Der gute König - Leonhard Hieronymi - E-Book

Der gute König E-Book

Leonhard Hieronymi

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Beschreibung

Ein Gewerbegebiet am Rande Frankfurts, die Villengrundstücke des Taunus zum Greifen nah: Hier arbeitet Fansi im Klempnerbetrieb von Hieronymus Bosch, der seine besten Zeiten hinter sich hat. Ein paar Hallen weiter lockt mit der Perugino AG ein metallverarbeitendes Unternehmen, dessen Mitarbeiter im Auftrag von Jeff Koons unter vollem körperlichen Einsatz denkwürdige Objekte erschaffen - Kunst, deren Weg in die Museen der Welt und die Lichthöfe der Reichen vorprogrammiert ist. Auch Fansi erliegt dem Reiz des Glanzes und begibt sich auf abenteuerliche Montagereise nach Paris. Leonhard Hieronymi entführt uns in eine aberwitzige Welt zwischen poliertem Edelstahl und Silikonfugen und stellt die Frage, wessen Arbeit wirklich zählt.

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Seitenzahl: 235

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Leonhard Hieronymi

Der gute König

Roman

Hoffmann und Campe

Für Babba

Von den erwähnten Personen des öffentlichen Lebens abgesehen ist das hier beschriebene Personal frei erfunden. Alle Begebenheiten sind es auch, wobei sich der Text auf eigene Erlebnisse und Beobachtungen stützt.

Deshalb verlachen sie uns auch, weil wir die Handwerker für niedrig erachten und diejenigen edel nennen, die kein Handwerk erlernen, untätig daherreden und eine Menge Sklaven zu ihrer Muße und zu ihrem Vergnügen halten; daraus gehen dann auch wie aus einer Schule des Lasters Scharen von Taugenichtsen und Übeltätern zum Verderben des Staatswesens hervor.

 

Tommaso Campanella, Der Sonnenstaat

 

 

 

I love the poorly educated!

 

Donald Trump

Handelnde Personen

Fansi, Handwerker, angestellt bei der Hieronymus Bosch GbR; vormals Lehrling und Geselle beim Metallverarbeitungsunternehmen Perugino AG

Bashkim, Fansis bester Freund, beschäftigt bei Perugino

Kira, Fansis Freundin und Medizinstudentin

Hieronymus, alter Meister und Inhaber des Sanitär-, Heizungs- und Klempnerbetriebs Hieronymus Bosch GbR

Claudius Roosbek, Rechtsanwalt

Tamara Roosbek, dessen Ehefrau

Jeff Koons, amerikanischer Künstler, sehr reich und an allem schuld

Hajo Daberkow, ehemaliger Hedgefonds-Manager

Bill/Marcel, Metallarbeiter

Greg und Gerry, Mitarbeiter von Jeff Koons

Jane Hartley, ehemalige US-Botschafterin in Frankreich und Monaco

Ralph Schlosstein, deren Ehemann

Georgi, Geldeintreiber

Meuer, der letzte Lehrling bei Hieronymus Bosch, Alkoholiker

Marina Perugino, Vorstandsvorsitzende der Perugino AG

Materie

Luftballontulpen aus Aluminium und Edelstahl

Eine lackierte Hand aus Bronze

Granite aus Simbabwe

Gebläuter Stahl

Kupferrauch

Französischer Muschelkalk

Edelstahl aus Eisen, Chrom und Mangan

Austern mit hohem Zinkanteil

GBz-Zinn mit max. 0,3 Prozent Bleianteil

Ein Hulk mit Fünffachtuba aus polychromer Bronze und Messing

Paris

Alkohol, Energydrinks, Zigaretten

Am Hang

1

 

Mein Chef und ich kamen gerade vom Großhändler zurück. Unser Kunde hatte eine Toilette aus geflammtem Porzellan ohne Spülrand bestellt, die jetzt hinten im Fiorino lag. Vielleicht war das ja der letzte Auftrag, den wir haben würden: diese spülrandlose Toilette einzubauen.

Im Wagen roch es nach ausgelaufenem Diesel und Mehrzweckfett. Es roch nach Arbeit. Im Handschuhfach lagen Kaugummis, Hautbalsam, Rubbellose (alles Nieten), ein Zollstock, Lesebrillen, Bleistifte, Taschenmesser und ein Taschenrechner, Kronkorken und Dichtungsringe. Durch den Fußraum flogen leere Bierflaschen, und im Kofferraum rollte ein Lötgerät abwechselnd gegen das Klo und gegen die Verpackung eines Warndreiecks ohne Warndreieck.

