In zwangloser Gesellschaft - Leonhard Hieronymi - E-Book

In zwangloser Gesellschaft E-Book

Leonhard Hieronymi

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Beschreibung

 »Einerseits wäre ich gerne tot, damit Leonhard Hieronymi meine letzte Ruhestätte beschreiben könnte - andererseits könnte ich das dann leider nicht mehr lesen.«  Hans Zippert, Titanic   Nach einem Lachanfall in den Katakomben von Rom, der doch irgendeinen Grund gehabt haben muss, macht sich ein junger Mann auf den Weg: Durch Ohlsdorf, Constanţa, Wien und Prag, entlang der Grabsteine Europas größter und kleinster Literaten beginnt er eine Spurensuche – nach den unheimlich Verschwundenen und den Unsterblichen. Häufiger als erhofft stößt er dabei auf knutschende Paare, Bonbonpapier, Champagnerflaschen und dann doch keine Mentholzigaretten; trifft Orgelsachverständige, Totengräber und Hermann Hesses Enkel, und es braucht neben Durchhaltevermögen nicht zuletzt Rotwein, eine Arminius-Schreckschusspistole und eine frisierte Vespa, bis er erstaunt zu dem Schluss kommt: Verschwinden ist Luxus.   Ein wildes, phänomenales Debüt, das uns berauscht, beglückt und amüsiert und ganz nebenbei ein völlig neues Licht auf das Europa unserer Tage wirft. 

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Seitenzahl: 259

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Leonhard Hieronymi

In zwangloser Gesellschaft

Roman

Hoffmann und Campe

Für O.L.

Das kann doch einfach nicht wahr sein.

Ich finde das blöde Grab von Thomas Mann nicht.

Christian Kracht

Let’s say the extremely smooth grass in cemeteries is fake

grass, and there is no one and nothing underneath it.

Dennis Cooper

1Rom, Kallistus-Katakombe

Ich wollte ins Reich der Toten hinabsteigen, um mich zu entschuldigen. Vor zehn Jahren hatte ich, in Begleitung meiner zwei Cousins und meines Bruders, während einer Führung durch die Katakombe des heiligen Kallistus einen mir bis heute unbegreiflichen Lachanfall bekommen und alle anderen damit angesteckt. Selbst in den Grabkammern der Päpste konnten wir uns im Moder der Jahrhunderte nicht beherrschen, und das Krächzen meines Bruders, das in Weinkrämpfe überging, ließ mich, trotz der wütenden Ermahnungen des Katakombenführers, vor Bauchschmerzen und Atemnot immer wieder gegen die Steinsärge schlagen. Wir hielten uns aneinander fest wie Besoffene und torkelten durch die Krypten. Der kollektive Anfall war so stark, dass uns der Fremdenführer mit allen möglichen Mitteln zu trennen versuchte – ohne Erfolg. Selbst als uns Totenschädel und mumifizierte Hüftknochen im Vorbeigehen streiften, konnten wir uns nicht zusammenreißen. Wir versuchten uns an die traurigsten Sachen zu erinnern, die jemals passiert waren, nicht nur uns, sondern der Welt und Europa – dem ganzen großen Weltfriedhof Europa! –, aber es war zwecklos.

 

Sowohl die Touristen als auch der Führer der Gruppe hassten uns dafür. Sie ließen uns, weil wir uns nur noch gekrümmt fortbewegen konnten, irgendwann hinter der Krypta der heiligen Caecilia stehen, und dann kauerten wir alleine im Dämmerlicht, und das Lachen wurde leiser. Dass wir zurückgelassen wurden, bremste ein wenig unsere Ekstase, obwohl es kaum Abzweigungen gab und man sich nicht großartig verlaufen konnte. Wir hörten die immer schneller werdenden Trippelschritte der Italiener, Chinesen, Japaner, Russen und Franzosen, wir hörten leise Stimmen und Gekicher. Wollten sie uns in einen Hinterhalt locken?

Irgendwann verstummten die Geräusche der großen Gruppe im Nichts, und wir waren uns sicher, dass man uns hier unten alleine und in der Dunkelheit verschwinden lassen würde. Wir hörten auf zu kichern, mein Bruder wischte sich eine letzte Träne aus den Augenwinkeln, und dann bekamen wir Gänsehaut im Nacken. Keiner von uns traute sich, nach hinten zu schauen, in die Richtung, aus der wir gekommen waren, denn dort lagen nicht nur über eine halbe Million Tote, sondern auch sechzehn Päpste. (Und wir waren in unseren bisherigen Leben alles andere als fromm gewesen – aber alle vier katholisch.)

 

Nach einiger Zeit erreichten wir den Fuß der Treppe, die aus der Unterwelt führte. Als mein Cousin Gianni die erste Stufe betrat, ging im gesamten Tunnel- und Katakombensystem des ersten Hauptfriedhofs der christlich-römischen Gemeinde das Licht aus. Dunkelheit umgab uns, wir konnten den Ausgang von hier unten nicht erkennen, draußen dämmerte es bereits. Es war kurz nach Weihnachten.

Da aber schoss die Luft wieder durch die Lungen, und der nächste, diesmal leicht panische Lachanfall überkam uns, während wir uns an den Wänden der Katakombe nach oben tasteten.

