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Bilder aus Tinte, für die Ewigkeit unter die Haut gebannt. Der Tätowierer William Bray erfüllt sich in seinem bescheidenen Tattoo Parlour einen Lebenstraum und bannt meisterhafte Motive auf die Haut seiner Kunden. Als er in einem Antiquariat auf ein Buch stößt, von dem er sich tieferes Fachwissen und neue Techniken verspricht, wird sein Verständnis der Tintenkunst auf den Kopf gestellt. Bei einem Selbstversuch mit den abstrakt anmutenden Motiven möchte er es genau wissen und stößt damit nichts ahnend eine Kette von Ereignissen an, die Trauer, Leid und aggressive Wesenheiten mit sich bringt. Dabei lauert die wahre Gefahr tief verborgen in den Seiten des Ink Arcanum.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Andreas Hagemann
Ink Arcanum
Besuchen Sie den Autor im Internet:
www.andreashagemann.com
Impressum:Ink Arcanum1. Auflage
Erstveröffentlichung im August 2024
© Andreas Hagemann
c/o Block Services
Stuttgarter Str. 106, 70736 Fellbach
[email protected], Illustration & Satz: saje design, www.saje-design.de
unter Verwendung von Texturen von iStockphoto.comIllustration Umschlaginnenseiten: Collin Winkler
Lektorat: Nina Hasse
Korrektorat: Pia Euteneuer
Druck & Vertrieb: tolino media
Alle Rechte vorbehalten.
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Dieses Buch ist mir gewidmet.
Einfach, weil ich mir nach so vielen Jahren all die Arbeit noch immer antue, obwohl ich weiß, wie hart das Schreiben ist.
Weiß und milchig hing der Dunst über den gepflasterten Gassen von Grubhaven. Eine klebrige Feuchtigkeit, in der die verbliebene Helligkeit des Tages als geisterhafte Fetzen waberte. Die heraufziehende Kühle vertrieb die letzten Passanten aus den Straßen, machte Platz, um der Nacht die Bühne zu bereiten. Ihr zum Trotz bahnte sich eine Gestalt in gefüttertem Trenchcoat und Zylinder ihren Weg. Sie lief leicht zur Seite geneigt, versuchte, das Gewicht des Gegenstandes auszugleichen, der unhandlich und schwer unter den rechten Arm geklemmt war. Er war in raues Leinen eingewickelt. Die gesamte Konzentration lag einzig auf ihm und nicht der wabernden Schönheit von Brassmoor.
Das Viertel befand sich im Norden von Grubhaven, ganz am Rande der Stadt. Es grenzte an den Milton River, dessen eisiges Wasser stets für niedrigere Temperaturen sorgte und der Nacht bisweilen ihren dunstigen Umhang verlieh. Die Gestalt schlurfte mit weißen Füßen wie ein müder Wanderer durch die Straßen und genoss die späte Stunde.
Dem Trenchcoat war dies einerlei. Sie sehnte sich nach dem Gebäude mit der Nummer 66 in der Pardington Road, denn allmählich wurden ihr die Arme schwer. Sie blieb abrupt stehen, verpasste dem unhandlichen Bündel einen Ruck nach oben und begab sich mit flotten Schritten auf den verbliebenen Abschnitt. Unter dem Zylinder war der Blick starr nach vorn gerichtet und peilte das vorausliegende Ziel an. Das dreigeschossige Gebäude lehnte behäbig zwischen zwei Backsteinbauten, die es um eine weitere Ebene überragten. Im Erdgeschoss beherbergte es ein Geschäft, dessen ausladendes Fenster samt schmaler Tür die Kunden wie ein mürrischer Matrose anstarrte. Darüber prangte ein grünes Schild mit goldenen Lettern, die bei Tageslicht den Namen Bray’s Fine-Arts Parlour bildeten.