Man konnte den Geruch hier drin eigentlich nicht als Mischung verschiedener Düfte bezeichnen, sondern als eigenen, neuen Geruch, der sich aus den Aromen von Metall, Schmierfetten, Proteinen in Form von Kotresten, Öl und dreckigem Wasser zu einem Ganzen zusammensetzte. Und dann hing da noch der gute alte Duftbaum unter dem Rückspiegel und kämpfte mit »Sportfrische« gegen diesen neuen Geruch an.

Ich mochte ihn. Ich mochte den Geruch im Firmenwagen genauso wie den vom kalten Metallstaub, der sich nach einem langen Arbeitstag langsam in der Werkstatt und in unseren Lungen absetzte. Es war mein Lieblingsduft, und es war mir egal, was die anderen von ihm hielten.

 

Mein Chef parkte nicht weit vom ersten Bierwagen im Halteverbot. Ich hatte den bevorstehenden Handwerkerfrühschoppen schon den ganzen Morgen wie einen Zahnarztbesuch verdrängt, wusste aber auch, dass ich nicht drumrum kam. Jedes Jahr an einem Montag Anfang Juli musste ich mit Hieronymus Bosch hier anrücken. Vor zwei Jahren waren wir noch zu sechst gewesen, letztes Jahr zu dritt, und heute waren es nur noch der Chef und ich.

Ich sträubte mich. »Fansi, ich befehle das, das ist der höchste Festtag, da kannst du dich auf den Kopf stellen«, sagte mein Chef. »Du bekommst die Stunden doch bezahlt. Von mir aus auch die Überstunden.«

Auf dem Festplatz stank es wie aus den geöffneten Toren eines Kuhstalls. Der Boden war komplett mit Stroh ausgelegt. Das ganze Wochenende hatten Horden apfelweintrinkender Männer in dieses Stroh uriniert, dicke Strahlen, wie Pferde. Und jetzt, zum Montag und als großes Finale: der Handwerkerfrühschoppen! Hier würde wochenlang kein Halm mehr wachsen.

Der Platz bot jedes Jahr denselben jämmerlichen Anblick. Er bestand aus einem Autoscooter mit dem leuchtenden Schriftzug CRASHZONE, davor stand ein Automat mit einem Boxsack, auf den mehrere Typen unter Gelächter einschlugen, bevor sie das ganze »aus Spaß« miteinander machten. Es gab eine Losbude, zwei Karussells für Kinder und einen Schießstand. Am Rand des Festplatzes, zum Feld hin, stand eine bis auf ihre Krone fast kahle Fichte, an deren Spitze eine Hexe aus Stoff hing, die zusammen mit dem Baum am Abend in Flammen aufgehen sollte.

»Verbrennen die auch noch die einzige Frau, die sie hier haben«, sagte ich zu meinem Chef.

Er ging humpelnd neben mir her und schüttelte schon dem ersten Kollegen die Hand. »Da können Ostern und Weihnachten daheimbleiben!«, rief er. »Sind ja wirklich alle hier.«

Ich hatte den Drang, mich zu verstecken, aber ich war lang und dünn und krumm und fiel auf. Ich verstand das Konzept Handwerkerfrühschoppen einfach nicht.

Wir liefen direkt auf das riesengroße weiße Festzelt zu, das sich am Rande des Ackers wie ein Schneeberg, wie ein Sauf-Montblanc, auftat und in dem bei dieser Hitze Hunderte Besucher zu einer Musik grölten, in der es um Cowboys, Unsterblichkeit, Zuckerpuppen, Amsterdam, Liebe und die pure Lust am Leben ging. Ich wollte am helllichten Tag und nüchtern, wie ich war, auf keinen Fall überheblich wirken, aber man schien mir anzusehen, wie sehr ich das hier verabscheute. Sie rochen meine Unsicherheit, und das machte mich zum perfekten Opfer der Kerbeburschen, die mit ihren weißen Hemden und Schiebermützen überall schwankend Apfelwein verschütteten.

Ich fragte mich, was mir überhaupt noch blieb, wenn ich die neureiche Kundschaft, für die ich eben noch beim Großhändler gestanden hatte, und die Kerbeburschen gleichermaßen verachtete. Irgendwo musste ich doch auch mal Zugeständnisse machen. Also beschloss ich, mich hier volllaufen zu lassen. Mir blieb eh nichts anderes übrig.

 

Vorm Zelt stellten wir uns am Grill an. Eigentlich wollte ich nichts essen, aber ich ließ mich von meinem Chef zu einer Rindswurst überreden. Wir liefen mit den Brötchen ins heiße, stickige Festzelt, in dem ein ohrenbetäubendes Menschenbrausen herrschte, das von der Blaskapelle auf der Bühne kaum übertönt werden konnte. Es war brechend voll und stinkend heiß. Hunderte schwitzende Handwerker saßen an Bierbänken und brüllten sich gegenseitig über die Tische Schweinereien zu. Die Luftfeuchtigkeit war höher als am Orinoko.

