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Hollys Clique hat ja schon genug Probleme mit der fiesen Emily. Aber dann kommt zu Schuljahresbeginn auch noch ein neuer Schüler an das Georg-Dreistein-Internat. Justus Winterbottom: Reich, schnöselig, arrogant, ignorant, leider aber sehr gut aussehend. Irgendwie schafft es Holly zwar, den harten Brocken zu knacken, aber Emily, die Gefallen an Justus gefunden hat, lässt das leider nur ungern auf sich sitzen. Während am Internat außerdem Verkupplungsaktionen gestartet und Partys veranstaltet werden, gründen Holly und ihre Mädels den Club der toten Gerüchte: Einen Blog über die neusten Geschehnisse am Internat. Doch dieser Blog hat nicht nur seine guten Seiten.
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Seitenzahl: 328
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Rapunzel und der Club der toten Gerüchte
Der Neue
Arme, arme Emily
Der Club der toten Gerüchte
Der Club nimmt seinen Lauf
Von Schreibtischen, Aktenschränken und Toiletten
Halloween
Von Ballköniginnen und Ballkönigen
Der Weihnachtsball
Ein Geheimnis
Prüfungszeit ist Julizeit
Wenn's kommt, dann Dicke
Ende gut, alles gut...?
Epilog
Danksagung
Impressum
von
Lisa Darling
„Ruhe jetzt bitte! Wir wollen mit dem Unterricht beginnen. Außerdem möchte ich euch noch einen neuen Mitschüler vorstellen.“ Herr Munter, der Englischlehrer, blickte zur Tür des Klassenzimmers, die er beim Hereinkommen nicht geschlossen hatte. „Kommst du bitte rein?“ Alle Köpfe wanderten zur Tür, wo kurz darauf ein Blondschopf erschien und das Klassenzimmer betrat. Das war der Moment, in dem ich ihn das erste Mal sah. Ein Meter achtzig groß, dunkelblondes Haar von vereinzelten natürlich geblichenen Strähnen durchzogen, tief-grüne, leuchtende Augen und ein Blick, der einem bis ins Herz vorstößt. Meine Kinnlade war herunter geklappt und meine Haut machte den Gänsen vom Bauernhof nebenan tierische Konkurrenz. Er sah umwerfend aus und ich war verliebt bis über beide Ohren.
„Mund zu“, zischte eine Stimme neben mir. Ich konnte den Blick nicht von dem Blonden Kerl abwenden, aber die Stimme identifizierte ich als die meiner Freundin Paula. Sie klang leicht amüsiert.
„Das ist Justus Winterbottom. Justus, stell dich doch bitte kurz deiner neuen Klasse vor.“, forderte Herr Munter den Neuen auf und ich konnte es kaum abwarten, seine Stimme zu hören.
Missmutig warf er einen Blick durch den Raum. Er vermittelte das Gefühl, dass er jeden von oben herab betrachtete. Eigentlich fand ich so was total unsympathisch, auch wenn ich selbst manchmal ein bisschen so war. Aber er sah einfach zu gut aus, als dass man ihn deshalb verachten könnte. Ich weiß, dass das total bescheuert und oberflächlich klingt. Aber in diesem Moment empfand ich das so.
„Justus“, begann er gelangweilt. Wahnsinns Stimme. So tief. Und irgendwie elegant. „Siebzehn.“, fuhr er fort und ich lächelte verzückt. „Und ich hab keinen Bock auf euch. Versucht‘s also gar nicht erst.“ Da entglitten mir dann doch ein wenig die Gesichtszüge. Doch irgendwie konnte ich ihn verstehen. Er war neu und erst recht spät zu uns gestoßen. Erst in der zehnten Klasse. Und dann auch noch drei Wochen nach Schulbeginn. Sicher dachte er, er würde es schwer haben. Doch er kannte uns ja noch nicht. Wir würden ihn herzlich aufnehmen und im Handumdrehen würde sich seine Meinung ändern. Da war ich mir sicher.
„Gut, ehm. Dann... setz dich mal bitte neben Emily. Da ist noch Platz.“ Herr Munter wirkte etwas verwirrt, ob Justus' Aussage zuvor, dennoch blieb er freundlich. Ohne den genervten Blick zu verändern, schlurfte Justus auf den Platz neben Emily, die ihn verzückt anlächelte, wie ich aus den Augenwinkeln erkennen konnte. Ausgerechnet neben Emily! Meine Erzfeindin. Ich hasse sie! Und sie hasst mich. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns jemals verstanden hätten, seit ich an dieser Schule war. Und ich war hier schon seit vier Jahren! Wie sie ihn anlächelte, da kamen mir die Kotzebröckelchen hoch. So einfach würde ich es der nicht machen. Und wenn Justus etwas Grips besaß, würde er auch schnell merken, was für eine durchtrieben Schlange dieses Miststück war.
Gewiss hatte er sehr viel Grips. Er sah schon intelligent aus. Außerdem beruhigte es mich sofort, als ich mitbekam, wie er seinen Stuhl ein wenig von ihr weg rückte und ihr die kalte Schulter zeigte. Na bitte. Das ist doch ein guter Anfang.
„Was für eine Schnitte.“, murmelte ich Paula zu, die mir sofort zu stimmte.
„Ja, sieht sehr gut aus. Wirkt aber ehrlich gesagt ein bisschen arrogant.“ Paula war sehr ehrlich. Aber immerhin hatte sie ja recht.
„Ja, aber das macht sicher nur die Nervosität, weil er neu ist. Sicher hat er Angst, dass wir ihn nicht aufnehmen wollen.“, verteidigte ich ihn dennoch. Er sah so gut aus!
„Na ja, nervös sieht der nicht gerade aus.“ Paulas Blick wanderte hinüber zu Justus und meiner folgte ihrem. Er hatte den rechten Fuß über das linke Bein gelegt und spielte unterm Tisch mit seinem Smartphone. Handys waren hier eigentlich absolut tabu. Herr Munter war da zum Glück nicht ganz so streng, aber wenn Justus das bei der ollen Strick-Langer machen würde, wäre sein Handy schneller weg, als er Apple sagen könnte. Wie er da saß. So lässig. Irgendwie sexy. Meine Zunge wanderte über meine Oberlippe, während ich ihn beobachtete und ich malte mir aus, wie er mich gegen eine Wand in einer dunklen Ecke unseres Internats drücken und sehnsüchtig küssen würde. Oh ja, wenn es so weit war, dann würde ich das glücklichste Mädchen auf Erden sein.
„Holly.“, störte eine Stimme meine euphorischen Phantasien. Daniel Munter. Er musste mich beobachtet haben, denn als ich ihn fragend anblickte, lag ein amüsierter Blick in seinem Gesicht.
