Inauri - Sandra Gernt - E-Book

Inauri E-Book

Sandra Gernt

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Beschreibung

Gay Fantasy Als er inmitten einer von Pflanzen überwucherten Ruine erwacht, weiß er nichts mehr. Nicht seinen Namen. Nicht woher er kommt. Nicht wo er ist. Und am wenigsten, wer er sein könnte – oder jemals gewesen ist. Menschen finden ihn, die ihn willkommen heißen und ihm den Namen Inauri schenken, doch er kann nicht mit ihnen reden. Alles muss er neu erlernen und das Gestern begreifen, um eine Brücke ins Morgen zu schlagen. Ashun weiß nicht, was er von dem namenlosen Fremden halten soll, den er sterbend in der Waldruine findet. Er weiß nur, dass es seine Pflicht ist, ihm den Weg zum Cirud’in zu weisen. So war es richtig. So war es immer gewesen. So soll es immer sein … Ca. 31.000 Wörter Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ungefähr 150 Seiten

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Gay Fantasy

 

Als er inmitten einer von Pflanzen überwucherten Ruine erwacht, weiß er nichts mehr. Nicht seinen Namen. Nicht woher er kommt. Nicht wo er ist. Und am wenigsten, wer er sein könnte – oder jemals gewesen ist.

Menschen finden ihn, die ihn willkommen heißen und ihm den Namen Inauri schenken, doch er kann nicht mit ihnen reden. Alles muss er neu erlernen und das Gestern begreifen, um eine Brücke ins Morgen zu schlagen.

Ashun weiß nicht, was er von dem namenlosen Fremden halten soll, den er sterbend in der Waldruine findet. Er weiß nur, dass es seine Pflicht ist, ihm den Weg zum Cirud’in zu weisen. So war es richtig. So war es immer gewesen. So soll es immer sein …

 

 

 

Ca. 31.000 Wörter

Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieses Buch ungefähr 150 Seiten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

von

Sandra Gernt

 

Inhalt

Kapitel 1: Der gläserne Sarg

Kapitel 2: Verständnislose Worte

Kapitel 3: Geschenke

Kapitel 4: Erinnerungen in Kristall

Kapitel 5: Abschied

Kapitel 6: Aufbruch

Kapitel 7: Brüder

Kapitel 8: Lebenslichter

Kapitel 9: Sturmzeiten

Kapitel 10: In den Schatten

Epilog: Über die Brücke

 

Ein Jahr voller Fantasy …

 

Der gläserne Sarg

 

o war er?

Um ihn herum befand sich nichts als Finsternis. Finsternis und Stille.

Er hob den Arm. Zumindest glaubte er, das zu tun. Empfindungen überwältigten ihn mit solcher Macht, dass er …

Erneutes Erwachen. Lange Zeit dachte er nach, bis er gleich mehrere Dinge auf einmal begriff. Er war vorhin ohnmächtig geworden, weil die Bewegung, mit der er den Arm anheben wollte, solche starken Schmerzen verursacht hatte, das er sie nicht hatte ertragen können. Als Nächstes wurde ihm klar, dass er an Durst litt. Den sollte er möglichst bald stillen, sonst würde er hier sterben. Einsam. Allein. Inmitten von Finsternis.

Darauf folgte die Erkenntnis, dass er sich an nichts erinnern konnte. Er wusste nicht, wer er war. Wie er hieß. Ob er jemals einen Namen besessen hatte. Seine gesamte Vergangenheit, sollte es sie je gegeben haben, war fort. Was er mit Sicherheit wusste: Er war ein Mann.

Schon seltsam, dass er sich an dieses wenig wichtige Detail erinnerte, ohne einen Zusammenhang dafür zu kennen. Es gab Männer. Es gab Frauen. Kein Bild wollte ihm in den Kopf, er wusste nicht, wie sich Männer und Frauen voneinander unterschieden. Irgendetwas musste es wohl geben, immerhin war dies eines der ganz wenigen Dinge, die er zuordnen konnte, wenn auch nur als Namen, als Begriffe ohne echten Sinn. Ähnlich wie Finsternis, Einsamkeit, Schmerz.

