Origin – Die Entdeckung - Andreas Brandhorst - E-Book

Origin – Die Entdeckung E-Book

Andreas Brandhorst

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Beschreibung

Im 23. Jahrhundert ist die Erde größtenteils unbewohnbar. Reiche Überlebende auf dem Trockenen streiten sich mit den Bewohnern schwimmender Inseln um die letzten Ressourcen. Ein Kolonisten-Raumschiff soll die Menschheit retten. Doch dann entdeckt eine Sonde ein außerirdisches Artefakt im Kuipergürtel. Darin: ein Humanoide im Kryoschlaf – Millionen von Jahren alt! Paläontologin Lea Lehora sucht mithilfe einer Quantenintelligenz nach der Lösung für ein Rätsel, das die Menschheit für immer verändern wird.

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Seitenzahl: 494

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Die Erde im 23. Jahrhundert. Große Teile des Planeten sind unbewohnbar, und der Rest der Menschheit lebt entweder in luxuriösen Städten auf den Berggipfeln oder in Armut auf schwimmenden Inseln im Ozean. Um den Fortbestand der Menschheit zu sichern, wird ein gewaltiges Raumschiff gebaut, das Siedler in ein anderes Sternsystem bringen soll. An Bord befinden sich einhunderttausend Kolonisten im Kryoschlaf. Doch dann macht eine Sonde eine unglaubliche Entdeckung: Auf einem Zwergplaneten im Kuipergürtel wird eine Art Schrein gefunden – und in seinem Inneren liegt ein Humanoide im Kälteschlaf. Ein Mensch, der anscheinend zwanzig Millionen Jahre alt ist! Aber wie kann das sein? Für die Paläontologin Lea Lehora beginnt eine atemberaubende Jagd nach Antworten. Mithilfe einer Quantenintelligenz und gegen den Widerstand mächtiger Feinde kommt sie der Lösung des Rätsels immer näher – einer Wahrheit, die die Zukunft der Menschheit für immer verändern wird.

In ORIGIN erzählen die drei Großmeister der deutschsprachigen Science-Fiction, Andreas Brandhorst, Joshua Tree und Brandon Q. Morris, die Geschichte von ein paar tapferen Wissenschaftlern, die sich mit einem Generationenschiff in den Tiefen des Alls auf die Suche nach dem wahren Ursprung der Menschheit machen.

Die ORIGIN-Reihe bei Heyne:

Andreas Brandhorst: ORIGIN – Die Entdeckung

Joshua Tree: ORIGIN – Die Erweckung

Brandon Q. Morris: ORIGIN – Die Erlösung

Der Autor

Andreas Brandhorst, geboren 1956 im norddeutschen Sielhorst, hat mit Romanen wie Äon, Das Erwachen oder Das Schiff die deutsche Science-Fiction-Literatur der letzten Jahre entscheidend geprägt. Spektakuläre Zukunftsvisionen verbunden mit einem atemberaubenden Thriller-Plot sind zu seinem Markenzeichen geworden und verschaffen ihm regelmäßig Bestsellerplatzierungen. Zuletzt ist bei Heyne sein Thriller Der Riss erschienen. Andreas Brandhorst lebt im Emsland.

Mehr über Andreas Brandhorst und seine Werke erfahren Sie auf:

ANDREAS BRANDHORST

ORIGIN

DIE ENTDECKUNG

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Originalausgabe

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

1. Auflage 2025

Copyright © 2025 by Andreas Brandhorst

Copyright dieser Ausgabe © 2025 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Textbaby Medienagentur, www.textbaby.de

Redaktion: Rainer-Michael Rahn

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Gegham Davtyan, Velimir Zeland, Algol)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-33288-4V002

www.heyne.de

»Wir dürfen das Weltall nicht einengen, um es den Grenzen unseres Vorstellungsvermögens anzupassen, wie der Mensch es bisher zu tun pflegte. Wir müssen vielmehr unser Wissen ausdehnen, sodass es das Bild des Weltalls zu fassen vermag.«

Francis Bacon, englischer Philosoph 1561 – 1626

»Nicht ein leises Ticken schlägt an unser Ohr, wenn irgendwo zwei Sterne aufeinander rennen – was mag erst außerhalb dieser Welt vorgehen, wovon wir nicht das Geringste erfahren!«

Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck, deutscher Mediziner und Naturforscher 1776 – 1858

Inhalt

ORIGIN – Die Entdeckung

Personenverzeichnis

Historische Übersicht

Glossar

Prolog

Triton, Neptuns größter Mond

Neptun, blau und gewaltig, nahm den größten Teil des sichtbaren Himmels ein.

Flora stand still im Hangar der Raumstation Poseidon Zero in Tritons Umlaufbahn, erfüllt von angenehmer Ruhe. Durch die Kuppel sah sie zu Neptun auf. Ich komme zu dir, dachte sie.

Hinter ihr öffnete sich das Innenschott des Hangars, und Sunset kam mit leichten Schritten herein.

»Nein«, sagte sie, die besorgte Stimme höher als sonst. »Bitte nicht. Lass mich nicht allein.«

Flora drehte sich langsam zu ihr um. Wie jung sie war. Jung und schön. Für einen Moment regte sich fast so etwas wie Bedauern in ihr. Aber Neptun rief sie, laut, mit der Stimme in ihrem Innern.

Sie lächelte. »Ach, Sunset, du bleibst nicht allein. Nicht lange.« Das stimmte, wenn auch auf andere Art. Nuvola Nove – die Korporation, der die Raumstation gehörte – würde in wenigen Wochen Ersatz für sie schicken. Der vor einigen Jahren entwickelte neue M-Antrieb verkürzte die Flugzeiten innerhalb des Sonnensystems.

Die junge Sunset, nicht einmal fünfundzwanzig Jahre alt, blieb stehen, ihre grünblauen Augen groß. »Du lügst!«

»Ich komme zurück«, behauptete Flora, und diesmal war es tatsächlich eine Lüge. Plötzlich begriff sie mit überraschender Klarheit, dass sie gar nicht zurückkehren wollte.

Noch einmal in die Tiefen Neptuns, tiefer und tiefer …

»Ich komme zurück«, log sie erneut. »Ich möchte ihn nur noch einmal aus der Nähe sehen.«

Sunset setzte sich wieder in Bewegung. Wie in einem langsamen, eleganten Tanz trat sie durch den Hangar, verharrte dicht vor der zwanzig Jahre älteren Flora, hob die Hand und berührte sie erst am Kinn, dann an der Wange. Es war warm, sie trug Shorts und ein ärmelloses Shirt.

»Bitte, lass mich nicht allein«, wiederholte sie.

»Ich …«, begann Flora.

»Du hast sie zusätzlich gepanzert.« Sunset deutete an ihr vorbei zur Forschungskapsel im Startgerüst. »Und der Schirm ist verstärkt. Du willst tiefer eintauchen als beim letzten Mal.«

»Ich habe etwas gesehen«, erwiderte Flora und ergriff die Hand an ihrer Wange. »Unten in Neptuns Wolkenmeer.«

»Ich kenne die Logs«, sagte Sunset. »Die Sensoren haben nichts registriert. Nur Wasserstoff, Methan und Ammoniak.« Die Augen wurden noch etwas größer. »Und einen immensen Druck. Dafür ist die Kapsel nicht gebaut! Du kannst ihr noch so viel Panzerung hinzufügen und weitere Schirme installieren, es nützt nichts! Sie kann dem enormen Druck in Neptuns Tiefen nicht standhalten. Sie wird implodieren, und du …«

Sunset verstummte plötzlich.

Vielleicht war es genau das, was Flora lockte. Die Aussicht, mit Neptun eins zu werden, dort, wo der enorme Druck die Atmosphäre verflüssigte. Bei ihrer letzten Reise hatte sie tatsächlich etwas gesehen, da war sie sicher, obwohl die Aufzeichnungen nichts zeigten. Aber darum ging es ihr nicht.

»Warum willst du sterben?«, fragte Sunset.

»Ach.« Flora verzog das Gesicht. »Sterben will ich gewiss nicht.« Sie wollte glauben, dass es keine weitere Lüge war, aber wovon sie träumte, eins zu werden mit Neptun, mit seinen blauen stürmischen Tiefen, in denen es Diamanten regnete … Konnte das etwas anderes bedeuten als ihren physischen Tod?

»Dann bleib hier!«

Flora lächelte erneut, sanft und geduldig. »In zwölf Stunden bin ich wieder da.« Sie wandte sich um und ging zur wartenden Kapsel. Die Luke stand offen.

Jenseits der transparenten Kuppel wartete Neptun auf sie.

Ein akustisches Signal erklang, ein glockenartiges Pling.

»Ich möchte euch nicht bei eurem Gespräch stören«, erklang die androgyne Stimme der Stations-KI namens Infinity. »Aber ich habe etwas Wichtiges für euch.«

Flora hatte die Hand nach der Luke ausgestreckt und ließ sie wieder sinken. »Ja?«

»Es geht um eine unserer Sonden im Kuipergürtel«, verkündete Infinity.

»Was ist damit?«, fragte Flora ungeduldig. »Wieder ein überfälliger Bericht?«

»Ganz im Gegenteil«, lautete die Antwort. »Eine der Sonden hat sich außerhalb der üblichen Berichtsintervalle gemeldet. Sie hat etwas entdeckt.«

Ausgerechnet jetzt, dachte Flora. »Neue Ressourcen für den Mars und die Wayfarer, nehme ich an. Das hat Zeit bis später.« Sie hob wieder die Hand zur Luke.

»Nein«, sagte Infinity. »Es geht nicht um Rohstoffe und dergleichen. Die Sonde NN21 hat eine technologische Signatur gefunden.«

Flora und Sunset sahen sich an. Neptun war plötzlich vergessen.

