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Was für Augustus als ganz normaler Tag in einer ganz normalen Stadt beginnt, zerbricht schlagartig noch am gleichen Abend, denn alles steht auf einmal Kopf, als er vom plötzlichen Tod seiner Eltern erfährt. Nicht nur, dass er von heute auf morgen mit diesem schrecklichen Verlust klar kommen muss, obendrein bekommt er auch noch Besuch von kuriosen Gestalten, die merkwürdig gekleidet sind, erfährt, dass sein Vater nicht einfach nur ein gewöhnlicher Mensch war und muss bald sogar um sein eigenes Leben fürchten. Was hat es mit dem mysteriösen Notizbuch seines Vaters auf sich? Wer sind die Männer ohne Gesichter? Und was hat das geheimnisvolle Straßenmädchen Maya, die ihm trotz ihrer rotzigen Art irgendwie ans Herz wächst, mit all dem zu tun? Coverdesign: André Thaleikis
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Seitenzahl: 333
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Incantaras - Ruben
Highcott - Paisling
Highcott - Aberness
Highcott - Dungow
Highcott - Paisling
Highcott - Perthburgh
Highcott - Aberness
Highcott - Perthburgh
Highcott - Greenbridge
Highcott - Paisling
Highcott - Aberness
Highcott - Greenbridge
Highcott - Perthburgh
Highcott - Paisling
Highcott - Aberness
Highcott - Perthburgh
Highcott - Paisling
Highcott - Shedford
Highcott - Aberness
Highcott - Paisling
Highcott - Dungow
Highcott - Greenbridge
Highcott - Paisling
Highcott - Greenbridge
Highcott - Paisling
Highcott - Greenbridge
Highcott - Dungow
Highcott - Paisling
Highcott - Aberness
Highcott - Greenbridge
Highcott - Perthburgh
Highcott - Greenbridge
Highcott - Paisling
Highcott - Perthburgh
Highcott - Aberness
Highcott - Paisling
Highcott - Dungow
Highcott - Aberness
Highcott - Perthburgh
Incantaras - Malva
Highcott - Paisling
Highcott - Shedford
Highcott - Perthburgh
Incantaras - Malva
Highcott - Perthburgh
Incantaras - Malva
Highcott - Perthburgh
Incantaras - Malva
Incantaras - Druodon
Highcott - Greenbridge
Incantaras - Malva
Highcott - Perthburgh
Highcott - Greenbridge
Highcott - Perthburgh
Highcott - Greenbridge
Highcott - Pethburgh
Highcott - Paisling
Highcott - Perthburgh
Incantaras - Druodon
Wild tanzten Staubpartikel durch die Luft, präsentierten sich durch die Sonnenstrahlen, die durch das offene Fenster ins Haus hinein schienen. Dadurch sah der Staub gleich viel größer aus. Irgendwie sogar hübsch, wenn er so angeleuchtet wurde. Judy Swayer musste schon längst mal wieder putzen.
Es heißt immer, im Winter werde alles viel schneller dreckig. Durch den Schlamm und den Schnee, den man mit ins Haus hinein trägt. Aber der Sommer ist auch nicht viel besser. Es kam ihr so vor, als gäbe es im Sommer viel mehr Staub als im Winter und er lag gefühlt überall.
Judys Hände wirbelten durch die Luft und zogen den Staub hinter sich her, der sich seinen Weg über die Sonnenstrahlen nach draußen bahnte. Dort war er besser aufgehoben als drinnen. Wer möchte schon Staub in seiner Wohnung? Davon musste man nur-
«Hatschi!» Judy blinzelte etwas und wackelte mit der Nase, aber es folgte kein weiterer Nieser.
Im Hintergrund lief laut ein Popsong der neuen Lieblingsband ihrer Tochter, die auch Judy sehr gefiel.
Irgendetwas von den Bedsheet Boys oder wie die hießen. Das vergaß sie immer. Sie hatte auch mal gehört, dass diese Musik längst out sei, aber das glaubte sie nicht. Dafür klang sie viel zu cool. Beinahe hätte sie die Klingel nicht gehört, denn die Musik war nicht nur aufgedreht, Judy sang sang auch lauthals mit.
Doch dann klingelte es noch einmal und jemand hämmerte an die Tür. Das konnte Judy gar nicht überhören. Nachdem sie die Musik etwas leiser gedreht hatte, eilte sie singend zur Tür. Davor stand eine blasse, blonde Frau mit ernstem Gesicht. Sie kannte sie vom Sehen, aber viel miteinander zu tun hatten sie nicht. Sie wusste nur, dass die Frau ebenfalls zu einer der sieben Familien gehörte. Zu den Dukes.
«Wie kann ich helfen?» fragte Judy lächelnd.
«Ich muss mit deinem Mann sprechen.»
«Oh, der ist gerade unterwegs. Kann ich ihm etwas ausrichten?»
«Ich bin nicht sicher, ich-»
«Kein Problem, er teilt sowieso alles mit mir. Ich werde also eh alles erfahren.» Judy lachte extra ein bisschen, damit sie nicht eifersüchtig wirkte. Das ist sie auch nicht, das war sie noch nie.
«Aurelius Proper ist tot.»
Es dauerte einen Moment, bis die Bedeutung dieser Worte in Judys Gehirn vordrang. Doch als es soweit war, klappte ihr die Kinnlade herunter.
«Oh nein», murmelte sie und die blasse, blonde Frau nickte.
«Du weißt, was das bedeutet?», fragte diese und Judy nickte nun ebenfalls. «Dann richte es bitte umgehend deinem
Mann aus. Wir müssen wohl einen Suchtrupp zusammenstellen.»