Erneut versuchte er, den Arm zu heben. Diesmal sehr langsam, vorsichtig. Dabei kam die Erinnerung hoch, dass er zwei Arme besaß. Weil die Bewegung sowieso viel zu schmerzhaft war, um sie durchzuführen, griff er lieber nach dem anderen Arm statt in die Höhe. Glitt darüber hinweg. Fühlte Haut und hervorstehende Knochen. Das war eine Berührung. Er hatte Hände. Finger. Welch ein absonderliches Gefühl, sich selbst anzufassen! Wächsern und kalt und glatt war die Haut. Überall dort, wo er sich berührte, begann es zu brennen und zu prickeln. Das war schwer zu ertragen und trotzdem besser als das blanke Nichts, was dort zuvor geherrscht hatte.

Da war noch mehr Körper. Etwas sagte ihm, dass sich dieser in keinem guten Zustand befand. Mehr Knochen als Masse. Dinge hingen an ihm. Kabel. Schläuche. Sie hatten bestimmt einmal eine Aufgabe besessen, irgendeine Funktion. Er konnte sich nicht erinnern. Jedenfalls konnte er sie nun fortwischen. Dabei fiel ihm auf, dass er schwebte. Er befand sich in einem … Ein Wort geisterte hohl durch sein Bewusstsein. Stasisfeld.

Seltsamer Klang. Hatte dieses Wort eine Bedeutung? Wahrscheinlich nicht. Es gefiel ihm, dass die eine oder andere Erinnerung zu ihm zurückkehrte, wenn die Bedingungen stimmten. Wie Luftblasen, die in einem Wasserglas an die Oberfläche blubberten.

Ja, genau. Das Stasisfeld. Es sorgte dafür, dass er eine Handbreit schwebte. Und nicht verhungerte und verdurstete in der Zeit, wo er in einer Art Winterschlaf lag. Aus dem war er erwacht. Offenbar funktionierte das Feld nicht mehr richtig, denn ja, er war sehr durstig und bei all den Knochen, die er fühlte, nicht mehr weit vom Verhungern entfernt.

Warum genau hatte er geschlafen? Daran erinnerte er sich nicht, so sehr er sich auch bemühte.

Er streckte langsam die Hände zur Seite, bis er auf Hindernisse stieß. Glas. Daran erinnerte er sich sofort. Dicke Glasplatten umgaben ihn.

„Das hält tausende von Jahren. Sie werden schlafen wie Schneewittchen in ihrem Sarg.“

Eine Stimme aus den Urtiefen der Vergangenheit. Kein Bild, kein Gesicht wollte dazu aufflackern. Nur diese Stimme. Wer war Schneewittchen?

Seine tastenden Finger stießen auf etwas. Über ihm. Was es war, verstand er nicht, doch das war nicht notwendig, seine Finger wussten von ganz allein, was sie zu tun hatten. Sie drückten auf Tasten, schmale Erhebungen in der Dunkelheit, folgten einem komplexen Muster. Es zischte. Die Glaskuppel über seinem Kopf schwang beiseite.

Dumpfes, dämmriges Licht. Es war schwach und dennoch stach es in seine Augen, die er keuchend zusammenpresste. Feuchtigkeit. Intensive Gerüche. Wald. Bäume. Erde. Pflanzen. Die zugehörigen Bilder geisterten verloren durch seinen Geist, bis es ihm gelang, die Augen langsam zu öffnen. Eine Ewigkeit verging, in der er nichts sah als diffuse Nebel. Seine Augen hatten verlernt zu sehen und mussten sich erst wieder an ihre Funktion gewöhnen.