„Could you stop licking your lips, please and come to the board?“ Augenblicklich lief ich hochrot an. So ein Idiot! Er war ein verdammt netter Lehrer und für sein Alter auch noch recht attraktiv. Jeder hier mochte ihn. Aber er verarschte und ärgerte eben auch gerne mal seine Schüler. Wie gut, dass er es war. Er war der einzige Lehrer, dem ich so etwas durchgehen ließ. Dennoch war es peinlich, so dass die Röte in meinem Gesicht anhielt. Vor allem als die ganze Klasse kicherte. Kurz wanderte mein Blick zu Justus, doch das war der einzige, der es scheinbar nicht mitbekommen hatte. Er tippe noch immer auf seinem Smartphone herum. Nur Emily kicherte nicht, sondern warf mir einen verächtlichen Blick zu. Was anderes hätte ich aber auch nicht von ihr erwartet. Ich stand also auf und ergab mich meinem Schicksal. Zum Glück konnte ich Englisch halbwegs gut. Damit ersparte ich mir eine weitere Blamage.
Später nach dem Unterricht saß ich mit meiner Mädchen-Clique im Wohnzimmer, um Hausaufgaben zu machen. Das Internat war unterteilt in einen Mädchen- und einen Jungenflügel. Beide Flügel hatten je einen Gemeinschaftsraum. Unseren hatten wir liebevoll Wohnzimmer getauft, da wir ihn so gemütlich gestaltet hatten, als wären wir daheim. Ein bisschen Heimat musste man sich hier einfach her holen, um nicht zu vereinsamen. Die Sofakissen hatten wir mit unseren selbst genähten Kissenbezügen aus dem Handarbeitsunterricht überzogen, den Kaminsims hatten wir mit Fotos von allen Mädchen und einigen Jungen dieser Schule bestückt, eine Wand war tapeziert mit Postkarten, auf denen lustige Sprüche standen und wir hatten Fußhocker gekauft, um unsere Beine ausstrecken zu können, wenn wir auf dem Sofa saßen.
„Sowas von eingebildet!“, ertönte Julis Stimme. „Und ich hab keinen Bock auf euch. Versuchts also gar nicht erst.“, äffte sie Justus nach.
„Ja und habt ihr diesen Blick gesehen? Als wäre es was Besseres! Uh, ich bin so geil und ihr seid so scheiße.“, fiel Resa mit ein. Die anderen Mädels nickten ihr voller Bestätigung zu.
Julika und Theresa waren Zwillinge. Sie gingen schon seit ihrem elften Lebensjahr auf dieses Internat. Irgendwie ersetzte es ihr zu Hause. Ihre Eltern waren Geschäftsleute und hatten daheim nie Zeit für ihre Kinder. Deshalb waren sie hier gelandet. Das war einer der Hauptgründe der meisten Schüler hier. Die Eltern hatten keine Zeit. Die beiden gingen damit aber sehr gut um. Obwohl sie sich im Gesicht glichen, wie ein Ei dem anderen, waren sie doch vollkommen unterschiedliche Typen. Julika, von allen nur Juli genannt, war die Modeexpertin unter uns und hatte letztes Jahr ihr naturblondes Haar in brünett gefärbt und sich einen Bubischnitt verpassen lassen, damit sie endlich nicht mehr so sehr nach ihrer Schwester aussah. Juli wusste immer, was gerade in Mailand in war und welcher Trend dazu tendierte, der Trend des kommenden Jahres zu werden. Außerdem wusste sie immer, was wo geht. Sei es bei den Promis oder hier in der Schule. Nicht verzagen, Juli fragen! Einen Freund hatte sie nicht, obwohl sie hier jeden haben könnte. Sie war verdammt hübsch und beliebt bei den Kerlen hier. Aber Juli wollte keinen von denen. Juli wollte einzig und allein Matthias Schweighöfer. Auf ihr Hausaufgabenheft hatte sie statt ihrem richtigen Namen sogar „Juli Schweighöfer“ drauf geschrieben. Resa hingegen lebte sehr auf dem Boden der Tatsachen. Sie wurde seit einiger Zeit nicht mehr mit Schwärmereien und Liebesbriefen umschmeichelt, denn seit mittlerweile einem Jahr, war sie fest mit Tim zusammen. Einer aus der Oberstufe. Resa war außerdem die beste unseres gesamten Jahrgangs. Ihr fiel zwar vieles zu, dennoch lernte sie noch sehr viel, vor allem vieles an Allgemeinwissen. Deshalb war sie auch so schlau. Das war sehr gut, denn Resa hatte auch immer einen Plan parat. Wenn wir mal Rache an Emily planten und nicht alles lief, wie vorgesehen, dann wusste Resa immer einen Ausweg. Außerdem war sie nebenbei noch bei der Schülerzeitung. Seit diesem Jahr sogar Chefredakteurin. Dank Juli hatte sie auch immer ein Thema zum Schreiben. Quasi ihre geheime Informantin. Juli war aber nicht nur eine geheime Quelle für Klatsch und Tratsch, sondern auch für Spicker aller Art. Sie war hier nämlich die Meisterspickerin. Wie ihre Schwester, war auch sie recht intelligent und sie musste kaum lernen. Was sie auch nicht tat. Sie konzentrierte sich lieber auf das Spicken. Meist ging es ihr jedoch nur um den Nervenkitzel, nicht um das Spicken selbst. Sie würde es auch locker ohne schaffen. Mittlerweile hatte sie sich daher auch eher auf die Spicker-Vermittlung beschränkt, als auf die Nutzung. Außerdem verdiente sie damit nebenbei ein bisschen Geld, um sich ihre Reisen zu Premieren von Matthias Schweighöfer finanzieren zu können.
„Unsere Holly scheint sich allerdings ganz schön in ihn verguckt zu haben.“, warf Paula in den Raum und meine vier Freundinnen schauten mich mit hoch gezogenen Augenbrauen an.
„Nicht dein Ernst?“, fragte Marta ungläubig.
„Hallo? Habt ihr euch den überhaupt mal richtig angeschaut?“ Ich war total entsetzt. Denen musste seine unglaubliche Schönheit entgangen sein. „Habt ihr ihm mal in die Augen gesehen? Dieser Blick, ja? Der hat mein Herz zum schmelzen gebracht. Schmel-zen!“ Ich atmete ruppig aus und blickte in die Runde. Verständnislose Gesichter.
„Kann man das heilen?“, fragte Paula Resa. Diese tat so, als würde sie in ihrem Buch danach suchen.
„Hm, ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, ich habe schon mal was von diesem Phänomen gelesen, aber soweit ich mich erinnere, soll das nur schwer heilbar sein.“ Die Mädchen kicherten. Ich verdrehte meine Augen.
