Rabbit-Boy - Lisa Darling - E-Book

Rabbit-Boy E-Book

Lisa Darling

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Beschreibung

Archimedes Sullivan träumt davon, eines Tages ein Superheld zu sein. Dieser Traum ist gar nicht so weit hergeholt, ist doch seit Kurzem bekannt, dass es seit langer Zeit schon sogenannte Genträger mit Superkräften gibt. Und wo ließe sich besser ein Superheld sein als in seiner Heimat - dem Zentrum all dieser Superkräfte - Parondon? Als eines Tages sogar bei ihm so ein Gen ausbricht, steht seinen Träumen eigentlich nichts mehr im Weg - außer dass er seine Kräfte einfach nicht kontrollieren kann. Denn diese haben ein Eigenleben und entscheiden selbst, wann sie in Aktion treten. Doch da er unbedingt ein Superheld sein möchte, ist das für ihn kein Grund aufzugeben. Schon recht bald ergibt sich seine erste Chance dafür, als auf mysteriöse Weise seine heroischen Vorbilder einer nach dem anderen verschwinden ...

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Seitenzahl: 357

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Rabbit-Boy

Shutdown

Band 1

Lisa Darling

Rabbit-Boy

Shutdown

Lisa Darling

https://micromanweb.wordpress.com

https://instagram.com/lisadarlingbooks

Lektorat, Korrektorat und Satz: Sandra Bollenbacher

Umschlaggestaltung: Lon Ion Jon, www.instagram.com/lon_ion_jon

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN:

 

Paperback

978-3-347-26542-4

Hardcover

978-3-347-26543-1

E-Book

978-3-347-26544-8

© 2021 Lisa Darling

tredition GmbH

Halenreie 40–44

22359 Hamburg

Die vorliegende Publikation, einschließlich ihrer Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Grafiken:

Autorenfoto von Studioline Photography Chemnitz (www.studioline.de/fotostudios/chemnitz-sachsen-allee) • Crown emoji designed by OpenMoji (openmoji.org) – the open-source emoji and icon project. License: CC BY-SA 4.0 • Hasenmaske von Lon Ion Jon, www.instagram.com/lon_ion_jon

Fonts:

Crimson Pro © 2018 The Crimson Pro Project Authors (https://github.com/Fonthausen/CrimsonPro). This Font Software is licensed under the SIL Open Font License, Version 1.1. • Louis George Café © 2017 Yining Chen (yiningchen23@ gmail.com). All rights reserved. • Misty Cotton © letterativestudio

Für alle, die mit ihren Defiziten zu kämpfen haben. Aus jeder noch so negativ oder sinnlos erscheinenden Eigenschaft lässt sich etwas Positives ziehen!

Therapie

Donnerstag

21. Dezember

Willkommen im verschneiten Parondon! Einem kleinen Land – nein, einer Insel – mitten im Ärmelkanal zwischen dem Vereinigten Königreich und Frankreich mit rund 6,5 Millionen Einwohnern. Ganze fünf Millionen davon leben in der gleichnamigen Hauptstadt. Diese stand vor noch gar nicht so langer Zeit im Mittelpunkt von etwas Großem. Etwas Übermächtigem, von dem man bis dahin nicht einmal wusste, dass es das überhaupt gibt! Für diejenigen, die hier völlig neu eintauchen: Parondon ist weder eine normale Stadt noch ein normales Land. Parondon ist das Land, in dem die Genträger vor Jahrhunderten ihren Ursprung fanden. Und genau deshalb gibt es sie auch heute noch hier in größerer Zahl als sonst irgendwo auf der Welt.

Was Genträger sind? Einfach erklärt: Genträger sind Menschen, die ein ganz besonderes Gen besitzen. Nämlich eines, das eine besondere Fähigkeit in sich birgt. Oder wie andere sagen würden: eine Superkraft. Nicht bei jedem Genträger bricht diese auch aus. Das ist oft abhängig davon, wie viel der Genträger raucht oder trinkt oder welche und wie viele Drogen oder Medikamente von ihm konsumiert werden. Oder ob jemand einen schweren Unfall hatte, der starken Einfluss auf die Psyche oder den Körper hatte. Bei manchen passiert es auch nie, obwohl sie clean und unfallfrei leben. Vor der Vollendung der Pubertät geschieht es sowieso äußerst selten.

Es gibt Genträger, die ihre Kräfte nutzen, um Gutes zu tun, andere, die damit nur sich selbst bereichern wollen, wieder andere, die sie höchstens für den praktischen Alltag nutzen, und diejenigen, die vollkommen überfordert mit ihren Kräften sind oder sie als nutzlos empfinden. Für Letztere gibt es Selbsthilfegruppen.

Genau so eine findet heute statt, wie jeden Donnerstag um 17 Uhr mitten im Herzen der Hauptstadt. Dr. Marik Pawlow findet sich hier wöchentlich mit seiner kleinen Therapiegruppe zusammen, um gemeinsam über ihre Probleme zu reden und adäquate Lösungen zu finden.

Draußen ist es bereits stockduster. Zarte Schneeflocken wirbeln im sanften, orangenen Licht durch die überlaufenen Straßen Parondons und könnten ganz beeindruckend und gemütlich sein. Doch hier oben im 4. Stock ist davon kaum etwas zu sehen, nur grelles Licht, das den Therapieraum erhellt. Ab und zu tuckert die Heizung. Es gibt eindeutig schönere und gemütlichere Gebäude in dieser Stadt.

»Willkommen zu einer weiteren Sitzung, liebe Genträger. Heute möchte ich Ihnen ein neues Gesicht in der Runde vorstellen: einen Genträger, der – ebenso wie Sie – noch keinen Frieden mit seinen Superkräften schließen konnte.«

»N-no-noch? Ich werde damit niemals Frieden schließen können!«, beklagt sich eine kleine, zierliche, aber umso hibbeligere Dame Ende zwanzig, Mabel Woods, die den Fremden neugierig mustert. Sie ist stets aufgeregt und aufgedreht, weshalb sie oft aus Versehen stottert.

»Ich auch nicht«, wirft John Smith, ein sehr unscheinbarer junger Mann, ein.

»Mabel, bitte setzen Sie sich wieder. Tief durchatmen. Deshalb sind wir doch hier, um alle gemeinsam Ihre Probleme anzugehen.« Dr. Pawlow lächelt ihr aufmunternd zu.

»Ich bezweifle auch, dass ich meinen Stoffwechsel je in den Griff bekommen werde. Ich hab schon alles versucht! Und nur weil ich heute mal ausgeschlafen und nicht pünktlich gefrühstückt habe, wiege ich schon wieder ein halbes Kilo weniger. Ihr Kuchen ist übrigens gleich leer!« Während Alamea Diering spricht, macht sie immer kurze Sprechpausen, in denen sie kaut, schluckt oder von einem Stück Kuchen abbeißt.