Anders als Aeneas, der Held der griechisch-römischen Mythologie, waren wir an diesem Abend vor über zehn Jahren nicht geläutert und weinend aus dem Totenreich zurück zu den Lebenden gekehrt, sondern so schlau wie vorher.

Dann aber, am selben Abend, fragten wir uns doch, ob nicht die Angst vorm Sterben und Verschwinden dieses Lachen ausgelöst hatte.

Als uns der Hobby-Archäologe, der uns durch die Katakombe geführt hatte, an der Erdoberfläche wiedersah und ihm klar wurde, dass er mit dem Ausschalten des Lichts niemandem hatte Angst einjagen können, blitzte es in seinem Gesicht in der Dämmerung noch einmal vor Wut weiß auf, dann drehte er sich um und schritt ächzend über den Sandboden in Richtung Via Ardeatina davon, wo er zwischen zwei Zypressen in der Dunkelheit verschwand.

 

Heute, zehn Jahre später, wohnte Gianni noch immer in der Nähe der Kallistus-Katakombe, in einer Villa an der Via Appia Antica, direkt neben Sophia Loren. Ich war zu Besuch in Rom, und er stand mit seinem Land Rover auf einem Parkplatz in der Nähe und wartete völlig verständnislos darauf, dass ich mich für etwas entschuldigte, das so lange zurücklag und an das er sich selbst kaum noch erinnern konnte. Aber er wusste nicht, wie neurotisch ich war. Für ihn waren Religion, Tod und Kampf gleichbedeutend mit Macht – sie waren bei ihm der Weg zu etwas Höherem, bei mir lösten diese Dinge aber nur Furcht aus.

Ich ging zu dem Häuschen, an dem man Eintrittskarten für die Katakombe kaufen konnte, aber zwischen zwölf und vierzehn Uhr war Mittagspause.

Ich setzte mich in den Schatten davor und schaute in den Himmel. Ich befand mich am Ende einer einjährigen Reise zu den Gräbern europäischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller, bei denen ich davon ausgegangen war, dass man sie früher oder später vergessen würde – die also im Begriff waren, für immer zu verschwinden.

Die Katakomben waren die vorletzte Etappe meiner Reise, in ein paar Stunden würde ich den Zug vom Hauptbahnhof Termini nach Rapallo an die ligurische Bucht nehmen, um dort nach der bei jungen deutschen Autorinnen und Autoren so beliebten Qualle Turritopsis dohrnii zu schnorcheln, die Forschern anscheinend Hinweise darauf gab, wie der Mensch zur Unsterblichkeit gelangen konnte.

Nachdem ich mit meinen Verwandten, die nun mal unweigerlich Teil von mir waren, so furchtbar die Totenruhe gestört hatte, musste ich zwar nicht über den Tod, aber häufig über die Gegensätze von Verschwinden und Unsterblichkeit nachdenken.

Damals, als wir die Katakombe verlassen hatten, lagen die Weihnachtsfeiertage gerade hinter uns, und die Worte der Nachrichtensprecherin an Heiligabend lagen mir noch in den Ohren, denn immer an Heiligabend, an dem Tag im Jahr, an dem die Sonne im warmen Regen untergeht, wurden im Radio die offiziellen Vermisstenzahlen durchgesagt. Ich dachte an weißrussische Oppositionspolitiker, die sich im Säurebad auflösen; ich dachte an den verschollenen Bergsteiger Joe Tukser, der wahrscheinlich ins Kangshung-Tal abgestürzt war; den ertrunkenen und erfrorenen Daniel Küblböck und den britischen Musiker R.J. Edwards, dessen Auto am Ausgangspunkt der knapp fünfzig Meter hohen und bei Selbstmördern beliebten Severn-Brücke zwischen England und Wales gefunden wurde. Ich las Reportagen über das Verschwinden des Malers Alfred Partikel, der nicht mehr vom Pilzesammeln in Ahrenshoop zurückgekehrt war, oder Zeitungsberichte über den Deutschen Lars Mittank, der nach erlittenem Trommelfellriss und einer durch Mangelernährung ausgelösten Panikattacke über den Zaun des Flughafens im bulgarischen Warna gesprungen, in einem Sonnenblumenfeld verschwunden und seitdem nicht wieder aufgetaucht war.

 

Ausgehend von all diesen Fällen und Entwicklungen und dem Gedanken, dass das endgültige Verschwinden vielleicht eher ein Glück als ein Unglück ist und außerdem einen quasi unerreichbaren Luxus darstellt, beschloss ich, eine Reise zu sowohl den Unsterblichen als auch den Vergessenen und den beinahe Verschwundenen zu unternehmen.

Ich wollte ihre Gräber finden. Ich wollte wissen, wie nahe man dem Verschwinden wirklich kommen konnte – im Gegenzug wollte ich aber auch die Gräber der seit zweitausend Jahren Unsterblichen besuchen, wie die der römischen Dichter und Philosophen Seneca und Ovid.

Während ich damals noch überlegte, ob eine solche »Wunderreise« – wie ich sie nennen wollte – wirklich die letzte mögliche Abenteuerreise in der vom Spätkapitalismus errichteten Welt aus künstlich hergestellten Nahtodzuständen, Wagnissen und Gefahren war, rief ich auch schon meinen Bruder an und schlug ihm kurzerhand vor, mich in Frankfurt zu treffen, um dort auf dem Hauptfriedhof zwischen den Grabreihen herumzuschleichen.