Dem unbedarften Passanten sagte dieser Name nichts, wer ein wenig Fantasie besaß, mochte dahinter einen Kunsthandel vermuten. Hinter der Scheibe nahmen jedoch keine Antiquitäten den Platz ein, sondern ein mehrteiliger Paravent. Auf dessen solider Holzoberfläche hafteten Bilder, auf denen kunstvolle dunkle Linien Motive formten und das Etablissement als Tätowierstube preisgaben. Es war eine Dienstleistung, die wahrlich als selten galt.
Mit flinken Schritten hechtete der Trenchcoat in den überdachten Eingang und presste das Bündel mit dem eigenen Gewicht gegen den Backstein.
»Vermaledeites Ding«, raunte er, gleichwohl mehr der Vorfreude denn des Unmuts.
Außer Reichweite der Laternen kratzte sein Schlüssel im Schatten eifrig um das Schlüsselloch.
»Jetzt komm schon!«
Es klapperte und zwei Umdrehungen später erfüllte heller Glockenklang die Dunkelheit des Geschäftes. Die Gestalt fand den Weg zum Tresen und ließ das Bündel lautstark darauf niedergehen. Vom Ballast erlöst, stöhnte sie auf und schüttelte die kribbelnden Glieder. Ihre Hände tasteten über das kühle Holz, bekamen die winzige Schachtel zu fassen und entzündeten ein Streichholz. Kaum entflammt warf die beistehende Öllampe warmes Licht in den Raum sowie auf das freudige Antlitz von William Bray.
Der riss sich als Nächstes den Zylinder vom Kopf und befreite so den wirren Blondschopf, der wippend zu beiden Seiten um die weichen Züge des Gesichtes fiel. Auf dem Weg zum Eingang knöpfte er den Trenchcoat auf, entledigte sich des schweren Kleidungsstückes und schloss dann bedacht die Türe – gleichwohl es niemanden gab, den er stören konnte. Die kindlich flinken Bewegungen zurück zum Tresen ließen seine beinahe dreißig Jahre nicht erahnen. Vorfreude war stets die beste Verjüngungskur.
Genug der Trödeleien, mahnte er sich selbst.
Will schob das Leinen beiseite und legte den riesigen Folianten darunter frei. In dem dunklen Braun war dieser eine elegante Schönheit, deren Antlitz unzählige hölzerne Ornamente zierten. Er wirkte alt, aber nicht abgenutzt. Und ganz unzweifelhaft besaß er eine Aura, der Will sich nicht entziehen konnte. Alles an diesem Buch war außergewöhnlich. Gebannt betrachtete er den aus Holz gearbeiteten Titel: Ink Arcanum.
Seine linke Hand schwebte über dem Einband. Sie zitterte. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er in der Bewegung verharrt war. Augenblicklich nahm er sie fort und drückte sie gegen die Brust. Dies war nicht etwa das Ergebnis der Aufregung, sondern vielmehr das Zeichen einer unbekannten physischen Veränderung. Will trat zurück, um tief durchzuatmen.
Seit einigen Monaten kam dieses unkontrollierte Zittern zum Vorschein. Ein Tremor, gemäß seinem Arzt. Weshalb dieser auftrat oder was ihn auslöste, wusste bisher niemand zu sagen. Einzig sicher war, sein Talent für unpassendes Timing war außergewöhnlich. Will besaß den Laden erst seit einem Jahr. Ein Wagnis, das ihm viel Mut abverlangt hatte. Kurz darauf war dieser neue Umstand in sein Leben getreten, die einzige Sache, die seine Tätigkeit unmöglich machen konnte. Doch das würde er sich nicht nehmen lassen, zumal es bis dato nicht die Führungshand betraf. Ohnehin gab es nur den Wunsch zu tätowieren. Und genau deshalb wollte er dieses Buch haben.