Es war einer dieser ungewöhnlichen Augusttage. Laue Sommer waren für diese Gegend zwar nicht allzu ungewöhnlich, jedoch glich dieser Tag eher einem im Spätherbst. Kühle 12 Grad Celsius beherrschten die Luft und ein grauer Wolkenschleier verbarg die Sicht auf jegliche Sonnenstrahlen. Zu allem Überfluss fing es auch noch an zu regnen, als Gus gerade aus dem Auto seines Vaters stieg. Dieser reichte ihm einen schwarzen Regenschirm hinaus, bevor er sich verabschiedete. Dankend nahm Gus ihn an und stolperte beinahe über ein Mädchen, als er sich umdrehte. Kurz trafen sich ihre Blicke, ehe sie fort rannte. Er kannte sie nicht, aber gesehen hatte er sie schon oft. Sie sah aus, als würde sie auf der Straße leben und das war hier gar nicht gerne gesehen. Nicht in einer Gegend wie dieser. In einer Gegend wie Paisling war alles erhaben, edel und zugegeben hin und wieder auch ein wenig bonzig. Straßenkinder und Penner passten nicht ins Bild und es wurde stets darauf geachtet, dass dieses Bild gewahrt wird. Eigentlich klappte dies auch. Aber dieses Mädchen schaffte es trotzdem immer mal wieder hierher. Manchmal sah er, wie sie in Mülltonnen wühlte oder auf einem Baum hockte und sie alle beobachtete. Das kam Gus etwas merkwürdig vor, aber es störte ihn nicht. Nicht so, wie viele andere aus der Gegend. Eigentlich hatte er sogar eher Mitleid mit ihr.
Der Motor des Chryslers, mit dem sein Vater ihn her gebracht hatte, holte Gus aus seinen Gedanken zurück. Das Mädchen war längst fort.
Fast alle Schüler an der Clayton High hatten ihren eigenen Chauffeur. Ein richtiges Privatschulen-Klischee, wie Gus fand. Sein Vater fuhr ihn beinahe jeden Morgen höchstpersönlich zur Schule, bevor es für ihn weiter zur Arbeit ging. Darauf hatte er seit der ersten Klasse bestanden und bis heute, da sein Sohn schon sechzehn ist, hatte sich das nicht geändert. Jakobo, so hieß der Vater, wollte stets die Nähe zu seinem Sohn wahren. Er wollte keiner dieser Rabenväter werden, wie es viele der Schüler der Clayton High waren, die ihre Töchter und Söhne durch das viele Arbeiten kaum zu Gesicht bekamen und einen eigenen Chauffeur, ein eigenes Hausmädchen und eine Nanny hatten, die das Kind aufzogen. Nein, Jakobo wollte ein guter Vater sein. Und für ihn fing das schon bei der Fahrt zur Schule an.
Es gab ein paar Jungs an der Schule, die Gus dafür aufzogen. Vatersöhnchen nannten sie ihn und dann lachten sie. Auch jetzt, als Gus den Schirm aufspannte und durch das gusseiserne Tor den Pfad zu dem alten, jakobinischen Gebäude betrat, welches die Clayton High darstellte, standen ein paar Jungs in Schuluniform bereit und äfften ihn und seinen Vater nach, wie er seinem Sohn den Schirm reicht und dieser sich dafür bedankt.
Insgeheim waren sie alle bloß neidisch auf Gus und die Beziehung zu seinem Vater, einem der größten Immobilienmakler Highcotts. Da war Gus sich ganz sicher. Er kannte diese Sorte Jungs. Das waren die, die im Sommer in die tollsten Urlaube fuhren, ganz unter sich und ohne Eltern und das schon seit der Grundschule. Die Jungs feierten sich dafür und brüsteten sich damit, wie cool und unabhängig sie doch waren. Allerdings wusste auch jeder, dass sie deshalb jede Ferien gemeinsam weg geschickt wurden, weil ihre Eltern schlicht keine Zeit für ihre Kinder hatten oder sie sich einfach nicht nehmen wollten. Manchmal fragte sich Gus, ob diese Leute bloß Kinder hatten, weil sie Nachfolger für ihre Imperien brauchten. Er selbst war ein Kind der Liebe, nicht des Geschäfts. Das wusste er und das spürte er, an der Art, wie seine Eltern mit ihm umgingen. Nicht nur, weil sein Vater ihn höchstpersönlich zur Arbeit brachte und wieder abholte. Gus hatte auch nie eine eigene Nanny, die sich rund um die Uhr um ihn gekümmert und ihn erzogen hat. Das haben seine Eltern so gut es ging immer selbst getan. Und wenn sie doch mal auf Geschäftsreise oder zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung mussten, haben sie ihn entweder mitgenommen oder sein Onkel Charles oder Mums Freundin hat sich um ihn gekümmert.
Neben den Jungs, die ihn auslachten, gab es jedoch auch die Schüler, die ihn offen darum beneideten. Manche davon waren seine Freunde. Eric und Bill. Wie jeden Morgen kamen sie nur wenige Minuten nach ihm an und holten ihn schnellen Schrittes ein. Links und rechts flankierten sie sich neben Gus und klopften ihm grinsend auf die Schulter. Der allmorgendliche Gruß. Genau wie Gus trugen sie anthrazitfarbene Mäntel über ihren in schwarz und königsblau gehaltenen Schuluniformen.
«Scheiße kalt heute, was?», bemerkte Eric und zog seinen königsblauen Schal enger, wobei ein ovales Muttermal auf seiner Handfläche hervorblitzte. «Da kriegt man gleich Lust, nach der Schule direkt in den Jacuzzi zu springen. Was sagt ihr? Nach der Schule bei mir?»
«Bin dabei!» Das war Bill. Eigentlich hieß er William. Er war sowieso jeden Tag bei Eric. Beinahe könnte man behaupten, er wohnte schon dort. Manchmal war sich Gus nicht ganz sicher, ob das zwischen den beiden rein freundschaftlicher Natur war oder ob da mehr lief. Etwas, was sie ihm nicht verraten wollten.
«Ich bring Bier mit.» Und das war Gus. Er war der erste von den dreien, der schon Bier kaufen durfte. Vor gerade einmal drei Tagen ist er sechzehn geworden. Nicht, dass sie nicht vorher auch an Alkohol gekommen wären. Immerhin bunkerten ihre Eltern Massen an guten Tropfen zu Hause, sodass es kaum auffiel, wenn die eine oder andere Flasche einmal verschwand, solange sie nicht den guten Whisky der Väter oder den schmackhaftesten Wein der Mütter erwischten. Aber jetzt, wo Gus alt genug war, wirkte es so offiziell. Es fühlte sich ein bisschen cool an, endlich selbst etwas zu kaufen und sich und seine Freunde selbst versorgen zu können. Zu dürfen. Auch wenn es sich erst einmal nur auf Bier beschränkte.
