der daraus folgenden Kapazität, Licht zu reflektieren, zurückgeführt wird. Wie hoch sind die Geschwindigkeit und das Ausmaß des Meeresspiegelanstiegs, wem ist, beispielsweise, der mysteriöse Fall der weltweiten Erhöhung zwischen 2010 und 2011 geschuldet? Wie die Ursachen beseitigen, wie von einer »Normabweichung« reden, wenn die Norm jedes Jahr wechselt und die Anormalität selbst zur Norm wird?9 Wärmer und kälter, trockener und feuchter, schneller und langsamer, empfindlicher und widerstandsfähiger, größere und geringere Reflexion, heller oder dunkler – die Instabilität berührt Zeit, Quantität, Qualität, Messungen und Maßstäbe, und sie zieht den Raum in Mitleidenschaft. Lokales und Globales überlagern sich: Der weltweite Anstieg des Meeresspiegels korrespondiert nicht in gleicher Weise mit dem lokalen Anstieg; die Klimaveränderung ist zwar ein globales Phänomen, aber die Extremereignisse betreffen jedes Mal verschiedene Gegenden des Planeten, was die Vorhersage und die Prävention ihrer Konsequenzen umso schwieriger macht. Alles, was wir lokal tun, hat einen Einfluss auf das Weltklima, andererseits scheinen unsere kleinen individuellen Milderungsaktionen keinerlei beobachtbare Effekte zu erzielen. Wir sind Gefangene eines generalisierten Wahnwitzes der extensiven und intensiven Qualitäten, die das gesamte biogeophysikalische System Erde zur Sprache bringen. Es überrascht daher nicht, wenn einige Klimatologen das aktuelle Klimaregime als »climate beast« bezeichnen.10

All dies legt nahe, dass die Beschleunigung der Zeit – und die dazu relative Verdichtung des Raums –, die bislang vornehmlich als existenzielle und psychokulturelle Bedingung der Gegenwart betrachtet wurde, in einer objektiv paradoxen Form aus dem Bereich der Sozialgeschichte in den der Bio- und Geophysik übergetreten ist. Dipesh Chakrabarty (2009) beschreibt diesen Übergang in seinem Pionieraufsatz »The Climate of History« als Transformation der Spezies Mensch von einem einfachen biologischen Agenten zu einer geologischen Macht. Das ist das bedeutsamste Phänomen des gegenwärtigen Jahrhunderts: »die Einmischung von Gaia« (Stengers 2009), brüsk und überraschend, in den Horizont der menschlichen Geschichte, der definitive Einbruch einer Transzendenz, die wir überwunden glaubten und die nun stärker als jemals zuvor in Erscheinung tritt. Die Transformation des Menschen in eine geologische Macht oder in ein »objektives« Phänomen, in ein »Natur«-Objekt, in einen »Kontext« oder eine bedingende »Umwelt« wird bezahlt mit dem Eindringen Gaias in die menschliche Welt, die dem System Erde die bedrohliche Form eines historischen Subjekts verleiht, eines politischen Handlungsträgers und einer moralischen Person (Latour 2013a). In einer ironischen und tödlichen (da jedes Mal widersprüchlichen) Inversion von Form und Hintergrund wird derjenige, der in einer »Umwelt« lebt, zur »Umwelt« und umgekehrt: Es ist die Krise einer immer doppeldeutigeren »Umwelt«, von der wir nie wissen, wie sie zu uns steht – noch wissen wir, wie wir zur ihr stehen.

Diese plötzliche Kollision der Menschen mit der Erde, die beängstigende Kommunikation der Geopolitik mit der Geophysik, trägt entscheidend zum Zusammenbruch der fundamentalen Unterscheidung der modernen episteme bei: jene zwischen kosmologischer und anthropologischer Ordnung, angeblich »von jeher« (das heißt, mindestens seit dem 17. Jahrhundert) getrennt durch eine doppelte Diskontinuität, der der Essenz und des Maßstabs. Auf der einen Seite die Evolution der Art, auf der anderen die Geschichte des Kapitalismus (auf lange Sicht sind wir alle tot); am Schluss ist alles Thermodynamik. Die Rechnungen jedoch, die wirklich zählen, werden auf dem Finanzmarkt aufgestellt; die Quantenmechanik wogt im Herzen der Realität, aber unsere Herzen und Gemüter werden von den Ungewissheiten der parlamentarischen Politik mobilisiert – in zwei Worten, Natur und Kultur (Latour 1991, Viveiros de Castro 2012a). Nach dem Zerschlagen der Glasglocke, die uns von der Natur »da draußen« trennte und uns gleichzeitig unendlich über sie erhob (Hache und Latour 2009), finden wir uns im Anthropozän wieder, der Epoche, in der die Geologie in geologische Resonanz zur Moral tritt, so wie es die gefeierten Visionäre Gilles Deleuze und Félix Guattari vorhergesagt hatten, zwanzig Jahre vor Crutzen: Dadurch wird, wir wollen es unterstreichen, die Geologie nicht moralisiert (die menschliche Verantwortung, die Intentionalität, die Bedeutung – vgl. Pálsson et al. 2013), sondern die Moral geologisiert.11