»Ich weiß nicht«, sagte mein Bruder.

»Überleg es dir, das Angebot bleibt bestehen«, sagte ich. »Du kannst Fotos mit deiner neuen Kamera machen.«

Ich legte auf, aber noch am selben Abend rief er mich zurück.

»Ich komme mit. Auch wenn du da ja nicht mehr viel finden wirst außer einem Stein. Und darunter vielleicht ein paar übriggebliebene Proteinverbindungen.«

Dann lachten wir beide. Und es klang nicht anders als vor zehn Jahren.

2Frankfurt am Main

Es war warm, und von allen Stadträndern Frankfurts schoben sich schwere Regenwolken in unsere Richtung. Wir saßen im Auto meines Bruders und hörten das zweite Album der neuseeländischen Band Die! Die! Die!, was ich während der Fahrt zu einem Friedhof als etwas Unangenehmes empfand, aber man bekam die CD nicht mehr aus dem Schlitz der Anlage heraus.

Wir parkten am südlichen Eingang des Friedhofs zwischen einem Blumengeschäft und einer Pizzeria und gingen zügig in nördliche Richtung, wo wir begannen, nach dem Grab von Robert Gernhardt zu suchen, dem zweitgrößten Dichter Frankfurts.

Unter anderem waren hier die Schriftstellerinnen Dorothea Schlegel und Ricarda Huch, der Verleger Siegfried Unseld, die Frauenrechtlerin Meta Quarck-Hammerschlag und der Mundartdichter Friedrich Stoltze neben Adorno, Reich-Ranicki und Schopenhauer bestattet worden, aber Gernhardt war mir der Wichtigste. Beziehungsweise um ihn machte ich mir die meisten Sorgen. Denn während er vor zwanzig oder dreißig Jahren noch große Leserschaften erreichte, musste man ihn ein paar Jahre später schon immer wieder auffrischen und seine Gedichte zitieren, um die nächste Generation an ihn zu erinnern. Vielleicht ist es der ewige Fluch derjenigen Literatur, die Ernst und Spaß miteinander verbinden will, die Gernhardt vom großen Weltruhm bis heute fernhält. In diesem Land scheitert diese Literatur ja immer. Warum, das konnte nicht mal Gernhardt selbst sagen, aber er ärgerte sich: »All die Jahre hatte mich weniger der Unverstand der Kritiker bekümmert, als ihr Unwille oder ihr Unvermögen, sich zu den komischen Produkten zu äußern.«

Gernhardt starb im Sommer 2006, während des Sommermärchens, am Tag des Viertelfinalspiels Deutschland gegen Argentinien. Wahrscheinlich bei Sonnenschein oder im Lärm der Abenddämmerung, begleitet vom Hupen Hunderter Autos im Autokorso.

 

Die Grabnummer, die ich mir in mein Notizbuch geschrieben hatte, stimmte zwar, erwies sich aber als vollkommen nutzlos. Die einzelnen Abschnitte des Friedhofs hießen »Gewann«, aber sie folgten keiner Struktur. Wie wild durcheinandergewürfelt lagen mehrere hundert Tote auf diesen mit Gehwegen voneinander abgegrenzten Abschnitten, und da brachte einem die teilweise vierstellige Nummer wenig. Einige der Nummern waren an unscheinbaren Stellen auf die Grabsteine selbst graviert, aber meist wurden sie von Erde und Pflanzen verdeckt.

Ich beschrieb meinem Bruder detailliert die Stationen meiner geplanten Reise bis hin zur Rückkehr in die Kallistus-Katakombe, dort würde sich ein Kreis schließen.

Er konnte sich an unseren Lachanfall erinnern, er erkannte die Obsession in der Unternehmung und betrachtete wenigstens das (nicht die Suche an sich) als etwas Natürliches und Nützliches – und, genauso wie ich, überhaupt jedes künstliche Schaffen einer »Aufgabe« für eigentlich alle Personen dieser Erde als etwas Überlebenswichtiges.

Trotzdem machte meine Suche für ihn keinen Sinn.

 

Noch während wir im Gewann A nach dem Grab Nummer 1103 suchten, begann es in Strömen zu regnen. Ich stellte mich unter einen Lindenbaum und berührte dabei seinen Stamm nicht, während mein Bruder weiter die Reihen entlangging.

 

In Bratislava hatte ich vor einigen Jahren in der Nähe des unter Denkmalschutz stehenden Gaistor-Friedhofs einmal mehrere Topvar-Biere in der Abenddämmerung getrunken und war dann über den dunklen Friedhof gelaufen. Die Grabsteine hingen dort windschief zwischen den Tannen, man konnte die Inschriften nicht mehr erkennen, und obwohl der Friedhof unter Denkmalschutz stand, befand er sich in einem geisterhaften Auflösungszustand. Plötzlich fühlte ich mich seltsam erschöpft, es war einer der ersten warmen Frühlingstage gewesen, also nahm ich unter einer Tanne Platz und lehnte mich an ihren Stamm. Irgendeine Seele wollte den Friedhof aber verlassen und schien mich als Portal benutzen zu wollen. Über meinen Rücken zog sich ein eisiger Schauer. Sofort schoss ich in einem Anflug von Aberglaube und Pathetik auf und rannte über den Friedhof zum Ausgang und in die Stadt zurück.