Die Begeisterung für die gestochene Körperkunst begleitete ihn bereits seit der Kindheit, seit einer zufälligen Begegnung mit einem tätowierten Matrosen. Von diesem Augenblick an interessierte ihn alles, was mit Bildkunst auf der Haut zu tun hatte. Was immer er zu diesem Thema in die Finger bekam, verstopfte mittlerweile seine Regale. Will besaß bereits einiges zur Geschichte der Tätowierungen, aus dem alten Ägypten, Griechenland, Rom, China und anderen Zivilisationen. Selbst zu den verschiedenen Techniken, von spitzen Hölzern bis zu den elektrischen Apparaturen der heutigen Zeit besaß er Abhandlungen. Sie waren nicht nur Wissenssammlungen, sondern auch Inspirationsquelle. Will fand es spannend, unterschiedliche Stile und Techniken miteinander zu verbinden, um damit ganz neue Bilder zu kreieren. Genau das schätzten seine Kunden, denen die Lust an Schiffen, Ankern, Namen und schiefen Symbolen vergangen war. Gleichzeitig machte es dies so schwerer, genug Interessenten zu finden. Tätowierungen besaßen nur wenig Akzeptanz in der Gesellschaft, obwohl sie sogar in der Adelsschicht vorhanden waren und teils begeisterte Anhänger fanden. So zum Beispiel Jean-Baptiste Bernadotte, einst Kriegsminister unter Napoleon und später als Karl XIV. Johann, König von Schweden. Oder die vier Habsburger: Kronprinz Rudolf sowie die Erzherzöge Otto und Franz Ferdinand sowie Rudolfs Mutter, Kaiserin Elisabeth. Natürlich trug man diese Kunst nicht zur Schau, bei manch einem entdeckte man diese bisweilen erst nach dem Tod.
Für die Wandlung von einer Kriminellenzierde oder Gaunerschmuck hin zur Körperkunst bedurfte es neuer Ideen und Ansätze. So hatte man Will zugetragen, dass die Freimaurer und andere Geheimgesellschaften sich beispielsweise spezielle Zeichen verewigen ließen. Neben dem dafür notwendigen Geld brauchte es ebenso eine Portion Mut. Nicht selten dauerten die Sitzungen etliche Stunden, zudem gab es Körperstellen, die extrem schmerzempfindlich waren. Aber mit der richtigen Idee und dem richtigen Motiv könnte dies entschieden in den Hintergrund rücken, davon war Will fest überzeugt.
Er begab sich zurück an den Tresen und besah sich die Hand, die nun still in der Luft ruhte. Nach dem Abklingen des Zitterns konnte er sich wieder auf das Ink Arcanum konzentrieren. Bereits bei der ersten Durchsicht im Antiquariat war ihm aufgefallen, dass es eher einem Lehrbuch als einer Dokumentation glich. Es war über und über mit Abbildungen bespickt, Illustrationen, die mit nichts vergleichbar waren. Genau diese wollte er sich nun in all ihrer Vielfalt ansehen.
Will strich über den ledrigen Einband, der ungewöhnlich warm war. Die hölzernen Lettern des Titels waren wunderschön anzusehen. Weshalb hatte jemand derart viel Arbeit investiert? Offensichtlich besaß irgendjemand da draußen wohl eine noch größere Leidenschaft für dieses Thema als er.
Der Deckel knarzte beim Öffnen und zog einige Seiten begierig mit sich. Will wollte direkt zu den Abbildungen gelangen. Gleich die vorangehende ließ ihn innehalten. Ein stilisiertes Herz nahm beinahe die halbe Seite ein. Auf den ersten Blick glich es einer anatomischen Tuschezeichnung. Auf den zweiten waren einige der Details durch ineinander verlaufende Flächen und Linien abgewandelt worden, die es auf diese Weise abstrakt anmuten ließen. Das Motiv war dabei eine Sache, der technische Anspruch eine andere. Und genau das reizte ihn. Er blätterte einige Seiten weiter und blieb erneut hängen. Nun war es eine Blüte, die in ihrer feinen Linienführung zerbrechlich wirkte und doch durch Schattierungen und raffinierte Flächen das Gewicht eines Hammers zu besitzen schien. Er konnte nicht einmal festmachen, worin der Kniff lag. Und so verbrachte Will die nächste Stunde mit unzähligen augenöffnenden Momenten, bis die Öllampe zu seiner Linken zögerlich flackerte.