Die faszinierende soziokosmologische Schichtung der modernen Welt implodiert vor unseren Augen. Man dachte, das Gebäude würde aufgrund des Erdgeschosses, der Wirtschaft, standhalten, aber wir haben das Fundament vergessen. Und nackte Panik überkommt einen, wenn man realisiert, dass die Bestimmung in letzter Instanz lediglich die in vorletzter war …

Nicht nur hat sich die Moderne globalisiert, auch der planetarische Globus hat sich modernisiert – und dies beides geschah in einer sehr kurzen Zeitspanne: »Erst in jüngster Zeit hat die Trennung zwischen menschlicher Geschichte und Naturgeschichte angefangen zu kollabieren« (Chakrabarty 2009: 207). Der Ideenkomplex, dass das Auftreten unserer Spezies auf dem Planeten jüngeren Datums sei, dass die Geschichte, wie wir sie kennen (Landwirtschaft, Stadt, Schrift), noch jünger sei und dass die industrielle Lebensweise, gegründet auf dem intensiven Verbrauch fossiler Brennstoffe, auf der Uhr der Evolution des Homo sapiens vor weniger als einer Sekunde begonnen habe, scheint zu suggerieren, dass die Menschheit selbst eine Katastrophe, ein plötzlicher und zerstörerischer Einbruch in die Geschichte des Planeten ist und dass sie schneller verschwinden wird als die von ihr in Gang gebrachten Veränderungen im thermodynamischen Regime und im biologischen Gleichgewicht der Erde. In den Überlieferungen dieser »Tiefengeschichte«, die Historiker, Frühgeschichtler, Klimatologen und Geologen konstruieren, übernehmen die Menschen eine zwar zentrale, doch verspätete und sehr wahrscheinlich ephemere Rolle.

§ Zum wahrscheinlichen wissenschaftlichen Missverständnis und zu dem behaglichen politischen Manöver, das den Anfang des Anthropozäns auf das Neolithikum rückdatiert (und damit die aktuellen techno-ökonomischen Interessen derer freispricht, die die Atmosphäre mit CO2 vollpumpen, oder wenigstens die Schwere ihrer Verbrechen mildert), siehe Hamilton 2014, der mehr noch, als diese Verrückung zu verurteilen, daran erinnert, dass respektierte Paläoklimatologen wie Wally Broecker von einer neuen geologischen Ära sprechen (»der anthropozoischen Ära«), was mehr ist als eine einfache Epoche (das Anthropozän) und was mithin den chronologischen Maßstab und die geophysische Bedeutung des mit der Industriellen Revolution begonnenen Ereignisses nebst seiner Intensivierung um eine Größenordnung ausweitet. Wir erinnern überdies daran, dass die Idee einer angeborenen Berufung des Homo sapiens zum Ökozid häufig vorgebracht wird – gelegentlich mit besten Absichten (heute, da wir wissen, dass wir nicht nur sterblich, sondern auch todbringend sind, können und müssen wir in dieser Hinsicht etwas tun, wie Monbiot 2014 nahelegt, der die aktuellste Literatur über die Auslöschung der Megafauna im Pleistozän heranzieht) –, um den gegenwärtigen Zusammenbruch im Anthropozän zu erklären. Doch ist dieses Argument von Seiten einiger der »Theorie der Resilienz« (Brooke 2014: 8 f., 267 f.) anhängenden Paläoökologen skeptisch rezipiert worden, welche im Gegenteil lange Perioden ökologischer und soziopolitischer Stabilität der archaischen Gesellschaften annehmen, die durchsetzt waren von exogenen »Flaschenhalsphänomenen« der Umwelt (nicht-malthusianische Katastrophen tektonischen oder astronomischen Ursprungs). Mit einem Monbiots Homo destructor