»Fass die Daten für uns zusammen.« Flora eilte mit Sunset zum Innenschott des Hangars. »Wir sind unterwegs zum Kontrollraum.«

»Was ist das?«, fragte Sunset aufgeregt. »Ein Komet? Ein Asteroid?«

Ihr Blick galt dem hohen, breiten Bildschirm hinter den Konsolen des Kontrollraums. Er wirkte wie ein Panoramafenster, das Ausblick ins All gewährte, und zeigte in seiner Mitte eine unregelmäßig geformte Ansammlung von dunklem Felsgestein und schmutzigem Eis.

Floras Finger huschten über die Schaltflächen vor ihr. Virtuelle Anzeigen erschienen und verschwanden nach einer kurzen Bestätigung. Links und rechts an den Bildschirmrändern scrollten Datenkolonnen.

»Ein transneptunisches Objekt, zu klein für einen Plutoiden«, stellte sie fest. »Der Durchmesser beträgt knapp zweihundert Kilometer. Nicht genug Masse für eine kugelförmige Struktur.«

Neue Daten erschienen auf dem Schirm, während sich der transneptunische Wanderer weiterhin drehte, dunkel selbst dort, wo Eis die Oberfläche bedeckte.

»Entfernung fünfundvierzig Astronomische Einheiten«, sagte Sunset. »Offenbar ein losgelöstes Objekt wie Sedna, nicht von Neptuns Umlaufbahn beeinflusst.«

»Sedna ist viel weiter draußen«, murmelte Flora nachdenklich. »Etwa achtzig Astronomische Einheiten. Mehr als zweieinhalbmal so weit von der Sonne entfernt wie wir. Dieser Brocken ist ein ganzes Stück näher.«

»Seine Zusammensetzung erscheint mir ungewöhnlich.« Sunset aktivierte die Analysefunktion der Konsole direkt vor ihr. »Sieh dir die Messdaten an. Kaum Metalle. Nur Eis und Gestein.«

»Was hältst du davon, Infinity?«, fragte Flora.

»Spekulation: Bei dem Objekt könnte es sich um das Fragment eines größeren Himmelskörpers handeln, das sich bei einer Kollision gelöst hat. Ein metallarmes Stück aus einer protoplanetaren Kruste.«

»Was auch immer.« Sunset konnte ihre Aufregung kaum bändigen. »Wo ist die Technosignatur?«

»Sie kommt gleich in Sicht, Sunset«, antwortete die KI.

Flora beobachtete die langsame Rotation des transneptunischen Objekts. Die Bilder stammten von der Sonde NN21 – eine von neunundzwanzig Sonden, die im Auftrag der Korporation Nuvola Nove im Kuipergürtel nach verwertbaren Ressourcen suchten – und waren aufgrund der Entfernung etwa zwei Stunden alt. So lange brauchten die Signale von NN21, um fünfzehn Astronomische Einheiten beziehungsweise eins Komma acht Milliarden Kilometer zurückzulegen.

»Wir sehen, was bereits geschehen ist«, sagte sie leise.

»Zeig uns endlich die Signatur, Infinity«, drängte Sunset ungeduldig.

Etwas erschien am Rand des Objekts, an seinem Horizont: geometrische Linien, die nach einigen weiteren Sekunden Konturen und Struktur zeigten. Rechtecke und Dreiecke wurden erkennbar, in der visuellen Darstellung cremefarben und weiß – ein deutlicher Kontrast zur dunklen Umgebung.

Die Anzeigen der Materialanalyse veränderten sich.

»Metallische Legierungen«, stellte Sunset fest. »Komposite und keramische Materialien.« Sie sah von den Konsolendisplays auf. »Mir ist kein natürlicher Prozess bekannt, der eine solche Materieansammlung hervorrufen könnte.«

Flora nickte. »Infinity, was ist mit bekannten Relikten und Havarien im betreffenden Raumsektor? Gibt es eine Korrelation mit verloren gegangenen Raumsonden oder Erkundungsmissionen? Könnte es sich um die Überbleibsel eines Absturzes handeln?«

Aus den hellen Linien und Konturen entstanden Gebäude, niedrig und ineinander verschachtelt, mit Kanten und Winkeln an für das menschliche Auge überraschenden Stellen. Nach Trümmern sah es nicht aus.

»Negativ, Flora«, antwortete Infinity. »Die Logs der Astronavigation verzeichnen keine relevanten Havarien oder vermissten Raumfahrzeuge.«

Sunset atmete tief durch. »Also?«

Flora hob die Hand. »Moment. Keine voreiligen Schlüsse.« Trotz der mahnenden Worte fühlte sie sich selbst von Aufregung erfasst. »Infinity, ich hatte dich gebeten, alle von NN21 ermittelten Daten für uns zusammenzufassen. Wie beurteilst du die Situation?«

»Wir haben es mit einer technologischen Signatur unbekannten Ursprungs zu tun«, lautete die Antwort. »Strukturell scheint sie weitgehend intakt, zumindest ihr Kern, und sie ist noch immer aktiv. Es gibt energetische Emissionen. Etwas erzeugt Energie und verbraucht sie.«

Sunset blähte die Wangen auf. »Also?«

»Die Situation ist einzigartig«, fügte Infinity hinzu. »Es könnte ein Erstkontakt bevorstehen.«

Einige Sekunden lang blieb es still.

»Das nenne ich eine Entdeckung«, hauchte Sunset. »Eine Station von Außerirdischen?« Freudestrahlend wandte sie sich an Flora. »Kannst du dir vorstellen, wie viele Meriten uns das einbringen wird?«

Lieber Himmel, dachte Flora und begriff: Neptun musste warten.

1 Lea Lehora

Nordpol des Mars: Chasma Boreale

Der Schutzanzug aus Flexmaterial schmiegte sich warm und weich an Leas Leib, als sie aus dem Wagen stieg und in die immer noch kalte, dünne Atmosphäre des Mars trat. Sofort fielen ihr die Wächter auf, gedrungene Gestalten in den Schatten, Menschen und Bots, bewaffnet mit Pulsern.

Jemand kam ihr entgegen, größer und schlanker als der Assistent, der den Wagen gefahren hatte, vielleicht ein Marsgeborener. Er sandte ein Grußsignal, hob die Hand und lächelte kurz hinter dem Helmvisier. Sein Gesicht erschien schmal und farblos.

»Ich bin Jarno Ammon, Leitender Ingenieur des hiesigen Terraforming-Projekts«, stellte er sich vor. Lea Lehora hörte seine Stimme gleich zweimal: Durch die langsam dichter werdende Luft des Mars und aus dem Kommunikator in ihrem Helm. »Danke, dass Sie sich sofort auf den Weg gemacht haben. Unsere Aggregate sollten nicht zu lange ruhen. Es wirft uns im Plan zurück.«

Einige Stunden oder höchstens Tage bei einem auf tausend Jahre angelegten Plan, dachte Lea. »Sie haben etwas gefunden, das mich interessieren könnte, hieß es in Ihrer Nachricht.«

»Sie sind Exopaläontologin«, sagte Jarno Ammon.

Es klang halb wie eine Frage, und deshalb antwortete Lea: »Das bin ich, ja.«

»Sie haben Fossilien unter dem Eis des Saturnmonds Enceladus entdeckt«, fuhr Ammon fort. »Und noch etwas anderes.«

Lea nickte in ihrem Helm. »Auch das ist richtig.«

Ammon deutete in die Schlucht. »Ich glaube, wir haben hier etwas für Sie. Dort drüben. Es ist nicht weit. Zehn Minuten zu Fuß.«

Lea drehte sich halb um. »Sollen wir den Wagen nehmen?«

»Jenseits des Sicherheitskordons sind keine Fahrzeuge zugelassen«, erwiderte der Ingenieur.

Sie gingen los: Jarno Ammon leichtfüßig und mühelos, Lea noch immer ein wenig unbeholfen. Die geringe Schwerkraft machte ihr zu schaffen.

Rechts und links ragten Wände aus Fels und schmelzendem Eis auf. Die Terraforming-Aggregate zwischen ihnen wirkten wie die dunklen Rücken schlafender Riesen. In den Schatten bemerkte Lea weitere Gestalten.

»Warum die Wächter?«, fragte sie. »Warum die Sicherheitsmaßnahmen?«

»Wir haben eine Warnung erhalten«, erklärte Jarno Ammon. »Aurora könnte es auf unsere Anlagen abgesehen haben.«

Damit meinte er eine Untergrundbewegung der Nassen auf der Erde, die seit einigen Jahren immer wieder mit spektakulären Aktionen Aufmerksamkeit erregte.

»Hier?« Lea sah sich um. »Auf dem Mars? Am Nordpol?«

»Vielleicht deshalb, weil wir hier große Fortschritte erzielen«, entgegnete der Ingenieur. »Das Eis schmilzt schneller ab als vorgesehen.« Er warf ihr einen Blick zu, und seine schmalen Lippen formten ein schnelles Lächeln. »Was die Entdeckung ermöglichte. Sie kommen aus Tharsia beim Olympus Mons, nicht wahr?«

»Ich komme von der Erde«, erwiderte Lea.

»Oh, ich weiß, dass Sie von der Erde stammen. Von der Schwimmstadt Aphora, nicht wahr?« Den Worten folgte ein seltsames Geräusch, vielleicht ein kurzes Lachen. »Man sieht es Ihnen an. Nein, ich meine, Sie sind beim Berg gewesen.«

So nannten die Marsianer den größten Vulkan im ganzen Sonnensystem: Berg. Er hatte einen Durchmesser von sechshundert Kilometern und ragte sechsundzwanzig Kilometer weit aus der umliegenden Tiefebene der Tharsis-Region. Lea hatte ihn besteigen wollen, im Rahmen eines Ausflugsprogramms, das die Akademie der Wissenschaften von Tharsia anbot. Aber dann hatte sie die Nachricht vom Nordpol erreicht.

Sie gingen weiter, vorbei an kleineren Terraforming-Maschinen, die sich langsam und geduldig in Wände hineinfraßen, die aus Kohlendioxid- und Wassereis bestanden. Dampf stieg auf und reicherte die marsianische Atmosphäre an.