„Ihr habt einfach nur keinen Geschmack.“
„Doch!“, erklärte Paula sofort. Ja, gut. Paula hatte Geschmack. Sie hatte zwar ständig einen anderen Kerl an der Seite, aber jeder einzelne von ihnen hatte bisher gut ausgesehen und war cool drauf gewesen. Ich war ja fest der Überzeugung, dass es an ihren dunkelrot gefärbten Haaren lag, dass so viele Kerle auf sie flogen. „Justus sieht zwar gut aus, sehr gut muss ich zugeben, aber das blendet bloß. Du hast doch seine Worte gehört. Und seinen Tonfall und diesen Blick dabei!“
„Aber ich sagte dir doch-“
„Ja, ja. Er hat Angst, nicht integriert zu werden. Bla, bla.“ Sie verdrehte die Augen.
„Ja, was? War doch bei Marta auch der Fall!“ Ich deutete auf sie und sie lächelte leicht. „Sie hatte auch Angst. Oder?“ Ich sah sie heraus fordernd an und sie nickte. „Seht ihr? Aber Marta hat es wenigstens versucht und nicht von vornherein abgeblockt. Und sie hat sich ja auch erfolgreich integriert. Weil wir ihr die Chance geboten haben. Und das sollten wir eben auch bei Justus tun. Ihm eine Chance geben. Kommt schon, Leute.“ Beinahe flehend schaute ich die vier an.
„Wenns sein muss.“, gab Juli schließlich nach. „Eine Chance kriegt er. Eine!“
„Drei.“, meinte ich hartnäckig. „Alle guten Dinge sind drei.“
„Okay, aber das ist die Schmerzgrenze!“
„Aye!“, grinste ich siegreich und widmete mich wieder meinen Hausaufgaben.
Am kommenden Tag startete ich also die Mission „Justus integrieren“.
Ich hielt ihm zu jeder Stunde die Tür ins Klassenzimmer auf und grüßte ihn freundlich. Er grüßte nicht zurück und würdigte mich keines Blickes. Ich bot ihm an, ihm das Gregor-Dreistein Internat zu zeigen (wir nannten es lieber GDI, war kürzer) und ihn in die Eigenheiten der Lehrer einzuweihen. Er lehnte ohne Dank ab. „Kein Interesse.“
Irgendwann kam ich auf die Idee, mich vielleicht erst mal vorzustellen und eine Unterhaltung anzufangen. Doch er ging nicht darauf ein. Er starrte gelangweilt vor sich hin und antwortete nicht. Schließlich bog er auf die Jungentoilette ab. Als ich ihn in der Pause in einer Ecke des Schulhofes bei Rauchen entdeckte, war ich so freundlich, ihm mitzuteilen, dass Rauchen hier nur den Volljährigen vorbehalten war und er vom Internat fliegen könnte, sollte er erwischt werden. Ein finsterer Seitenblick und ich schlurfte geknickt davon. Er war echt ein harter Brocken. Meine Freundinnen hatten mich zunächst nur skeptisch beobachtet, als sie aber bemerkten, dass ich es alleine nicht schaffte, griffen sie mir unter die Arme. Marta trug ihm seine Tasche hinterher, als er sie auf seinem Platz vergaß. Paula, die ebenfalls manchmal heimlich rauchte, bot ihm eine Zigarette an. Die hatte er zwar angenommen, aber ein Danke war nicht über seine Lippen gekommen. Resa erzählte ihm von der Schülerzeitung und fragte, ob er nicht Interesse daran hätte, mit zu schreiben. Er könne sich ein Ressort aussuchen. Keine Anteilnahme. Juli machte ihm Komplimente über sein Outfit und Haarstyling. Außerdem war ihr aufgefallen, dass seine Schultasche von Louis Vuitton war. Aber auch darauf kam keine Reaktion. Eine ganze Woche ging das so. Meine Mädels waren allesamt genervt und rieten mir die ganze Zeit, meine Mission aufzugeben und meine Energie nicht weiter an ihn zu verschwenden. Nur mir zu Liebe waren sie noch halbwegs nett zu ihm. Doch ich gab nicht auf. Eine Woche lang gab ich mein Bestes. Doch es war einfach kein Erfolg in Sicht. Mein einziger Trost in der Hinsicht war, dass auch Emily erfolglos blieb. Die hatte sich nämlich anscheinend die gleiche Aufgabe vorgenommen. Vielleicht nicht exakt die gleiche. Ich hatte immerhin vor, ihn bei uns mit einzuspannen und vielleicht auch ein bisschen mit ihm anzubandeln. Aber Emily – und da war ich mir hundert pro sicher – wollte ihn zu ihrem Lustknaben und Leibdiener machen. Wie gesagt, ich gab die Hoffnung an ihn nicht auf. Bis zu diesem einen Moment, wo er zu weit ging. Ich hatte ja einiges durchgehen lassen: Böse Blicke, gelangweilte Blicke, Wortlosigkeit, keine Danke schön, kein Lächeln, Ignoranz. Dann jedoch strapazierte er sogar meine Nerven über. Justus kam zu spät zum Chemieunterricht und kam ganz gechillt ins Labor gelaufen. Juli war ebenfalls zu spät, da sie nochmal ganz schnell auf Toilette gerannt war. Man sah sie nicht, aber man konnte ihre Stimme hören.
„Justus! Lass auf, ich komm auch noch!“ Bam! Er hatte sie gehört. Ganz klar hatte er sie gehört. Jeder hatte sie gehört! Doch er schmiss die Tür einfach hinter sich zu, Juli genau an die Nase. Ein dumpfes Geräusch war zu hören und gleich darauf ein Fluchen von draußen. Als die Tür aufging und meine Freundin herein kam, hatte sie die Hand an der Nase, beide voller von Blut. Nase und Hand. Finstere Blicke straften Justus, doch ihn schien das kalt zu lassen. Sofort kramte Resa eine Packung Taschentücher raus und reichte sie ihrer Schwester.
„Kopf in den Nacken legen. Vorsichtig! Tut's sehr weh?“
„Hmpf!“, war Julis dumpfe Antwort. Aber ihr Blick sagte alles. Schmerz und Hass. Das war der Moment, in dem ich das erste Mal ernsthaft sauer auf ihn gewesen war und meine Bemühungen um ihn einschränkte. Wenn er meine Freundinnen verletzt, geht er definitiv zu weit!