Ich setzte mich auf eine Bierbank neben einen betrunkenen Kerbeburschen, der mir sofort nass ins Ohr rief: »Wir haben schon sechseinhalbtausend Lidder weggesoffen, sechseinhalbtausend Lidder, wir sind der größte private Abnehmer von Possmann Apfelwein, den’s gibt.« Im selben Moment stolperte hinter mir jemand und goss sich einen großen Schluck vom Possmann Apfelwein über sein weißes Poloshirt. »Wieder ein Viertellidder weg«, sagte der Typ neben mir und lachte, und er kam mir dabei so nahe, als wollte er mich küssen. Einen Augenblick später merkte ich, dass er mich wirklich küssen wollte.

»Ich bin de Frank Jäger«, sagte er. »Ich war mal Kreissieger gewesen.«

»Ich auch«, sagte ich.

»In was?«, lallte er.

»Metallbau. Ich war bei Perugino in der Kunstabteilung.«

»Anlagenmechanik bei Wolfram Flasch«, sagte er, und wir schüttelten uns kurz die Hände. Ich konnte es kaum glauben. Frank Jäger sollte mal Kreissieger gewesen sein? Was der Alkohol alles anrichtete. Frank Jäger blickte mich lange an und sagte nichts, weil er so besoffen war. Mir kam es vor, als würde auf solchen Festen und besonders bei jungen Männern mit roten Köpfen eine unterdrückte Homosexualität zum Vorschein kommen. Wenn ich mich umblickte: Wer da alles wem in den Armen lag! Dabei war es keine zwölf Uhr.

Ich beobachtete meinen Chef, der sich am Zelteingang von mir getrennt hatte. Ich sah, wie er allen – egal ob Konkurrenz oder alten Kollegen – die Hand gab und laut mit ihnen lachte. Unglaublich, wer sich alles in diesem Zelt versammelte. In unserer Stadt würde heute niemand mehr ein verstopftes Klo reparieren, niemand einen Reifen wechseln, ein Dach decken oder eine Wand abbeizen. Niemand! Alle Handwerker waren hier und soffen. Und morgen würden alle wieder zurück ans Werk gehen, vollkommen arbeitsunfähig. Und dann passierten die Unfälle: frei liegendes Fettgewebe, bis auf die Sehnen sichtbare Fleischwunden, Knochenfrakturen, pulsierende Blutungen.

 

Erst nach einer ausgiebigen Runde durchs Zelt setzte sich mein Chef zu mir und begann seine kalte Wurst zu essen. Ich betrachtete ihn von der Seite. Vom grauen und leicht lockigen Haaransatz rann ihm ein bisschen Schweiß ins Gesicht. Mein Chef war ziemlich braun, weil seit Wochen die Sonne brannte und wir im Juni an einem Haus eine Kupferrinne montiert hatten, einer unserer spärlichen Aufträge. Seine Zähne und sein Zahnfleisch waren ein bisschen grün, man sprach da vom Gussfieber: Er nahm zu viel Kupferrauch auf. Aber sonst sah er echt gut aus. Eigentlich war er recht entspannt dafür, dass sein Betrieb gerade den Bach runterging. Und ich glaubte, dass er auch einen Haufen Intelligenz besaß, die sich privat vor allem in seiner Großzügigkeit zeigte. Allerdings wurde sie von einigen Kunden, meistens denen mit richtig viel Geld, auch ausgenutzt. Manchmal warf ich ihm das vor, aber er schaute mich immer nur mit hellwachen Augen wie denen eines gesunden Babys an und sagte: »Ausgenutzt werden ist eigentlich schön – man muss es sich nur leisten können.«

Als ich mich einigermaßen an den Lärm gewöhnt hatte und das zweite große Bier anfing zu wirken, kam jemand durch die Menge grölend auf mich zu, nahm meinen Kopf zwischen seine feuchten Hände und rieb seine Fettstirn an meiner Fettstirn, während er schrie: »Ein Augenblick, der uns unsterblich macht, unsterblich macht, uh, uh!« Dann ließ er mich los und stiefelte auf eine Frau zu, die in seiner Nähe stand. Er ruinierte ihr mit seinen Wurstfingern die Frisur, sie schrie ihn an. Der Typ zog eine Schnute und nuschelte etwas und torkelte endlich aus dem Zelt. Erst da fiel mir auf, dass es sich um Meuer handelte, unseren vorletzten Mitarbeiter, der Anfang des Jahres versucht hatte, mit einem Draht Geldscheine aus der Kaffeekasse am Eingang unserer Werkstatt zu klauen. Er war wohl auch Kerbebursche, und ich hatte ihn auf den ersten Blick nicht erkannt, weil er jetzt einen Klobrillenbart im Gesicht trug: einen Rund-um-den-Mund-Bart. Mein Chef hatte ihn wegen der Klaugeschichte fristlos entlassen, und Meuer war so sauer gewesen, dass er dessen Biersauferei daraufhin bei der Handwerkskammer angezeigt hatte.