In den Gesichtern seiner Freunde spiegelte sich große Vorfreude wieder und sie hielten ihre Hand für einen Highfive in die Luft. Gus erwiderte erst den einen, dann den anderen und schließlich schüttelte er den Schirm aus, denn sie waren am großen Tor angekommen, dass ins Gebäude hinein führte.
Im Schulgebäude selbst war es kaum wärmer als draußen. Die weiten und hohen Räume speicherten kaum Wärme. Immerhin war es wenigstens trocken. Vom Regen bekam man drinnen nichts mehr mit.
Auf dem Weg zum Klassenzimmer wurde Gus hier und da gegrüßt. Von ein paar Mannschaftskameraden aus dem Rugbyteam, von seiner Projektgruppe aus dem Kunstunterricht, von einzelnen Schülern des Schultheaters, bei dem Gus im vergangenen Jahr mitgewirkt hatte und auch von Mary-Ann. Jeden Morgen lief sie an ihm vorbei, grüßte ihn kaum hörbar und lief knallrot an, noch ehe sie an ihm vorbei gelaufen war. Jedes Mal zogen Eric und Bill ihn damit auf, dass sie seine heimliche Verehrerin wäre und manchmal machten sie sogar Witze über sie. Das fand Gus nicht so nett und nahm sie dann in Schutz. Das sorgte allerdings nur dafür, dass Eric und Bill ihn noch mehr aufzogen. Mit der Zeit ließ Gus das lächelnd über sich ergehen, hatte er sich anfangs doch noch immer verteidigt. Mary-Ann war ein nettes Mädchen. Sie saß in Chemie neben ihm und manchmal arbeiteten sie deshalb zusammen. Auch da wirkte sie immer sehr schüchtern wenn sie mit ihm sprach. Wenn sie allerdings anfingen Chemikalien zu mixen, ging sie völlig auf und redete munter vor sich her. Was sie gerade taten, wie was miteinander reagierte und wie faszinierend sie das fand. Gus fand es gut, dass sie das machte. Er verstand nämlich nichts von Chemie.
Ansonsten hatte er aber nicht viel mit ihr zu tun, außer dass sie das ein oder andere Fach miteinander hatten. Sie war nett und er mochte sie ganz gerne. Mehr war da jedoch nicht, dazu kannte er sie einfach zu wenig.
Gerade als Gus und seine Freunde ihr Klassenzimmer betraten, läutete es zum Unterricht und Mr Dorrington betrat den Raum.
Die Regentropfen schellten unbarmherzig gegen die Fensterscheiben im 20. Stock des Victory Buildings. Die lauten, dumpfen Geräusche die sie dabei machten, brachten Ilenna Raise völlig aus dem Konzept. Seit Tagen brütete sie über ihrem aktuellen großen Fall. Die ganze Stadt blickte dem bevorstehenden Prozess neugierig entgegen. Manche Menschen standen sogar just in diesem Moment am Fuße des Gebäudes, um zu protestieren. Jawohl! Sie war Opfer eines Protestes geworden, nur weil sie diesen Fall übernommen hatte. Dabei trat sie für etwas Gutes ein. Das stelle man sich einmal vor. Da wird der Bürgermeister wegen Schmiergeldern angeklagt und dann darf man sich von dessen treuen Fans anhören, dass man seine Stadt verraten würde, in dem man gegen ihn arbeite. Aber es ist nun einmal verkehrt, was Bürgermeister Cunning da getan hat. Dem muss seine gerechte Strafe zugefügt werden. Solche Fälle hat Ilenna schon immer übernommen. Aus Überzeugung! Und damit würde sie jetzt nicht aufhören, bloß weil ein paar blinde Cunning-Fans meinten, sie dafür bespucken oder beschimpfen zu müssen. Ja, in der Tat. Am Vortag wurde sie wahrhaftig von einem bespuckt. Ein Glück leitet ihr Bruder Charles eine Security-Firma. Die sorgen jetzt dafür, dass niemand Ilenna zu nahe kommt, während der Prozess läuft. Seit heute Morgen stehen zwei Männer in schwarz vor dem Gebäude und passen auf, dass von den Demonstranten niemand zu ihr in den 20.
Stock fährt. Nicht, dass sie sonderlich paranoid wäre, aber wenn die Leute anfangen zu spucken, dann sind die Steine nicht mehr weit. Das hat sie im vergangenen Jahr bei einem befreundeten Anwalt sehen können. Dieser hatte sich für einen mutmaßlichen Kindsmörder eingesetzt, der jedoch unschuldig war. Sogar mit klaren Beweisen, er hatte ein wasserdichtes Alibi. Jedoch gab es wie immer Menschen, die diesen armen Mann dennoch beschimpften und auf dem elektrischen Stuhl sehen wollten, auch wenn dieser natürlich schon lange abgeschafft wurde. Und weil ihr Kollege der Anwalt dieses angeblichen aber unschuldigen Kindsmörders war, wurde auch er nicht zufrieden gelassen. Bei ihm hatte es auch mit Bespucken angefangen. Dann hatte man ihn auf offener Straße mit Dosen beworfen und später sein Haus belagert und ihm Morddrohungen zukommen lassen. Diese wurden zwar glücklicherweise nicht wahr gemacht, allerdings musste er mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert werden, da eine der Dosen, die ihn am Kopf trafen, noch voll gewesen ist.
So etwas wollte und musste Ilenna unbedingt vermeiden. Mal ganz abgesehen von dem Schmerz, den so eine Dose am Kopf verursachen kann, steht der Gerichtstermin so kurz bevor, dass sie ihn jetzt nicht mehr verschieben lassen möchte. Nicht wegen einer Gehirnerschütterung oder was auch immer sonst noch passieren könnte.