Der einzige Trost für uns an diesem Tag war, dass unsere Chemielehrerin, die gleichzeitig unsere Rektorin war, ihn für nach den Unterricht in ihr Büro bestellt hatte. Frau Jahn war eine sehr nette und nachsichtige Frau, allerdings hatte auch ihre Geduld und Gutmütigkeit Grenzen. Garantiert würde sie ihm ein wenig die Leviten lesen und ihn nachsitzen lassen. Denn ich war mir sicher, dass sie ihn nicht nur wegen dieser Sache sprechen wollte. Man munkelte, dass Lehrer sich über ihn beschwert hatten, da er keine Teilnahme am Unterrichtsgeschehen zeigte, bisher noch nie Hausaufgabe gemacht hatte und immer mit seinem Smartphone beschäftigt war, anstatt dem Unterricht zu folgen. Wie bereits geahnt, hatte Frau Strick-Langer es ihm natürlich gleich in ihrer ersten Stunde entwendet und weg gesperrt. Eine Woche Verbot. Doch zwei Stunden später saß er wieder mit einem Smartphone im Unterricht. Anscheinend hatte er zwei. Nachdem einen Tag später auch dieses von Frau Strick-Langer entwendet worden war, ging ihm zwar der Handy-Vorrat aus, allerdings wurde es danach von einem Tablet ersetzt. Wie dreist. Ich wartete nur noch darauf, dass er bald mit einem Notebook da saß.
Samstagnachmittag hockten wir fünf auf dem Dach des Hausmeisterschuppens. Das war unser Lieblingsort. Von hier aus konnte man zur einen Seite das Internatsanwesen betrachten, welches sich über uns präsentierte und auf der anderen Seite konnte man das gesamte Schulgeländer überblicken. Die Wiesen, Bänke und Tische an denen wir bei schönem Wetter zu Mittag aßen oder manchmal Hausaufgaben machten, den Sportplatz links vor dem Schloss und weiter hinten der große Wald, der sich weit ins Unermessliche streckte. Zwischen den Bäumen war ein Pfad zu sehen. Das war der einzige Weg von hier aus in die Stadt. Die Fahrkarte nach draußen so zu sagen. Doch die wenigstens nutzten sie. Klar, um in die Stadt zu kommen war es ein beliebter Weg, aber keiner hatte bisher versucht, von hier zu fliehen oder krampfhaft zu entkommen, denn es war wunderschön hier! Es gab sogar einen Supermarkt gleich um die Ecke. Die hatten nämlich festgestellt, dass wir eine super Kundschaft sind und die hier oben quasi eine Monopolstellung haben. Fünfhundert Meter weiter war auch noch eine kleine Neubausiedlung. Die Leute die dort wohnten, gingen ebenfalls alle in diesem Supermarkt einkaufen. Warum extra in die Stadt laufen, wenn es das Wichtigste hier oben gab? Abgesehen von Klamotten, Schuhen und Handtaschen.
„Ich hab gestern endlich mein Ticket bestellt!“, verkündete Juli überglücklich. Kurz musste ich überlegen, was für ein Ticket sie meinte, doch Paula verriet es schon.
„Für Matthias?“, fragte sie grinsend und Juli nickte verstrahlt.
„Fliegst du oder fährst du mit dem Zug?“, erkundigte sich Resa.
„Zug. Ist gar nicht so weit weg von hier. Da reicht der Zug aus. Ich bin echt so aufgeregt! Ich habe ihn schon seit... oh Gott, seit fast einem halben Jahr nicht mehr gesehen! Das erklärt auch, warum ich so viel Zucker brauche Zurzeit. Zum Kompensieren!“ Sie wedelte sich Luft zu und wir mussten lachen.
„Wisst ihr eigentlich schon, was ihr machen wollt, wenn wir hier alle fertig sind?“, warf Paula ein und schaute rüber zu den Bäumen. Eine Weile lang war es ruhig, nur Vogelgezwitscher war zu hören. Dann unterbrach Resa die Stille.
„Ich will danach studieren. Jura glaub ich. Oder Medizin. Kommt dann auch auf meinen Schnitt an und wo sie mich nehmen. Aber ich möchte auf jeden Fall später was machen, wo ich den Menschen helfen kann.“
„Oh, oh. Dann musst du aber beides auf einmal studieren!“, bemerkte Paula.
„Wieso?“
„Na bei deinem Durchschnitt nehmen die dich doch überall! Und wenn du dich dann nicht entscheiden kannst.“ Sie grinste. Resa zuckte lächelnd mit den Schultern.
„Ein bisschen hab ich ja noch Zeit zu überlegen. Dieses Jahr sind ja gerade mal die Zwischenprüfungen. Und was wollt ihr machen?“
„Ich glaub, ich studiere Journalismus oder so was. Zumindest will ich zur Presse. Oder zum Fernsehen! Dann kann ich Matthias so oft interviewen, wie ich möchte! Dann hätte ich auch eher eine Chance darauf, ihn zu heiraten. Schließlich hätte er mich ständig vor der Nase und da muss er sich ja dann einfach in mich verlieben!“
„Hat der nicht sogar schon eine Freundin? Oder sogar Frau?“, fragte ich grübelnd.
„Ist doch egal! Wenn er mich sieht, will er keine andere mehr!“ Juli winkte ab und wir lachten.
„Ich hab noch keine Ahnung.“, verkündete Paula schließlich und lehnte sich zurück, die Arme hinterm Kopf und den Blick gen Himmel gerichtet. „Vielleicht versuche ich es mal mit Schauspielern. Aber wahrscheinlich lande ich im Endeffekt in irgendeinem Bistro als Kellnerin. Oder als Barkeeperin in einem Nachtclub.“
„Geht mir ähnlich“, meinte ich. „Ich hab zwar die Hoffnung, nicht als Barkeeperin zu enden, aber ich habe auch keine Ahnung, was ich sonst will.“ Wir schwiegen eine Weile und jeder hing seinen Gedanken nach. „Und du, Marta?“, fragte ich schließlich, da sie so ruhig war, wie eh und je. Sie sprach generell sehr wenig. Das war schon so, seit ich sie kannte. Vor fast genau einem Jahr war sie neu hier gewesen. Wie jetzt Justus. Sie hatte jedoch nie auf sich aufmerksam gemacht, aber deutlich gezeigt, dass sie Anschluss suchte. Wir haben uns damals ihrer angenommen, da sie wirklich eine echt Liebe war und irgendwie brauchten wir wohl auch diesen Ruhepol zwischen uns. Sie war nun die Jüngste im Club. Vorher waren es Juli und Resa gewesen. Einen Nachteil hatte Martas Schweigsamkeit allerdings: Keiner wusste so recht, was sie gerade über gewisse Situationen oder was sie oft auch über uns dachte.
„Ich soll Papas Firma übernehmen.“, antwortete sie leise. Ihr Vater war Chef einer Cornflakes-Produktionsfirma. Die machten da aber auch Müsli.
„Möchtest du das auch?“, hakte Paula nach und sah Marta an.