Das seltsame Gefühl hielt aber an. Ich beschloss, fast panisch, Bratislava und die Slowakei noch an diesem Abend zu verlassen, und setzte mich in meinen Ford, um nach Wien zu fahren. Als ich den ersten Gang einlegen wollte, tat sich nichts. Irgendetwas schien zu klemmen. Ich schlug auf das Armaturenbrett ein, es gab einen gewaltigen Schlag, und ich fuhr los. Ich war mir sicher, dass der Geist direkt vom Baum in meinen Körper und von dort aus über die Gangschaltung ins Auto gerast war. Und erst auf der Autobahn und kurz hinter der slowakisch-niederösterreichischen Grenze verflüchtigte sich das seltsame Gefühl, weil ich annahm – und überhaupt allgemein angenommen wird –, dass Seelen nicht mit mehr als fünfzig Stundenkilometer reisen können.

Seitdem weiß ich: Friedhofsbäume sind keine normalen Bäume. Man sollte es vermeiden, sie zu berühren.

 

Ich blickte mich um, mein Bruder war verschwunden.

Ganz in der Nähe stand eine Frau an einem Familiengrab, das am Rande einer Mauer lag – gegenüber von Familie Neckermann. Es war eine echte Frankfurter Bürgerin. Sie trug eine seltsame Baumwollpopeline-Tunika und ein Foulard aus Seidentwill. Unsere Blicke trafen sich, und sie fragte, ob ich jemanden Bestimmten suchen würde.

Ich trat ein wenig unter der Linde hervor.

»Ja, Robert Gernhardt.«

»Ach, Gernhardt.« Sie überlegte und sagte dann: »Nein, weiß ich leider nicht. Sehen Sie, ich habe so lange gebraucht, um dieses Grab nach der Beerdigung wiederzufinden.« Sie zeigte auf einen großen Stein. »Ich habe mir dann den Weg beim dritten Mal aufgezeichnet. Inzwischen brauche ich meine Wegbeschreibung nicht mehr, aber es ist schon kompliziert, nicht?!«

»Irgendwie schon.«

»Na ja, vielleicht geh ich dann das nächste Mal auch noch kurz zum Gernhardt. Auf Wiedersehen.«

 

In Frankfurt hatte es um die Gründer der Satiremagazine pardon und Titanic und der daraus entstandenen Neuen Frankfurter Schule, der Gernhardt angehörte, eine jahrzehntelange und gut funktionierende »Verbrüderung zwischen Künstlern und Bürgertum« gegeben. FAZ-Redakteur Platthaus schwärmt in einem kurz nach der Trauerfeier veröffentlichten Text vom vergangenen Beieinander- und Zusammensein, dem gemeinsamen Tennisspielen und Tischtennisspielen, den Gartenpartys und Urlauben und Besuchen und Dinners und den endlosen Nächten in den Kneipen, in denen man heimlich von Gernhardt in ein Schulheft von Brunnen gezeichnet wurde.

 

Ich stellte mich zurück unter die Linde. Es regnete immer noch. Die Friedhofsgärtner hatten ihre Arbeit eingestellt und standen mit ihren Wagen unter kleinen Hütten. Ich rief meinen Bruder an, aber er konnte natürlich nur schwer erklären, wo er war, also legte ich wieder auf. Als ich ihn von weitem sah, traute ich mich aus Pietätsgründen nicht zu schreien, ich traute mich auch nicht, zu ihm zu rennen. Ich beobachtete seine Laufwege und beschloss, ihm den Weg abzuschneiden. Ich ging nach rechts an einer Reihe Urnensteinen vorbei und dann nach links, wo ich auf einmal ungeschützt im Regen und am Grab von Arthur Schopenhauer stand. Unweigerlich musste ich an eine seltsame Geschichte denken, die ich zuvor im Internet gelesen hatte: Vor mehr als dreißig Jahren hatte man nämlich das Grab von Schopenhauer geöffnet und, ohne mit der Wimper zu zucken, den (zu diesem Zeitpunkt bereits ehemaligen) Präsidenten der Schopenhauer-Gesellschaft, Arthur Hübscher, einfach mit zu Schopenhauer ins Grab gelegt. »Der Tod hat sie endlich vereint«, hieß es in einer Grabrede, dabei kannten sich die beiden überhaupt nicht. Einen Interpreten zusammen mit dem Verfasser der zu interpretierenden Objekte zu begraben, das kommt schon einer Grabschändung gleich. Gerade Schopenhauer sollte man lieber in Ruhe lassen, schließlich handelt es sich bei ihm um den Mann, der gesagt hat, dass die sogenannten Menschen »fast durchgängig nichts anderes sind als Wassersuppen mit etwas Arsenik«. Schopenhauer hätte es allerdings wie Shakespeare machen sollen, auf dessen Grabplatte ein Fluch graviert ist: »Gesegnet sei der Mann, der schonet diese Steine, und jeder sei verflucht, der stört meine Gebeine.« Bis heute hat sich niemand an die Innereien seines Grabes getraut.