Die letzten und wenigen Zeugen waren gesichert und alle Beweisakten fein abgeheftet. Normalerweise hat sie für den Aktenordner einen Assistenten, aber den hatte sie schon vor einer Stunde nach Hause geschickt. Eigentlich hatte Ilenna auch schon längst Feierabend. Den überzog sie jedoch meistens vor so wichtigen Prozessen. Am nächsten Vormittag war es soweit. Zu allem Überfluss hatten Ilenna und ihr Mann am gleichen Abend auch noch geplant, ihren Hochzeitstag zu feien. Endlich wieder schick ausgehen und essen. Selbst dass musste sie nun um zwei Stunden verschieben. Einfach ungünstig, dass das so zusammenfällt, aber was soll man machen? Sie wollte zumindest einfach alles erledigt haben um zur Verabredung mit ihrem Mann abschalten zu können.
Jawohl. Sie ist keine von diesen Frauen, die privat die ganze Zeit über Geschäftliches nachdenken und das liegt daran, dass sie immer alles fein säuberlich abarbeitet, bevor sie zu ihrer Familie nach Hause fährt. Sie lässt nichts offen.
Als es an der Tür klopfte, hatte sie gerade den Aktenordner in ihrer Tasche verstaut.
Wieder einmal hat Jakobo es geschafft, eines der begehrtesten Häuser in Paisling zu verkaufen. Viele Interessenten haben es sich bereits angeschaut, aber die wenigsten konnten es sich tatsächlich leisten. Ein altes Haus mit Türmchen und Erkern aus der Barockzeit. Ein wunderschönes Haus. Wenn es nicht viel zu groß und zu teuer wäre, hätte er es glatt selbst für seine Familie gekauft. Aber was sollen sie schon zu dritt in einem derart riesigen Haus anfangen? Mit fünf Bädern, sieben Schlafzimmern, einem Salon, Kaminzimmer, Wohnzimmer, einer wunderschönen großen Empfangshalle und den ganzen anderen Räumen? Nein. Das wäre alles viel zu groß gewesen und Gäste würden sich ständig verlaufen.
An einer roten Ampel setzte Jakobo den Blinker seines schwarzen Chryslers rechts. Die Rushhour war glücklicherweise schon vorbei und so kam er entspannter als gewohnt in das Geschäftsviertel Aberness.
Glücklich lächelnd, weil es ein perfekter Tag war und genauso perfekt zu bleiben versprach, bog er ab, nachdem die Ampel auf grün geschaltet hatte. Haus verkauft, gutes Geld verdient, der Sohn heute bei seinen Freunden und seine Frau würde er gleich sehen. Und er würde einen wunderschönen Abend mit ihr verbringen zu ihrem 18. Hochzeitstag. Ihre Ehe wurde sozusagen volljährig und Volljährigkeit feierte man bekanntlich gebührend. Wenn er da nur an seinen 18. Geburtstag zurück dachte. Oho, das war eine Feier. Großartig! Damals war er noch ein ganz anderer Mensch. Ungezähmt, unbekümmert und ungebunden. Das war ein paar Jahre, bevor er seine jetzige Frau kennen lernte, die sein ganzes Leben auf den Kopf stellte. Nur für sie war er nach Highcott gezogen und hat keine seiner Entscheidungen bis heute bereut. Er hat alles richtig gemacht. Nur um seine Eltern tat es ihm manchmal leid. Dass er sie einfach so verlassen hatte, um hier zu leben.
Seitdem hat er sie nicht mehr gesehen, denn sie lebten viel zu weit weg, als dass man sich regelmäßig besuchen könnte. Außerdem hatten sie ihm nicht verziehen, dass er für Ilenna und Higcott alles liegen gelassen hat. Dabei wären sie sicher von ihr entzückt gewesen, wenn sie sie nur kennen gelernt hätten. Und Augustus erst. Ein Abbild seiner selbst. Seine Mutter würde ihn lieben. Hätte sie geliebt, wenn sie noch leben würde. Es tat weh daran zu denken, dass er seiner Mutter nicht noch einmal gesagt hatte, dass er sie liebt.
Vielleicht, so dachte Jakobo, wird es langsam mal Zeit über seinen eigenen Schatten zu springen und zu seinem Vater zu reisen, um ihm seine Familie vorzustellen, bevor es auch ihn trifft. Oder er würde ihn her kommen lassen. Wenn er seine wundervolle Familie kennenlernen und sehen würde, wie Jakobo sich entwickelt hatte, dann wäre er sicher stolz auf ihn und könnte ihm verzeihen. Und Jakobo würde seiner Familie alles über seine Eltern erzählen. Und von dort, wo er herkommt.
In der Vergangenheit hat er nie über sein Leben vor Ilenna gesprochen. Es tat weh, über seine Eltern zu reden. Aber heute war ein guter Tag und Jakobo hatte im Gefühl, dass es die richtige Entscheidung war, die er soeben getroffen hatte. Er würde seine Familie und seinen Vater endlich miteinander bekannt machen. Er würde endlich über seinen Schatten springen und mit ihm reden, ihm sagen, dass er ihn liebte. Die Vergangenheit ist schließlich lange vorbei und Familie, so hat er doch in Highcott erst tatsächlich gelernt, ist das allerwichtigste im Leben.
Beinahe geräuschlos schlug er die Tür seines schwarzen Chryslers zu und holte die Sonnenblume vom Beifahrersitz. Anschließend ging er auf das Victory Gebäude zu. Der Eingang war belagert von ein paar hartnäckigen Demonstranten, die sauer auf seine Frau waren weil sie als Anwältin an einem Fall gegen den Bürgermeister und seine Schmiergelder arbeitete. Die wenigen, die ihn als ihren Mann aus der Presse kannten, warfen ihm Buhrufe zu, aber die Securitybeauftragten der Firma seines Schwagers nahmen ihn sofort in Schutz und bauten sich vor ihm auf. Freundlich nickte er ihnen zu und verschwand in Richtung Fahrtstuhl.
Obwohl sie nun schon so lange verheiratet waren und sich bereits seit so langer Zeit kannten, fühlte Jakobo auch jetzt noch Nervosität in der Magengegend, die sich während der Fahrstuhlfahrt erneut wie ein Tornado entwickelte. Noch immer war sie die schönste, liebevollste und klügste Frau, die er je getroffen hatte. Was für ein Glück, dass er sie die seine nennen konnte.