„Ja. Schon. Ich hab letzte Ferien ein Praktikum dort gemacht. Im Marketing. Ich glaube sowas liegt mir.“ Wieder schwiegen alle und jeder hing seinen Gedanken nach. Wir mussten nicht immer zwingend miteinander reden. Manchmal genossen wir es einfach nur, alle beieinander zu sitzen und unseren Gedanken nachzuhängen. Insgeheim ärgerte ich mich gerade, dass Justus so ein sturer Kerl war und sich dann auch noch das mit Julis Nase geleistet hatte. Es hätte mich wirklich brennend interessiert, was wohl genau in Frau Jahns Büro los gewesen war, doch das wussten nur sie und Justus. Und keiner würde reden. Mein Blick wanderte zu Julis Nase. Sie sah schon etwas besser aus. Im Sanitätsraum hatte man gestern danach geschaut, aber es war wohl nichts gebrochen. Allerdings hatte man ihr zur Sicherheit ein Pflaster auf die Nase geklebt. Ein bisschen rot war es, da ihre Nase später nochmal kurz nachgeblutet hatte. Doch abgesehen davon, schien der Heilungsprozess schon eingesetzt zu haben. Julika war nur etwas empfindlich, wenn man sie aus Versehen dort berührte. Wie Resa gestern, als sie mit der neuen Ausgabe der Schülerzeitung gewedelt hatte. Ihre Schwester war von hinten angekommen, was Resa natürlich nicht gesehen hatte und schon hatte Juli die Zeitung auf der Nase gehabt. Das war auch der Grund, weshalb sie nochmal kurz nachgeblutet hatte.
„Macht ihr euch gefälligst da runter ihr Gören! Ich habe euch schon tausend mal gesagt, dass ihr auf meinem Schuppen nichts zu suchen habt! Der ist nicht für das Gewicht gebaut worden!“, ertönte auf einmal die kratzige Stimme unseres Hausmeisters. Allesamt blickten wir erschrocken erst uns und dann ihn an. Drei Sekunden später waren wir alle runter gesprungen und suchten lachend das Weite. Mit seiner Leiter in der Hand lief Herr Kramer uns zwar noch ein paar Schritte hinterher, durch das Gewicht kam er jedoch nicht sonderlich weit. „Die Ohren lang ziehen sollte man euch, elendes Pack! Wie oft habe ich euch das schon gesagt! Das werde ich eurer Direktorin melden!“ Das war sein Lieblingsspruch und er tat es auch jedes Mal. Schon unzählige Male hatte Frau Jahn uns ermahnt, doch bitte nicht mehr auf Herrn Kramers Schuppen zu steigen. Allerdings jedes einzelne Mal davon mit einem Lächeln im Gesicht und manchmal meinte ich sogar, einen ganz kleinen ironischen Unterton aus ihrer Stimme heraus hören zu können.
Am nächsten Tag war Freitag. Also quasi Wochenende. Die Freitage in der Schule gingen auch immer recht schnell um. Die Lehrer hatten da meistens genauso wenig Lust wie wir, außer natürlich Frau Strick-Langer. Glücklicherweise hatten wir die dieses Jahr freitags aber nicht.
Die erste Stunde gingen wir alle ganz gemütlich an, später bei Herrn Munter schauten wir ein Video und in der letzten Stunde bekamen wir eine viertel Stunde früher Schluss, mit den Worten: „Ich weiß ja, dass ihr keine Lust mehr habt. Ich auch nicht. Also... okay, los. Macht euch ab ins Wochenende.“
Gesagt, getan! Denn an diesem Wochenende hatten wir Großes geplant!
In der Stadt war wieder Party und die mussten wir natürlich mitnehmen. Da wir alle schon mindestens 16 waren, war es uns erlaubt, am Wochenende fort zu gehen. Leider mussten wir aber immer spätestens um zwölf Uhr wieder da sein und uns jedes Mal an und abmelden, wenn wir das Internat verließen und zurück kamen. So wussten sie, ob alle da waren oder wer fehlte, sollten eben nicht Punkt zwölf alle von uns zurück sein. War zwar blöd, so früh wieder da sein zu müssen, aber ich denke mir dann meistens aufmunternd: Besser um zwölf als gar nicht.
„Ich treffe mich nachher mit Kai“, verkündete Paula, während sie vor dem Spiegel stand und ihre Haare betrachtete.
„Kai?“ Juli sah sie etwas irritiert an.
„Ja, der süße Typ vom letzten Mal. Der meine Nummer wollte.“ „Wollten viele“, kommentierte Juli etwas dumpf und Paula lachte etwas selbstgefällig. Ja, sie bekam fast jedes Mal irgendwelche Handynummern oder wurde nach ihrer gefragt.
„Ich weiß. Aber ich spreche gerade von diesem hübschen Blonden. Der Große, der mich die ganze Zeit angetanzt hat.“ „Ah. Ja. Der. Ich erinnere mich.“ „Na, ich wollte jedenfalls nur Bescheid geben. Ich bin dann schon früher weg. Wir gehen noch Pizza essen vorher. Aber wir sehen uns ja dann sicher später im Club.“ Sie drehte sich vom Spiegel weg und schaute uns lächelnd an.
„Okay“, meinte ich zustimmend, nachdem niemand etwas sagte.
„Pizza essen“, murmelte Resa schließlich über ihrer Hausaufgabe, die eigentlich gar nicht ihre war, sondern eine von einem Neuntklässler, der sie dafür bezahlte. „Heißt das, da geht dieses Mal mehr als nur flirten und knutschen?“ Sie sah Paula neugierig an. Diese zuckte mit den Schultern.
„Wer weiß“, verkündete sie geheimnisvoll und lächelte ebenso.
„Wisst ihr, wer heute Abend noch alles so hingeht von uns?“, fragte Juli. Sie lag auf ihrem Bett und blätterte gerade die InTouch durch. Da sollte angeblich irgendwo ein Artikel über Matthias Schweighöfer drinnen sein. Beim Blättern hatte sie dann feststellen müssen, dass sie sich verlesen hatte. Es war nur ein Foto von ihm mit einem Zweizeiler zu seinem nächsten Film. Juli war trotzdem glücklich und hatte das Bild ausgeschnitten. Für ihr Matthias-Album. Das war ihr analoges Photoshop. Sie schnitt überall Bilder und Artikel über ihn aus und klebte es dort ein. Und wenn mal wieder schöne Fotos von ihr auftauchten von Partys oder Mädelsabenden, dann schnitt sie auch diese aus und klebte sie dazu. Natürlich nur, wenn es halbwegs passte und sich daraus ein einigermaßen glaubwürdiges „Pärchenfoto“ machen ließ. Ein bisschen verrückt war sie schon. Aber sehr liebenswert!