Kurzerhand schnippte er gegen den Metallkorpus. Er klang leer. In die Stille des Raumes schnitt das sonore Ticken der Standuhr hinter dem Tresen. Er sah hinüber und stellte erschrocken fest, dass es beinahe Mitternacht war. Er gähnte herzhaft. Schmerzend meldeten sich umgehend auch die Rückenmuskeln. Unter intensivem Strecken akzeptierte Will, dass sein Körper seine wohlverdiente Nachtruhe einforderte. Er zog das Ink Arcanum heran, um es zuzuklappen, da rutschten ihm einige der Buchseiten durch die Finger. In dem Augenblick entdeckte er eine weitere Abbildung. Sogleich schob er die Seiten noch einmal auf und besah sich die Illustration.
Will war sich nicht sicher, was er da eigentlich betrachtete, den Umrissen nach erinnerte sie an einen stilisierten Löwen. Die Pose glich der einer sitzenden Katze. Oben gab es hektische Linien, die in eine ruhige Fläche übergingen. Dies könnte die Brust sein. Eine Mischung aus Linien und geometrischen Formen bildeten die Hinterläufe. Es war ein faszinierendes Bild, abstrakt und doch war eine Figur auszumachen. Anders als bei den anderen Zeichnungen fühlte er hier etwas. Nichts Ganzheitliches, wie Freude oder Aufregung, sondern eine Stelle am Körper: seinen rechten Oberschenkel. So als definierte das Bild die Stelle, wo es platziert werden wollte. Er konnte gar nicht anders, er würde sich dieses Motiv selbst stechen.
Es war ihm der liebste Moment nach all der anstrengenden und kräftezehrenden Arbeit, wenn die kühlende Carronöl-Salbe aus Olivenöl und Limewater auf das frische Motiv aufgetragen wurde. In gewisser Weise war dies ein intimer Moment. Eine sachte Berührung, Haut auf Haut, so nah, wie sich für gewöhnlich nur Liebende kamen. Und doch sorgte dieser Augenblick nicht weniger für Verzückung und freudiges Lächeln.
Will lehnte sich zurück und gab den Raum zwischen ihnen frei. Seine Kundin, eine junge Dame der High Society, bedankte sich mit einer weiteren warmen Berührung und zog dann den Ärmel wieder über den Arm, der bis dato unverschämt viel Haut freigegeben hatte. Er ließ der Dame ihre scheinbare Privatsphäre und räumte die Utensilien der Tattoo-Gun, wie man diese technische Meisterleistung nannte, zusammen, um sie zu desinfizieren.
Diese gab es erst seit einigen Jahren. Der Tätowierer Samuel O’Reilly hatte ein Gerät des Erfinders Thomas Alva Edison gesehen, das jener zum maschinellen Gravieren entwickelt hatte. Manchmal brauchte eine Profession einfach den richtigen Augenblick, um zu expandieren. Wenngleich es mit den vorherigen fußbetriebenen Apparaturen, die eher einer Spindel glichen, nicht viel gemein hatte, war es dennoch ein großes und schweres Gerät. Will verbrachte daher nach einer Sitzung meist eine weitere Stunde damit, seinen Unterarm zu massieren.
Nach dem Kassieren verabschiedete er die Kundin, schloss ab und prüfte die Paravents für den gewünschten Sichtschutz. Eine überflüssige Angewohnheit, da er sie nie bewegte. Will trat um den Tresen herum und holte das Ink Arcanum aus dem unteren Schrank. Er wuchtete es mit dem linken Arm hinauf, weil der rechte noch nicht die notwendige Kraft besaß. Ein Zettel markierte die Stelle mit dem Motiv vom Vorabend. Eigentlich wollte er es nur noch einmal sehen, um sich ins Gedächtnis zu rufen, was später auf ihn wartete.