»Das war Meuer«, sagte ich zu meinem Chef. »Er hat jetzt einen Klobrillenbart.«

Mein Chef war gerade in ein lautes Gespräch mit seinem Konkurrenten, dem Heizungsbauer Edzard Blumenstein, verwickelt. »Was ist los?«, fragte er und schaute mich mit hängenden Augenlidern an. Er hatte von der Wurst nur wie ein Mäuschen gegessen, das am Käse nagt, war dafür aber schon beim dritten Bier.

»Das war Meuer. Meuer! Der dich bei der Handwerkskammer angeschmiert hat. Der dahinten, mit dem ekligen Bart«, sagte ich laut. Und dann sagte ich noch etwas lauter, um mich gegen die Musik zu wehren: »Ich glaub, ich geh nach Hause!«

»Du bleibst!«, rief mein Chef. »Hol uns mal bitte noch ein Bier und dem Edzard auch. Sei so gut.«

Ich stand auf und blieb mit den Ellbogen an der weißen Plastiktischdecke kleben. Ich hatte eine unglaubliche Wut. Dass er hier herumsaß und sich zulaufen ließ, war mir unbegreiflich. Keine Frau, keine Familie, ein Betrieb, der vollkommen am Ende war, und dann musste er auch noch hierherkommen und sich so gehenlassen. Ich wischte mir die Hände an den Arbeitshosen sauber und ging Bier holen. Beim Ausschank roch es sauer, ein bisschen Kotze war dabei und Spüli.

Ich schrieb Kira eine Nachricht. Ich erklärte ihr, dass ich im Festzelt sei, und hängte ein »haha« hintendran, damit sie nicht glaubte, ich sei freiwillig hier. Anschließend schaute ich alle zwanzig Sekunden vergeblich auf mein Handy, ob sie mir geantwortet hatte. Ich schrieb Bashkim und fragte ihn, ob er mich nach Feierabend hier rausholen könnte. Er antwortete auch nicht.

Als ich mit dem Bier auf dem Weg zurück zum Platz war, hatten sich zu meinem Chef und Blumenstein gerade Hans-Jochen und Hans-Robert gesetzt, die letztes Jahr die Ventilatorenfabrik ihres Vaters Hans-Joachim übernommen hatten. Man konnte ja wirklich sagen, was man wollte, aber der Mittelstand hatte Humor.

Ich hockte mich zu ihnen auf die Bank, trank mein Bier und ließ den Blick schweifen. Am Eingang hatten sich alle möglichen Kerbeburschen versammelt, zu denen sich Frauen mit blausilbernen Schärpen und ein paar grölende Handwerker gesellten, als würden sie alle auf etwas warten. Auch Meuer stand wieder dabei und beobachtete mich aus den Augenwinkeln.

Ich hatte die Schnauze voll. Dieser Typ ging mir tierisch auf den Sack, ich konnte dieses Geglotze nicht ausstehen. Ich stellte mein Bier ab und lief in Richtung Ausgang auf Meuer zu. Ich musste mich an allerlei Handwerkertypen vorbeidrängen, die unkontrolliert durch die Gegend liefen und alle noch in ihren Engelbert-Strauss-Sachen steckten. Ich schlug mir die Knie an den Hämmern der Dachdecker wund, bis ich schließlich neben Meuer stand.

»Und?«, sagte ich und nickte ihm zu. Meuer antwortete nicht, es war ihm unangenehm, dass ich auf ihn zugegangen war. Er murmelte nur irgendetwas, und auf einmal fuhr ohne Vorwarnung ein Traktor durch den Zelteingang, der einen Hänger hinter sich herzog, auf dem ein im Frack gekleideter Kerbebursche saß, dem alle zujubelten. Das ganze Zelt sang ohrenbetäubend ein Lied, das von der Blaskapelle begleitet wurde: »Der Graf von Luxemburg hat all sein Geld verjuxt, juxt, juxt! Hat 100000 Taler in einer Nacht verjuxt, juxt, juxt!«

Meuer legte mir einen schweren Arm um meine Schulter, und ich konnte nicht sagen, ob das eine Warnung oder eine Geste der Versöhnung sein sollte. Er sprach davon, dass er »hängengeblieben« sei, und ich fragte mich, ob er das Bierzelt oder den Vorort oder sich selbst meinte. Ich machte mich von ihm los und gab ihm noch einen gut gemeinten Schlag auf den Rücken. Er zuckte zusammen und zog sich seine Mütze tief über die kleinen traurigen Augen. Wenigstens hatte er keine Brackets mehr.