»Danke für den Hinweis, Alamea. Mein Kollege wird gleich noch etwas bringen. Wir wissen ja um Ihr Problem.«

»Sehr gut. Ich hätte nämlich auch gerne ein Stück Kuchen«, bittet John.

»Ich bra-brauche auch dringend was zu essen! … Und ich bin SOO müde …«, gähnt Mabel, erhebt sich schwerfällig vom Stuhl und schlurft hinüber zu Alamea, um sich eins der letzten Stücke Kuchen von Alameas Teller zu stibitzen.

»Boah, dann geh doch aufs Klo!« Das ist Elvira Cringe.

»Du sollst nicht immer in meinen Gedanken lesen!« Alamea ist pikiert. Wie jedes Mal, wenn Elvira sie auf ihre Gedanken anspricht.

»Ich kann das nicht steuern, wie oft soll ich das denn noch sagen? Denkst du, mich interessiert es, wer gerade aufs Klo muss oder dass Bernd gerade darüber nachdenkt, dass er noch eine Pravo für seine Nichte kaufen wollte?« Genervt verschränkt Elvira die Arme vor der Brust und starrt zu Bernd hinüber.

»Ey, raus aus mei’m Kopf!«, mault dieser sie mit einer Stimme an, die einen irritieren kann, wenn man Bernd das erste Mal begegnet. Sie ist nämlich alles andere als männlich.

Frustriert seufzt Elvira auf und starrt aus dem Fenster hinaus ins Dunkel. »Gerne! Wenn ich nur könnte!«

»Jetzt atmen wie mal alle tief durch und beruhigen uns wieder.« Dr. Pawlow vertritt die Art von therapeutischer Leitung, dass er seinen Patienten selbst die Führung der Diskussion überlässt. Seine Aufgaben bestehen lediglich darin, wieder Ruhe reinzubringen, sollte es mal aus den Fugen geraten, die Unterschriften für die Krankenkassen am Ende einzusammeln und Denkanstöße zu geben und zu fördern.

Als sich die Tür zu dem sterilen Therapieraum öffnet und ein junger Mann – vom Alter her wahrscheinlich ein Praktikant – einen neuen Teller Kuchen bringt, springt Alamea erleichtert auf und stürzt ihm entgegen. »Der Kuchen! Danke! Den nehme ich gleich!« Sie nimmt den gesamten Teller entgegen und legt ihn auf ihrem Schoß ab, kaum dass sie wieder sitzt. Und flugs steckt bereits ein Stück davon zwischen ihren Zähnen.

»Bekomm ich bitte auch ein Stück?«, versucht John sich wieder einmal bemerkbar zu machen.

»Zurück zum Thema. Ich wollte Ihnen unser neustes Mitglied vorstellen: Frank.« Eine entglittene Diskussion zurück zum Ausgangspunkt zu führen, sieht Dr. Pawlow im Übrigen auch in seinem Aufgabenbereich.

»Hi«, meldet sich der Neuling, Frank Tight, zu Wort. Groß, schlank und muskulös und der Hübscheste in dieser Runde. Etwas irritiert blickt er zu der eben noch so hibbeligen Mabel hinüber, die einen lauten Schnarcher von sich gibt. Sie ist eingeschlafen.

»Frank, möchten Sie uns an Ihrem Problem teilhaben lassen?«, hilft Dr. Pawlow ihm zurück auf den Weg.

»Ähm also … Hi, ich bin Frank, 23 Jahre alt und … ich bin … superpotent.«

Bernd und John kichern. Elvira grunzt. Mit mahnendem Blick räuspert sich Dr. Pawlow in ihre Richtung, was sie augenblicklich schweigen lässt. Das Grinsen schwindet jedoch nicht aus Elviras und Bernds Gesicht.

»Jedenfalls … Ich bin Pornodarsteller oder besser gesagt war es, bis mein Gen vor ungefähr einem Jahr ausbrach. Und … superpotent bedeutet in dem Falle …, dass jeder schwanger wird, mit dem ich schlafe. Verhütungsmittel hin oder her.« Er legt eine kurze Sprechpause ein, in der er sichtlich zögert. »Und … ganz gleich, welches Geschlecht.«

Mabel schreckt mit einem schnarchenden Grunzen aus ihrem Schlaf hoch. »Hm? Was hab ich verpasst?«

»Waaaaaarte! Dann war dit jar keene Zeitungsente, dat anjeblich ’n Mann ’n Baby per Kaiserschnitt jeboren hat?« Bernds stark gerunzelte Stirn bildet tiefe Furchen in seiner sonst noch recht glatten Haut.

»Mh-mh.«

Nun wird auch Mabel wieder aktiv. Hibbelig rutscht sie auf ihrem Stuhl hin und her. »Der W-W-Wahn-sinn, der absolute Wahnsinn! Dass so was b-b-bi-biologisch überhaupt möglich ist!«

»Mh, davon hab ich auch gelesen. Ich kenne sogar jemanden, dessen Cousine die Schwägerin des Bruders dieses schwangeren Mannes ist. Also … jetzt ist er ja nicht mehr schwanger«, wirft Alamea mit vollem Mund ein. Dabei fliegt hin und wieder ein Krümel auf den Boden. Elvira verzieht angewidert das Gesicht, als einer dieser Krümel ihre neuen Winterstiefel trifft. »Soll wohl superkompliziert und eine Frühgeburt gewesen sein, weil der männliche Körper ja eigentlich gar nicht die Voraussetzungen dafür hat, ein Baby in sich zu … ähm … zu bergen? Zu nähren? Ihr wisst schon! Jedenfalls hatten die echt Schwierigkeiten, das Baby zu retten, hab ich gehört.«

John, der das mit der Krümelspuckerei gesehen hat, versucht erneut sein Glück: »Darf ich denn nun auch ein Stück Kuchen haben, bitte?«

»Das ist wirklich ein außerordentliches Kräfte-Gen, was Sie da in sich tragen. Klingt mir ganz so, als würde es viele Folgen nach sich ziehen«, versucht Dr. Pawlow das Gespräch zurück zum eigentlichen Thema zu lenken – zu Franks Vorstellung.

»Oh ja!«, erinnert sich dieser. Sein Gesichtsausdruck sieht deutlich gequält aus. »Ich musste meinen Traumjob aufgeben, habe Schulden ohne Ende, weil ich all meinen betroffenen Kollegen Alimente zahlen muss, und obendrein kann ich nie wieder Sex haben!«

»Ouh, übel. Janz übel«, murmelt Bernd nicht sonderlich hilfreich.

»Wem sagst du das?«, seufzt Frank.

»Krieg ich denn nun noch ein Stück Kuchen oder nicht?«, versucht John es erneut, diesmal etwas gereizt.