Auch seine Ohren waren verwirrt von der Vielzahl an Geräuschen. Vögel. Insekten. Rauschende Blätter im Wind. Rufe von Tieren, die er nicht kannte.

Angst. Sollte er nicht Angst verspüren? Möglicherweise ja, doch er hatte keine Kraft dafür übrig.

Als es ihm gelang, seine Umgebung wahrzunehmen, war er vollkommen erschöpft und überwältigt. So viel Wald. Etwas sagte ihm, dass hier kein Wald sein dürfte. Er war sich recht sicher, dass keiner da gewesen war, als er sich schlafen gelegt hatte.

Mit einem Mal sackte er ab und schlug auf dem Glasuntergrund auf. Das Stasisfeld war zusammengebrochen. Hilflos blieb er liegen. Er konnte sich nicht bewegen, war zu schwach, zu erschöpft. Erbärmlich kalt war ihm. Und was war das für ein infernalischer Lärm? Durchdringend und schrill flutete dieses Heulen gegen seinen Kopf, ebbte ab, flutete erneut heran, und noch ein drittes Mal.

Wimmernd und zitternd lag er da, unfähig zu begreifen, was mit ihm geschah.

„Ich sterbe“, dachte er. Endlich etwas, das Sinn ergab.

 

 

„Hörst du das?“ Ashun blickte irritiert von seiner Schnitzarbeit auf. Eine Essensschale sollte es werden, die er aus dem weichen Holz einer Yool-Linde fertigte. Da war es wieder. Ein anhaltendes, lautes Heulen. Neiri, sein Bruder, zog besorgt die Augenbrauen zusammen.

„Das ist kein Tier“, sagte er. Womit er recht hatte. Kein lebendes Wesen konnte solche Laute ausstoßen. Auch die anderen Männer auf dem Dorfplatz hatten in ihren Arbeiten innegehalten und blickten nach Südwesten. Vurn, der Gruppenälteste, stand auf und ging auf Ashun zu.

„Du hast es zuerst gehört“, sagte er. „Du solltest also derjenige sein, der nachsieht. Möglicherweise ist der Ruf für dich bestimmt.“

Ashun zögerte. Es gab nichts, was er dagegen vorbringen könnte, behaglich war ihm dennoch nicht.

„Wir bleiben in deiner Nähe“, versicherte Neiri. „Wenn Gefahr droht, sind wir bei dir.“

Der Lärm war verklungen. Die normalen Geräusche des Waldes brandeten wieder auf, die für einen Moment geschwiegen hatten. Seufzend nickte Ashun und ging zu seiner Hütte hinüber, um seinen Speer zu holen. Zusätzlich bewaffnete er sich mit zwei Wurfdolchen und einem Kampfmesser. Wunderschöne Stahlarbeiten, die Aila geschaffen hatte, seine Schwester. Ihre Spezialität waren die reich verzierten Hefte und sie war eine wahre Könnerin, was die Gewichtsbalance der Waffen anging.

So ausgerüstet zog er der Männergruppe vorweg in den Wald hinein. Nah beim Dorf standen die Bäume licht, es gab kaum Unterholz. Erst nach einer halben Meile wurde es dichter und dunkler, die Weißeichen, Kiefern und Föhren mischten sich mit Ahorn, Birken, Buni-Tannen und Holunder. Hier und da fanden sich Vogelbeeren auf Lichtungen, und die Baumhasel waren fast erntereif. Würde Ashun sich jetzt nach Süden wenden, käme er zu den Obstwiesen, die von der nahgelegenen Frauengruppe gepflegt wurde. Von dort war das Geheul sicherlich nicht gekommen, darum hielt er ohne zu zögern auf die alte Ruinenstadt zu.