Die Fahrstuhltüren öffneten sich und Jakobo atmete tief ein und wieder aus, bevor er auf den Flur hinaus und auf die Bürotür von Ilenna Raise zutrat, um anzuklopfen.
«Herein.» Die Tür öffnete sich und sofort zauberte sich ein Lächeln auf Ilennas Lippen. Wie immer pünktlich auf die Minute stand ihr Gatte in der Tür. Geschniegelt und gebügelt in einem schwarzen Anzug mit grüner Krawatte. Das dunkle Haar, dass sein Sohn geerbt hatte, gegelt. In der Hand hielt er eine einzelne, kleine Sonnenblume. Ihre Lieblingsblume.
«Ich hab gehört hier arbeitet eine zauberhafte Frau, die sich dringend eine Auszeit gönnen sollte», lächelte er und streckte ihr die Blume entgegen. «Da dachte ich mir, ich bezirze sie mal, damit sie diese Auszeit mit mir nimmt.»
Lachend nahm Ilenna die Blume entgegen und gab ihrem Mann einen Kuss. «Meine Praktikantin ist leider schon fort, aber ich würde dieses Angebot auch nicht ausschlagen.» Sie zwinkerte dem adretten Mann zu und dieser bot ihr grinsend seinen Arm an, in dem sie sich augenblicklich unterhakte.
«Wohin soll es denn gehen?», erkundigte sich Ilenna, als sie den Fahrstuhl betraten, um die 20 Stockwerke hinunter zu fahren.
«Ins Roses.» Seine Stimme klang warm, was sie erneut zum Lächeln brachte, genauso wie die Tatsache, dass er sie ins Roses entführt. Das Restaurant, in dem sie ihr aller erstes Date hatten. Es war keiner dieser Nobelschuppen der Stadt, in der sie oder er mit ihren Arbeitskollegen- und Kunden essen gingen. Einfach nur ein süßes, kleines Gebäude mit gerade einmal zehn Tischen. Schlicht und einfach. So wie sie es damals waren.
Die Straßen waren dreckig. Überall stank es nach Abgasen, Fritteusenfett und Exkrementen. Ein paar Ratten nagten an Resten, die aus einer Mülltonne im Hinterhof eines Geldwäscherimbiss' gefallen waren. Ein paar Gassen weiter stritten sich zwei Obdachlose um ein verschimmeltes Brot. Der eine rammte den Kopf des anderen gegen die Hauswand, bis Blut aus einer Platzwunde sickerte und der Mann reglos zu Boden sackte. Den anderen Penner interessierte das gar nicht. Er hatte sein Brot, das war alles was er brauchte.
Auf der Hauptstraße fuhr ein Polizeiauto mit schallender Sirene und Blaulicht vorbei. Vollkommen verschwendete Lebensmühe. In Dungow gab es ganz eigene Gesetze und eigene Ansichten von Gerechtigkeit. Die Polizei konnte da nur wenig ausrichten. Meistens schalteten sie Blaulicht und Sirenen nur an, damit sich die unschuldigen Bürger, die hier leben mussten, etwas sicherer fühlten. Nicht alle suchten sich freiwillig aus, hier zu leben. Viel zu gefährlich und dreckig.
Aber die Mieten waren günstig, auch wenn sich trotzdem nicht jeder eine eigene Wohnung leisten konnte. In der Gegend um Dungow gab es außerdem einen Trailerpark. Dort verirrten sich die hin, die zu wenig für die Mieten hatten, aber sich Mühe gaben, um nicht direkt auf der Straße leben zu müssen. Dort gab es eine Nachbarschaftswache. Alle passten gegenseitig auf sich auf, damit niemand im Schlaf in seinem Wohnwagen erstochen wird. Trotzdem kam es schon vor, aber wenigstens sorgte man sich im Trailerpark noch umeinander. Manchmal.
Obwohl sie gelernt hatte, in Dungow zu leben und damit umzugehen, war Maya immer wieder froh, wenn sie das Viertel verlassen konnte. Um Nahrung zu besorgen, Jobs zu erledigen oder einfach nur zum Kopf frei kriegen. Eigentlich nutzte sie jede Chance, um mal wo anders zu sein. Dieses Mal war es die Nahrung, die sie aus dem Viertel trieb. Diese besorgte sie gerne in Perthburgh, dem Zentrum der Stadt. In der Food Street, wie alle Highcotter sie umgangssprachlich nannten, reihten sich Restaurant an Imbiss an Dönerbude. Und mehr als genug von ihnen schmissen tagtäglich vollkommen frische Nahrung weg. Gut für Maya und ihresgleichen. Lieber ernährte sie sich aus der Mülltonne als zu verhungern.
«Gehst du was zu futtern besorgen?» Maya drehte sich herum. Hinter ihr stand der kleine Kevin aus dem Wohnwagen von nebenan. Zur Antwort nickte sie stumm. «Darf ich mitkommen?» Maya schüttelte den Kopf.
«Ich gehe alleine», verkündete sie grob. Kevin war ein süßer kleiner Junge von zehn Jahren und auch er musste lernen, mit der Situation auf der Straße umzugehen. Aber nicht heute und eigentlich auch nicht mit ihr. Rückblickend hatte sie viel zu viele schlechte Erfahrungen gemacht wenn sie jemanden auf Beutezug mitgenommen hatte. Sie wurden erwischt, gingen im Endeffekt leer aus oder sie musste sich darum kümmern, ihrem Lehrling aus der Patsche zu helfen. Deshalb machte sie das nicht mehr. Seit einigen Jahren schon.
Schmollend blickte Kevin sie an. Er erntete jedes Mal eine Absage von Maya, versuchte es dennoch immer wieder.
«Ich bringe dir etwas mit, okay?», seufzte sie. Wenn er sie so ansah, wurde ihr Herz viel zu weich. Sie musste schon genügend Essen für sich und ihre Mutter auftreiben. Ein weiteres Maul zu stopfen bedeutete mehr Mühe und Zeit, aber sie konnte Kevin doch nicht verhungern lassen, bloß weil seine Eltern ihr Geld lieber für Kokain ausgaben. Nein, das konnte sie ihm nicht antun. Ihre Mutter war genauso eine Frau.