Alamea schiebt sich den Rest eines Kuchenstücks in den Mund. »Vielleicht könntest du es mit mir versuchen? Schwangerschaften können den Körper schließlich verändern! Vielleicht würde sich das irgendwie positiv auf meinen Stoffwechsel auswirken, sodass ich endlich wieder normal leben kann, ohne ständig essen zu müssen, damit ich nicht an Untergewicht sterbe!« Sie beißt in das nächste Stück. »Und ich finde sonst keinen Mann, weil niemand die verfressenen Dates mit mir durchhält!«

»Das sollten wir unbedingt ausprobieren!« Frank ist begeistert. »Aber … ich kann leider keinen Unterhalt zahlen. Ich bin echt absolut blank.«

»Hm …« John fühlt sich ignoriert. Wie immer eigentlich. Im Grunde kennt er es seit zwölf Jahren nicht anders. So richtig daran gewöhnen wird er sich wohl allerdings nie.

»Das macht überhaupt nichts! Ich verdiene in meinem Job mehr als genug«, lächelt Alamea mit vollen Wangen.

»Hör mal uff, so anzujeben!«, beschwert sich Bernd. »Die meisten hier Anwesenden leiden durch ihr beschissenes Jen bei ihr’m Job!«

»Wenn sie überhaupt einen bekommen«, seufzt John.

Elvira verdreht genervt die Augen. »Danke für die Erinnerung, Bernd.« Ihre Stimme trieft nur so vor Sarkasmus. »Wir wissen, dass du Dank deiner Stimmenwechselfähigkeit einst der größte und tollste Synchronsprecher ganz Parondons warst. Blablablaaa.«

Mit vollen Wangen verfolgt Alamea den Schlagabtausch und schiebt sich das letzte Stück Kuchen in den Mund. Betrübt sieht John ihr dabei zu. »War … das gerade etwa das letzte Stück?«

»Ja und wat bin ick jetzt? ’ne Lachnummer im Kabarett! «, echauffiert sich Bernd. Seine Hände fuchteln wild gestikulierend durch die Luft.

»Und was lernen wir daraus?« Süffisanter könnte Elviras Lächeln kaum sein.

Mabel rutscht unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. »Als Genträger keine D-D-Drogen zu konsumieren. Zumindest nicht im Übermaß«, wirft sie ein und ihre Stimme überschlägt sich beinahe dabei.

»Das sagt die Richtige«, murmelt John in seinen nicht vorhandenen Bart.

»Zijaretten sind keene Drogen!«, verteidigt sich Bernd mit fester Stimme.

»Nun, im Grunde genommen ist Nikotin schon eine Droge.« Hin und wieder sieht Dr. Pawlow es auch als seine Aufgabe an, Fehlaussagen seiner Patienten zu korrigieren. Hin und wieder.

Bernd schnaubt frustriert. »Ick konnte doch nicht ahnen, dass ick dadurch eines Tages nicht mehr Stimmen switchen kann und … und auf meiner weiblichen Stimme hier festhängen werde! Ick hab sogar extra dit Rauchen uffjejeben, aber meene normale Stimme kommt einfach nicht zurück! Ihr wisst ja nicht, wie unglaublich unmännlich ich mich damit fühle!« Eben noch frustriert, ist seine Stimme nun einem Jammerton verfallen. Seufzend lehnt er sich nach vorne, um sein Kinn in seine Hand zu stemmen und betrübt zu Boden zu blicken.

»Masturbierst du deshalb fünfmal täglich?« Elviras Stimme klingt gelangweilt, doch das Funkeln in ihren Augen, als sie ihn ansieht, verrät Belustigung. Bernd fällt beinahe der Kopf von der Hand und er richtet sich perplex auf. »Wat? Woher –?«

»Schon vergessen?«, seufzt Elvira. »Ich kann langweilige Gedanken lesen. Allerdings muss sich zugeben, dass das hier ausnahmsweise mal einer der pikanteren war. Wobei ich darauf gut und gerne hätte verzichten können. Jetzt hab ich Kopfkino!» Sie schüttelt sich, während ihre Mundwinkel sich nach unten kräuseln.

»Bäh …«, schaltet Mabel sich schläfrig wieder ein. »Davon … werde ich jetzt sicher …« Sie gähnt herzhaft laut und lang. »… träumen.« Und dann hört man nur noch ein Schnarchen.

Schweigen legt sich über die Runde. Suchend blickt Alamea sich auf der Suche nach neuer Nahrung um. Doch sie muss feststellen, dass sie den Kuchen, ohne es mitbekommen zu haben, bereits vernichtet hat.

»Gibt’s denn nochmal Kuchen?«, kommt John ihrer Frage zuvor.

»Gibt’s noch Kuchen? Ich bin schon wieder fertig«, fragt Alamea dennoch.

Dr. Pawlow hat bereits das Handy aus seiner weißen Kitteltasche gezogen und tippt etwas auf dem Display ein. »Ich gebe meinem Kollegen Bescheid.«

»Danke, Dr. Pawlow.« Ein Grunzen links neben ihr zieht Alameas Aufmerksamkeit auf sich. »Ach … die arme Mabel. Schaut sie euch nur an … Schon wieder vollkommen fertig.«

»Was hat sie denn eigentlich?«, erkundigt sich Frank neugierig. Jetzt kennen zwar alle sein Problem, aber er kennt die der anderen nur durch kurze Randerwähnungen oder noch gar nicht.

»Ihr Körper schüttet zu viel Adrenalin aus. Sie ist seit Jahren in einem Zustand zwischen hyperaktiv und todmüde. Nich’ mal mehr Cortison hilft. Sie ist davon so abhängig jeworden, dasset einfach wirkungslos jeworden ist«, klärt Bernd ihn auf.

»Deshalb ist sie ständig entweder wahnsinnig aufgedreht, total nervös oder hundemüde«, fügt Elvira hinzu, als die Tür aufgeht und der junge, wie ein Praktikant aussehende Mann im weißen Kittel erneut hereinkommt. Er bringt Kuchen.

»Ah, Nachschub. Danke!« Wieder ist Alamea schneller beim Kuchen als der Kuchen bei ihr.

»Krieg ich dieses Mal bitte ein Stück ab?«, versucht John sein Glück erneut. Manchmal klappt es und man reagiert auf ihn.

»Die Arme«, bemitleidet Frank unterdessen die zierliche, müde Mabel.

Ein Piepen ertönt, gepaart mit einem rhythmischen Vibrieren. Dr. Pawlows Zeichen. Er richtet sich in seinem Stuhl auf und räuspert sich. »Oh, die Uhr sagt mir, dass unsere Sitzung gleich schon wieder vorbei ist. Es freut mich, dass Sie heute alle wieder erschienen sind. Wenn Sie mir noch eine Unterschrift für die Krankenkasse geben würden, nachdem ich Sie abgehakt habe?«

John hat die Nase voll. Die ganze Stunde über hat er es mit Höflichkeit versucht und nun ist sie vorbei und er kuchenlos. Ungewöhnlich für seinen ruhigen, resignierten Gemütszustand steht er auf und stapft auf Alamea zu. »Scheiß drauf, hol ich mir meinen Kuchen jetzt eben einfach selbst!« Energisch greift er nach einem Stück und löst damit tatsächlich etwas aus. Er wird bemerkt!