»Sind Sie zum ersten Mal hier, Doktor Lehora?«, fragte der Ingenieur.

»Ich kenne nur die Tharsis-Region«, antwortete Lea. »Und nicht einmal die sehr gut.«

»Sie halten den Olympus Mons sicher für sehr eindrucksvoll«, sagte Jarno Ammon. »Alle Besucher sind von ihm beeindruckt. Aber hier bei uns gibt es noch mehr Imposantes. Zum Beispiel Grabenbruchsysteme wie das Valles Marineris, die größte Schlucht im Sonnensystem, mehr als dreitausend Kilometer lang und bis zu acht Kilometer tief. Oder dies hier, die Chasma Boreale, ein anderthalb Kilometer tiefer Einschnitt, der die Eisfelder des Nordpols auf eine Länge von fast sechshundert Kilometern durchzieht. Zahlreiche Geologen von der Erde kamen hierher, noch vor der Installation der Terraforming-Anlagen, um die Ablagerungsschichten in Eis und Gestein zu untersuchen. Dabei gewannen sie wichtige Erkenntnisse über das marsianische Paläoklima.« Er klang zufrieden. »Dadurch kennen wir den Roten Planeten heute viel besser und wissen, wo das Terraforming besonders gute Resultate erzielt. Vielleicht schaffen wir es schon in fünfhundert Jahren und nicht erst in tausend, den Mars in eine zweite Erde zu verwandeln.«

»Nein«, sagte Lea. »Nicht in eine zweite Erde.«

»Oh, ich verstehe, was Sie meinen.« Ammon gestikulierte vage. »So viel Wasser gibt es bei uns nicht und hat es auch nicht gegeben, als der Mars noch ein Magnetfeld und eine dichte Atmosphäre besaß – die damalige Wassermenge entsprach etwa dem Fünffachen des einstigen Mittelmeers. Unser Plan sieht große Seen vor, keine Meere. Wenn in Zukunft marsianische Schwimmstädte gebaut werden sollten, so wären sie ein Luxus, keine Notwendigkeit.«

In Luxus hatten sie und ihre Mutter nie gelebt, dachte Lea, schob aber den Gedanken rasch beiseite.

»Dort drüben.« Jarno Ammon streckte die Hand aus. »Wir sind gleich da.«

Sie näherten sich einer Öffnung in der Schluchtwand, gesäumt von Eiskrusten und zerkratztem Felsgestein. Ein käferartiger Bot nahm sie in Empfang; seine Lampen leuchteten ihnen den Weg.

Das Licht strich über Felswände, in denen sich deutlich Schichten und Ablagerungen abzeichneten.

»Wie tief sind wir hier?«, fragte Lea. »Ich meine, wie tief in der Vergangenheit des Mars?«

»Etwa zwanzig Millionen Jahre, sagen die Geologen.«

Das erstaunte Lea. Vor zwanzig Millionen Jahren war der Mars längst trocken gewesen – seine vitale Phase lag etwa drei Milliarden Jahre zurück. »Es sind also keine Fossilien, die Sie mir zeigen möchten.«

»Nein.«

»Was dann?«

»Wir sind gleich da.«

Im Lampenschein des Bots erschien eine Wand, in der die einzelnen Schichten schräg verliefen. Es gab mehrere Einschlüsse: kleine Steine und Kristalle, von Sedimenten umgeben. Lea sah sie sich aus der Nähe an und bemerkte nichts Außergewöhnliches.

»Das Schmelzwasser hat diese Höhle ausgewaschen«, erklärte Jarno Ammon. »Unsere Bots halten immer nach Anomalien Ausschau, allein aus Sicherheitsgründen. Und dabei wurde dies entdeckt.«

Er bückte sich und deutete auf eine Stelle dicht über dem Boden aus Eis.

Das Flexmaterial ihres Schutzanzugs knisterte leise, als Lea in die Hocke ging. Der käferartige Bot wich zur Seite und beleuchtete das Objekt, damit sie es besser erkennen konnte.

In einem Stück Eis, umgeben vom Sedimentgestein, steckte ein Keil mit glatten Kanten und ebenen Flächen, nicht breiter oder länger als die Hand eines Menschen, auf der einen Seite cremefarben, auf der anderen goldgelb. Das menschliche Auge, an Muster gewöhnt, erkannte sofort, dass das Objekt unmöglich natürlichen Ursprungs sein konnte.

Leas Augen sahen noch mehr: einen vertrauten Gegenstand, vielleicht ein oder zwei Zentimeter größer als die beiden Artefakte, die sie vor einigen Jahren im subglazialen Ozean von Enceladus gefunden hatte, bei den Fossilien des Kappa-Riffs. Er ragte ein Stück weit aus dem Eis. Vorsichtig strich sie mit den Fingerkuppen des Flexhandschuhs darüber hinweg und fühlte die Spitze.

»Es ist ein künstliches Objekt, nicht wahr?«, fragte der Ingenieur. Die Bedeutung schien ihm klar zu sein, auch wenn er die Unterbrechung des lokalen Terraformings bedauerte. »Und es steckt seit zwanzig Millionen Jahren hier im Eis.«

Lea richtete sich langsam auf. Sie wollte antworten, doch plötzlich bebte der Boden unter ihren Füßen so heftig, dass sie schwankte. Ein Donnern erreichte sie, kaum gefiltert von Flexmaterial und Helm, und wurde so kolossal laut, dass für andere Geräusche kein Platz blieb.

Etwas stieß sie von den Beinen, und einen Moment später lag sie benommen zwischen Steinen und Eis. Das Licht der Bot-Lampen tanzte über die Höhlendecke, in der sich Risse bildeten. Ein Felsen löste sich und schmetterte auf Lea herab.

2 Lea Lehora

Tharsia, Mars

Stimmen erklangen in der Ferne.

»Sie müsste uns jetzt hören können.«

»Ist sie wach?«

»Sie hat das Bewusstsein wiedererlangt, ja.«

»Lea, hörst du mich?«

Die Stimme klang vertraut und weckte Erinnerungen. Ein Name fiel ihr ein.

»Juniper?«, krächzte sie und versuchte, die Augen zu öffnen. Es ging nicht, die Lider waren zu schwer.

»Ich bin bei dir«, sagte Juniper Loid.

Das hatte er oft gesagt, erinnerte sich Lea. Sie hatte diese Worte als Kind gehört, nach dem Tod ihrer Mutter, und auch als Jugendliche in Zeiten von Not und Enttäuschungen. Er war immer da gewesen und hatte geholfen, wo er helfen konnte. In seinen Worten schwangen Ehrlichkeit und guter Wille mit.

»Was ist … mit mir?«, brachte sie hervor, die Zunge taub in ihrem Mund, der für sie zu klein geworden schien. Etwas Warmes umgab sie: keine Kleidung oder Luft, sondern eine weiche Masse, die sich an ihren Leib schmiegte.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Juniper Loid in einem sanften, beruhigenden Ton. »Es besteht keine Gefahr mehr für dich. Du erholst dich gut.«

»Gefahr?«, wiederholte Lea.

»Eine Bombe«, ertönte die andere Stimme, die sie nicht kannte. »Die Explosion hat die Höhle zum Einsturz gebracht.«

Eine Höhle, dachte Lea, die Augen mit den schweren Lidern noch immer geschlossen. In der Schlucht weit im Norden des Mars, der Chasma Boreale. Wände aus Gestein und Eis. Und darin …

Ein Artefakt, wie die beiden vom Kappa-Riff im Ozean von Enceladus. »Das … Objekt …«

»Keine Sorge, es konnte geborgen werden.« Das war wieder die sanfte, ruhige Stimme von Juniper Loid. Sie stellte ihn sich vor, mit den Interface-Spangen in seinem Gesicht, die manche Leute hässlich fanden. Als Kind hatte Lea sie gern mit den Fingerspitzen berührt. »Du kannst es untersuchen, sobald du dich erholt hast.«

»Das wird noch eine Weile dauern.« Die andere Stimme, vielleicht ein Arzt. »Sie ist schwer verletzt und kann von Glück sagen, mit dem Leben davongekommen zu sein. Die Heilung multipler Frakturen und Organquetschungen braucht Zeit, selbst im teuren Gel.«

Gel, dachte Lea. Die warme, weiche Masse, die sie umgab: Heilgel. Und es war tatsächlich teuer, es kostete viele Meriten.

»Danke für den Hinweis, Doktor.« Diesmal lag ein Hauch von Schärfe in Junipers Stimme. »Ich komme für alles auf, darauf habe ich bereits hingewiesen, nicht wahr? Die Kosten spielen keine Rolle. Hauptsache, wir erhalten unsere Lea heil und gesund zurück, so bald wie möglich.«

»Natürlich«, erwiderte der Doktor. »Selbstverständlich.«

»Lea …« Junipers Stimme klang deutlicher und schien näher zu sein. Leas inneres Auge zeigte ihr einen mit Gel gefüllten Behandlungstank, in dem sie selbst lag, und Juniper, der sich über sie beugte. »Ich weiß, dass du mich hören kannst, also hör mir gut zu. Sonden haben im Kuipergürtel etwas entdeckt, ein Konstrukt, das ebenfalls zwanzig Millionen Jahre alt zu sein scheint, wie die Artefakte von Enceladus und aus der Chasma Boreale. Conrad Sorensen ist dorthin unterwegs und wird erste Untersuchungen vornehmen. Ich werde meinen Einfluss geltend machen, damit der Wissenschaftsrat dir anbietet, an den betreffenden Forschungen teilzunehmen. Das dürfte ein guter Grund für dich sein, schnell gesund zu werden.«

Ein Konstrukt, dachte Lea. Zwanzig Millionen Jahre alt. Also konnte es nicht von Menschen stammen.

»Danke«, krächzte sie mühsam und schlief wieder ein.