Wärme durchflutete ihn.
Dieses Motiv löste etwas in ihm aus, das sämtliche Gedanken mit sich riss. Faszinierend. Doch bevor er sich an die Arbeit machen konnte, brauchte sein Körper Energie. In einer angrenzenden Kammer lagerten nicht nur seine Arbeitsmittel, sondern in einem Kasten auch etwas Brot und frischer Käse. Daneben weilte in einer silbernen Kanne noch etwa ein Liter Milch. Er benötigte ohnehin Fett und Kohlenhydrate, um die Batterien des Tages wieder aufzuladen. Und das würde er in aller Ruhe tun.
Unweit des ausladenden Tätowiersessels, einem umgebauten Barberstuhl, gab es weitere Sitzmöbel, die der neuen Kundschaft für Beratungen zur Verfügung standen. Er platzierte Teller und Milch auf dem winzigen Beistelltisch. Es glich beinahe einem Ritual, sich entspannt im Leder niederzulassen, die Beine auszustrecken und dem darauf einsetzenden Stöhnen freien Lauf zu lassen. Ein kurzes Kribbeln durchfuhr die Muskeln, wanderte vom Steiß in Ober- und Unterkörper. In der folgenden halben Stunde tat Will nichts anderes, als dem Ticken der Wanduhr zu lauschen, aus dem Fenster zu sehen und jeden Bissen zu genießen.
Dieser Fokus auf sich selbst und das reine Sein erdete ihn. Der Kopf schaltete in den Leerlauf, nichts spielte mehr eine Rolle.
Bis der Gedanke an das Motiv sich wie ein polternder Rüpel in den Vordergrund drängte.
»Na gut«, sagte er und schlug sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel.
Mit wenigen Schritten trat er in die Kammer, spülte das Geschirr in einem dafür vorgesehenen Eimer ab und begab sich zurück zu dem Folianten.
»Du sollst es also werden«, wandte er sich ans Buch. Genauer genommen an die Zeichnung.
Will hob den Kopf und betrachtete seinen Arbeitsplatz. So ganz hatte er sich noch keine Gedanken gemacht, wie er das Stechen seines Oberschenkels eigentlich bewerkstelligen wollte. Für gewöhnlich befand er sich neben und nicht auf dem Sessel. Sein Blick wanderte mehrmals durch den Raum und identifizierte eine schlichte Kommode als geeignetste Unterlage für Buch und Utensilien. Sie stand ohnehin nur als Zierde an der Wand. Nach einem kurzen Umbau wuchtete Will den Folianten auf das abgenutzte Möbel und schob einen als Dekoration genutzten Zigarrenkasten darunter, damit er das Motiv vernünftig sehen konnte. Immer wieder saß er probe, um dieses gut betrachten zu können. Der Weg zwischen Motiv und Oberschenkel sollte dabei möglichst gering sein, damit er mit kurzer Kopfbewegung flink abgleichen konnte. Kaum lag es perfekt ausgerichtet dar, fiel ihm ein, dass er es ja auf dem Kopf benötigte, sonst würde der Löwe bis in alle Zeit mürrisch zu ihm hinaufstarren.
Er fluchte. Vorsichtig drehte er das schwere Buch, ohne den Aufbau zu bewegen. Fehlte nur noch besseres Licht sowie die Tattoo-Gun. Nach weiteren Minuten des Rückens, Schiebens und Neuplatzierens war er schließlich der Ansicht, alle vorbereitenden Maßnahmen abgeschlossen zu haben. Oder?
»Der Absinth!«, rief er, begleitete den Ausruf mit mahnendem Zeigefinger und hastete in die Kammer. Die Flasche in der Hand betrachtete er lächelnd das Etikett.
»Dann kann es losgehen.«
Mit geübtem Griff öffnete Will den Gürtel und ließ die Hose an Ort und Stelle zu Boden gleiten. Augenblicklich begrüßte ihn die Kälte des Herbstes und er verzog den Mund.