»Hey!« Alameas erste Empörung wandelt sich sofort in Überraschung um. »Oh, John! Hey, seit wann bist du denn da?«

»Ach herrje, John! Na, da kann ich Sie ja gleich auf der Liste der Anwesenden abhaken. Seit wann sind Sie denn da?« Man sieht Dr. Pawlow eindeutig an, dass ihm diese Situation sehr unangenehm ist. Es ist nicht das erste Mal, dass er gar nicht mitbekommen hat, dass John unter den Anwesenden ist.

»Seit Beginn. Ich war der Erste heute!« John steht leicht genervt neben Alamea und lässt all seinen Frust am Kuchen aus, auf den er aggressiv mit den Zähnen einhackt.

»Warum haben Sie sich denn nicht bemerkbar gemacht?«

»Habe ich! Aber es hat ja keiner mitbekommen!« Unwirsch holt John mit seinem kuchenfreien Arm aus und erwischt Alamea beinahe am Kopf, doch sie kann gerade noch so ausweichen und starrt schuldbewusst mit vollem Mund zu Boden. Es ist nie ihre Absicht gewesen, den Kuchen nicht zu teilen.

»Das tut mir wirklich unheimlich leid, John. Das dürfte mir eigentlich gar nicht passieren, entschuldigen Sie bitte.« Dr. Pawlow ist untröstlich, was Elvira sichtlich amüsiert.

»Und trotzdem passiert es jedes Mal wieder«, erklärt sie.

»Wer ist denn dieser John? Warum hat ihn keiner bemerkt?«, klinkt Frank, der Johns Anwesenheit schon wieder vergessen hat, sich wieder neugierig in das Gespräch ein.

»Elvira?«, beginnt Dr. Pawlow schon mal, um seine Anwesenheitsliste abhaken zu können. Natürlich kann er selbst sehen, wer alles anwesend ist. Die Vorschrift verlangt allerdings, dass er jeden einzeln abfragt. Das ist alles für die Tonaufnahme, die er später gemeinsam mit den Unterschriften bei den Krankenkassen einreichen muss, damit sich niemand auf die Liste schummeln kann, obwohl er gar nicht da gewesen ist.

»Anwesend!«

»Bernd?«

»Anwesend!« Da niemand Anstalten macht, Frank zu antworten, erbarmt sich Bernd gleich, wo er schon einmal am Sprechen ist: »Er ist sowas wie … unsichtbar.«

»Ich bin nicht unsichtbar! Ich bin bloß unscheinbar!«, empört sich John mit vollem Mund. »Das ist ein wesentlicher Unterschied.« Das redet er sich gerne ein. Das macht es für ihn erträglicher.

»Dann eben unauffällig. Jedenfalls kriegt nie eener mit, dass er da ist. Als wäre er unsichtbar.« Bernd rollt mit den Augen. Für ihn macht das keinen Unterschied. Das frustriert John, was er durch ein lautes Schnauben zum Ausdruck bringt.

»Alamea?«, nimmt Dr. Pawlow seine Anwesenheitskontrolle wieder auf.

»Anwesend!« Im Gegensatz zu John, der eben sein Kuchenstück aufisst, schiebt sie sich gerade ein neues Stück in den Mund.

»Frank?«

»Auch anwesend!«

»Sogar die Spiegel übersehen ihn. Er hat nicht mal ein Spiegelbild«, wirft Elvira ein, der das gerade im Spiegelbild des Fensters auffiel.

»Wie frustrierend das sein muss! Ich würde mich ja nie auf ein Date wagen, wenn ich nicht vorher checken könnte, wie ich aussehe!« Schon wieder verteilt Alamea Kuchenkrümel beim Reden.

»Auf Dates werde ich ja auch übersehen.« Johns Frustration ist wieder in Resignation umgeschlagen.

»Wird er auf Dates dann nicht auch übersehen?«, fragt Frank. Das ist das Zeichen für John. Er ist bereits wieder vergessen worden. Manchmal geht das innerhalb von Sekunden. John seufzt.

»Gute Frage!«, findet Alamea.

»Von wem reden wir hier grad eigentlich?«, fragt Bernd irritiert. Alle sehen sich ratlos an.

»Mabel?«

Erschrocken fährt diese aus dem Schlaf hoch und sieht aufgeregt von einem zum anderen. Ihre Fingernägel krallen sich in den weißen Plastikstuhl. »Huh? Was? Was hab ich verpasst? Ist d-d-die Sitzung schon wieder rum?«

Dr. Pawlow lächelt sie an. »Ja, Mabel. Sie haben die halbe Sitzung verschlafen, aber das ist nicht so wild. Bitte unterschreiben Sie noch hier und reichen die Liste dann weiter.« Mit zittrigen Fingern nimmt Mabel das Klemmbrett mit dem Zettel entgegen. Wie immer erkennt man ihre Unterschrift mehr schlecht als recht, so sehr zittert ihre Hand. Dann reicht sie sie weiter. »In der nächsten Sitzung werden wir uns damit beschäftigen, wie Sie sich mit Ihren ungewöhnlichen Fähigkeiten besser im Alltag zurechtfinden und Ihre Kräfte vielleicht sogar in etwas Gutes investieren können. Ihre ›Hausaufgabe‹ wird es allerdings sein, sich über die Gene der anderen Gedanken zu machen, nicht die eigenen. Ich wünsche Ihnen allen frohe Weihnachtsfeiertage!« Lächelnd sieht er seine Patienten an und bekommt die ausgefüllte Liste von Bernd in die Hand gedrückt.

»Hier.«

»Danke. Haben alle unterschrieben?« Er überfliegt flüchtig die Unterschriften.

»Nein, ich muss –«, beginnt John, wird jedoch einfach von Bernd unterbrochen.

»Ja, ick war der Letzte.«

»Nein, ich hab noch nicht unterschrieben!«

»Ich danke Ihnen, Bernd. Also dann, auf Wiedersehen und bis nächste Woche«, verabschiedet sich Dr. Pawlow noch einmal und erhebt sich von seinem Stuhl, das Klemmbrett unter dem Arm.

Während alle aufstehen, um den Raum zu verlassen und den Heimweg anzutreten, bleibt John frustriert seufzend sitzen und starrt die Wand an. »Ach, kack drauf! Als ob die Krankenkasse wüsste, dass ich existiere …« Mit zusammengezogenen Augenbrauen steht nun auch endlich John auf und streckt den Rücken durch, um wenigstens würdevoll den Raum zu verlassen.

DreamBrothers

Freitag

22. Dezember

Bedrückend schweben dicke, graue Regenwolken über Parondon und verbreiten eine triste Stimmung über der Hauptstadt der Genträger. In dieser Stadt gibt es auch einen besonderen Ort, der noch nicht sonderlich lange existiert. Dort wimmelt es nur so von jungen Genträgern, deren Fähigkeiten sich bereits entfaltet haben. Es passiert zwar nur äußerst selten, dass Minderjährige ihre Kräfte entfalten, doch es kommt vor. Und für diese Kinder wurde die Parondon Genetic Boarding School eröffnet. Ein Internat für minderjährige Genträger, um sie mit ihren Kräften vertraut zu machen und sie und andere vor ihren unkontrollierten Fähigkeiten zu schützen.