Die Stadt und das Meer, daraus hatte Leas Welt während der ersten Jahre ihres Lebens bestanden. Sie erinnerte sich an ihre Erinnerungen, wachgerufen vom memorialen Stimulator, für dessen Benutzung sie als junge Erwachsene einige Verdienstpunkte geopfert hatte. Aphora, so hieß die schwimmende Stadt, in der sie aufwuchs, umgeben von einem Ozean, der manchmal Südsee oder Pazifik genannt wurde, obwohl solche Namen nichts mehr bedeuteten, denn er umspannte die ganze Welt, ohne Anfang und Ende.

Eine der Erinnerungen, die der Stimulator tief in Leas Gedächtnis gefunden hatte, betraf ein Rätsel und eine Frage, die sie als kleines Kind ihrer Mutter gestellt hatte.

»Warum heißt die Erde Erde?«, hatte sie in einem der Aussichtstürme an Aphoras Rand gefragt. »Müsste die Welt nicht ›Meer‹ heißen?«

Ihre Mutter deutete über den Ozean, der auf allen Seiten der Stadt bis zum Horizont und weit darüber hinaus reichte. »Früher hat es mehr Land als heute gegeben. Viel mehr.«

»Was ist das, Land?«

»Fester Boden«, lautete die Antwort. »Aus dem Pflanzen wachsen. Ich habe sie dir gezeigt, weißt du noch? In unserem Park. Und die hundert Jahre alte Eiche auf dem Platz beim Rand.«

Lea erinnerte sich an Sträucher und Bäume, gepflegt, gehütet und bewacht von Bediensteten und einfachen Bots.

»Früher hat es mehr Land gegeben«, fuhr ihre Mutter fort. »Dann kam die große Flut und überschwemmte alles.« Sie erwartete eine Frage und erklärte: »So wie bei einem Sturm manchmal Teile der Stadt überschwemmt werden. Es blieb nur wenig Erde übrig. Zum Beispiel das Hochland von Tibet, wo du studieren wirst.«

»Studieren?«

»Nach der Schule hier in Aphora. Die lässt sich leider nicht vermeiden, aber später, wenn du größer bist … Dann schicke ich dich zur Universität von Tibet. Wenn es mir gelingt, bis dahin genug Meriten zu bekommen«, fügte Leas Mutter nachdenklich hinzu. »Du sollst es einmal besser haben.«

Ihren Vater hatte Lea nie kennengelernt, wohl aber Juniper Loid, noch vor dem großen Unglück, das ihrer Mutter das Leben gekostet hatte und, wie sie später erfuhr, vielleicht gar kein Unglück gewesen war. Er hatte nie gezögert zu helfen, wenn Hilfe gebraucht wurde. Leas Mutter hatte ihn immer »unser guter Freund« genannt, ohne jemals zu erklären, wie die Freundschaft entstanden war. Juniper gehörte zu den Planern, genoss bei ihnen hohes Ansehen und arbeitete als Transhumaner direkt mit der Quantenintelligenz Emilia zusammen. Er wirkte mit bei der Entwicklung der großen Pläne, die die Erde und die ganze Menschheit betrafen, und in einem dieser Pläne spielte die Wayfarer – das erste interstellare Fernraumschiff, das Menschen zu den Sternen bringen sollte – eine wichtige Rolle.

Er hatte schon vor dem Unglück davon erzählt, erinnerte sich Lea, von der Wayfarer und ihrem Flug zum vierzig Lichtjahre entfernten System Trappist-1, in dem es zwei für Menschen bewohnbare Planeten gab.

Vielleicht, dachte Lea in ihrem von Erinnerungen durchzogenen Schlaf, war damals ihr Interesse für alles Extraterrestrische erwacht, zusammen mit dem Wunsch, Teil der Wayfarer-Mission zu werden und an ihrem langen Flug teilzunehmen.

Die Nassen und die Trockenen, zwei Welten auf demselben Planeten. Und ein Konflikt, der weiter denn je von einer Lösung entfernt war.

»Wie ist es dazu gekommen?«, hatte Lea gefragt, erst ihre Mutter und später Juniper. Es waren vor allem seine Erklärungen, an die sich erinnerte, vorgetragen mit ruhiger, geduldiger Stimme.

»Früher gab es mehrere große Meere auf der Erde und zwischen ihnen nicht nur einige wenige Inseln, sondern ganze Kontinente, auf denen neun Milliarden Menschen Platz hatten.«

»Das sind viele«, staunte die junge Lea, ohne eine genaue Vorstellung von der Größe der genannten Zahl zu haben.

Sie stiegen eine Treppe hoch, deren Stufen unter ihnen schwankten. Hier, am Rand von Aphora, wehte fast immer starker Wind, und die Pontons kamen nie so zur Ruhe wie weiter im Innern der schwimmenden Stadt. Nicht weit entfernt summten Konstruktionsbots und arbeiteten zusammen mit Männern und Frauen an der Erweiterung der Stadt. Aphora wuchs und wuchs.

»Heute sind es weniger«, erklärte Juniper. Sonnenschein glänzte auf den Spangen in seinem Gesicht, die ihn auf den ersten Blick als Transhumanen zu erkennen gaben, als »Maschinenmenschen«, wie man sie manchmal auch nannte. Aber nicht sie waren der Grund, warum die Leute respektvoll vor ihnen beiseite wichen, sondern die Insignien eines Planers an seinem Hemd, die ihn als Beauftragten des Konzils auswiesen. »Viel weniger. Nur noch die Hälfte ist übrig, doch selbst die hat nicht annähernd genug Platz auf dem festen Land. Deshalb gibt es Schwimmstädte wie Aphora.«

»Weil es auf den Inseln sonst zu eng würde.« Lea kannte sie von Bildern und stellte sie sich voller Menschen vor, die so dicht gedrängt beieinanderstanden, dass sie kaum atmen konnten.

Sie brachten die schwankende Treppe hinter sich und schritten durch eine Gasse. Wieder machten ihnen die Leute Platz, aber Lea bemerkte auch einige finstere Blicke, die Juniper galten. Weiter vorn erklangen laute Stimmen, zu Sprechchören vereint.

»All das Wasser«, sagte Juniper. »Weißt du, woher es kommt?«

Die kleine Lea überlegte. »Vom Regen?«

Junipers Lächeln zeigte weiße Zähne mit einem Muster aus silbernen Mikropunkten. »Habt ihr in der Schule noch nicht darüber gesprochen? Hast du noch nicht darüber gelesen?«

Er wusste, dass Lea gern las, seit sie Lesen gelernt hatte, im Gegensatz zu vielen anderen Kindern der Nassen, die nur Vids und vielleicht Holos schauten.

»Das Klima«, antwortete sie nach kurzem Nachdenken.

Juniper nickte einem älteren Mann zu, der beiseitetrat und respektvoll grüßte.

»Ja, das Klima«, bestätigte er. »Vor zweihundert Jahren wurde es wärmer und wärmer. Das Eis schmolz, der Meeresspiegel stieg. Aber das im Eis gebundene Wasser allein hätte nicht genügt, um die Meere so anschwellen zu lassen, dass selbst große Gebirge darin verschwanden.«

Die Stimmen vor ihnen wurden immer lauter. Lea versuchte, nicht auf sie zu achten. Sie konzentrierte sich auf Junipers Worte.

»Es gab Meere unter den Meeren«, fuhr er fort. »Tief unter dem Grund der Ozeane. Und es gibt sie noch immer, Lea. Nur ein Teil von ihnen drang damals nach oben. Wie genau das geschehen ist, wissen wir nicht. Geologen und Ozeanografen vermuten, dass durch tektonische Verwerfungen Risse entstanden, die das primordiale Wasser freisetzten. Weißt du, was der Erdmantel ist?«

»Ja«, erwiderte Lea sofort. »Das ist der größte Teil der Erde, zwischen Kruste und Kern.« Sie erinnerte sich an die Zahlen. »Er nimmt vierundachtzig Prozent des Volumens und siebenundsechzig Prozent der Masse ein.«

»Sehr gut, Lea«, lobte Juniper. »Die Übergangszone zwischen oberem und unterem Erdmantel liegt etwa zwischen vierhundert und siebenhundert Kilometern Tiefe. Dort gibt es viel Wasser. Wirklich viel, Lea. Etwa sechsmal so viel wie die damaligen Ozeane der Erde. Rein theoretisch hätte der Meeresspiegel noch viel weiter ansteigen können, über die Gipfel aller Berge hinweg. Dann gäbe es heute überhaupt kein Land mehr. Und nur Nasse, keine Trockenen.«

Die Gasse öffnete sich auf einen Platz mit einem einzelnen Baum in der Mitte, einer Korkeiche, die vor hundert Jahren gepflanzt worden war, wie Lea wusste. Um sie herum drängten sich Demonstranten mit Schildern und Fahnen und wiederholten die Worte, die ihnen ein junger Mann von einem Podium aus zurief.

Juniper blieb stehen und legte Lea die Hand auf die Schulter. »Bleib bei mir. Weich nicht von meiner Seite.«

Langsam gingen sie am Rand des Platzes entlang, vorbei an Männern und Frauen, die winkten, riefen und Fahnen mit der Darstellung einer von zwei Händen zerrissenen Kette schwenkten. Neue Sprechchöre erklangen, so laut, dass Lea die Hände zu den Ohren hob. Es ging um Armut und Unterdrückung, um Nasse, die ihr Schicksal endlich selbst in die Hand nehmen und gegen die Trockenen aufbegehren sollten.

»Steht auf!«, rief der junge Mann auf dem Podium. »Mit uns zusammen! Aurora erhebt die Faust!«

»Aurora!«, skandierte die Menge.

»Lasst uns die Ketten zerreißen, die uns fesseln! Autonomie! Weg mit dem Konzil und den Korporationen!«

Zwei Männer stellten sich Juniper in den Weg, die von der Sonne gebräunten Gesichter feucht von Schweiß.

»Hier ist ein Mann des Konzils!«, rief der eine.

»Ein Planer und Maschinenmensch!«, fügte der andere hinzu.

Nahe Demonstranten drehten sich um. Einige von ihnen nahmen eine drohende Haltung ein.