Zum Glück hielt Schopenhauer die Lehre von der Seelenwanderung nur für eine populäre Form der Lehre des Willens zum Leben – und deshalb auch selbst nichts von Unsterblichkeit. Also konnte es ihm im Grunde genommen egal sein, mit wem er dort nun begraben liegt.

Aber es ist fraglich, wem das Grab Schopenhauers gehört. Wenn damals die Familie schon verschwunden war und sich die Stadt Frankfurt mit der Schopenhauer-Gesellschaft zusammentat, wer könnte dann die mit Hunderten kulturbürokratischen Verträgen abgesicherte (und dadurch als selbstverständlich betrachtete) Grabschändung noch zurücknehmen?

 

Ich drehte mich um und zuckte zusammen, mein Bruder stand wie ein Geist neben mir. Auch er hatte Gernhardt noch nicht gefunden.

Wir stellten uns in einer kleinen Holzhütte unter, wo ein junger Gärtner mit Hörgerät auf seinem Bewässerungswagen saß. Von Gernhardt hatte dieser noch nie etwas gehört. Wir sagten ihm die Nummer, da runzelte er kurz mit der Stirn.

»Das ist da hinten, hinter den Schwestern.«

»Hinter den Schwestern?«

»Ja genau.«

»Okay …«

Wir wussten natürlich nicht, wer die Schwestern waren, konnten es uns aber denken.

»Regnet es eigentlich stark?«, fragte er.

»Es geht. Nein, eigentlich nicht mehr …«

Wir gingen in die Richtung, die er uns angezeigt hatte, aber auch da, »hinter den Schwestern«, konnten wir den Grabstein nicht finden. Wir gingen weiter ziellos umher und schritten die Reihen ab. Es hörte langsam auf zu regnen, die Schwüle kam zurück. Mein Bruder schaute immer wieder auf die Uhr, weil irgendein Treffen mit irgendeiner Frau näher rückte. Ich machte mir schon ein schlechtes Gewissen, aber da sahen wir es plötzlich.

Es bestand aus einer kleinen nach oben hin abbrechenden und von Efeu umschlungenen Säule toskanischer Ordnung. Auf der Säule standen nur sein Name, das Geburts- und Todesdatum, der Name seiner ersten Frau Almut und die Namen Chia und Bella, den Haustieren.

 

»Wie war das damals, auf Gernhardts Beerdigung?«, wollte ich später in einer E-Mail vom ehemaligen Chefredakteur und heutigen Herausgeber des von Gernhardt mitgegründeten Titanic-Magazins, Hans Zippert, wissen. »Gab es irgendwelche Erscheinungen? Irgendwelche Seltsamkeiten?«

Er antwortete prompt.

»Ich kann mich nicht erinnern, ich war nämlich nicht dabei. Nur als Chlodwig Poth zu Grabe getragen wurde, hörte ich schon von weitem jemanden heftig schluchzen, und irgendwann saß da schließlich auf einer Bank der von heftigen Weinkrämpfen geschüttelte Wilhelm Genazino, der entweder aufgrund seiner Beleibtheit nicht in der Lage war, sich an einen dezenteren Ort zurückzuziehen, oder aber seine lautstarke Trauer öffentlich ausstellen wollte. Es war bizarr und anrührend zugleich.«

 

Alle waren kurz hintereinander gestorben. Erst Bernd Pfarr, zwei Tage später Chlodwig Poth, ein Jahr nach ihnen F.K. Waechter, dann Gernhardt. Mit einem Rundumschlag hatte die Frankfurter Satirikerszene Mitte der Nullerjahre einen Großteil ihrer Mitglieder an den Totengott Mors verloren.

Tot also waren diejenigen Autoren und Zeichner, deren ernstgemeinte Aufgabe es war, irgendwann und trotz der bei der Kritik verpönten komischen Literatur als Klassiker zu gelten – und die diese Aufgabe unweigerlich durch ihre relativ frühen Tode auch erfüllt hatten.

 

Vor seinem Tod bekam Gernhardt viel Krankenbesuch. Eckhard Henscheid wollte sich von seinem langjährigen Freund verabschieden, sie unterhielten sich, und Gernhardt erklärte Henscheid, er habe ein »schönes Leben geführt und keinen Grund zur Klage«, was Eckhard Henscheid wunderte, »angesichts der richtig bösartig fatalitätsmäßigen Abfolge von Gattinnenkrankheit und -tod, Schlaflosigkeit, Verlegermalaisen mit erheblichen Geldverlusten, Herzinfarkt und schließlich Krebs«. Für Henscheid eine »eindrückliche«, eine wie ihm schien »sehr gottgefällige Gesinnung«.

Oliver Maria Schmitt, aus der zweiten Generation der Neuen Frankfurter Schule, fragt sich in seinem fünf Jahre vor Gernhardts Tod erschienenen Buch Die schärfsten Kritiker der Elche, »warum aber ausgerechnet dieser so ganz unschöpferisch und unhypertonisch, vielmehr gelassen und cool wirkende Herr, der nie ein aggressiver oder polemisch-schimpfender Satiriker war, eher ein spottender und selbstbewußt Verlachender, nie ein vom Furor Getriebener, immer ein Betreibender – warum ausgerechnet der vom fiesen kleinen Herzkasperle heimgesucht wurde.« Ihm ist dann aber auch klar, dass »dies ew’ge Rätsel« sich in allen fortregt und dass außer Gernhardt wohl aus diesem Leid kaum jemand so viel gemacht hätte.