Der heutige Tag ist einer dieser, an denen ein neuer Schüler hierher versetzt wird. Ein Schüler, der erst vor wenigen Tagen seine Kräfte gezeigt hat und noch keine 18 Jahre alt ist. Sein Name lautet Billy Fletcher und Billy ist Waise. Die Erkenntnis, dass er besondere Gene in sich trägt, traf ihn erst kürzlich und ebenso überraschend wie die Leitung des Waisenhauses, in dem Billy nur noch zwei Jahre hätte bleiben müssen. Doch nun wird er für diese Zeit an die PGBS versetzt. Neues Zuhause. Neue Schule. Billy hat unendlich Lust darauf. Nicht.

»Rosa Carmund?« Jemand räuspert sich hinter einer der diensthabenden Aufsichtspersonen des Internats. Sie geht in Gedanken gerade alle bisherigen Informationen über den neuen Schüler durch, während sie den Haupteingang ansteuert, um den Jungen in Empfang zu nehmen, da wirbelt sie erschrocken herum.

»Huch!« Rosa legt sich erschrocken die Hand aufs Herz. »Haben Sie mich erschreckt. Wie kann ich Ihnen helfen?« Doch als ihr Blick auf den schmalen, blonden Jungen neben dem Herrn fällt, ahnt sie bereits, um wen es sich handelt.

»Entschuldigen Sie, wir sind durch den Seiteneingang gekommen, da unser Taxi uns dort rausgelassen hat. Walther Higgins«, bestätigt der Mann ihre stille Vermutung und reicht ihr seine Hand. Rosa ergreift diese und schüttelt sie lächelnd mit einem kräftigen Händedruck.

»Mr Higgins, wie schön! Ich war gerade auf dem Weg, Sie in Empfang zu nehmen.« Ein angenehmes, leises Lachen dringt aus ihrer Kehle und sie wendet sich dem Jungen zu. »Hallo, Billy! Schön, dass wir dich bei uns begrüßen dürfen!«

»Geht schon«, nuschelt der Junge zur Antwort und schaut sie dabei nicht einmal an. Normalerweise zeigen die neuen Schüler etwas mehr Begeisterung für dieses Internat, da sie hier immerhin die Möglichkeit erhalten, das volle Potential ihrer Gen-Kräfte legal zu entfalten. Außerdem erledigt die Schule den ganzen bürokratischen Kram für sie – mal abgesehen von zu leistenden Unterschriften von Erziehungsberechtigten, insofern diese vorhanden sind. Doch auch Fälle wie Billy kommen hin und wieder vor: Kinder oder Jugendliche, die eigentlich kein Kräfte-Gen möchten, die eine Kraft haben, die sie uncool finden, oder die wie Billy nur weitergereicht werden, weil sie sonst niemanden haben. Rosa lässt sich von so etwas nie entmutigen und lächelt den Jungen weiterhin offen an.

»Billy, bitte benimm dich«, tadelt ihn Mr Higgins, allerdings kann man ihm ansehen, dass ihm dabei ein wenig unbehaglich zumute ist. Anscheinend fühlt er sich nicht ganz wohl dabei, einen Waisenjungen in seinem Alter in ein neues zu Hause zu schicken. Oder er ist einfach ein recht unsicherer Mann. »Hier bist du in guten Händen und viel besser aufgehoben als bei uns. Hier wird man dir helfen, mit deinen neuen Fähigkeiten umzugehen.«

»Ich weiß bereits, wie das funktioniert!« Billy verdreht die Augen.

»Das sind gute Neuigkeiten!«, lächelt Rosa motiviert. »Aber ich bin mir sicher, dass wir dir helfen können, deine Kräfte zu stabilisieren. Außerdem lernst du hier viele kennen, die so sind wie du, und wir übernehmen für dich die staatliche Registrierung deiner Kräfte und lehren dich alle Genträger-Gesetze, damit du für dein Leben als Genträger gewappnet bist.«

»Kann’s kaum erwarten«, murmelt Billy.

»Ich werde mich wieder auf den Weg machen. Billy? Ich wünsche dir viel Erfolg auf deinem weiteren Lebensweg!«

»Hm.«

Einen Moment lang stehen beide stumm voreinander, allerdings wirkt wieder einmal nur Mr Higgins verlegen. Billy mimt mehr den Desinteressierten. Schließlich räuspert sich der Leiter des Waisenhauses leise, nickt beiden zu und murmelt ein »Auf Wiedersehen«, ehe er den Rückweg zum Seiteneingang antritt.

»Gut, Billy, dann nimm mal deinen Koffer und folge mir.« Lächelnd geht Rosa Carmund voran. Bereits am Morgen ist sie bei der Schulleiterin Ethel Poseby gewesen und hat mit ihr abgesprochen, dass Billy in das Zimmer von Arvin Lillaby einziehen soll, der wie Billy eine Waise ist. Außerdem ist auch Arvin noch nicht allzu lange bei ihnen und hat noch nicht wirklich Anschluss gefunden. Sie dachten sich, dass die beiden Jungs aufgrund dieser Gemeinsamkeiten hoffentlich schnell Freundschaft schließen würden.

Ein paar Abbiegungen später bleibt Rosa an einer der vielen verschlossenen Türen stehen und klopft an. Allerdings wartet sie keine Antwort ab, sondern öffnet kurz darauf die Tür.

»Arvin.« Lächelnd betritt sie mit Billy das Zimmer und schaut zu einem brünetten Jungen von etwa siebzehn Jahren, der mit Bluetooth-In-Ear-Kopfhörern auf seinem Bett liegt und an die Decke starrt. Der Kerl ist groß und kräftig, aber nicht dick. Sein braunes Haar kringelt sich leicht in der Stirn und lässt es aussehen, als hätte er geschwitzt oder wäre in einen Regenschauer geraten.

Billy hat draußen auf dem Hof, in den Gängen und einem Freizeitraum, den Rosa ihm unterwegs gezeigt hat, etliche Schüler zusammen rumhängen gesehen. Arvin jedoch scheint lieber alleine zu sein. Ein Einzelgänger wie er?

»Wer ist das?«, fragt der brünette Junge, nachdem er sich einen der Kopfhörer aus dem Ohr gezogen hat, und mustert den Blonden skeptisch.

»Arvin, das ist dein neuer Zimmergenosse, Billy Fletcher. Billy, das ist Arvin Lillaby«, stellt Rosa lächelnd die beiden einander vor. »Er ist selbst erst seit ein paar Tagen hier und auch aus einem Waisenheim zu uns gekommen. Ihr werdet euch sicher hervorragend verstehen.«

»Huh …«, macht Arvin.

»Hm …«, brummt Billy.