„Marcel und Lorenz wollten hin. Hab zumindest gehört, wie sie sich in Englisch drüber unterhalten haben.“ Ich sah zu Marta rüber, die das gerade gesagt hatte und sie wurde leicht rosa. Sie stand ein bisschen auf Lorenz. Nun grinste ich.
„Das heißt, du kommst heute Abend auch mit?“ Ich zwinkerte ihr zu und sie wurde noch ein bisschen dunkler auf den Wangen. Marta kam eher selten mit auf Partys. Sie trank keinen Alkohol und mied generell so gut es ging größere Menschenansammlungen. Sie war halt keine Partymaus. Aber das ist okay.
Unsicher nickte sie und alle Mädels grinsten.
„Super. Find ich klasse!“, freute ich mich. „Weißt du schon, was du anziehen willst?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich schaue nachher spontan.“
„Es geht ja das Gerücht um, dass der Neue heute Abend auch geht“, kam es von Paula, die mir einen kurzen Blick zu warf, da ich ja bis vor Kurzem so auf ihn abgefahren war. Nun gut, hässlicher war er dennoch nicht geworden. Soll heißen, ich fand ihn immer noch heiß. Aber er war eben ein Arschloch und hatte absichtlich meiner Freundin wehgetan. Also konntr ich ihn nicht mehr leiden.
„So? Und was will der da? In der Ecke stehen, die Leute böse angucken und jedem ein Bein stellen, der ihm im Weg steht?“, fragte ich Augen rollend. So wie der sich hier benahm, amüsierte der sich ganz sicher nicht auf Partys. „Wo hast du das Gerücht überhaupt her?“
Paula deutete auf Juli und die blickte von ihrer Zeitschrift auf und lächelte unschuldig.
„Hab es auch nur gehört.“
„Von wem?“
„Hm... Emily.“
Ich lachte laut los. „Emily? Und der glaubst du?“
„Na, die sitzt doch neben dem im Unterricht.“ „Ja und?“
„Und sie hat ihn gefragt, ob er mitkommt.“ „Emily kommt auch?“, fragte Resa geschockt. „Och nö, oder? Da vergeht mir doch schon wieder die Lust auf heute Abend.“ Sie schaute genervt drein und beugte sich wieder über die Hausaufgaben.
„Und was hat er gesagt?“, hakte ich bei Juli nach. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er zugesagt hat. Also, generell, dass er hingeht und vor allem nicht mit Emily!“
„Na ja, er hat ja nicht gesagt nicht, dass er mit ihr hingeht. Er hat nur Ja gesagt. Als sie ihn fragte, ob sie zusammen gehen wollen, hat er nicht geantwortet. Es hat geklingelt und er ist ohne ein Wort raus.“ Das gab mir ein wenig Genugtuung. Auch wenn es mir natürlich egal war, mit wem er hinging, wenn er es denn schon mal tat.
„Wow, das wird ja `ne richtig geile Party heute“, murmelte ich. „Emily. Justus. Yay.“
„Ach komm, Holly. Der Club ist groß genug. Wir können denen locker aus dem Weg gehen.“ „Hm.“ „Holly!“ Paula sah mich strafend an, was mich zum Lächeln brachte.
„Ja, ja. Hast ja Recht.“
„Ich weiß.“ Sie zwinkerte mir frech grinsend zu und betrachtete sich wieder im Spiegel. „Was mache ich nur mit meinen Haaren?“
Am späten Nachmittag begleitete ich Resa zu den Neuntklässlern, deren Hausaufgaben sie über diese Woche gemacht hatte. Das fand Resa immer am besten. Hausaufgaben und Aufsätze von Jüngeren. Das war einfacher als die von einem höheren oder dem gleichen Jahrgang. Denn auch von denen gab es öfter mal „Aufträge“. Ich würde mir ja eher versuchen, in den Hintern zu beißen, als für andere Schüler die Hausaufgaben zu machen, auch wenn ich gute Kohle dafür bekäme. Ich war einfach nur jedes Mal froh, wenn ich irgendeine Aufgabe oder irgendein Fachgebiet hinter mir hatte und hoffentlich nie wieder machen musste.
Wir schauten uns um, ob auch nirgendwo ein Lehrer in der Nähe war. Das war besonders wichtig. Denn würde uns einer erwischen, zöge das ein ganz schönes Nachspiel mit sich. Immer wenn ich sie begleitete, kam ich mir ein bisschen vor wie ein Schwarzmarkthändler oder ein Dealer, der das total unentdeckt machen musste und dem die Polizei immer auf der Spur war. Nur dass es bei uns Lehrer statt Polizisten waren und die Ware aus Hausaufgaben bestand.
„Stehst du hier Schmiere?“, fragte Resa, als wir am verabredeten Punkt ankamen. Ein leerer Klassenraum im obersten Stockwerk. Hier trieben sich selten Lehrer nach dem Unterricht herum, denn keiner lief freiwillig die ganzen Treppenstufen hinauf – einen Fahrstuhl gab es nicht. Herr Kramer war im Übrigen auch noch eine Gefahr. Er war quasi der Spürhund. Den traf man doch des Öfteren mal hier oben an, da es hier zum Dachboden ging, wo er ein paar Gerätschaften lagerte.
Darum brauchte Resa immer eine Wache. Heute war ich das wieder. Also positionierte ich mich wachsam am Ende des Ganges, um dort den Hauptgang überblicken zu können. Von hier aus konnte man bis zur Treppe sehen. Wenn jemand kam, würden wir so tun, als gäbe Resa Nachhilfe. Hatte uns schon ein paar Mal vor Herrn Kramer das Leben gerettet. Zwar war er immer skeptisch gewesen, konnte uns aber nichts nachweisen, da wir dann so taten, als kontrolliere Resa die fertigen Hausaufgaben oder mache sie gerade gemeinsam mit den anderen. War bisher aber zum Glück erst dreimal der Fall gewesen. Innerhalb von zwei Jahren wohl gemerkt!
Resa verschwand im Klassenzimmer, wo gefühlte zehn Leute warteten. Alles Neuntklässler dieses Mal. Das waren ihre „Stammkunden“. Die nahmen schon seit Jahren Resas Hilfe in Anspruch und ich hatte das Gefühl, dass sie ihr ganzes Taschengeld in sie investierten.
Wobei es darunter auch ein paar Schnösel gab. Die hatten richtig Asche und die blechten sogar mehr, als andere. Resa nahm nämlich nicht von jedem das Gleiche. Wenn jemand eine 1 wollte, kostete das klar mehr, als wenn jemandem eine Drei reichte. Das war echt klug von ihr. Das Geld sparte sie sich so nämlich für ihr Studium zusammen. Allerdings war ich mir nicht ganz sicher, ob die ganze Angelegenheit wirklich legal war. Daher gab es immer die Absicherung durch uns als Wache oder die Tarnung einer Nachhilfestunde. Es gingen auch immer alle in einer geschlossenen Gruppe wieder aus dem Raum heraus, damit sich niemand fragte, warum nach und nach Schüler vereinzelt die Treppe runter kamen.