Ich war einfach froh, dass er nicht mehr bei uns arbeitete. Meuer hatte ständig gerotzt, der ganze Boden war übersät gewesen mit grünen, grauen und weißen Schleimklümpchen, und wir hatten uns den ganzen Tag anhören müssen, wie er diese Klumpen tief unten in seiner Kehle suchte, mit geschlossenem Mund nach oben pumpte wie ein Wiederkäuer und dann durch die Luft schickte. Und vor kurzem hatte er noch diese feste Zahnspange mit Brackets getragen, die vor allem beim Ausrotzen sichtbar wurde.

Wenn das Licht am Vormittag zwischen den Bäumen durch die hohen Fenster der Werkstatt schien, konnte ich jetzt noch seine getrockneten Rotzklumpen auf dem Boden erkennen. Aber noch schlimmer war, dass er sich pausenlos in allen Ecken und Winkeln seines Körpers gekratzt hatte. Mich hatte dieses ewige Kratzen und Rotzen einmal so wahnsinnig gemacht, dass ich ihm vor lauter Wut mit einer Bohrmaschine in den Oberschenkel bohren musste. Nicht tief, aber immerhin durch die Arbeitshose hindurch. Er war mir hinterhergerannt und ich nach ein paar Metern einfach stehen geblieben, um meine Faust nach hinten auszustrecken, in die er dann hineinrannte, und zwar mit einer solchen Wucht, dass ihm eines dieser Brackets aus dem Gebiss flog. Und falls er etwas daraus gelernt hatte, dann war das wahrscheinlich das Einzige während seiner Ausbildung bei uns.

Jetzt war er jedenfalls weg. Sowieso hatten in den letzten Jahren nacheinander schon alle das sinkende Schiff verlassen: Giuliano, Rainer, Martin. Nur ich hatte es nicht übers Herz gebracht, und jetzt, nachdem Meuer bei uns rausgeflogen war, war ich der Letzte, der dem Chef im nächsten Jahr zu einem würdevollen Eintritt in den Ruhestand verhelfen konnte.

Aber gerade war ich doch kurz davor, die Reißleine zu ziehen. Es machte einfach keinen Sinn mehr, weiter für ihn zu arbeiten. Heute zum Beispiel waren wir nur beim Großhändler gewesen, um die Toilette abzuholen, die wir morgen bei der Kundschaft einbauen würden, und saßen nun hier rum und soffen. Und so ging das jeden Tag, wir fuhren durch die Gegend, warteten auf Anrufe, tauschten mal einen Fallrohrbogen aus, aber eigentlich passierte nichts. Dabei suchten ja angeblich alle händeringend nach Handwerkern. Davon war bei uns, ehrlich gesagt, nichts zu spüren. Hieronymus Bosch hatte sich durch die Unzuverlässigkeit seiner Mitarbeiter langsam in Luft aufgelöst. Die Stammkunden meines Chefs hatten sich längst der städtischen Konkurrenz zugewandt, wenn nicht sogar dem Betrieb aus Thüringen, der jeden Montag mit einem Trupp in der Region anrückte, in billigen Hotels am Stadtrand übernachtete und Freitagnachmittag nach getaner Arbeit wieder abhaute.

 

Mir wurde schlecht. Jetzt war ich wieder im Alkoholtunnel und holte mir noch ein Bier, weil Bier durstig machte. Ich setzte mich zurück zu meinem Chef und brüllte ein bisschen mit rum. Dann ging ich zum Pinkeln vors Zelt und stellte mich an den Weidezaun, wo mich die Männer neben mir und die Pferde auf der Koppel anglotzten. Einer von den Typen stand zwei Meter von mir entfernt und hielt sich seinen Penis vorne zu, und als er zu pinkeln anfing, wurde der Penis prall und füllte sich wie ein Ballon. Er drückte ein bisschen darauf herum, sodass kurze Strahlen meterweit zu den Pferden ins Feld schossen, und ich dachte: Lieber hier. Lieber hier, als morgen eine Toilette aus geflammtem Porzellan bei diesen Neureichen einbauen.

Ich war noch nicht ganz fertig, als mich jemand von der Seite anrempelte. Ich machte mich in meiner Biertrübnis auf eine neue Begegnung mit alten Kollegen oder ein paar Ohrfeigen gefasst, aber es war Bashkim.