Wenige Tage vor Henscheid war schon Benjamin von Stuckrad-Barre bei Gernhardt. Barre wohnte zu dem Zeitpunkt gerade bei seinem Bruder in Frankfurt, um seine Kokainsucht zu bekämpfen – und er fuhr mit dem Fahrrad zu Gernhardt nach Hause, um diese letzte Begegnung für den Spiegel aufzuschreiben.

Sie sprachen bei Cappuccino und Kuchen über mögliche Grabsteininschriften, und Barre schlug als Vorlage die von Karl Kraus auf dem Wiener Zentralfriedhof vor – ein Grab, auf dem nichts steht außer Karl Kraus. Sei eine gute Idee, meinte Gerhardt dann, besser, als wenn da ein Hesse-Spruch draufkäme. Dann betrachteten sie Gernhardts knapp zweihundert Skizzen- und Notizhefte von Brunnen, die in einem Magazinschrank lagen und die er selbst als die Summe seines Werks bezeichnete. Er hat sie dem Literaturarchiv in Marbach verkauft, mit den Worten: »So was bekommt ihr nicht mehr wieder, dieses Doppeltalent.«

Zweieinhalb Wochen nach Barres Besuch, während des Lärms, der Autokorsos, während alle hupten und feierten, starb Robert Gernhardt. Und Barre, der an jenem Abend noch einmal mit dem Fahrrad an Gernhardts Haus vorbeifuhr, dachte: Vielleicht hupen sie ja nicht nur für den Fußball, sondern auch für ihn!

 

Mir gegenüber stand mein Bruder, er fotografierte mich. Ich trug ein Hawaiihemd und ließ die Schultern hängen. Ich war kein Grabräuber und kein Spiritist und gab mich an diesem Ort auch keinen äußerlich sichtbaren Ritualen hin – ich legte keine Blumen auf das Grab, beschwor keine Geister und zitierte auch keine Gedichte. Als ich an die Seele des menschlichen Körpers dachte, an Ektoplasma und Energie, da wurde mir schnell klar, dass Robert Gernhardt sicherlich schon lange nicht mehr hier gewesen war, an einem Ort, der für ihn schließlich das Ende der Welt bedeuten musste.

Unsterblich war er ja jetzt. Obwohl er auch gesagt hat: »Was nützen mir Buch / und Unsterblichkeitsscheiß / Wenn Marina nichts davon weiß?«

Marina war seine Friseurin.

Trotzdem wird Gernhardt nie verschwinden. Höchstens werden die Anekdoten baden gehen, zum Beispiel die, wie Gernhardt mal in feuerroten Hosen vom Dreimeterbrett im Schwimmbad von Nottula gesprungen ist.

Obwohl, gerade die nicht, die hat sein Freund F.K. Waechter in einer Bildergeschichte verewigt. Und Geschriebenes – Geschichten sind immerhin beständiger als das Wirkliche.

 

Mein Telefon vibrierte, ich hob ab:

»Wer ist da?«

»Ich bin’s, Maria. Was machst du?«

»Ich bin doch in Frankfurt, auf der Suche nach Gräbern.«

»Klingt aufregend«, sagte sie, ohne zu versuchen, dabei überzeugend zu klingen. »Ich muss dich um etwas bitten. Kannst du nächste Woche mit mir an die Oberhavel fahren? Ich glaube, meine Mutter braucht unsere Hilfe.«

»Was ist denn passiert?«, fragte ich.

»Es ist nichts Schlimmes, es ist gar nichts. Ich muss sie einfach mal wieder besuchen. Und es wäre schön, wenn du mitkommst.«

»Aber ich bin gerade erst losgefahren zu den Friedhöfen. Ich muss noch nach Mainz zu Ida Hahn-Hahn und zu Kathinka Zitz-Halein und nach Friedrichsdorf ans Grab von Karl-Herbert Scheer.«

»Zu wem?«

»Alle vergessen, alle tot.«

Kurz herrschte Stille, weil ich es ihr nicht erklären konnte.

»Gut, ist nicht so wild. Ruf mich an, wenn du es dir anders überlegst«, sagte sie.

»Moment!«, rief ich.

Ich überlegte. Einerseits konnte ich meine Reise doch nicht schon am Anfang unterbrechen, andererseits: Sicherlich würde ich auch dort, im Nordosten, Gräber finden, Friedhöfe sehen und Stimmungen einfangen können.

Ich betrachtete meinen Bruder, er scharrte mit den Füßen am Boden. Er wollte los, er wollte jetzt endlich zu diesem Treffen.

»Maria?«

Sie war noch dran.

»Ich hab’s mir anders überlegt.«

3Stechlin

Wenige Tage später fuhren wir an die Oberhavel.

Es hatte in Brandenburg seit Wochen nicht geregnet, und das ganze Land glich einem neumexikanischen Wüstengrab. Von den abgeernteten und ausgedörrten Rapsfeldern stiegen meterhohe Staubwolken auf, die den Horizont verschleierten.