Lea stand plötzlich vor Juniper. »Wehe, wenn ihr ihm was tut! Er ist mein Freund!«

Der große Juniper Loid lächelte. »Das ist Lea Lehora, die beste Freundin, die man sich denken kann. Ihr habt sie gehört. Wehe euch!«

»Lasst uns ein Zeichen setzen!«, intonierte der junge Mann auf dem Podium. »Für den Widerstand! Für unsere Entschlossenheit!«

Etwas zischte und fauchte.

Die hundert Jahre alte Korkeiche in der Mitte des Platzes ging in Flammen auf.

»Du erholst dich gut, Lea«, hörte sie Junipers Stimme. »Bald kannst du wieder die Augen öffnen und sehen und dich bewegen. Hab noch ein bisschen Geduld.«

Ihre Lider waren noch immer schwer wie Blei. Sie versuchte nicht einmal, sie zu heben. Und offenbar ruhte sie noch immer im Heilgel, denn sie fühlte sich nach wie vor von einer warmen, weichen Masse umgeben.

»Ein Schiff wird für dich vorbereitet«, teilte ihr Juniper mit. »Ein besonders schnelles, ausgestattet mit einem sehr leistungsfähigen Superplasma-Triebwerk. Es verkehrte im Dienste von Nuvola Nove als Kurier zwischen Mars und Erde und wird dich zum Kuipergürtel bringen. Conrad Sorensen ist vor Ort und untersucht die technologische Signatur, von der ich dir erzählt habe. Es scheint sich tatsächlich um eine Art Station zu handeln, und in ihr befindet sich offenbar eine intakte Lebensform. Der Wissenschaftsrat des Konzils hat meinen Empfehlungen entsprochen, Lea. Du wirst Gelegenheit erhalten, das Konstrukt und die extraterrestrische Lebensform darin zu untersuchen. Werd schnell gesund!«

Ja, versprach Lea in Gedanken und schlief den Schlaf der Genesung.

Im Traum kehrten die Erinnerungen zurück, einst verdrängt und viele Jahre später vom memorialen Stimulator aus den Schatten des Vergessens zurückgeholt. Die kleine Lea hatte gesehen, wie ein hundert Jahre alter Baum brannte, angezündet von Fanatikern, und nur ein Jahr später erlebte sie ein zweites Feuer, heller, heißer und viel größer als das erste.

Aphoras Ränder wuchsen immer weiter ins Meer, was bedeutete, dass die Buden, Hütten und einfachen Häuser, die einst auf den Randpontons errichtet worden waren, nach und nach stadteinwärts wanderten. In einem dieser Viertel, die sich einst an der Peripherie befunden hatten, Wind und Gischt ausgesetzt, brannte es. Flammen züngelten und breiteten sich vom ersten Gebäude, in dem der Brand ausgebrochen war, auf die angrenzenden aus.

Die Häuser und Hütten standen dicht an dicht. Sie schmiegten sich an- und übereinander, erbaut zum größten Teil aus Faserplatten, die recyceltes Material enthielten und ebenso leicht brannten wie Papier und Pappe. Die Flammen loderten höher, und es wurde so heiß, dass die Schaulustigen zurückwichen. Niemand versuchte zu löschen. Aus gutem Grund: In diesem Teil der Stadt gab es keine Ventile in und zwischen den Pontons; es fehlte eine Möglichkeit, an das Wasser darunter zu gelangen.

In einem der brennenden Häuser befand sich Leas Mutter Ayuna, an der Fäule erkrankt und ans Bett gefesselt.

Es war eine Krankheit, die besonders jene traf, die sich keine teuren medizinischen Untersuchungen und Behandlungen leisten konnten. Und es gab mehr Kranke in der Peripherie von Aphora und der anderen Schwimmstädte als in ihren inneren Bereichen. Lea hatte einen Mediker davon sprechen hören, dass es vermutlich etwas mit dem Meer zu tun hatte, und auf ihre Frage hin hatte Juniper versucht, es ihr zu erklären: »Etwas im Wasser wirkt sich auf die DNA des Menschen aus, auf seine Gene. Wir wissen noch immer nicht genau, was es ist, wahrscheinlich ein Zusammenwirken verschiedener Kräfte. Bei einem geschwächten Immunsystem kann es zur ›Fäule‹ führen, einer Krankheit, die dem im einundzwanzigsten Jahrhundert besiegten Krebs ähnelt. Vielleicht verbirgt sich hier auch der Grund für die zunehmende Unfruchtbarkeit des Menschen, die in spätestens hundert Jahren zu einem großen Problem werden könnte.«

Lea dachte nicht an dieses Gespräch, als sie zusammen mit vielen anderen das Feuer beobachtete, unbeachtet und anonym in der Menge der Schaulustigen. Sie dachte an ihre Mutter, die beim Ausbrechen des Feuers nicht hatte fliehen können. Sie stellte sich vor, wie sie hilflos im Bett lag, als erst der Rauch kam und dann die Flammen, wie sie nach ihr gerufen hatte.

Das Gewicht der Schuld lastete so schwer auf ihr, dass sie glaubte, darunter zerbrechen zu müssen. Später, bei der Behandlung durch den von Juniper beauftragten Therapeuten, hatte ein Selektor zwar nicht die Erinnerungen an das Feuer aus ihr getilgt, aber so tief in ihr vergraben, dass sie unbeeinflusst davon aufwachsen konnte. Erst zwei Jahrzehnte später, als Erwachsene, erinnerte sie sich wieder mithilfe des memorialen Stimulators.

Von ihrer Mutter blieb nichts übrig, nicht einmal Asche.

Lea, gerade einmal sieben Jahre alt, hatte lange vor den qualmenden Trümmern der niedergebrannten Gebäude gestanden. Bis Juniper Loid gekommen war, sie in die Arme geschlossen und in seine Obhut genommen hatte.

Die Bilder verblassten, die Hitze des Feuers verließ Lea. Sie schlief.

»Ich habe es noch einmal erlebt, in einem Traum«, sagte Lea. »Das Feuer von damals, in dem meine Mutter starb.«

Juniper Loid saß ihr gegenüber am Fenstertisch des Patientenzimmers und sah sie an, mit Augen, die mehr erkennen konnten als die eines gewöhnlichen Menschen. Die silbernen Interface-Spangen in seinem Gesicht fingen das blasse Licht der Sonne über den Kuppeln von Tharsia ein.

»Wie hast du dich gefühlt?«, fragte er mit Anteilnahme in seiner ruhigen, tiefen Stimme.

Lea hob ihr Glas und trank einen Schluck von der wie Orangensaft schmeckenden Flüssigkeit, die alle benötigten Nähr- und Wirkstoffe enthielt. »Es hat wehgetan.«

»So sehr wie damals?«

Lea blickte aus dem Fenster und über die Stadt Tharsia, unter deren Kuppeln inzwischen siebzigtausend Menschen lebten: Pioniere, die sich anschickten, den Mars in die lebensfreundliche Welt zurückzuverwandeln, die er einst gewesen war. Nach einigen Sekunden hob sie den Blick und sah zum marsianischen Himmel hoch, auf der Suche nach den Lichtern der Orbitalwerft, in der die Wayfarer ihrer Fertigstellung entgegenging. Vor Jahren, nach Bewilligung des von den Planern vorgestellten Projekts durch Wissenschaftsrat und Konzil, hatte man sich für den Mars entschieden, wegen der logistischen und ökonomischen Vorteile beim Transport von Rohstoffen aus dem Asteroidengürtel zwischen dem Roten Planeten und Jupiter.

»Es war eine andere Art von Schmerz«, antwortete sie schließlich.

»Besser zu ertragen?«

»Ich denke schon«, sagte Lea. »Wegen der Therapie damals nach dem Unglück.« Sie wandte sich wieder Juniper zu. »War es das, ein Unglück?«

Fast reglos saß Juniper da: groß, die Schultern breit, jemand, der einen Eindruck von Kraft und Autorität vermittelte, wie ein menschliches Bollwerk oder Schutzschild, an dem alles abprallte, mehr Maschine als Mensch, wie einige behaupteten. Lea fand ihn menschlicher als die meisten anderen Menschen, die sie kannte.

»Nach all den Jahren gibt es noch immer keine Gewissheit«, entgegnete er. »Die Ermittlungen wurden schließlich eingestellt.«

»Was nicht viel bedeutet.«

»Nein. Es könnte Brandstiftung gewesen sein. Wir werden es vermutlich nie erfahren.«

»Bauspekulation.« Lea erinnerte sich an die Gerüchte. »Die alten Hütten und Häuser sollten neuen Gebäuden weichen. Meine Mutter konnte sich nicht in Sicherheit bringen.«

Juniper musterte sie. »Fühlst du dich noch immer schuldig?«

»Nein. Ich konnte nicht die ganze Zeit an ihrem Bett sitzen. Die Schuld liegt nicht bei mir, sondern bei den Brandstiftern und Spekulanten.«

Juniper nickte. »Das stimmt. Die Therapie hat dir damals geholfen, und heute hast du Abstand genug.«

Lea trank den Rest und stellte das leere Glas auf den Tisch. »Du bist immer zur Stelle, wenn ich dich brauche.«

Juniper lächelte.

»Wie lange habe ich in dem Tank gelegen?«, fragte Lea. »Acht Tage? Neun?«

»Nur sechs. Die Zeit drängt. Der Kuipergürtel erwartet dich. Morgen geht es los. Die Fulmine von Nuvola Nove ist für dich bereit.«

Lea suchte nach Worten. »Ich bin schwer verletzt gewesen.«

Juniper nickte erneut. »Ja, das stimmt. Und doch hattest du großes Glück. Mehr Glück als der Ingenieur Jarno Ammon.«

»Der Anschlag galt weder mir noch ihm, oder?«

»Nein«, bestätigte Juniper. »Die Fanatiker von Aurora hatten es auf die Terraforming-Anlagen abgesehen. In einer Erklärung hieß es, dass sie den Tod des Ingenieurs bedauern, aber auf der Erde gäbe es täglich zahlreiche Opfer von Benachteiligung und Unterdrückung.«

»Meine Behandlung …« Lea zögerte. »Ich habe in Heilgel gelegen, und das ist sehr teuer. Meine Meriten …«

Juniper schob eine große Hand über den Tisch, bis sie Leas Fingerspitzen berührte. Dann zog er sie wieder zurück.