»Endlich!«, rief ich und schüttelte mich.

»Was soll ich machen?«, sagte er. »Meine Chefin lädt mich halt nicht zum Saufen ein.«

»Glück gehabt«, sagte ich. »Komm, wir hauen ab.«

Aber Bashkim wollte auch Bier trinken, und er wollte Autoscooter fahren. Wir gingen zum Ausschank im Festzelt und holten uns zwei große Gläser, dann tranken wir sie halb aus und versuchten, den Rest nicht auf der Autoscooterfahrt zu verschütten. Wir johlten und rückten unsere Kappen zurecht und zeigten allen unsere krummen Zähne. Danach setzten wir uns an den Rand des Feldes und rauchten und schauten runter nach Frankfurt. Es wurde immer schwüler. Über der Skyline türmten sich große Gewitterwolken, die auch von hinten über das Mittelgebirge auf uns zukamen und unsere mittelgroße Stadt einkeilten. Von weitem sahen wir Meuer, der torkelnd hinter der Frau herlief, die er vorhin begrapscht hatte. Als es zu regnen anfing, suchten wir Schutz im Festzelt und tranken weiter.

 

»Ich kann nicht mehr«, sagte ich, während sich die Zeltwände im Sturm blähten und dumpfe Schläge von sich gaben. Die Blaskapelle hatte aufgehört zu spielen, ein DJ mit buntem Hut stand jetzt mit erwartungsvollem Blick auf der Bühne und motivierte die schunkelnde Menge.

Ich konnte wirklich nicht mehr und legte kurz den Kopf auf den Tisch, und das war ein Fehler. Plötzlich griff mir jemand hinten in den Bund meiner Arbeitshose und zog daran. Und noch bevor ich mich umdrehen konnte, kippte mir ein Zweiter ein ganzes Glas Apfelwein in die Arschritze. Ich schlug um mich und ließ dann wieder den Kopf auf den Tisch sinken, hinter mir lautes Lachen, das sich langsam entfernte und im Gegröle unterging. Der Apfelwein durchnässte meinen Schritt, es tropfte auf das Heu unter mir und stank und wurde kalt, und irgendwann begann es zu jucken.

Während ich so dasaß und auf der Holzbank hin und her schubberte, ohne eine gute Position zu finden, standen Hans-Jochen und Hans-Robert gleichzeitig und ohne Vorwarnung von der Bierbank auf, und mein Chef blieb am Rand sitzen. Natürlich hob die Bank am anderen Ende ab und verkeilte sich so, dass sie nach hinten schwang und einem Kerbeburschen die Nase brach, der am nächsten Tisch saß. Aus seiner Nase schossen zwei Blutströme, die eindrucksvolle Muster auf seinem weißen Hemd machten. Er nahm seine Schiebermütze ab, hielt sie sich vors Gesicht und jammerte herum.

Mein Chef wälzte sich erst ein bisschen auf dem Bauch im Heu, dann stand er stöhnend und mit knackenden Knochen auf und klopfte sich ab. Ein paar Kerbeburschen traten auf ihn zu und wollten ihn sich vorknöpfen. Nicht weil sie glaubten, das mit der Bank sei Absicht gewesen, sondern weil schließlich jeder wusste, dass es dumm war, sitzen zu bleiben, wenn andere ankündigten, von der Bierbank aufzustehen. Dabei hatten weder Hans-Jochen noch Hans-Robert irgendetwas angekündigt.

Die Kerbeburschen wollten meinem Chef an die Wäsche, aber Bashkim und ich gingen dazwischen. Meine aufgestaute Wut – die eigentlich mir selbst galt, weil ich es nicht schaffte, endlich zu kündigen, und vor allem immer noch hier im Festzelt abhing – entlud sich, und ich verhakte mich mit meinen langen, dünnen Gräten in den roten fettigen und mit Pickeln übersäten Oberarmen der Kerbeburschen, bis mein Chef endlich sagte, was ich schon vor Stunden hatte hören wollen: »Feierabend! Wir hauen ab, Fansi.«

 

Draußen war es dunkler, aber nicht kühler geworden. Es regnete immer noch. Zu dritt liefen wir über das Feld hinterm Festplatz in Richtung Bahnunterführung und Gewerbegebiet. Mein Chef humpelte und musste immer wieder eine Pause einlegen. Er blieb einfach stehen und sagte, dass wir auf ihn warten sollten. Dann schaute er uns eine Weile wortlos an und atmete schwer, bis es irgendwann weiterging.

Meine Apfelweinarbeitshose war inzwischen ein bisschen getrocknet, ich rieb an ihr herum und roch an meinen Fingern. Es roch, als hätte mich jemand angekotzt.