Auf der Autobahn hatte Maria ihre Schuhe in einem Wurm-loch verloren. Sie war in Hamburg noch mit ihren Badeschlappen ins Auto gestiegen, als sie aber an der Raststätte Prignitz hinauskletterte, waren sie nicht mehr aufzufinden, und weil erhöhte Waldbrandgefahr herrschte, musste ich mit meinen Segelschuhen die Zigaretten austreten, die sie am Rand glutheißer Teerbeläge rauchte. Segelschuhe sind zwar die bequemsten Schuhe, die man im Sommer tragen kann, aber meine langen und schmalen Füße sahen darin aus wie weich gekochte Rigatoni in einem Kindersarg.

Wir erreichten Neuglobsow am frühen Abend, legten unser Gepäck im Ferienhaus von Marias Mutter ab und gingen gleich hinunter zum Großen Stechlinsee. Die nassen Köpfe der Badenden glitzerten im Licht wie Wasserspinnen, und der See war ruhig und wartete auf die wasserfärbende Wirkung der noch immer hochstehenden vergilbten Staubsonne. Der See, er war ähnlich wie Fontane ihn in seinem Buch Wanderungen durch die Mark Brandenburg beschrieben hat: »Da lag er vor uns, geheimnisvoll, einem Stummen gleich, den es zu sprechen drängt. Aber die ungelöste Zunge weigert ihm den Dienst, und was er sagen will, bleibt ungesagt.«

Irgendetwas will dieser tiefe See tatsächlich sagen, aber weniger dringend und direkt, als Fontane meint, eher schickt er seine Botschaften durch starke naturbedingte Stimmungsschwankungen an seine Umgebung heraus, er wirkt unberechenbar, unheimlich, tief und finster.

Ich schlug mein Notizbuch auf, in das ich mir mehrere Namen geschrieben hatte: Armin T. Wegner, Lola Landau, Hanns Krause, Lori Ludwig und Theodor Fontane. Alle waren hier Gast gewesen oder hatten in Neuglobsow gelebt, aber Fontane liegt in Berlin-Mitte begraben, Wegner starb in Rom, Landau in Jerusalem und Ludwig in Fürstenberg. Einzig Hanns Krause, ein DDR-Kinderbuchautor, war auch in Neuglobsow gestorben, ihn würde ich in den nächsten zwei Tagen suchen.

 

Wir befanden uns in einem Ortsteil der Gemeinde Stechlin, kurz vor der mecklenburg-vorpommerschen Grenze. Ein sowohl im Winter als auch im Sommer märchenhafter und bizarrer Ort. Umgeben von Wald hing der See wie ein Kalmar am Rande des aus Ferienhäusern, giftgrün gestrichenen Bungalows und einem alten verfallenden Hotel bestehenden Dorfs. Am anderen Ende des tiefen Sees stachen aus dem Wald heraus stumm die Antennen eines ehemaligen Atomkraftwerks hervor.

Auf der rechten Seite des Ortes wiederum, durch den nur eine lange Straße führte und dessen Wochenendvillen sich an kleinen, wahrscheinlich erst seit kurzem asphaltierten Straßen wie dünne Adern einen Hang hinauf im Wald verloren, lag eine evangelische Kirche – dort wollte ich am nächsten Tag Ausgrabungen betreiben, um Hanns Krause zu finden. Allerdings hatte ich über Krauses Grab keinerlei Informationen und dachte, dass auch seine Bücher in westdeutschen Bibliotheken wohl nicht mehr aufzutreiben waren. Wahrscheinlich lagern und verfaulen sie in Truhen, auf Dachböden, in Pappkisten oder Kellern, dachte ich.

Ob Neuglobsow überhaupt einen Friedhof hatte, wusste ich zu dem Zeitpunkt auch noch nicht, aber die Titel der Kinderbücher Hanns Krauses gefielen mir so gut, dass ich ihn unbedingt finden wollte, um zu schauen, in welchem Zustand sich sein Grab befand: Löwenspuren in Knullhausen / Holzdiebe im Jagen 45 / Alibaba und die Hühnerfee / Bärenjagd in Tulpenau / Kein Bett, kein Geld und große Ferien.

 

Am späten Abend verließen wir die Ufer des Sees und setzten uns in den Garten des Ferienhäuschens am Ortseingang. Aus dem Wald, der am anderen Ende des Gartens begann, tönte ein Käuzchen, und mit der spät einsetzenden Dämmerung kamen scharenweise die Kriebelmücken, als hätte man mit einer Glocke zum Abendbrot geläutet. Die Kriebelmücken stachen uns nicht, sie zerrissen uns die Haut mit Beißzangen, wo sich am nächsten Tag große Blutergüsse bildeten. Zum ersten Mal seit langem rauchte ich wie wild Zigaretten, um sie abzuwehren, dazu trank ich Dosenbier.

Und mit der Nacht kamen auch die Froschkaskaden. Es war ein wildes, durchdringendes und bei der Vorstellung des massenhaften Fortpflanzens fast ekelhaftes Tönen.