Es war ein schwülheißer Tag, Gewitter lagen in der Luft. Er wischte sich den brennenden Schweiß aus den Augen, konzentrierte sich bei jedem Schritt, damit er keinen Feind übersah, der sich möglicherweise ins Dickicht duckte. Fliegen surrten in der Nähe, aber kein beißendes oder stechendes Insekt griff sie an. Dafür sorgte der Extrakt aus Churmiolpollen, ein intensiver, minzartiger Geruch, den sie sich im Sommer mehrmals täglich auftrugen. Die gelben Gewächse wucherten zum Glück überall am Waldrand und dort, wo das Unterholz lichter war. Es sorgte allerdings nicht nur dafür, dass Ashun von Insekten verschont blieb, die teils gefährliche Krankheiten übertrugen, er konnte auch praktisch nichts anderes als Minze riechen, weil er den Extrakt erst kurz zuvor im Gesicht erneuert hatte. Einerseits war es ja ein angenehmer Duft, andererseits fehlte ihm eine Sinneswahrnehmung, die ihn vor Gefahren warnen könnte.

Die Ruinenstadt tauchte vor ihm auf. Es waren von Bäumen, Buschwerk und Moos überwucherte Überreste einer menschlichen Siedlung. Größtenteils fand man hier nur noch verwittertes Gestein, hier und dort stieß man auf Metallstücke, die fast völlig durchgerostet waren, aber unter Luftabschluss in der Erde überdauert hatten. Interessant waren stets Fundstücke aus Plastik und Glas, die fast noch unverändert aussahen, so wie zu der Zeit vor etwa tausend Jahren, als die Menschen sie hergestellt und für ihre Zwecke genutzt hatten. Viel war davon heute nicht mehr übrig, Generationen von Kindern hatten die Ruinenstadt abgesucht und mitgenommen, was interessant oder wertvoll war.

Eine Besonderheit stellte das Kuppelhaus dar. Man erkannte bis heute, wie riesig es einst gewesen sein musste, und es hatte dieses Kuppeldach aus Stahl, Beton und Glas gehabt. Im Inneren war auch nichts mehr von Wert zurückgeblieben und der Wald hatte das Gebäude fast vollständig verschlungen. Es gab allerdings einen großen Kasten aus undurchsichtigem Glas. Kein gewöhnliches Glas, denn es ließ sich nicht zerstören. So ziemlich jeder von ihnen hatte vermutlich mindestens einmal versucht, zumindest einen Kratzer in dieses Ding zu schlagen. Doch obwohl ungefähr tausend Jahre lang Gegenstände aller Art darauf niedergegangen waren, präsentierte es sich bis heute in völliger, schwarzschimmernder Makellosigkeit. Man konnte davon ausgehen, dass es kein normales Glas war, oder vielmehr, irgendetwas anderes, ein ihnen unbekanntes Material. Da es keine Aufzeichnungen und auch sonst nichts weiter darüber gab, wusste niemand, wie man es sonst bezeichnen könnte oder welchen Zweck es irgendwann einmal besessen haben mochte.

Aus irgendeinem Grund, für den es keinen logischen Auslöser gab, fühlte Ashun sich wie magisch zu dieser Kiste hingezogen. Es gab keinen Anlass, warum er annahm, dass das Heulen hier seinen Ursprung gehabt haben musste. Keinen außer der Tatsache, dass dies das einzige echte Überbleibsel in weiterer Umgebung aus der Verlorenen Zeit war, wie man das große Sterben von damals heute nannte. Das Heulen hatte unwirklich geklungen. Er wollte zumindest nachschauen, ob es von hier gekommen war.

„Wir bleiben hinter dir“, flüsterte Neiri ihm zu, als Ashun das Kuppelhaus betrat. Natürlich betrat er es nicht wirklich, er folgte einfach dem Waldweg, der durch die verrotteten Überreste des Bauwerks führte. Die anderen blieben einige Schritte hinter ihm. Er hatte das Heulen zuerst gehört. Der Ruf war für ihn bestimmt. Er musste als Erster dem begegnen, was er bedeutete.