Ich lehnte mich gegen die Wand und drehte den Kopf so, dass ich den Gang im Blickfeld hatte. Alles war ruhig. Die meisten Lehrer waren freitags um die Zeit eh schon zu Hause bei ihren Familien. Ein Blick aus dem Fenster brachte mich zum Lächeln. Der Himmel war tiefblau und ein kleiner Schwarm Vögel zog vorbei. Es war Spätsommer und das Wetter das Beste, was es bisher in diesem Jahr gegeben hatte. Im Sommer war es viel zu heiß gewesen. Die halben Ferien hatte ich nur im Wasser und im Schatten verbracht. Mehr sogar im Wasser, denn selbst im Schatten war es zu heiß gewesen. Den Rest der Ferien hatte es dann beinahe täglich in Strömen geregnet und man konnte eigentlich vergessen, draußen etwas zu unternehmen. Meine Freundinnen von zu Hause und ich, hatten einen schwülen Regentag immerhin dazu genutzt, in Badesachen und Gummistiefeln durch die tiefen Pfützen zu springen. Aber jeden Tag machte so etwas auch keinen Spaß und vor allem nicht, wenn das Regenwasser und die Luft zu kalt waren. Irgendwann hatte der Regen nämlich alles ganz schön abgekühlt.
Plötzlich zuckte ich hoch und schaute wieder den Gang entlang. Hatte ich da gerade Schritte gehört? Niemand zu sehen. Mein Blick wanderte gen Klassentür, doch auch da kam keiner raus. Nur vereinzelte leise Stimmen drangen hervor. Aber ich hörte definitiv Schritte. Also drehte ich meinen Kopf wieder zurück zur Treppe und versteckte mich im Gang, so dass ich nur um die Ecke lugte und nicht sofort entdeckt werden konnte. Die Schritte wurden lauter und kamen näher. Da plötzlich setzte sich ein Fuß auf die oberste Stufe und ich zuckte herum, um mich zu verstecken. Noch dürfte mich keiner gesehen haben. Wie Herr Kramers Fuß hatte es nicht ausgesehen. Der trug andere Schuhe. Solche dicken Arbeiterschuhe. Was ich gesehen hatte waren aber irgendwelche Straßenschuhe mit einem jugendlichen Touch. Ließ also auf einen Schüler oder einen Lehrer mit einem Hang zu junger Mode schließen. Herr Munter vielleicht. Die Schritte entfernten sich. Die Person lief also in die andere Richtung. Also wagte ich es, meinen Kopf wieder hinter der Wand hervor zu schieben und nach der Person zu sehen. Ein dunkelblonder Haarschopf war mir abgewandt und verschwand im nächsten Moment in einem anderen Klassenraum.
Ich runzelte die Stirn. War das gerade Justus' Haarschopf gewesen? Dieselbe Haarfarbe war es gewesen und die Art und Weise, wie er gelaufen war, passte auch zu ihm. Was machte denn Justus hier oben ganz alleine? Ob er seine Ruhe haben wollte? Vielleicht war er ja genervt von seinen Zimmergenossen. Wobei ich mir eher vorstellen konnte, dass die genervt waren von ihm und seiner ignoranten Art.
Trotzdem beschloss ich, mal nachzuschauen. Vielleicht würde ich ja durch das Schlüsselloch etwas erkennen können. Und wenn ich auf dem Gang herum lief, würde ich ja sicher trotzdem rechtzeitig mitbekommen, wenn jemand kam. Aber Resa und die Neuntklässler müssten eigentlich auch bald fertig sein. Sie waren eh schon länger weg, als üblich.
Ich schlich also auf leisen Fußsohlen hinüber zu der Tür, hinter der Justus verschwunden war und legte mein Augen ans Schlüsselloch. Doch nichts. Ich sah nur die Tafel von der Seite, ein Stück vom Lehrertisch inklusive Stuhl und das Fenster am anderen Ende des Raumes. Aber keinen Justus oder irgendeinen anderen Menschen. Schade.
Da hörte ich wieder Schritte. Nicht aus dem Raum, sondern hinter mir. Ich fuhr herum, sah jedoch nichts. So schnell ich konnte rannte ich zurück zu meinem Posten. Dabei musste ich an der Treppe vorbei und da sah ich ihn. Herrn Kramer. Verdammt!
„Was machst du denn da oben? Wenn du mal nicht auf dem Schuppen herumlungerst, schleichst du hier durch die Gänge. Der Unterricht ist aus. Mach, dass du runter kommst.“ „Ähm, wir haben Nachhilfe“, erklärte ich schnell. Er runzelte die Stirn.
„Nachhilfe? Schon wieder?“ Und in dem Moment ging die Tür von Resas Raum auf und sie und die anderen Schüler kamen heraus. „Und warum ist dann hier so ein Krach?“
„Wir... sind gerade fertig!“
Sein Blick wanderte in die Richtung, aus der jeden Moment die anderen kommen würden und dann in die Richtung, aus der ich gekommen war.
„Ich war auf Toilette!“, erklärte ich schnell. Zum Glück befanden sich die Toiletten dieser Etage wirklich dort. Er brummte unzufrieden. Schon kam Resa mit den anderen um die Ecke und ich sah sie entschuldigend an. Aber sie reagierte sofort.
„Gut, ich denke ihr braucht keine Angst vor der nächsten Klassenarbeit haben. Wenn ihr das alle so super macht wie heute, dürfte jeder von euch locker bestehen.“
Erst wurde sie irritiert angeschaut, doch als die Blicke der anderen auf Herrn Kramer fielen, stimmten sie mit ein.
„Ja, ich fühl mich jetzt auch total fit für die Arbeit.“
„Genau, ich auch. Danke nochmal Resa!“ „Ja, echt. Danke.“ „Cool, dass du das machst.“ „Gerne doch.“, lächelte Resa, blieb bei mir stehen und winkte dem Rest hinterher. „Macht‘s gut. Hallo Herr Kramer“, wendete sie sich lächelnd an ihn. „Alles in Ordnung? Wir haben hier nur den Raum zur Nachhilfe genutzt. Wir sind jetzt auch sofort wieder weg. Entschuldigung.“
Er brummelte wieder kurz. „Hm. Das nächste Mal sagt vorher Bescheid.“ Dann verschwand er im Gang. Wir warfen uns kurz verstohlene Blicke zu und liefen die Treppe hinunter.