»Vielleicht kann ein weiteres Holzscheit für die kommenden Stunden nicht schaden.«
Flink hüpfte er hinüber zum Korb am Ofen, nahm einen mittelgroßen Holzklotz und warf ihn in die glühenden Reste seiner Vorgänger. Kurz darauf sorgte das kühle Leder des Sessels noch einmal für Gänsehaut. Von nun an sollte die Konzentration für das folgende Projekt alle äußeren Eindrücke verdrängen.
Will goss Absinth in ein Glas und tauchte anschließend eine mehrfach gefaltete Mullbinde hinein. Der Drink war nicht für den Mut gedacht, sondern ausschließlich zur Desinfektion. Reiner Alkohol war zu teuer, doch dieser spezielle Tropfen besaß mehr als achtzig Prozent Volumenalkohol und würde diese Aufgabe damit ebenfalls erfüllen. Den Mull rieb er großflächig über den Oberschenkel und entfernte vorhandene Haare mit einem Rasiermesser. Nichts durfte der Nadel im Weg sein. Die Prozedur kam ihm merkwürdig vor. Als würde er sich zurechtmachen. An der falschen Stelle und aus dem falschen Grund. Er griente. Wenigstens fühlte es sich rundum komisch an. Bereits jetzt beschwerte sich die Rückenmuskulatur und der Magen merkte an, dass er soeben erst gefüllt worden war und ihm eine unnötige Faltung seiner selbst missfiel. Dabei war der Oberschenkel noch eine der leichteren Stellen für ein Selbstexperiment. Die Fläche war groß, gut zu erreichen und fleischig.
Dann war es so weit.
Will betrachtete das Motiv, um sich den Linienverlauf einzuprägen. Die Spitze der Nadel tauchte in die winzige Schale mit Tinte. Er nutzte eine eigene Mischung, die primär aus natürlichen Stoffen wie Walnussschalen und Henna bestand. Der Großteil der sonstigen Tinten nutzte Ruß oder gar Metalle zur Färbung, die in offenen Wunden ganz gewiss keine Wohltaten vollbrachten. Mit einem Klick legte er den Schalter der Maschine um. Augenblicklich begann die Tattoo-Gun ihr Lied zu summen.
Tiefes Durchatmen.
»Also gut«, sprach Will und legte die Nadel an.
Der direkt eintretende Schmerz überraschte ihn, trotz innerer Vorbereitung. Sein Gedächtnis verband die Fertigung eines Bildes mit kreativer Entspannung, wenngleich es Konzentration erforderte. Dieses intensive Stechen gab es da nicht. Bereits nach der ersten langen Linie, die einen Teil der Löwenmähne bildete, setzte er ab und richtete sich auf. Er war zu angespannt. Über kurz oder lang würden die Muskeln krampfen und dann besäße er lediglich ein halbes Motiv. Es war nicht sein erstes Tattoo, doch es fühlte sich so an. Will schob es auf die einmaligen Umstände, denn es war das erste, das er sich selbst verpasste. Die Nadel wanderte erneut in die Schale.
Er arbeitete sich von unten nach oben. Das Motiv auf dem Kopf zu sehen, erschwerte die Sache ungemein. Alles wurde freihändig in die Haut gebracht. Will verzichtete bewusst auf Vorlagen direkt auf der Haut. Egal, was man dafür nahm, es wurde samt der Tinte mit unter die Haut verfrachtet und konnte dort Allergien auslösen. Zu Zeiten der Bürgerkriege hatte man sogar Schwarzpulver als Tinte verwendet. Bereits wenige Bilder von etwaigen Nebenwirkungen hatten ihm seinerzeit gereicht, um kein Risiko einzugehen. Also hieß es, so gut zu werden, dass es ohne gehen musste. Nach einigen Jahren der Übung auf Schweineschwarten – diese Haut ist der der Menschen sehr ähnlich – war seine Technik so weit perfektioniert, dass er sich traute, damit Geld zu verdienen. Und jetzt wurde er sogar zu seinem eigenen Kunden.