Steckte ihr ganzes Geld lieber in Heroin, statt in das Überleben ihrer Familie. Hätte Maya damals nicht der große Nachbarsjunge geholfen und etwas mitgebracht, wäre sie vielleicht gar nicht mehr hier. Wer weiß das schon. Und jetzt konnte sie sich dafür revanchieren. Nicht mehr bei dem großen Jungen, der war einer Schießerei zum Opfer gefallen. Aber Kevin war ihre Chance, es wieder gut zu machen. Deshalb brachte sie ihm eigentlich immer etwas mit. So wie sie es auch heute tun würde.
Jubelnd fiel der kleine Kevin ihr um die Hüfte und drückte sie. Für sein Alter war er viel zu klein und viel zu dünn.
Unbeholfen tätschelte Maya seinen Kopf und schob ihn wieder von sich fort.
«Bis später», verabschiedete sie sich, bevor sie sich ihre Tasche schnappte und nach Perthburgh aufbrach.
«Ausweis bitte.» Irgendwie stolz holte Gus seinen Ausweis aus dem Portemonnaie, als die Kassiererin ihn und das Bier auf dem Band misstrauisch musterte. Immer wieder blickte die Verkäuferin vom Ausweis auf und zu Gus hinüber. Das ließ seinen Stolz etwas sinken.
«Na gut», meinte die Verkäuferin schließlich, reichte ihm seinen Ausweis zurück und zog das Bier über den Scanner. So schnell er konnte, packte Gus das Bier in seinen Rucksack und verschwand nach draußen, nachdem er bezahlt hatte. Draußen wartete bereits sein Fahrrad auf ihn. Seine Eltern waren heute ihren Hochzeitstag feiern, deshalb konnte Jakobo ihn nicht fahren. Aber das fand Gus nur halb so schlimm. Er fuhr sowieso lieber mit dem Fahrrad und bald würde er auch alt genug sein, selbst seinen Führerschein zu machen.
Bestimmt würden seine Eltern ihm zum 18. Geburtstag einen super coolen Wagen schenken. Aber nicht nur irgendeinen, denn Gus würde ihn sicher selbst aussuchen dürfen und er wusste auch schon genau, was für einen er wollte. Einen dunkelgrünen Bentley Continental GT. Seit er dieses Auto das erste Mal auf der Straße gesehen hatte, wollte er so einen Wagen haben und seine Eltern haben versprochen, wenn er einen ordentlichen Abschluss macht, bekäme er den Wagen zum 18. Geburtstag.
In der Tat hatte Gus dieser Deal angespornt, denn obwohl er nie ein schlechter, sondern eher ein durchschnittlicher Schüler der Clayton High war, hat er es doch geschafft, seine Noten auszubauen und einer der fünfzehn besten Schüler seines Jahrgangs zu werden. Er war Nummer 15 von 42. Das hatte der letzte Notenaushang vor den Sommerferien an der Schule verkündet.
«Hi Gus.» Das war Bethany, an deren Haus er gerade vorbei fuhr. Seine Ex-Freundin. Im neunten Schuljahr waren sie ein Pärchen und obwohl sie Schluss gemacht hatten, waren sie Freunde geblieben. Das ging viel einfacher als gedacht, denn als Gus Schluss machen wollte, wollte auch Bethany mit ihm reden. Aus dem selben Grund. Als sie das feststellten, hatten sie nur gelacht und beschlossen, Freunde zu bleiben. Und es klappte.
«Hey Beth», grüßte er zurück und winkte ihr vom Fahrrad aus zu.
«Wie gut, dass ich dich sehe. Dann kann ich dir deine Einladung jetzt schon geben.»
Gus hielt an und stellte die Beine auf den Boden, damit er nicht vom Rad viel. Bethany streckte ihm einen Einladungskarte entgegen, auf der in pinken Buchstaben SWEET 16 stand.
«Die kommen gerade frisch gedruckt aus der Post. Ich wollte sie morgen in der Schule verteilen, aber wenn ich dich gerade schon mal sehe.» Sie lächelte ihn an und schob sich eine dunkle Strähne hinter das Ohr. Dadurch kam ein rosafarbener Blumenohrring zum Vorschein, den sie immer trug, jeden Tag. Ihr Vater hatte ihr die Ohrringe zum 14. Geburtstag geschenkt. Das einzige Mal, dass er ihren Geburtstag nicht vor lauter Arbeitsstress vergessen hatte.
«Danke.»
«Bist du gerade auf dem Weg zu Eric und Bill?» Gus nickte. Sein Ziel war ziemlich offensichtlich, denn Bethany wohnte nur drei Häuser von Eric entfernt. «Kannst du ihnen dann die hier mitbringen? Das wäre total lieb von dir.»
«Klar, kein Problem.»
Gus steckte alle drei Einladungen ein und radelte weiter, vorbei an den nächsten Häusern, bis er vor Erics ankam.
Die Stimmen seiner Freunde drangen schon an der Haustür zu ihm vor. Sie schienen bereits im Garten zu sein, deshalb schlug Gus den Weg direkt dorthin ein.
«Gus!», rief Bill der bereits neben Eric im Jacuzzi saß. Gus nahm den Rucksack vom Rücken und packte das Bier aus.
«Trinkpause», grinste er und wedelte mit einer Dose.
«Mach dich nackig und setz dich zu uns», rief Eric und klopfte neben sich, sodass ein paar Tropfen Wasser hinaus spritzten. Kurz darauf stand Gus in Badeshorts da und gesellte sich mit drei Dosen Bier dazu, die er auf jeden verteilte.
«Du hast das Wort nackig noch nicht ganz verstanden, oder?», grinste Eric und stand auf. Splitterfasernackt kam sein Körper zum Vorschein, je weiter er aus dem Wasser stieg. Sofort drehte Gus seinen Kopf weg.
«Ich bin blind!», rief er lachend. «Echt Eric, es gibt Dinge, die will man von seinen Freunden nicht sehen. Setz dich wieder hin.»