Vor ihm wucherte Shish, ein farnartiges Gewächs, das bestens mit dem schwierigen Klima zurechtkam – lange, extrem heiße Sommer, eher milde, sehr feuchte Winter, gelegentlich starke Kälte, häufige Stürme. Hinter dem Gestrüpp wusste Ashun das Glas. Er hörte seltsame Laute, die ihn zur Vorsicht gemahnten. Wimmern. Angestrengtes Atmen. Dort musste ein größeres Lebewesen sein, vielleicht sogar ein verwundeter Bär?

Mit äußerster Vorsicht und Bedachtsamkeit umrundete Ashun das Gewächs – und erstarrte. Die Kiste, dieses seltsame Artefakt aus dunklem Glas, sie stand weit offen. Ein Mensch lag in ihr. Statt Fell oder Leder trug er seltsame weiße Kleidung, die wie eine zweite Haut an ihm klebte. Erbärmlich dünn war er. Nie zuvor hatte Ashun einen solch abgemagerten Menschen gesehen, er bestand nur noch aus hautüberzogenen Knochen, das Gesicht wirkte fast wie ein Totenschädel. Fahle Haut war es, unglaublich bleich zudem. Kein einziges Haar besaß er, weder Haupthaar noch einen Bart, nicht einmal Augenbrauen. Es war unmöglich zu sagen, wie alt er sein mochte. Aus riesigen, dunkelblauen Augen blickte er zu Ashun auf, rang keuchend um Atem.

Dieser Mann lag im Sterben. So viel war gewiss. Viel berührender allerdings war die intensive Angst in seinem Blick. Er wurde von Todesangst geschüttelt. Angst vor Ashun, den er für einen Feind halten musste.

„Du musst mich nicht fürchten“, flüsterte Ashun beruhigend. „Ich bin gekommen, um dir zu helfen.“ Rasch legte er den Speer ab und schob sich mit bedächtigen Bewegungen näher an den Mann heran. Dessen Panik vervielfachte sich. Entweder verstand er Ashuns Sprache nicht, oder ihm ging es zu elend, um noch irgendetwas zu begreifen. Vielleicht war es auch beides.

„Neinneinnein, alles ist gut, ganz ruhig. Ganz ruhig“, sagte Ashun, in jenem Tonfall, mit dem man sich einem verwundeten Tier annäherte. Er streckte die Hände vor, wollte zeigen, dass er keine weiteren Waffen trug. „Wie bist du bloß hierhergekommen? Und wer hat dich so dermaßen zugerichtet? Hab keine Angst. Wir werden uns gut um dich kümmern. Du brauchst sicherlich Wasser, nicht wahr?“

Das angstvolle Wimmern war herzzerreißend. Zumindest ging keine Gefahr von diesem Mann aus, er könnte nicht einmal eine Fliege bedrohen. Ashun kniete neben ihm nieder, legte ihm behutsam eine Hand auf die Brust.

„Mein Name ist Ashun. Ashun.“ Er wies auf sich selbst. „Wie heißt du?“

Die qualerfüllten Augen wurden noch größer, sollte das überhaupt möglich sein. Dann ging ein Ruck durch den ausgezehrten Körper, und er erschlaffte. Lediglich die nun langsamen, flachen Atemzüge und das viel zu leichte Klopfen des Herzens bezeugten, dass er noch lebte.

„Er ist in einem fürchterlichen Zustand“, murmelte Vurn. „Bringen wir ihn zu den Frauen.“ Heilkunde, Fürsorge und Pflege lag vollständig in den Frauenhänden. Die Frauen hatten dies gemeinschaftlich beschlossen und es konnte jederzeit geändert werden, sollten sie einen Grund dafür sehen.

„Welche Gruppe nehmen wir?“, fragte Ashun.