»Ich komme für alles auf. Du brauchst deine Meriten für die Wayfarer. Wie viele fehlen dir noch für eine offizielle Bewerbung?«

»Mehr als tausend.«

»Du wirst sie bekommen«, sagte Juniper mit fester Stimme. »Du wirst einen Platz in der Crew der Wayfarer erhalten. Der Kuipergürtel ist ein weiterer Schritt auf dem Weg dorthin.«

»Die Technosignatur. Du hast mir davon erzählt, während ich im Tank lag.«

»Ein Konstrukt, eine Station.« Juniper klang fasziniert. »Zwanzig Millionen Jahre alt. Die Verbindung zu den Artefakten im subglazialen Ozean von Enceladus und hier auf dem Mars ist offensichtlich und kann wohl kaum ein Zufall sein. Deshalb beauftragt der Wissenschaftsrat nicht nur Conrad Sorensen mit Untersuchungen, sondern auch dich. Sorensen hat den betreffenden Asteroiden im Kuipergürtel gestern erreicht, ist aber vom Wissenschaftsrat angewiesen, mit genaueren Untersuchungen bis zu deinem Eintreffen zu warten. Die Fulmine ist sehr schnell, sozusagen schnell wie der Blitz.« Juniper lächelte bei dieser Anspielung auf den Namen des Schiffes. »Du wirst nur eine Woche unterwegs sein. Zeit genug, um deine Genesung zum Abschluss zu bringen. Und Zeit genug für die Untersuchung des Artefakts aus der Chasma Boreale, das sich bereits an Bord befindet.«

Lea sah ihn groß an. »Du hast das alles arrangiert, innerhalb weniger Tage.«

Juniper lächelte erneut. »Welchen Sinn hat es, Einfluss zu haben, wenn man ihn nicht nutzt? Hier bietet sich dir die Möglichkeit, auf einen Schlag genug Meriten für die Wayfarer zu verdienen. Ein großes Rätsel wartet auf dich. Löse es!«

3 Conrad Sorensen

Kuipergürtel, im Orbit von NN21-X

Der Hauptschirm im Kontrollraum der Morgentau zeigte das knapp zweihundert Kilometer große transneptunische Objekt, das sich langsam unter dem Forschungsschiff drehte. Conrad Sorensen saß an der wissenschaftlichen Station neben den Navigationskontrollen und behielt die Anzeigen im Auge.

»Bringen Sie uns noch etwas näher«, wies er den Piloten an, der die Anweisung bestätigte und die Manövrierdüsen aktivierte.

Der S-Motor der Morgentau war noch immer aktiv, und die Schwerkraft an Bord blieb stabil, als sich das Bewegungsmoment des Schiffes veränderte. Die Distanz zu NN21-X – diesen provisorischen Namen hatte der Himmelskörper erhalten – schrumpfte von tausend auf fünfhundert Kilometer. Die Forschungssonde NN21, deren Sensoren die technologische Signatur entdeckt hatten, umkreiste das Objekt in einer noch tieferen Umlaufbahn und übermittelte die neuesten Daten. Mit ihren Antennen und Sensorstangen wirkte sie wie ein kosmischer Seeigel.

»Mehr ein Komet als ein Asteroid«, brummte der Pilot, ein junger Mann vom Mars namens Clavo. »Von Struktur und Zusammensetzung her. Viel Eis unter dem dunklen Staub. Näher bei der Sonne würde es verdampfen, und dann bekäme NN21-X einen Schweif.«

Hier im Kuipergürtel war die Sonne kaum größer und heller als alle anderen Sterne. Ihr Licht brachte nicht annähernd genug Wärme, um das unter dem dunklen Staub verborgene Eis zu schmelzen.

Auf dem Hauptschirm geriet etwas Helles in Sicht.

»Da ist es wieder.« Die Finger des jungen Clavo strichen über Schaltelemente. »Nicht ganz unversehrt. Aber der Kern scheint intakt zu sein.«

Der Zoom holte das Konstrukt auf NN21-X heran: wie es schien eine Ansammlung von niedrigen Gebäuden, die ineinander übergingen, als wären sie gewachsen und sich dabei im Weg gewesen, mit Kanten an Stellen, wo menschliche Architekten glatte Fläche oder sanfte Wölbungen bevorzugt hätten. Am Rand gab es Risse und Bereiche, die gebrochen oder geborsten wirkten, doch das Zentrum des Konstrukts wies keine Beschädigungen auf.

Das Schott des Kontrollraums öffnete sich, und Sorensens Assistentin Mira trat ein. Wie Clavo stammte sie vom Mars und war nur wenige Jahre älter als er. Sie warf dem Piloten einen kurzen Blick zu, begleitet von einem Lächeln, das auf eine besondere Verbindung zwischen ihnen hinwies.

»Es ist alles bereit«, sagte sie. »Die Bots sind programmiert.« Sie sank in den Sessel vor der Sensorstation. »Keine Signale«, fügte sie mit einem Blick auf die Displays hinzu. »Nichts sondiert uns. Nichts reagiert auf unsere Präsenz.«

»Nichts regt sich dort unten«, kommentierte Clavo an der Navigationsstation.

»Wer weiß.« Sorensens Aufmerksamkeit galt den wissenschaftlichen Anzeigen. »Es gibt energetische Aktivität.«

»Bestätigung«, sagte Mira. »Die Sensoren registrieren einen schwachen Energiefluss.« Sie berührte weitere Schaltflächen. »Und sie erfassen erneut eine Biosignatur.«

»Eine Lebensform«, murmelte Sorensen. »Im Innern der alten Station.«

Mira nickte. »Darauf deutet derzeit alles hin.«

»Intakt wie der Kern des Konstrukts?«, fragte Clavo.

»Unbekannt«, antwortete Mira.

»Wir müssen nachsehen, um es herauszufinden.« Sorensen stand auf.

Ein Pling erklang, und die Stimme der Morgentau-KI ertönte. »Wir haben eine Mitteilung von der Erde empfangen. Oberste Priorität.«

Eine Nachricht, die keinen Aufschub erlaubte.

»Auf den Hauptschirm«, sagte Sorensen.

Das Gesicht einer älteren Frau erschien vor ihnen, Stirn und Wangen nicht mehr glatt, obwohl es Anzeichen einer lebensverlängernden Behandlung gab, die dunklen Augen klar, das halblange Haar so schwarz wie das kurze von Mira. Anna Mildred Kuratowa, die Sprecherin des Wissenschaftsrats.

»Dies ist eine offizielle Mitteilung von Konzil und Wissenschaftsrat, bestimmt für Doktor Sorensen und sein Team an Bord der Morgentau«, lauteten die Worte, die Kuratowa vor mehreren Stunden gesprochen hatte. »Ein zweites Forschungsschiff ist unterwegs zu Ihnen, die Fulmine von Nuvola Nove, mit der Exopaläontologin Doktor Lea Lehora an Bord. Wir schlagen vor, dass Sie mit direkten Untersuchungen vor Ort bis zum Eintreffen der Fulmine warten und mit Doktor Lehora zusammenarbeiten.«

Tief in Sorensen bildete sich ein Klumpen Eis. Zusammenarbeit war gut, solange sie nicht seine eigenen Aussichten und Pläne behinderte. Hier bot sich ihm die einmalige Chance, auf einen Schlag genug Meriten zu erwerben, um einen Sitz im Wissenschaftsrat und eine lebensverlängernde Behandlung zu bekommen.

Das Gesicht der Ratssprecherin auf dem Bildschirm war erstarrt. Sie blinzelte nicht mehr im Kommunikations-Stand-by, ihr Mund blieb reglos.

»Wann wird die Fulmine hier sein?«, fragte Sorensen, seine Entscheidung bereits getroffen.

»Wir haben die Daten bekommen.« Miras Finger tanzten über die Schaltflächen. »Die Fulmine ist ein ehemaliger Kurier zwischen Erde und Mars, wurde umgerüstet und mit dem neuen S-Triebwerk ausgestattet. Sie gilt als sehr schnell und kann uns in einer knappen Woche erreichen.«

»Eine Woche!« Conrad Sorensen atmete tief durch. »In sieben Tagen kann viel passieren.«

»Das Konstrukt ist zwanzig Millionen Jahre alt.« Clavo wechselte einen Blick mit Mira. »Ein paar Tage mehr oder weniger …«

»Vielleicht ist gerade jetzt eine kritische Grenze erreicht.« Sorensen sprach klar und deutlich. »Die schon morgen überschritten sein könnte. Für das Konstrukt und auch die Lebensform darin.«

»Spekulieren Sie nicht zu viel?«, fragte Clavo skeptisch.

»Wir haben Zeit und Gelegenheit. Und wir sind vorbereitet.« Sorensen ging zum Schott, das sich vor ihm öffnete. »Bringen Sie uns noch tiefer, Clavo. Mira und ich gehen nach unten und sehen uns die Sache aus der Nähe an.«

Eine Woche, dachte Sorensen, als er in einen der drei Bots kletterte, die mit ihren langen Werkzeugarmen aussahen wie Spinnen aus Duranit, Stahlkeramik und Synth. Ihm blieb eine Woche für Entdeckungen, die wichtig genug waren, ihm mindestens zehntausend Meriten einzubringen. Wenn er diese Zeit ungenutzt verstreichen ließ, musste er den zu erwartenden wissenschaftlichen Ruhm mit anderen Forschern teilen.

»Sie stellen sich gegen die Empfehlung des Wissenschaftsrats«, gab Mira zu bedenken, als sie an den Kontrollen ihres eigenen Bots Platz nahm.