Es platschte neben ihm, was bedeutete, dass Eric sich wieder gesetzt hatte. Seine zwei Freunde lachten und öffneten ihre Dosen. Nachdem sie gemeinsam angestoßen hatten, erzählte Gus von Bethanys Party. Bethanys Partys waren ziemlich beliebt in der Clayton High. Jeder wollte eine Einladung und manche definierten sogar cool und uncool danach, wer eingeladen war und wer nicht. Gus selbst hatte nie jemanden danach definiert. Natürlich ging er gerne auf Beth’s Partys und freute sich jedes Mal eingeladen zu sein, aber nicht weil er daran seinen Status ausmachte.
Ursprünglich hatte Bethanys große Schwester Elizabeth diese legendären Partys geschmissen. Da diese jedoch vor einem Jahr ihren Abschluss an der Clayton High gemacht hatte, war Beth in ihre Fußstapfen getreten und das sehr erfolgreich. Auf Beth’s erster eigener Party war sie auch mit Gus zusammen gekommen. Erst hatten sie nur harmlos geknutscht und am Ende der Nacht waren sie ein Pärchen. So schnell kann es manchmal gehen. Und so schnell geht es auch wieder vorbei.
Im PPD, dem Perthburgh Police Department, dass sich im Stadtzentrum befand, herrschte allgemeine Aufbruchsstimmung. Die meisten der Kollegen hatten Feierabend und würden sich nun nach Hause zu ihren Familien oder Fernsehern begeben. Detective Philipp Tyrel hingegen gehörte zu den Kollegen, deren Schicht jetzt erst begann.
Sein Schreibtisch machte einen recht chaotischen Eindruck. Ein paar Stapel Papiere mit Notizen zu seinen letzten Fällen, sowohl abgeschlossen als auch offen und ein paar Personalienaufnahmen von der vergangenen Nacht von pöbelnden oder betrunkenen Passanten, die er hatte übernehmen müssen. Vor der Tastatur stand ein halb voller Kaffeebecher dessen Inhalt ungenießbar kalt geworden war. Er stand bereits seit dem Vortag da. Oder noch länger? Vielleicht war auch die zweite Tasse, die am Lautsprecher stand, die ältere.
Als Phil das Passwort in seinen Computer eingeben wollte, verweigerte dieser ihm den Zugriff. Benutzername und Passwort stimmten nicht überein. Wie fast jeden Tag, das kannte er schon. Erneut gab er es ein und hämmerte dabei auf den Buchstaben T ein. Der klemmte manchmal, denn irgendwo darunter steckte ein Kekskrümel, der die Funktion des Buchstaben behinderte. Ganz ähnlich sah es mit dem X aus, aber das brauchte er zum Glück nicht so oft.
Eigentlich wäre es ganz einfach die Buchstaben herauszunehmen, um die Tastatur zu säubern. Das dauerte nur wenige Minuten, aber die hatte er meistens nicht. Denn kaum, dass er auf dem Revier eintraf, stand immer irgendetwas an. Akten abarbeiten, Überraschungsparty für einen Kollegen, Quests und Wetten unter Kollegen, betrunkene und pöbelnde Passanten, die es zu beruhigen galt und manchmal gab es sogar einen Überfall oder Mord. Phil ist eigentlich zuständig für die großen Delikte, wie Mord, Korruption und Überfälle. Da er jedoch hin und wieder etwas zu bequem oder langsam war, wurde er regelmäßig suspendiert und strafversetzt. Das schmeckte ihm nicht, er hatte lieber Action bei der Arbeit, aber er musste zugeben, dass er sich das jedes Mal selbst zuschulden hat kommen lassen. Jedoch hatte er sich geschworen, die nächste Chance, die sich ihm bieten würde, beim Kragen zu packen und nicht zu vermasseln. Das nächste Mal würde er ganz sicher wieder überzeugen und in seinem Dienst bleiben können. Er musste einfach überzeugen, denn seine Chefin Chief Amande McLloyd hatte ihm ausdrücklich klar gemacht, dass es die letzte sein würde. Ansonsten werde er für immer für Papierkram, Parkvergehen und Betrunkene zuständig sein.
Die Ausbeute in der Food Street an diesem Abend war nicht so befriedigend, wie an anderen Tagen. Die Reste waren teilweise gar nicht zu gebrauchen, nur einen halben Laib Brot und ein paar Äpfel hatte Maya abstauben können. Natürlich war das besser als nichts, drei Mäuler davon zu stopfen würde allerdings schwierig werden. Maya zumindest hatte bisher kaum etwas gegessen und ihr Magen randalierte mittlerweile unerträglich stark. So sehr, dass einer ihrer Äpfel schon wieder verspeist war, als sie die Food Street in Perthburgh wieder verließ und die andere Straßenseite ansteuerte, auf der Aberness begann.
Überall blinkten ihr Großstadtlichter entgegen, bestehend aus leuchtenden Werbetafeln, die alle paar Sekunden ihre Farben wechselten, Laternen, erleuchteten Restaurants, Shisha Bars und Clubs. Jeder Zebrastreifen war links und rechts gesäumt von bläulichen Lichtern, damit die überquerenden Fußgänger schneller von den Auto- und Fahrradfahrern gesehen wurden. Maya kniff die Augen zusammen, als sie in einer dieser Lichter hinein sah. Dadurch wäre sie fast mit einem Radfahrer kollidiert, der ihr auf dem Zebrastreifen entgegen kam, dieser konnte jedoch noch rechtzeitig fluchend ausweichen. Daher kümmerte sich Maya auch nicht weiter um den Mann. Stattdessen erregte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit, etwas weiter die Straße hoch. Für die meisten Menschen kaum sichtbar, standen dort zwei dunkle Gestalten in einer dunklen Nische zwischen zwei Häusern. Sie standen tuschelnd einander zugewandt und kurz meinte sie sich einzubilden, eine schwaches, rot flackerndes Leuchten zwischen ihnen zu sehen. Allerdings war dies auch genauso schnell weg, wie es gekommen war. Nur eine Zigarette womöglich. Die beiden Gestalten sahen sich kurz um, zogen ihre Kapuzen auf und liefen zielstrebig los, auf die andere Straßenseite, die zu Perthburgh gehört. Eigentlich wären Maya diese Typen egal gewesen und sie wäre weiter auf Beutezug gegangen. Furchtbar merkwürdig fand sie es jedoch, als einer der beiden Männer sich noch einmal umgedreht hatte und sie kein Gesicht unter der Kapuze erkennen konnte. Kein Schatten, der es bloß verbarg. Nein, das Gesicht war einfach nicht vorhanden. Den Griebs ihres Apfels fortwerfend, machte sie sich auf der Aberness Seite auf leisen Sohlen hinter den Typen her. Hoffend, dass ihr die Schatten des Abends doch nur einen Streich gespielt hatten.