„Deine Muttergruppe. Sie liegt am nächsten. Außerdem: Ich habe so eine Ahnung, dass du diesem Mann auch weiterhin beistehen solltest und nur bei deiner Muttergruppe wäre das problemlos möglich.“

Das lag an ihrem etwas komplizierten Familiengefüge sowie der Tatsache, dass Männer und Frauen strikt mehrere Meilen getrennt voneinander lebten, aber eng zusammenarbeiteten, Handel trieben und interagierten. Ashun hinterfragte Vurns Ahnungen nicht. Er war sich selbst nicht so sicher, ob er diesem Fremden beistehen konnte, geschweige denn sollte – der Mann hatte eindeutig Angst vor ihm gehabt.

Aber nun, er war vermutlich auch nicht mehr wirklich bei Sinnen gewesen. Ashun hob ihn von der gläsernen Liege hoch. Obwohl dieser Fremde ein ganzes Stück größer als er war, konnte Ashun ihn tragen wie ein müdes Kind, so leicht war er. Kein Erwachsener sollte derartig leicht sein. Unter ihm kam ein großes Büschel dunkler Haare zum Vorschein. Sie waren ihm also ausgefallen, warum auch immer. Wahrscheinlich lag es an dem extremen Mangel an Nahrung. Seltsamerweise hatte er noch seine Zähne, wie es schien, war das Gebiss sogar vollständig – allerdings wirkte das Zahnfleisch stark entzündet und blutig und hatte sich weit zurückgezogen. Es könnte also sein, dass er sie doch noch verlor. Verdammt, wie war dieser Mann in den Kasten gekommen? Hatte er wirklich über Jahrhunderte darin überlebt? Seltsam war das alles!

 

Verständnislose Worte

 

r erwachte von erregten Stimmen in seiner Nähe.

Jemand legte ihn behutsam auf einer weichen Unterlage ab. Die Schmerzen im ganzen Leib waren stark genug, um ihm den Atem zu rauben. Dennoch mühte er sich, blickte auf, versuchte zu erkennen, was um ihn herum geschah.

Mehrere Menschen standen über ihm. Sie waren allesamt in Fell und Leder gekleidet. Durchaus kunstvoll gearbeitet waren diese Lederhemden, die ihnen bis zu den Oberschenkeln reichten und mit Gürteln versehen waren. Fellbesatz und Stickmuster bildeten Ornamente, für die viel Mühe aufgewandt worden sein musste, dazu gab es gefärbte Holzperlen und Lederschnüre als weiteren Zierrat. Es wirkte unglaublich befremdlich auf ihn, nicht wie etwas, woran er gewöhnt war.

Einige Frauen redeten leidenschaftlich auf den Mann ein, der zu ihm gekommen war. Er erkannte ihn wieder. Ein schlanker Mann mit breiten Schultern und kräftigen Armen, dafür feinsinnigen Fingern. Mit langen, hellbraun gelockten Haaren, die in einem etwas unordentlichen Zopf gebändigt waren. Mit sanften braunen Augen und einer tiefen Stimme, die ruhig war und Vertrauen weckte.

Ashun. Das war sein Name. So hatte er sich genannt.

Gerne würde er still liegenbleiben und unsichtbar werden, denn das wütende Gerede zwischen den Frauen, Ashun und einem weiteren, deutlich älteren Mann war zu viel für seine überreizten Sinne; zumal er nicht ein einziges Wort verstand. Es klang vertraut, die Sprachmelodie schien ihm richtig, doch alles andere war fremd. Leider waren die Schmerzen zu schlimm, und als eine neue Welle durch seinen Körper brandete, stöhnte er unwillkürlich laut auf.

Sofort verstummte das Gestreite und Ashun beugte sich zu ihm herab.

„Jumenen ori?“, fragte er und streckte die Hand nach ihm aus. Der Gedanke, berührt zu werden, noch mehr empfinden zu müssen, war zu schrecklich, um ihn zulassen zu können.

---ENDE DER LESEPROBE---