»Jetzt lernt euch erstmal kennen. Seid aber bitte pünktlich zum Abendessen um 18 Uhr. Dort wird Direktorin Ethel Poseby dir deinen Stundenplan aushändigen, Billy. Auf Wiedersehen!« Die letzten Worte zwitschert sie, während sie ihren kurvigen Körper bereits aus der Tür schiebt und diese lautlos schließt.

Billy lässt seine Reisetasche auf den Boden fallen und schaut sich im Zimmer um. Beide Hälften sind identisch eingerichtet, nur gespiegelt: ein Bett an der Wand, daneben ein hoher Kleiderschrank, ein Schreibtisch vor jeweils einem der beiden Fenster, durch die das Licht Dank eines Fliegengitters nur getrübt hineinscheint.

»Und? Was sind deine Kräfte?« Arvin klingt mäßig interessiert.

»Ich kann Menschen einschlafen und aufwachen lassen, wann ich will.« Auch Billy hat eigentlich keine große Lust auf Smalltalk.

»Ohne Scheiß?«

Mit gerunzelter Stirn wendet Billy seinen Blick zu dem anderen Jungen, der nun ernsthaft interessiert klingt und ihn – aufrecht im Bett sitzend – anblickt.

»Jepp«, meint Billy und kickt seine Tasche mit dem Fuß zu seinem Schrank hinüber. Er wird später auspacken. Jetzt hat er keine Lust. Im Grunde hat er nicht mal Lust, hier zu sein. Weil die Stille im Raum irgendwie merkwürdig ist, besonders weil Arvin ihn noch immer mit diesem neugierigen Blick ansieht, fügt Billy nach kurzem Zögern hinzu: »Willste Beweise?«

Als hätte sein Gegenüber nur darauf gewartet, antwortet dieser prompt: »Klar, zeig mal!« Schon steht er neben dem blonden Jungen und zieht ihn mit hinaus auf den leeren Flur.

»Jetzt sofort?«, fragt Billy etwas überrumpelt.

»Hast du was Besseres zu tun?«, fragt Arvin und da Billy nichts sagt, meint er kurz darauf grinsend: »Na siehste!«

Sie laufen einen Augenblick lang stumm den Flur entlang und schauen hier und da in geöffnete Zimmer hinein, in denen meist kleine Grüppchen von Schülern sitzen und quatschen. Manche schauen zurück, sagen aber nichts. Am Ende des Gangs, wo die Türen wieder geschlossen sind, kommt ein junges Mädchen aus einem der Zimmer. Nachdem Arvin sich versichert hat, dass sie niemand sehen kann, nickt er Billy zu. Dieser geht nach kurzem Zögern auf das Mädchen zu, legt ihr seine Hand auf den Kopf und flüstert: »Hush!«

Verdattert blickt sie ihn an und fragt: »Was –?«, doch weiter kommt sie nicht, denn in der nächsten Sekunde sackt ihr Körper bereits schlaff zu Boden. Arvins Augen werden immer größer und schließlich stößt er einen heiseren, aufgeregten Lacher aus.

»Abgefahren!«, flüstert er fasziniert. »Und jetzt lass sie wieder aufwachen!«

Billy bückt sich zu dem schlafenden Mädchen hinunter, legt erneut seine Hand auf dessen Kopf und gleich darauf schlägt es die Augen auf.

»Was ist passiert? Wieso lieg ich am Boden?« Sie wirkt verwirrt und müde.

»Kannst du dich nicht erinnern?« Eine Frage, die er bisher noch keinem seiner Probanden gestellt hat. Das wäre schon interessant zu erfahren.

»Nein … Ich hab keine Ahnung, wie ich … hingefallen bin.«

Einen Moment lang herrscht Schweigen zwischen den Dreien, dann sagt Arvin: »Dir ist schwindlig geworden und du bist umgekippt. Billy hat dich aufgefangen, damit du dir nicht weh tust. Du solltest lieber mal zur Krankenschwester gehen und dich durchchecken lassen!«

Verlegen lächelnd streicht sich das Mädchen eine ihrer kurzen, schwarzen Strähnen hinter das Ohr und schaut zu Billy. »Oh … Ja, mach ich. Und … danke.«

»Oh, ähm … klar, gern!«, erwidert Billy verdattert. Es passiert nicht oft, dass sich jemand bei ihm bedankt. Allerdings liefert er auch selten Grund dazu.

Nachdem sie mit einem letzten verwirrten Lächeln verschwunden ist, packt Arvin Billy am Arm und schleift ihn zurück auf ihr gemeinsames Zimmer, um ungestört mit ihm reden zu können. Zwar hat sie niemand gesehen auf dem Flur der Schlafräume, doch zu hören wären sie allemal durch die großen, hallenden Korridore. Arvin braucht keine Zuhörer.

»Abgefahren!«, entfährt es ihm nochmals begeistert, kaum dass er die Tür geschlossen hat.

»Und was kannst du?«, will Billy nun auch wissen. So wie Arvin abgeht, hat Billy das Gefühl, dass es irgendetwas total Langweiliges sein muss.

»Halt dich fest! Wir sind total kompatibel!«

»Okay …?!« Billy ist verwirrt. Und weniger begeistert als der andere.

»Ich kann schlafende Menschen steuern«, klärt Arvin ihn mit einem merkwürdigen Grinsen auf den Lippen auf.

Nun ist Billys Neugier doch geweckt.

»Wie meinst du?«

»Wenn jemand schläft, kann ich mich in seine Träume begeben und diese anschauen und lenken. Ich kann sie sogar schlafwandeln lassen, aber das ist echt noch mega tricky. Da muss ich, glaub ich, noch viel lernen.«

»Krass. Wie hast du das rausgefunden? Also, dass du sowas kannst?«

»Och, ganz easy.« Arvin lächelt selbstgefällig und lässt sich auf sein Bett fallen.

Als Billy auf seines sinkt, stellt er fest, dass es noch nicht bezogen ist, aber frische Bettwäsche liegt bereit. Allerdings hat er keine Lust, es jetzt zu beziehen.