Sorensen legte die Hände in die Steuermulden und hörte, wie Servomotoren surrten und summten. Der Bot reagierte auf die Bewegungen seiner Finger, setzte sich in Bewegung und stapfte zum offenen Außenschott, wo eine dritte Maschine stand, unmittelbar vor der aus Nanopartikeln bestehenden Barriere des Atmosphärenschilds, der verhinderte, dass die Luft im Hangar ins All entwich. Sie enthielt zusätzliche Geräte und Instrumente für die Untersuchung des Konstrukts.

»Es ist genau das, eine Empfehlung.« Sorensen schloss den Helm seines Schutzanzugs aus Flexmaterial und aktivierte das Kommunikationssystem. »Ein Vorschlag. Mehr nicht. Man hat uns keine Anweisungen erteilt.«

»Conrad …«, funkte seine Assistentin. Er hatte ihr erlaubt, ihn so zu nennen, aber sie machte nur selten Gebrauch davon. »Sie wissen, was ich meine. Und Sie wissen auch, was der Wissenschaftsrat meint. Wir sollen warten.«

»Dies ist eine einmalige Gelegenheit, Mira. Ich meine wirklich einmalig. Die Anlage auf dem Felsbrocken unter uns ist extraterrestrischen Ursprungs, das Produkt einer fremden technologischen Zivilisation. Möchten Sie sich die Chance entgehen lassen, in die Geschichte einzugehen?«

»Geht es Ihnen darum? Um einen Platz in der Geschichte?«

Er konnte Miras Gesicht hinter dem Helmvisier nicht erkennen, hörte aber die Kritik in ihrer Stimme.

»Nein«, log er. »Es geht mir um die Wissenschaft. Der Zeitfaktor könnte tatsächlich eine Rolle spielen, trotz der verstrichenen zwanzig Millionen Jahre. Außerirdische Technologie, Mira! Und eine Lebensform! Vielleicht stehen wir unmittelbar vor einem Erstkontakt, was für die Menschheit die Möglichkeit eines Entwicklungssprungs über Jahrhunderte oder Jahrtausende bedeuten würde.«

Miras Bot kam näher. »Daran denken Sie vor allem? An die Zukunft der Menschheit?«

»Woran sonst?«, erwiderte er. »Wir sehen uns unten um und sammeln Daten. Das dürfte in einer Woche die Zusammenarbeit mit Lea Lehoras Team von der Fulmine erleichtern.« Die Exopaläontologin hatte in der letzten Zeit immer wieder mit spektakulären Entdeckungen wie den Enceladus-Artefakten von sich reden gemacht, aber sie war und blieb eine Nasse, das konnte und wollte Sorensen nicht vergessen.

»Wir haben die Zielhöhe von fünfzig Kilometern über NN21-X erreicht«, erklang die Stimme des Piloten aus den kleinen Helmlautsprechern. »Morgentau meldet alle Systeme in Bereitschaft für Außeneinsatz.«

Pumpen saugten die Luft aus dem Hangar. Der Atmosphärenschild flackerte kurz und verschwand.

Fünfzig Kilometer unter dem Forschungsschiff lag die von Rissen und tiefen Furchen durchzogene Oberfläche des transneptunischen Objekts NN21-X. Ein heller Fleck wies auf die Position des Konstrukts hin.

»Der Außeneinsatz beginnt jetzt«, sagte Sorensen und aktivierte die Düsen seines Bots.

4 Lea Lehora

An Bord der Fulmine, unterwegs zum Kuipergürtel

Das Artefakt ruhte in einer aus mehreren mobilen Elementen bestehenden Halterung, umgeben von einem neutralisierenden elektromagnetischen Feld, das Strahlung und Signale aller Art von ihm fernhielt – es sollte so weit wie möglich unbeeinflusst bleiben. Im Innern des vom EM-Feld umschlossenen Untersuchungsbereichs gab es mehrere Sensorcluster und ein Interface-System für Gregor, die künstliche Intelligenz der Fulmine.

Seit vier Tagen raste das umgerüstete Schiff durch den interplanetaren Raum, dem Kuipergürtel entgegen, wo es sein Ziel in etwa fünfundfünfzig Stunden erreichen würde. Die Daten, die Lea und ihre beiden Assistenten Maximilian Vennaki und Kathleen Brecht bisher gewonnen hatten, zeigten eine Verbindung zu den Artefakten von Enceladus. Diese Erkenntnis stellte keine Überraschung dar, Lea hatte nichts anderes erwartet.

»Fassen wir es noch einmal zusammen.« Lea saß erneut an der zentralen Konsole vor dem Untersuchungsbereich, den Blick auf das Artefakt aus der Chasma Boreale auf dem Mars gerichtet. »Das Objekt ist zwanzig Millionen Jahre alt, plus/minus tausend Jahre. Eine genauere Altersbestimmung ist nicht möglich, ohne es zu öffnen.«

Die junge Kathleen Brecht, von allen Kathy genannt, stand auf der anderen Seite des EM-Felds an den Kontrollen für Halterung und Sensoren. »Was natürlich nicht infrage kommt, weil die Gefahr besteht, das Artefakt irreparabel zu beschädigen.« Sie lächelte ihr schnelles, jugendlich frisches Lächeln, um das Lea sie manchmal beneidete. »Wir haben noch längst nicht alle Untersuchungsmöglichkeiten ausgeschöpft. In den nächsten Tagen und Wochen ergibt sich bestimmt mehr. Wir dürfen nichts übereilen.«

Kathy stammte von der Erde, eine Nasse aus der Schwimmstadt Polaris, verankert in der kühlen Arktis. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt und Studentin der Pluridisziplinären Fakultät an der Universität von Tibet. Lea arbeitete nicht zum ersten Mal mit ihr zusammen und schätzte sie wegen ihres Eifers und Engagements. Mit ihrer Bereitschaft, zu lernen und Neues zu entdecken, erinnerte Kathy sie an die eigene Jugend.

»Vielleicht müssen wir früher oder später ein Risiko eingehen, wenn wir mit den Untersuchungen weiterkommen wollen«, gab Maximilian Vennaki zu bedenken. Er war Leas zweiter Assistent: ein ruhiger, abgeklärter Mann fortgeschrittenen Alters. Er hatte sein ganzes Leben lang als wissenschaftlicher Techniker gearbeitet, ohne jemals mehr anzustreben. Er liebte es, im All unterwegs zu sein, und seine freie Zeit verbrachte er oft damit, die Sterne zu beobachten. Den Gesprächen mit ihm hatte Lea entnommen, dass er sich wie sie einen Platz an Bord der Wayfarer wünschte, nicht als Crew-Mitglied, sondern als Passagier, der den zweihundert Jahre langen Flug zum vierzig Lichtjahre entfernten System Trappist-1 zusammen mit Tausenden Kolonisten im Kryoschlaf verbrachte. Dieser Wunsch würde nie in Erfüllung gehen: Max Vennaki, ein Nasser wie Kathy und Lea, hatte nicht annähernd genug Meriten erworben, und außerdem war er mit seinen zweiundsiebzig Jahren zu alt.

»Eher später als früher, meiner Meinung nach«, verkündete Kathy fröhlich.

Lea seufzte leise. »Wir erreichen unser Ziel in fünfundfünfzig Stunden, nicht wahr Gregor?«

»Das ist korrekt«, bestätigte die künstliche Intelligenz der Fulmine mit tiefer synthetischer Stimme.

»Ich hatte gehofft, bis dahin mehr herauszufinden«, sagte Lea offen. »Nun, weiter mit der Zusammenfassung. Das Alter des Objekts stimmt mit dem der beiden Artefakte überein, die ich bei den Fossilien des Kappa-Riffs unter dem Eis von Enceladus gefunden habe. Die Entdeckung der Fossilien war erstaunlich genug, weisen sie doch auf eine evolutionär-biologische Zeit vor dem Kollektivwesen hin, das aus allen lebenden Zellen im subglazialen Ozean besteht. Eine der unbeantworteten Fragen lautet: Wie kann es ähnlich beschaffene Artefakte desselben Alters tief unter dem Eis eines Saturnmonds und in einer Schlucht am Nordpol des Mars geben?«

»Vielleicht gibt es noch mehr«, spekulierte Kathy. »Wir haben sie nur noch nicht gefunden.«

»Es ist nicht sehr wissenschaftlich, die Existenz von Objekten zu postulieren, die noch nicht entdeckt wurden«, mahnte Max in einem scherzhaft belehrenden Ton.

»Gleichartige Artefakte auf Enceladus und Mars bedeuten, dass jemand vor zwanzig Millionen Jahren beide Himmelskörper besucht und etwas hinterlassen hat«, sagte Kathy.

Max sah sie an und wölbte die Bauen. »Jemand wer?«

»Besucher von den Sternen.« Lea betrachtete erneut das keilförmige Artefakt, das etwas größer war als die beiden anderen von Enceladus. »Die einzig plausible Erklärung. Hier eine weitere unbeantwortete Frage: Warum haben die Besucher in unserem Sonnensystem solche Artefakte hinterlassen?«

»Um ein Zeichen zu setzen?«, vermutete Kathy. »Um uns eine Botschaft zu übermitteln?«

»Spekulationen«, wandte Max zu Recht ein.

Diesmal lächelte Lea. Es fühlte sich gut an, mit Kathleen und Maximilian zu sprechen. Als wissenschaftliches Team waren sie wie eine Familie, in der jeder die Eigenheiten des anderen kannte. »Welche Botschaft?«

»Vielleicht einfach nur ein ›Es war jemand hier‹.« Auf der anderen Seite des EM-Felds bediente Kathy die Kontrollen von Halterung und Sensoren. Der Keil, fast so lang und breit wie eine menschliche Hand, drehte sich langsam während einer neuen Sondierung.