„Sorry“, entschuldigte ich mich. „Er hat mich erwischt als ich gerade an der Treppe vorbei lief.“
„Kein Ding. Hat ja noch alles rechtzeitig geklappt.“, lächelte sie. „Was haste denn an der Treppe gemacht?“
„Ich hab... also bevor der Kramer kam, kam Justus die Treppe hoch.“
Resa schaute mich fragend an. „Was wollte er denn?“ „Keine Ahnung. Das wollte ich eben herausfinden und bin zu der Tür gegangen, hinter der er verschwunden ist. Aber durchs Schlüsselloch hab ich gar nichts erkannt. Und dann hab ich schon die Schritte vom Kramer gehört.“ „Ach so. Komisch. Na ja, vielleicht wollte er nur seine Ruhe vor seinen Zimmerkollegen.“, lachte sie leise und setzte das Wort „Ruhe“ in mit Fingern angedeutete Gänsefüßchen. Ich grinste.
„Genau das Gleiche ging mir auch kurz durch den Kopf. Warum hat das denn so lange gedauert heute?“ „Ohh, frag nicht!“ Klang nach einem wunden Punkt. Sie wirkte etwas genervt. „Theo hatte mir gesagt, er bräuchte einen Aufsatz. Einfach nur eine Abhandlung über Schuluniformen. Weshalb man sie einführte, was sie halt bezwecken und generell über die Uniformen in europäischen Ländern. Tja, hat er aber falsch verstanden und mir demnach falsch weiter geleitet. Er kam vorhin an und fragte so: 'Haste meine Erörterung fertig?'„ Dabei verstellte sie ihre Stimme tief und es klang sogar ein bisschen dümmlich, sodass ich lachen musste. „Und ich dann so: 'Wie jetzt Erörterung?'„ und er dann so „Na ja, hab ich dir doch gesagt.“ Und ich dann wieder so: 'Äh, nee?! Du sagtest einfach nur Aufsatz über das und das Thema!' Da war er dann erstmal voll baff und ich auch und dann meinte er so: 'Hm, gut. Nehm ich halt den Aufsatz. Aber dann zahl ich weniger, weil ist ja nicht das Geforderte.“ Da bin ich ja fast an die Decke gegangen, ne? Ich, die sonst eigentlich recht ruhig bleibt!“ Sie schnaufte kurz. „Da habe ich dem erstmal erklärt, dass ich auf jeden Fall das von ihm geforderte geschrieben und durchaus viel Zeit da rein investiert habe, da hat er mir gefälligst den ausgemachten Preis zu zahlen. Ist ja wohl nicht mein Problem, wenn er das falsch an mich vermittelt.“ Sie seufzte leicht frustriert. „Zum Glück haben mir dann ein paar seiner Klassenkameraden zugestimmt. Da war er dann ganz schnell ruhig und hat brav bezahlt.“
„So ein Vollidiot.“ „Aber hallo!“ Sie atmete tief durch, wir schwiegen ein Weilchen und fingen dann an zu lachen. Jetzt, wo sie sich ausgelassen hatte, sah sie es etwas lockerer und ich fand es auch ganz lustig.
Als wir im Schlafbereich des Internats angekommen waren und um die nächste Ecke bogen, hörten wir eine uns sehr wohl bekannte süßlich Stimme in unserer Nähe.
„Ja, wir gehen wirklich zusammen hin. Er hat mich extra nochmal gefragt“, verkündete die Stimme selbstgefällig. Emily. Ob es um Justus ging?
„Im Ernst?“, fragte Enna, eine ihrer Freundinnen begeistert.
„Natürlich ist das wahr! Oder denkst du etwa, ich lüge dich an? Also bitte!“ Sie seufzte gespielt beleidigt. Resa und ich sahen uns an und verdrehten die Augen. Wir waren stehen geblieben, um den Mädels zu lauschen.
„Wow, dass er dich gefragt. Kaum zu glauben. Das ist so-“ Eine dritte Stimme. Die andere Freundin von Emily. Sie hieß Olivia. Die drei hingen immer zu dritt herum. Und Enna und Olivia pflichteten Emily immer bei. Immer! Ich habe noch nie gehört, dass sie irgendetwas Negatives über sie oder gegen ihre Aussagen gebracht hatten.
„Was soll das denn jetzt heißen?“, unterbrach Emily Olivia etwas ungehalten. „Dass ich nicht würdig bin, mit ihm auszugehen?“
„Nein, nein. Das meinte ich nicht, Wirklich!“ Olivia redete sich schnell raus, beziehungsweise korrigierte sich fleißig. „Ich meinte damit, dass das wirklich toll ist, weil er doch sonst mit niemandem wirklich redet und auch Holly hat abblitz-“
„Holly!“, unterbrach Emily sie wieder kühl. „Du willst mich doch jetzt nicht etwa mit Holly Immergrün vergleichen, oder?“ Sie keifte Olivia regelrecht an, die einzuknicken schien und leiser wurde.
„Nein. Nein, tut mir leid Emily.“ „Sollte es auch!“
Dieses Mädchen war echt sowas von unerträglich. Ich wusste manchmal nicht, ob Enna und Olivia Mitleid verdient hatten oder einfach nur dumm waren.
„Komm, wir gehen weiter“, flüsterte Resa mir zu und ich nickte bestätigend. Wir liefen also den Gang entlang, vorbei an der offenen Zimmertür der drei eben belauschten Mädchen.
„Oh, sieh mal einer an, wen wir da haben. Die kleine Miss Holly Supertoll und ihre Streberfreundin.“ Emily hatte uns gesehen. War wohl zu erwarten gewesen. Wir schauten ins Zimmer und setzten unser herzhaftestes Lächeln auf.
„Emily!“, rief ich gespielt begeistert aus. „Meine beste Freundin. Wie schön, dich zu sehen!“
Mir wurde schlecht bei dem, was ich mir hier zusammen log, aber meine Eltern hatten immer gesagt, gespielte Freundlichkeit ist die beste Waffe gegenüber Menschen, die einen nicht ausstehen können. Also bemühte ich mich meistens darum, doch nur selten gelang es mir.
„Wie geht's dir, Schätzchen?“, antwortete Emily ebenso künstlich, doch nicht ganz so locker wie ich. Ha! Das hatte ich ihr eben voraus. „Bist du traurig, dass du einen Korb von Justus bekommen hast? Ohh, nicht doch.“ Sie zog eine Schnute und sah damit so hässlich aus, dass Justus wahrscheinlich vor ihr weg gerannt wäre, hätte er sie jetzt so gesehen. „Keine Sorge, Liebes. Er hat eine bessere Begleitung für heute Abend gefunden. Mich.“ Bei ihrem letzten Wort klang sie gar nicht mehr aufgesetzt freundlich, sondern heimtückisch und arrogant. Ich seufzte leise.
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