Die Umrisse des Löwenkopfes nahmen Form an, die Proportionen stimmten. Immer wieder wanderte der Kopf nach links, verarbeitete das nächste Segment und bannte ihn dann auf den nächsten Hautabschnitt. Zentimeter für Zentimeter. Für die Fläche der Mähne wechselte er die Nadel. Statt einer einzigen besaß der neue Aufsatz gleich drei nebeneinander. Auf diese Weise ließen sich in der gleichen Zeit eine größere Fläche bearbeiten und Schattierungen erzeugen. Dass dies auch dreimal so intensiv zu spüren war, versuchte er auszublenden. Erst ab einer größeren, dicht beieinander befindlichen Nadelzahl konnte die Haut die Traktur nicht mehr einzeln wahrnehmen.
Nach einer Stunde war der Kopf des Motivs abgeschlossen und belegte eine Fläche von gerade einmal 3×3 Zentimetern. Will sank zurück in die Lehne, kämpfte gegen die hart gewordenen Muskeln und entließ ein Stöhnen in den leeren Raum. Das Scheit im Ofen knisterte noch leise vor sich hin, die Nacht schlich zwischen den Laternen vor dem Fenster umher. Nach einem langen Tag malträtierte er sich tatsächlich noch selbst. Es war nicht einmal der Drang nach einem neuen Tattoo, davon besaß er ohnehin nicht allzu viele. Er wollte genau dieses, und zwar an exakt dieser Stelle. Manchmal nannte man diese wirre Entscheidungsfindung Bauchgefühl oder gar künstlerische Intuition. Doch das hier war anders. Will wollte dieses Bild so sehr, dass ihm selbst die Strapazen völlig egal waren. Eigentlich war es verrückt. Die Müdigkeit sollte ihn bereits übermannt haben, doch da war einzig der Wille, dieses Bild zu stechen, von Erschöpfung keine Spur.
Bevor er sich jedoch an den nächsten Abschnitt machte, erhob er sich, schüttelte die Glieder aus und drehte einige Runden durch den Raum. Die Wärme vor dem Ofen umhüllte ihn wie warmer Pelz. Wo dieser nicht hinreichte, begann die Nacht, ihre kalten Finger auszustrecken. Bevor ihn die Gänsehaut einnehmen konnte und das weitere Stechen erschwerte, schob Will sich wieder auf den Sessel. Ihm kam eine Idee. Noch einmal sprang er auf und lief schnurstracks auf den Tresen zu. Dort lag ein kleiner Stapel Bücher, die einzig die Leere auf dem Holz verdrängen sollten. Zurück beim Sessel klappte er die Fußhalterung aus und platzierte sie darauf. Auf diese Weise war sein Bein angewinkelt und schonte mit der aufrechteren Sitzposition den Rücken.
Will musterte den Oberkörper des Löwen und machte sich dann an den nächsten Abschnitt. Auf der rechten Seite besaß dieser einen stilisierten Pelz, eine Fläche, die im Zickzack auslief. Auf der Linken blieb das Detail feiner Haare. Über Kopf sah es ein wenig befremdlich aus, ähnlich dem Kleid einer Dame. Es sollte ihm egal sein. Wichtig war einzig das Ergebnis. Es war nicht ungewöhnlich, dass Kunden während der Arbeit nachfragten, ob dieses oder jenes Detail korrekt sei. Tätowieren war anders als Zeichnen oder Malen und jeder Künstler besaß seine eigene Technik. Will arbeitete sich vom Dunklen ins Helle, nicht andersherum. Auf diese Weise konnten die gewünschten Motive eine Zeit lang unfertig oder gar falsch aussehen. Zumindest bot sich so immer eine Grundlage für eine Unterhaltung.