»Es wäre ein ziemlich großer Aufwand für eine so schlichte Mitteilung, oder?« Leas Blick glitt zu den Anzeigen der Konsole. »Also, keine Zerfallserscheinungen, weder an der Oberfläche noch im Innern. Das Material, aus dem das Artefakt besteht, ist außerordentlich stabil, noch stabiler als Duranit oder Stahlkeramik. Man könnte von einer Art metallischem Diamant sprechen, allerdings ohne jede Sprödigkeit.«

»Die Molekülketten sind dicht gepackt«, bestätigte Kathy. »Wie miteinander verschweißt.«

»Was erklärt, warum das Objekt selbst nach zwanzig Millionen Jahren wie neu wirkt. Max, wir brauchen eine höhere Auflösung bei den Sensoren. Lässt sich das bewerkstelligen?«

Maximilian machte sich sofort daran, die Einstellungen der Cluster im Innern des EM-Felds zu verändern.

»Versuchen wir es noch einmal mit Materialanalyse«, sagte Lea. »Und mit einem Scan der inneren Struktur. Vielleicht erhalten wir dadurch einen Hinweis auf den Zweck des Artefakts. Ich meine, was ist es? Ein Schmuckstück? Ein Gerät? Ein Werkzeug?«

»Eine Waffe?«, brummte Max.

Lea nickte ihm zu. »Guter Hinweis. Eine energetische Signatur fehlt, aber wir sollten trotzdem vorsichtig sein.« Sie seufzte erneut. »An die Arbeit, Leute. Wir haben nur noch fünfundfünfzig Stunden.«

Müdigkeit war kein Freund von Erfolg; sie führte zu Fehlern, die einem klaren, wachen Geist nicht unterlaufen wären. Die letzte Erfahrung dieser Art hatte Lea während eines Tauchgangs unter dem Eis des Jupitermonds Europa gemacht und damals beschlossen, einen solchen Fehler, der katastrophal sein konnte, niemals zu wiederholen.

Sie zog sich schließlich in ihre Kabine zurück, obwohl alles in ihr danach drängte, die Untersuchungen des Artefakts fortzusetzen, kroch unter die Decke und träumte von Feuer, das Häuser verbrannte, bis Außerirdische kamen und es löschten. Einer der hilfsbereiten Retter hielt eine Glocke in der Hand, die vielleicht ein Tentakel war, und läutete damit.

Lea öffnete die Augen.

Dünne Leuchtstreifen zwischen Wänden und Decke spendeten gerade genug Licht, um die Konturen von Tisch, Stuhl und Hygienezelle zu erkennen.

Erneut hörte sie das Läuten – ein Rufsignal. »Ja?«

»Bitte entschuldigen Sie die Störung, Doktor Lehora«, ertönte die Stimme des Kommandanten, eines Trockenen namens Pietro Lomar, seit vielen Jahren in Diensten der Korporation Nuvola Nove. »Wir haben einen Notruf erhalten, und ich brauche Ihre Empfehlung für eine Entscheidung.«

»Sie benötigen meine Empfehlung?« Lea setzte sich benommen auf.

»Dies ist Ihre Mission, und es handelt sich nicht um einen Notruf, der eine Kursänderung auf Grundlage des Raumrettungskodex zwingend erforderlich macht«, erklärte der Kommandant auf seine steife Art. »Die Mitteilung stammt von Poseidon Zero, einer Raumstation in der Umlaufbahn des Neptunmonds Triton.«

»Ja?« Lea rieb sich die Augen und wartete darauf, dass Kommandant Lomar zur Sache kam.

»Sunset Riva, eins der beiden Besatzungsmitglieder, befürchtet, dass sich ihre Kollegin und Partnerin Flora Martens das Leben nehmen will, indem sie sich mit einer Forschungskapsel in die Tiefen Neptuns stürzt. Sunset Riva sieht sich außerstande, den Selbstmord zu verhindern. Deshalb der Notruf.« Nach einem kurzen Zögern fügte Lomar hinzu: »Wir sind das nächste Schiff. Nach uns käme die Superba, ein Frachter, der im Auftrag der Korporationen Buenavista und NeoGlobal Erz vom Kuipergürtel zum Mars transportiert. Er könnte Triton in neun Tagen erreichen.«

»Und wir?«

»In sechs Stunden«, antwortete der Kommandant. »Die Fulmine ist viel schneller.«

Lea überlegte nicht lange. »Ein menschliches Leben zählt, immer und überall. Bitte teilen Sie Poseidon Zero mit, dass wir unterwegs sind.«

»Es könnte ein Code sein«, erklang Gregors tiefe Stimme. »Auf subatomarer Ebene.«

Lea ging langsam um das Hologramm, das die künstliche Intelligenz der Fulmine geschaffen hatte und die innere Struktur des Artefakts zeigte. Der keilförmige Gegenstand, fast so groß wie eine menschliche Hand, ruhte noch immer in der mobilen Halterung, umgeben von einem elektromagnetischen Schirm. In der vergrößerten holografischen Darstellung bildeten die Molekülketten ein dicht gespanntes Netz, in dem einige Stellen mit unterschiedlichen Farben hervorgehoben waren.

»Von welcher Art?«, fragte sie.

»Unbekannt«, lautete die Antwort. »Ich bin nur eine einfache KI, meine Ressourcen sind begrenzt. Eine Quantenintelligenz könnte vermutlich mehr herausfinden.«

Lea blieb stehen und versuchte vergeblich, ein Muster zu erkennen. Die farblich markierten Stellen in den Gitter- oder Netzstrukturen des Artefakts erschienen ihr noch immer wie zufällig angeordnet.

»Max?«, fragte sie.

Er saß an den technischen Kontrollen des Laboratoriums und schüttelte den Kopf. »Wir sind bei der maximalen Auflösung. Mehr ist ohne einen Umbau unserer Apparaturen nicht möglich.«

»Wie lange würde das dauern?«

»Der Umbau?« Max überlegte kurz. »Einige Tage.«

Die junge Kathy stand auf der anderen Seite des Hologramms. Ihr Blick wechselte zwischen Hologramm und dem Artefakt hin und her. »Wie wären die Aussichten, Gregor?«

»Nicht besonders gut, Kathy«, erwiderte die KI. »Wir stoßen hier an die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit.«

»An Grenzen, die von der Ausstattung der Fulmine bestimmt werden?«, vergewisserte sich Lea.

»Das bestätige ich ausdrücklich. Es sei denn …«

»Ja?«

»Wir könnten versuchen, das Artefakt zu öffnen. Es würde uns einen direkten Blick auf das Innere ermöglichen.«

Lea erinnerte sich daran, dies selbst in Erwägung gezogen zu haben. Kathleen hatte widersprochen und ihre Meinung inzwischen nicht geändert.

»Die Gefahr eines irreparablen Schadens wäre zu groß«, wandte die junge pluridisziplinäre Wissenschaftlerin ein. »Es sollte die letzte aller Möglichkeiten sein.«

»Ein Code«, murmelte Lea nachdenklich und fügte hinzu: »Wie passen die beiden anderen Artefakte von Enceladus ins Bild?«

Das Hologramm wuchs ein wenig in die Breite, und zwei weitere Objekte erschienen, ebenfalls keilförmig, aber etwas kleiner.

Lea hatte plötzlich eine Idee. »Passen sie irgendwie zueinander? Könnten die drei Artefakte Teil eines größeren Ganzen sein?«

»Dafür gibt es keine Anhaltspunkte«, antwortete Gregor. »Die bisherigen Daten genügen nicht, um eine endgültige Aussage zu treffen.«

»Ein Code«, sagte Kathy auf der anderen Seite des Hologramms. »Wofür verwendet man Codes?«

»Um Daten zu verschlüsseln«, schlug Max vor. »Oder um den Zugriff auf Geräte und deren Funktion zu beschränken.«

»Codes spielen auch eine wichtige Rolle bei der Kommunikation. Vielleicht …« Lea hob den Zeigefinger. »Vielleicht handelt es sich um eine verschlüsselte Botschaft.«

Kathy nickte ihr zu. »Zwanzig Millionen Jahre alt. Eine Botschaft aus der Vergangenheit für die Zukunft.«

»Die unsere Gegenwart ist«, präzisierte Lea. »Wer hat sie aufgezeichnet? Und für wen war sie bestimmt? Wohl kaum für uns, denn den Homo sapiens gab es damals noch nicht.«

»Wenn es tatsächlich ein Code ist, so zeichnet er sich durch eine einzigartige Komplexität aus«, erklang erneut Gregors tiefe Stimme. »Meine bisherigen Analysen deuten darauf hin, dass uns mit den drei Artefakten nur ein Teil des Codes zur Verfügung steht.«

Lea fühlte, wie Enttäuschung sich in ihr ausbreitete. »Also selbst wenn uns eine Entschlüsselung gelänge … Wir könnten mit dem Ergebnis nichts anfangen.«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, bestätigte Gregor. »Aber das ist meine Einschätzung. Einen Quantenintelligenz käme vielleicht zu anderen Schlüssen.«

»Wenn das stimmt …« Kathy sah Lea durch das Hologramm hindurch an. »Dann müsste es weitere Artefakte mit den fehlenden Bestandteilen des Codes geben, nicht wahr?«

»Die wir noch nicht gefunden haben und vielleicht nie finden werden«, sagte Lea.

»Es sei denn …« Max stand auf und kam näher. »NN21-X.«

»Das Konstrukt, ja. Es könnte uns ein ganzes Stück voranbringen.« Lea dachte an den Notruf. »Allerdings …«

Ein akustisches Signal unterbrach sie.

»Doktor Lehora, Statushinweis«, ertönte die Stimme des Kommandanten Pietro Lomar. »Wir fliegen nicht nach Triton. Die Kursänderung wurde rückgängig gemacht.«

»Triton?«, fragte Kathy überrascht.

Lea achtete nicht darauf. »Warum?«, fragte sie laut.

»Wir sind vom Wissenschaftsrat und von Nuvola Nove angewiesen, den Flug zum Kuipergürtel mit maximaler Geschwindigkeit fortzusetzen«, erklärte der Kommandant. »Auf dem Objekt NN21-X ist es zu einem Zwischenfall gekommen.«

5 Conrad Sorensen

Kuipergürtel, Objekt NN21-X