Nach hundert Metern machte mein Chef endgültig schlapp, aber überzeugte uns davon, dass er noch in der Lage war zu fahren. Ich hatte keine Einwände und schaute auf mein Handy. Kira hatte nicht zurückgeschrieben. Ich wusste nicht so recht. Ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen.

2

 

Bashkim protestierte, als wir sein Mountainbike in den Kofferraum des Fiorino luden. »Das ist doch Quatsch«, sagte er. »Ich muss nur nach unten. Und Fansi muss hoch. Sind doch ganz unterschiedliche Richtungen.« Mir war es egal, ich wollte nur nicht nass werden. Außerdem trank mein Chef immer, und er fuhr immer. »Er hat doch immer Glück«, sagte ich zu Bashkim. »Er hat einen Deal mit einem ostasiatischen Schutzgott oder so, dem passiert nichts.«

 

Am Anfang der Ortsumgehungsstraße standen zwei Polizisten im Regen und winkten mit der Kelle.

»Wer hat eben das mit dem Schutzgott gesagt?«, fragte mein Chef und lenkte den Wagen auf den Parkplatz eines Unternehmens für Fugensysteme. Ich schwieg.

»Meinen Sie, Sie sind schon über der magischen Grenze?«, fragte Bashkim meinen Chef vom Rücksitz. »Über ein Promille?« Wir hielten alle die Luft an, nur Bashkim konnte nicht aufhören zu reden. »Jetzt geht’s los, jetzt geht’s los!«, rief er. Mein Chef machte ein bekümmertes Gesicht, und das war selten. Ich wusste, wenn er jetzt den Führerschein verlor, dann musste ich ihn durch die Gegend fahren, dann würde er nicht mehr allein zur Kundschaft können, und es war ja außer uns beiden niemand mehr da.

Bashkim schob plötzlich Panik vor der Polizei. »Schleierfahndung!«, rief er. »Ich will jetzt hinten an mein Mountainbike, warum habt ihr mich überhaupt dazu überredet mitzufahren? Ich muss in ’ne ganz andere Richtung und sowieso nur bergab.«

Er hatte recht, er musste wirklich nur bergab. Er jammerte und wand sich in seinem Sitz. Die Fensterscheiben beschlugen, und wir schwitzten.

Ein paar Minuten später stand ich mit Bashkim auf dem Parkplatz, wo wir uns auf einem Geländer abstützten und dabei zuschauten, wie mein Chef den Alkoholtest machte. Die Augenbrauen der Polizisten hoben sich, er selbst kaute auf seinen Fingern herum. Ich steckte Bashkim und mir eine Zigarette an.

Mein Chef trank zwar gern, und er trank auf das Wohl jeglicher Menschen und Ereignisse, allerdings hatte ich ihn noch nie richtig betrunken erlebt, er wirkte auch jetzt fast nüchtern. Nur ein- oder zweimal, auf den Weihnachtsfeiern der Firma, hatte ich an kleinen Details – ein feines Lächeln, eine lautere und insgesamt höhere Stimme, tänzelnde Schritte – feststellen können, dass er wirklich betrunken war. Er verachtete Getränke, die keinen Alkohol enthielten, außer Kaffee. Und nicht nur das, er ging so weit, dass er auch Personen verachtete, die nichts tranken beziehungsweise nicht mit ihm trinken wollten. Er akzeptierte es dann zwar meist, ein bisschen beleidigt, aber wenn jemand versuchte, ihm mit der Schädlichkeit von Alkohol zu kommen, dann kannte sein Zorn kein Ende.

»Wer keinen Alkohol trinkt, der muss entweder krank oder verrückt sein. Wahrscheinlich beides«, sagte er. Er glaubte, dass hinter der Abstinenz der Leute meist ein übleres Laster lauerte, wenn nicht gar ein kriminelles. Wer andere am Alkoholismus hindere, müsse lauter dunkle Geheimnisse und ekelhafte Angewohnheiten haben, so seine Überzeugung.

 

Eigentlich wollten wir meinen Chef vor der Polizei in Schutz nehmen, aber wir trauten uns nicht. Wir hatten Angst, dass sie das Gras finden würden, das Bashkim und ich in den Taschen stecken hatten. Es ins nächste Gestrüpp zu werfen, kam uns aber auch übertrieben vor. So standen wir weiter unschlüssig herum, während mein Chef versuchte, auf einer geraden Linie am Boden nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Was steht bei euch auf Arbeit gerade so an?«, fragte ich Bashkim.