Bis auf die Angestellten des Lokals und zwei hübsch gekleidete, turtelnde Gäste, war das Roses, das genau auf der Grenze zwischen Perthburgh und Aberness lag, komplett leer. Jakobo hatte dafür ein paar Extrascheine hingelegt, um mit seiner geliebten Frau den Abend komplett alleine zu verbringen und diese hatte ihre Aufpasser in den Feierabend geschickt, um alleine mit ihrem Mann zu sein.
Neben den Angestellten, die rundum für ihr Wohl sorgten, war außerdem noch ein Pianospieler vor Ort, der in einer Ecke an einem kleinen, alten Klavier saß, das nur selten gespielt wurde. Nur für diesen Abend wurde es mal wieder gestimmt. Ilenna und Jakobo hatten es immer schade gefunden, dass das Instrument zwar ihr Lieblingslokal zierte, jedoch nie gespielt wurde, wenn sie einmal her kamen. Deshalb hatte Jakobo heute Abend dafür gesorgt und Ilenna freute sich ungemein darüber. Gerade lief I’ll be seing you von Billy Holiday im Hintergrund, das stimmte sie ganz romantisch.
«Auf uns und unsere volljährige Ehe», lächelte Jakobo, als er ein Glas mit Rotwein erhob. Ganz verliebt blickte er seine Frau an, der das erste Glas Wein ein wenig Röte ins Gesicht gezaubert hatte. «Und auf mich Glückspilz, dass er jemanden wie dich gefunden hat, du wunderschöne Holde, du!»
Ilenna kicherte etwas mädchenhaft und ließ ihr Glas mit einem etwas starken Pling gegen seines klirren.
«Auf den zauberhaftesten Mann der Welt und dass ich bald endlich seinen Vater kennenlernen werde. Hihi, da fühlt man sich gleich nochmal wie ein Teenager. Die große Aufregung, endlich die Eltern des Geliebten kennen zu lernen.»
Jakobo lachte etwas, bevor sie beide von ihren Gläsern nippten und dem Kellner gleich darauf Platz machten, damit er ihnen den Nachtisch hinstellen konnte. Mousse au Chocolat. Wie sie es jedes Mal zum Dessert aßen, wenn sie hier waren. Schon seit dem ersten Date.
«Erzähl mir was von deinen Eltern», forderte Ilenna ihren Mann lächelnd auf. Bisher hatte er mit Informationen über diese und seine Kindheit hinter dem Berg gehalten. Vielleicht aber würde er ihrer Bitte jetzt nachkommen. Über ihre Eltern wusste er bereits alles, bevor sie bei einem Flugunfall starben. Ihre Eltern hatten Jakobo geliebt wie einen eigenen Sohn. Auch wenn sie zunächst etwas skeptisch gewesen waren, da Jakobo damals noch keine Ahnung hatte, welche berufliche Richtung er einmal einschlagen möchte, doch diese Skepsis war recht schnell verflogen.
«Sie sind zauberhaft, alle beide. Meine Mum war eine Mutter wie aus dem Bilderbuch. Immer fröhlich gelaunt, immer für ihren einzigen Sohn da und sie hat gekocht wie eine Göttin. Mein Dad ist-»
Jakobo brach ab, als sich die Tür zum Lokal öffnete. Normalerweise nichts Ungewöhnliches, wodurch man sich beirren lassen sollte. Da er allerdings dieses Restaurant speziell für sie beide heute gemietet hatte, war es für ihn durchaus ein Grund sich umzudrehen und neugierig zur Tür zu sehen. Wie konnte sie sich öffnen? Sie wurde doch extra verschlossen damit niemand ihren bedeutsamen Abend störte. Ein Blick zum Personal verriet Jakobo, dass diese ebenso irritiert waren und einer der Kellner schaute entschuldigend.
«Entschuldigen Sie, meine Herren, dies hier ist eine geschlossene Veran-» Der Kellner war auf die beiden Männer in Kapuzen zugelaufen und hatte abrupt abgebrochen, als er in ihre Gesichter blickte. Oder besser gesagt, in finstere, leere Kapuzen. Diese Männer hatten keine Gesichter!
Der Hunger plagte Maya so sehr, dass sie bereits begonnen hatte, etwas vom Brot zu essen. Vielleicht fand sie auf ihrer Verfolgungsjagd noch etwas Essbares. Die Food Street war zwar zu Ende, aber auch Aberness hatte einige Restaurants zu bieten, nur etwas nobler. Das hier ist die Gegend, in der die Geschäftsleute sich zum Mittag treffen, Deals abschließen und abends gemeinsam oder mit ihrem Partner ausgehen. Manchmal versuchte sie auch hier etwas zu klauen, allerdings war dort die Gefahr, erwischt zu werden und vor allem Ärger zu bekommen, größer als in der Food Street in Perthburgh. Dafür war das Essen einfach besser. Und wenn sie schon einmal da war, dann könnte sie ja gleich einmal Ausschau halten.
Allerdings würde das schwierig werden, wenn sie diese merkwürdigen, gesichtslosen Männer verfolgen wollte. Diese waren nämlich reichlich schnell unterwegs, Maya konnte kaum Schritt halten mit ihren kurzen Beinen. Für ihre 19 Jahre war sie recht klein geraten. Auf gerade einmal 1,60 kam sie, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, weshalb sie auch oft für ein Kind gehalten wurde. Das hatte jedoch oft mehr Vor- als Nachteile.
Beinahe wäre Maya vor eine Tür gelaufen, die ein Kellner gerade öffnete. «Wow!», rief sie erschrocken aus und konnte noch rechtzeitig ausweichen.