 

Den ganzen nächsten Tag lagen wir am See, aber natürlich ging ich nicht ins Wasser. Ich betrachtete die glatte Oberfläche und die wenigen Badenden. Angeblich waren während des im Herbst 1755 stattgefundenen Erdbebens von Lissabon hier staubende Wasserhosen zwischen den Ufern aufgetaucht, auch hatte das Senkblei bei frühen und ungenauen Messungen den Grund des Sees nicht gefunden. Marias Mutter war ebenfalls mit der Theorie vertraut, die man auch in Fontanes Roman Der Stechlin nachlesen kann: Angeblich ist der See durch unterirdische Kapillare mit einem Vulkan auf einer pazifischen Insel verbunden. Sollte es auf der Pazifikseite einmal zu Ausbrüchen oder Seebeben kommen (wobei man seltsamerweise jedes verheerende Beben mit dem Stechlinsee in Verbindung bringt), lösen sich vom Grund des Sees rote Algen, die an die Oberfläche schwimmen und dem Wasser einen rötlich schimmernden Glanz verpassen, fast so, als würde der See brennen. Dieses Phänomen ist in der dreihundert Einwohner umfassenden Idylle Neuglobsow nur unter dem Namen »der rote Feuerhahn« bekannt.

 

Zweimal in der Stunde – immer mit Blick auf den See, weil ich Angst hatte, es könnte etwas aus ihm hinaussteigen, während ich ihm den Rücken zuwandte – lief ich zu einem Kiosk in der Nähe und kaufte dort Eis und Bier. In einem Fischrestaurant, das dreihundert Meter durch den Wald am Seeufer lag, aß ich in den Nachmittagsstunden eine nach Fontane getaufte und nur im Stechlinsee beheimatete Stechlin-Maräne (Coregonus fontanae).

Maria lag während meiner Wanderungen durch einen kleinen Teil der Mark Brandenburg stundenlang mit einem knallroten Badebrett im Wasser, also entschuldigte ich mich bei ihr und ging gegen Nachmittag den Ort hinauf zur Kirche. Ich konnte schon von weitem erkennen, dass sie abgeschlossen war, trotzdem ging ich um das Gebäude herum, um es zu untersuchen. Es machte einen leicht maroden Eindruck, an den Fenstern hingen hellgrau und in dicken Schichten Spinnweben, und trotzdem fanden hier anscheinend Gottesdienste statt. Rechts und links vom Kirchenschiff gab es kleine Seitenflügel, die mehr wie Abstellkammern wirkten. Ich schlug mich ein paar Meter hinter ihnen ins Gestrüpp, aber natürlich war da kein Fried- oder Kirchhof.

Ich erinnerte mich an Stephen Kings Roman Friedhof der Kuscheltiere, den mein Vater früher in der Nähe seines Privatklos im Regal stehen hatte. Er hatte dort neben Hunderten ausgelesenen und aufgeweichten Drachenfliegerzeitschriften und Westernromanen gelegen, ein schwarzes Buch ohne Umschlag.

Gleich nachdem ich lesen gelernt hatte, nahm ich es aus dem Regal, weil ich wusste, dass sich mein Vater vor ihm fürchtete und es nicht zu Ende lesen konnte. Ich wollte unbedingt herausfinden, was diesen sonst so furchtlosen Erfinder der Überlaufgarnitur an ein paar Beschreibungen von alten Friedhöfen aus der Ruhe bringen konnte. Er gab mir gegenüber zum ersten Mal in seinem Leben zu, vor etwas Angst zu haben – und dann war es ausgerechnet die Literatur. (Später, als wir alt genug waren für wahren Horror, schilderte er mir und meinem Bruder seine größte Angst: den Voodoo und die lebenden Toten.)

In Kings Roman zieht eine Familie in die tiefen Wälder Neuenglands; Wälder, in denen noch immer Dämonen leben. In der Nähe ihres Hauses liegt ein Tierfriedhof, dahinter versteckt eine alte Begräbnisstätte des indianischen Volks der Mi’kmaq. Dort begräbt der Familienvater nacheinander die überfahrene Katze, den verstorbenen Sohn und die ermordete Frau. Alle kehren zurück ins Leben, nach Erde riechend und mit teuflischem Benehmen.

Der Roman behandelt, wenn man es so will, die Theorie der Ewigen Wiederkehr von Nietzsche. In der Fröhlichen Wissenschaft heißt es:

»Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in derselben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!«

 

Ähnliche Gedanken über kreisförmige Labyrinthe und die zyklische Zeit finden sich auch schon bei den Pythagoreern oder David Hume. Und als die Punkband Ramones den Schriftsteller King in den achtziger Jahren in seinem Haus besuchte, damit sie sich gegenseitig die Ehre erweisen konnten, schrieb Dee Dee Ramone innerhalb weniger Minuten den Song »Pet Sematary« mit den Lyrics: »I don’t wanna be buried in a pet cemetery, I don’t want to live my life again.« Dafür, dass dieser Song dann für die Goldene Himbeere als schlechtester Filmsong des Jahres 1989 nominiert wurde, enthält er eine zutiefst traurige Nachricht. Denn die (egal zu welchem Zeitpunkt eines Lebens) gezogene Bilanz, das bisher gelebte Leben nicht noch einmal leben zu wollen – und das nicht mal als Punkrocker –, bedeutet nur, dass mehr als fünfzig Prozent eines Lebens entweder aus