»Ich kannte die Kraft von meiner Mum, bevor sie starb«, erzählt sein Zimmergenosse unterdessen. »Sie war Therapeutin und hat das dafür ganz gut anwenden können. Wie so ’ne Art Hypnose. Und irgendwann lag ich abends auf meinem Zimmer und mein Mitbewohner Ed hat schon gepennt, da hatte ich auf einmal so ein komisches Gefühl in mir. Oder mehr so … wie eine Stimme, die mich in seine Träume gerufen hat. Also hab ich ein wenig herumexperimentiert und dann hat’s geklappt!«

»Krass! Und dann hat dich dein Mitbewohner verpetzt, oder wie?«

Arvin lacht ein wenig abwertend. »Quatsch, der hat das gar nicht mal gepeilt. Ich hab das dann jeden Abend gemacht und der hat absolut nichts gecheckt. Hab mich aus Versehen verraten, als ich ihn schlafwandeln ließ. Mein Problem ist, dass ich selbst einschlafe, sobald ich in Träume eindringe. Und als man Ed bei meinem zweiten Versuch schlafwandelnd im Flur fand, hab ich aus Versehen als ich selbst durch ihn geantwortet. Oder besser gesagt geflucht. Ed flucht nie, musst du wissen. Vermutlich hab ich durch seinen Körper sprechen können, weil ich in irgendeiner spirituellen Weise oder so in seinem Kopf gesteckt hab … Dadurch bin ich irgendwann aufgeflogen.« Mit einem auffordernden Nicken sieht er zu Billy. »Und du? Wie kam’s bei dir?«

»Eher durch Zufall. Ich wollte so einen Idioten bei ’ner Prügelei von mir wegstoßen und hab ihn dabei mit der Hand am Kopf erwischt – bäm, eingepennt. Daher konnte ich das auch nicht groß verheimlichen. Hat auch ’ne Weile gedauert, bis ich wusste, wie man den wieder weckt. Ist alles gerade mal zwei Tage her.«

»Und schon bist du hier? Wow, das ging schnell«, stellt Arvin fest.

»Jepp …«

Wieder herrscht einen Augenblick Stille zwischen ihnen.

»Und warum dieses Hush?« Das letzte Wort flüstert er genauso, wie Billy es wenige Minuten zuvor getan hat. »Geht’s ohne nicht?«

Billy bildet sich ein, Spott herauszuhören, aber es juckt ihn nicht. Nur ein bisschen vielleicht. Ihm ist es egal, was andere über ihn denken. Eigentlich. Aber vielleicht, nur ganz vielleicht, fände er es cool, wenn Arvin ihn ein bisschen cool fände. So ein ganz kleines bisschen. Möglicherweise, weil sie sich auf einer gewissen Ebene ähnlich sind. So etwas hatte er bisher noch nie. »Kein Plan … Für den Effekt?« Billy setzt einen lässigen Blick auf. »Is’ irgendwie cooler.«

Als Arvin daraufhin lacht, lacht auch Billy etwas. Irgendwie erleichtert. »Poser!« Nach einem erneuten Schweigemoment fügt Arvin hinzu: »Mann, direkt am gleichen Tag erwischt worden. Ich hab fast zwei Wochen geschafft, ehe ich aufgeflogen bin. Hab sogar versucht, mit dieser Kraft endlich abzuhauen aus dem Waisenheim, aber das war der zweite Versuch mit dem Schlafwandeln. Der, bei dem ich erwischt wurde. Danach haben die mich nachts bewacht, bis ich hierherkam.«

»Wie wolltest du damit denn abhauen?«, fragt Billy verwundert.

»Wollte Ed die Schlüssel vom Hausmeister klauen und mir von ihm die Tür aufschließen lassen. Falls sie Fingerabdrücke oder so gesucht hätten … na ja … fail.« Der kräftige Junge zuckt mit den Schultern. Wieder herrscht eine Weile lang Schweigen, während Billy sich im Zimmer umschaut und Arvin seine Kopfhörer putzt.

»Ich wär auch manchmal gern einfach abgehauen. Ich mein … Uns will doch in dem Alter eh keiner mehr …«, durchbricht Billy irgendwann das Schweigen.

»Meine Rede! Und wir sind fast volljährig … Die schmeißen uns also in ’nem Jahr eh hier raus und meinen GCSE-Abschluss hab ich im Waisenheim auch schon gemacht. Warum soll ich hier also noch A-Levels machen? Ist doch nur für Angeber und Loser.«

»Schlaue Loser.«

»Loser ist Loser.«

»Ja …« Billy lacht leise. »Ich hab auch diesen Sommer mein GCSE gemacht.«

»Siehste. Sinnlos! Und hier im Internat kann man auch das mit der Adoption vergessen. Warum also hier vergammeln?«

»Echt«, stimmt Billy nickend zu.

»Vielleicht schaffen wir es zusammen?«

Aufhorchend hebt Billy den Kopf. Ausreißen? Gemeinsam? Von hier? Nichts lieber als das! Auf der anderen Seite macht ihn der Gedanke aber auch nervös. Sicher gibt es hier Schutzmaßnahmen. Denn unausgebildete Minderjährige dürfen ihre Kräfte außerhalb dieser Mauern nicht mal anwenden. Das hatte man ihm gleich als Erstes eingetrichtert, als ihm verkündet wurde, dass er hierhergeschickt werden würde. Man sorgt also sicherlich dafür, dass die Schüler des Internats nicht einfach ausreißen können.

»Meinste? Denkst du nicht, die benutzen hier WatPlast, damit wir nicht türmen können?«

»Quatsch«, lacht Arvin. »Das hier ist immer noch ein Internat, keine Irrenanstalt oder ein Gefängnis. Hier benutzen die doch kein WatPlast.«

Schon früh hat sich herausgestellt, dass Genträger im Wasser ihre Kraft verlieren. Wasser hemmt ihre Macht sogar schon, wenn sie nur vom Regen oder ein paar Wasserspritzern nass werden. Jedoch können sie auch durch Wasserwände – wie beispielsweise einen Wasserfall – hindurch keine Kräfte wirken. Um Genträger in Gefängnissen sicher festsetzen zu können, wurde WatPlast erfunden. Ein Acrylglas-Polycarbonat-Gemisch in Verbindung mit Wasser. Man kann sich das vereinfacht vorstellen wie eine Plexiglaswand, die mit Wasser gefüllt ist.

»Na gut«, lenkt Billy ein. »Und wie sollen wir das anstellen?«

Mit einem vielsagenden Grinsen auf den Lippen meint Arvin: »Also, pass auf …«

Zum Abendessen händigt die Direktorin Ethel Poseby Billy alle Unterlagen aus. Stundenpläne, die Hausordnung, Trainingspläne zur Kontrolle der Kräfte-Gene und eine Kopie der schriftlichen Bestätigung, dass er nun offiziell als Genträger registriert ist. Von ihren Ausbruchsplänen lassen sich Arvin und Billy nicht das Geringste anmerken. Sie verschwinden wie alle anderen nach dem Essen auf ihrem Zimmer und vertun sich mit Musik und Quatschen die Zeit bis zur Bettruhe. Als es gegen Mitternacht allmählich ruhig wird und die Betreuer ihren aktuellen Rundgang durch ihren Schlafkorridor beenden, schlüpfen Arvin und Billy aus dem Bett und packen ihr wichtigstes Hab und Gut sowie ein Seil in ihre Taschen.