Bashkim nahm einen tiefen Zug und sagte mit rauchbelegter Stimme, wie ein Geist: »Hab ich dir nicht von dem neuen Kunstwerk erzählt, das wir für Jeff Koons bauen? Eine Hand, die einen Blumenstrauß aus Ballontulpen hält, eine elf Meter hohe Plastik aus Edelstahl und Alu. Die Blüten hab ich heute schön poliert. Wenn es fertig ist, sieht das Ding aus wie ein Blumenstrauß aus Sirup, den Micky Maus im Magic Kingdom aufgestellt hat oder so.« Bashkim bog seinen Rücken durch und stöhnte. Er versuchte, mit seinem Körper den Tulpenstrauß von Jeff Koons nachzuahmen. »Eine Hand«, sagte er und drückte mir seine Kippe zwischen die Finger, »eine weiße Hand, die einen Strauß Tulpen hält.« Er streckte sich. »Fast elf Meter hoch!« Er streckte sich noch mehr und nahm mir dann die Zigarette ab. »So ’ne Kunstgießerei bei Ulm hat das zusammengeschweißt«, sagte er, fiel wieder in sich zusammen und lehnte sich über das Geländer am Straßenrand. »Und wir machen jetzt die Oberfläche. Das soll ein Geschenk von Jeff Koons an die Stadt Paris sein, zum Gedenken an die Opfer der Terroranschläge von 2015.«

»So wie die Freiheitsstatue, nur umgekehrt?«, fragte ich.

»Kann man so sagen. Der Strauß soll jedenfalls als Symbol gemeint sein. Aber er ist eben nicht so etwas wie die Freiheitsstatue, sondern nur die symbolische Geste selbst: eine Hand, die der Stadt Paris einen Blumenstrauß hinhält. Und dann sehen die Tulpen nicht mal aus wie Tulpen, sondern eben wie Tulpen, die einer aus Luftballons geknotet hat, weißt du? Wie dieser Schwan aus Porzellan, den wir in der Ausbildung mal mit Chrom beschichten mussten.«

»Ja, klar«, sagte ich. »Weiß ich noch.« Ich musste schon sagen, das war ein schwarzer Tag gewesen, als ich bei Hieronymus Bosch landete, nachdem mich meine frühere Arbeitgeberin Perugino entlassen hatte. Zumindest aus jetziger Perspektive. Dabei hatte ich mich damals insgeheim gefreut, zu einem Arbeitgeber zu wechseln, der nicht den ganzen Tag hinter seinem Computer saß und managte. Allerdings war der Anblick eines Arbeitgebers auf der Rückbank eines Polizeiautos eben auch nicht das, was ich mir gewünscht hatte.

»Er ist schon ein bisschen peinlich«, sagte Bashkim und meinte den Blumenstrauß aus Edelstahl. »Aber auch der Wahnsinn. Einfach ein unheimlich geiles Teil. Absolut geil.«

Wir lachten beide und schauten zur Polizei rüber.

»Im September sind wir in Paris auf Montage und stellen das Ding auf. ›Alle werden gerührt sein‹, sagt Koons immer in der Telefonkonferenz.« Bashkim bekam einen kleinen Hustenanfall und behauptete, schuld daran sei das jahrelange Einatmen von Metallstaub. Dem Metallstaub, den auch mein Chef und ich schon seit Jahren beim Zusammenschweißen von Dachrinnen beziehungsweise Kunstwerken einatmeten.

»Ist Koons eigentlich wirklich immer noch so reich?«, fragte ich.

»Er ist der teuerste Künstler der Welt«, sagte Bashkim schulterzuckend und trat die Kippe am Boden aus.

Wir schauten rüber zu meinem Chef, der mit geschlossenen Augen versuchte, die Spitzen seiner Zeigefinger zusammenzuführen. Es lag etwas Feuchtes, Trauriges in der Luft. »Morgen fühlt es sich besser an«, sagte ich leise zu mir selbst. Ich sagte es mit geschlossenen Zähnen und geöffneten Lippen.

»Schau doch, er kann nicht mehr«, sagte Bashkim mit Blick auf meinen Chef. »An deiner Stelle würde ich kündigen, was soll das noch? Warum macht er den Betrieb nicht einfach dicht?«

»Du willst doch nur an seine Werkstatt ran, um da an deinen Motorrädern zu schrauben«, sagte ich.

»Ja«, sagte Bashkim. »Will ich auch.«

»Dabei hast du schon ’ne Werkstatt.«

»Das ist ’ne alte Garage. Ich brauch mehr Platz.«

Bashkim richtete sich auf. »Warum nerven die ihn denn so lange? Diese Ärsche, merken die denn nicht, dass er nicht mehr kann? Diese Arschlöcher!«

Auf einmal lachte mein Chef laut. Er wurde auf die Rückbank des Polizeiwagens gesetzt.