»Bist du soweit?«, fragt Arvin, als er den Reißverschluss seines Rucksacks zuzieht und sich noch einmal im Zimmer umsieht. Er hat nicht viel hier, das ihm genug bedeutet, um es mitzunehmen. Sein Handy, das Ladekabel und die Kopfhörer sind eingepackt, sein Ausweis auch. Sobald er in Freiheit ist, will er sich jedoch einen neuen machen lassen. Einen, in dem er volljährig ist. Zur Sicherheit nimmt er den alten aber trotzdem mit. Billy hat seinen Ausweis ebenfalls eingesteckt. Statt eines Rucksacks trägt er seine Reisetasche auf dem Rücken, die nie sonderlich voll gewesen ist. Billy nickt bestätigend. »Gut, dann los. Und ab jetzt …« Arvin legt seinen Finger an die Lippen und flüstert: »Leise.«

Beinahe lautlos schleichen sich die Jungs die Flure entlang bis zum Büro des Hausmeisters Carl Venston. Ein griesgrämiger Geselle, der Genträger nicht leiden kann. Warum er ausgerechnet hier arbeitet, weiß keiner. Einige Schüler vermuten, dass er einfach nirgendwo anders genommen wurde, weil er so griesgrämig ist. Vom Büro aus dringen Geräusche auf den Flur. Es klingt, als würde Mr Venston sich irgendein Spiel ansehen. Vielleicht Fußball oder Football.

»Klopf an«, raunt Arvin.

»Huh? Wieso ich?«, fragt Billy in verwirrtem Flüsterton.

»Frag nicht, mach halt!«

»Okay, okay«, murrt Billy leise und klopft an.

Der Ton drinnen wird leiser gestellt. »Ja?«

Da Billy zögert, drückt Arvin die Tür auf und schiebt ihn hinein.

»Huh? Was macht ihr Jungs denn hier? Ihr solltet doch längst im Bett liegen«, raunzt Venston sie an und seht auf, um sie wieder hinauszubefördern, doch Billy legt hastig die Hand auf seinen Kopf und flüstert: »Hush!« Keine zwei Sekunden später liegt der Körper des Hausmeisters wie leblos am Boden.

Arvin strahlt begeistert. »Yes! Sehr gut! Hier, jetzt das Seil. Leg es dir wie einen Rucksack um die Schultern und ich …« Während er redet, wickelt Arvin das Seil fest mit einem Seemannsknoten um seinen Körper. »… binde es mir hier um die Brust … so! Mit dem Knoten dürfte das halten. Sicher, dass du mich dann ziehen kannst? Ich werde krass schwer sein, wenn ich schlafe.«

»Na ja … Muss ja.« Billy ist nicht ganz so überzeugt von dem Plan, doch es ist der einzige, den sie haben.

»Gute Einstellung.« Grinsend wuschelt Arvin dem kleineren Jungen durch das blonde Haar. Billy seufzt leise genervt und schiebt Arvins Hand beiseite.

»So, dann schau ich mal nach, was Mr Venston so träumt, und lasse ihn ein bisschen schlafwandeln. Denk dran: Sobald dir jemand entgegenkommt …« Arvin grinst Billy an und flüstert: »Hush! Wenn wir an der Tür sind, wartest du noch, bis ich Mr Venston zurück in sein Büro gebracht habe. Und wenn ich es dann nicht schaffe, von alleine aufzuwachen –«

»Helfe ich nach«, beendet Billy seinen Satz. Sie sind es bereits mehrmals durchgegangen.

»Genau. Dann bis nachher!«

Wie auf Kommando schläft Arvin ein und sein Gewicht, als sein Körper erschlafft, zieht schwer an Billys Schultern, sodass dieser beinahe umfällt. Fasziniert beobachtet er, wie sich gleich darauf der schlafende Mr Venston vom Boden erhebt und wie ein Zombie den Schlüsselbund von der Wand nimmt. Als Venston die Tür ansteuert, weicht Billy ihm so schnell er kann aus, um nicht umgerannt zu werden. Es ist das erste Mal, dass er Arvins Kräfte in Aktion erlebt. Einen Probelauf oder einen Beweis wie bei Billy hat es vorher nicht gegeben. Das Gesicht des Hausmeisters sieht aus, als wäre er gelähmt. Ein Auge ist offen, das andere nur einen Spalt breit, was Billy irgendwie gruselig findet. Einer der Mundwinkel hängt schlaff herunter.

Als Carl Venston das Büro verlässt, schleicht Billy ihm hinterher. Er ächzt leise unter dem Gewicht von Arvin und ihren beiden Taschen auf seinem Rücken. Blöd für ihn, dass er die Muskelarbeit dieses Plans erledigen muss.

Der Weg bis zum Haupteingang verläuft beinahe problemlos und Billy schafft es sogar, einen Zwischenstopp im Büro von Direktorin Poseby einzulegen, um seine und Arvins Akten zu klauen und sie im Rucksack zu verstauen. Doch kaum hat Billy den schlafenden Hausmeister eingeholt, taucht Ethel Poseby auf ihrer Kontrollrunde im Flur auf. Billy schafft es gerade noch, sich ungesehen hinter einer Ecke zu verstecken.

»Shit, shit, shit, shit!«, murmelt er leise und presst sich an die Wand, um vorsichtig um die Ecke zu spähen. Mrs Poseby ist stehengeblieben und schautüberrascht den gruselig aussehenden Hausmeister an.

»Huch, Carl, geht es Ihnen gut? Sie sehen so … erschöpft aus.«

Nun hört Billy ihn das erste Mal in diesem Zustand reden und es klingt genauso unheimlich wie er aussieht, doch seiner brummigen Art, die Billy kurz erlebt hat, nicht unähnlich. Vermutlich schöpft die Direktorin daher keinen Verdacht.

»Hungeeeer …«

»Huh … nun gut, dann … lassen Sie es sich schmecken. In der Küche ist noch ein Rest von Rosas Geburtstagstorte.«

Der Hausmeister schlurft weiter und die Direktorin sieht ihm kopfschüttelnd hinterher. Im Weitergehen murmelt sie leise vor sich hin: »Ich hab ja schon gehört, dass manche Menschen hungrig sehr eigen sein können, aber sowas ist mir auch noch nicht begegnet.«

Ihre Stimme nähert sich und Billy hofft, dass er unentdeckt bleibt, doch die Hoffnung ist vergebens. »Billy? Und … Arvin?« Verwundert schaut sie von einem zum anderen. Dann schlägt ihre Verwunderung in Strenge um. »Was habt ihr denn hier verloren? Ich freue mich ja, dass ihr euch anscheinend gut versteht, aber trotzdem: Ab zurück auf euer Zimmer! Und was ist denn mit Arv–«

»Fuck«, entfährt es Billy und er fängt sich einen tadelnden Blick von Mrs Poseby ein.

»Billy!«

Auch wenn er sich bei dem Gedanken, das zu tun, was er vorhat, etwas unwohl fühlt, bleibt ihm nichts anderes übrig, wenn ihr Plan gelingen soll. Sollte er seinetwegen scheitern, wäre Arvin sicher von ihm enttäuscht. Mit einem unsicheren »Tut mir leid, Mrs … ähm… Ich hab leider Ihren Namen vergessen, Ma’am« legt Billy seine Hand auf ihren Kopf.

»Poseby. Und jetzt –«, sagt sie noch, bevor Billy sein Hush flüstert und ihr Körper zusammensackt. Billy wirft einen letzten Blick auf sie, ehe er sich ächzend



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