Will bekam um sich herum nahezu nichts mit. Das Surren der Tattoo-Gun erfüllte das Studio wie ein sirrendes Mantra. Vom Ticken der Wanduhr war gar nichts wahrzunehmen. In seinem Rücken konnten die Zeiger ohnehin Pirouetten drehen, wie sie wollten. Nur die Flammen der Öllampen neigten sich immer mal wieder zu ihm herüber und sahen nach dem Fortschritt. Gerade bekam er die linke Tatze fertig. Damit war der Großteil bereits gestochen. Bis dato stellte sich keine Müdigkeit ein. Im Gegenteil. Will fühlte sich belebt, geradezu elektrisiert. Als wäre der Tag noch ganz jung und wollte erlebt werden. Während er sich an den letzten Abschnitt machte, dachte er darüber nach.
Weshalb fühlte er sich so? Mochte es die Aufregung sein? Zumindest hatte er mit diesem Buch eine Inspirationsquelle gefunden, mit der er sich von der Konkurrenz abzuheben vermochte. Es brauchte ja niemand zu wissen, dass er die Kreativität in diesem Fall woanders herbekam. Zudem musste ihm der passende Kunde für derlei Motive auch erst einmal über den Weg laufen. Dieses Buch würde ihm dennoch ganz neue Horizonte eröffnen.
Will setzte ab.
Seine Gedankenwelt entglitt ihm. Es war ihm völlig schleierhaft, wie er auf solche Überlegungen kam. Diese Fetzen in seinem Kopf waren plötzlich einfach da. Ohne Grund. Normalerweise hatte er keine Probleme, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Womöglich war es doch die Müdigkeit, die sich unter dem Deckmantel des Adrenalins einen Spaß erlaubte.
»So, William Bray«, sagte er zu sich selbst, das Kreuz durchgedrückt. »Es wäre von Vorteil, wenn du dich bei deinem eigenen Tattoo ebenso konzentrierst wie bei den Arbeiten für deine Kunden. Sonst wird das hier eine betrunkene Kuh auf einem Mühlstein und kein Löwe.«
Kurz lauschte er, ob er sich selbst Widerworte geben würde, doch es blieb ruhig.
»Danke vielmals.«
Im Nu verrichtete die Tattoo-Gun wieder ihre Arbeit. Aus den bestehenden Linien verlängerten sich die Umrisse, formten eine zweite Tatze. Gleich darauf wurden die Nadeln auf die verbliebene nackte Haut manövriert, um mit Hilfe einer findigen Schattierung dem Körperteil mehr Plastizität zu verleihen.
Nun spürte Will sein Herz schneller schlagen. Die Fertigstellung eines Motivs löste jedes Mal eine Welle der Vorfreude aus. Doch dieses hier fühlte sich an, als würde er die Mona Lisa auf die Leinwand bannen. Will schaltete das Tätowiergerät aus und augenblicklich explodierte die Stille. Das Knistern im Ofen wirkte ungewöhnlich laut und auch der Rest des Hauses schien, dem Knarzen nach, stetig in Bewegung. Er legte den Kopf schief, gönnte sich einige Sekunden des Genießens, tunkte einen Teil der Mullbinde ins Wasserglas und wischte sachte das verbliebene Blut von der schmerzenden Haut. Selbst die Kälte sorgte kurz für Unbehagen, bis ihre wohltuende Wirkung einsetzte. In den folgenden Tagen würde sich die empfindliche Stelle wie ein Sonnenbrand anfühlen, stetig weiter austrocknen, bis die malträtierte Haut sich irgendwann schälte.
Die Unterseite seiner Oberschenkel klebte am Leder des Sessels und löste sich nur widerwillig beim Versuch aufzustehen. Ein wenig wacklig beugte er sich vor, um dem schwachen Blutdruck keine Angriffsfläche zu bieten. Nach und nach schüttelte er die Glieder aus und fand schließlich in eine aufrechte Haltung.
»Dann wollen wir mal schauen«, komplimentierte er sich an den großen viktorianischen Spiegel zwischen Eingang und Kammertür. Je näher er trat, desto mehr wurde aus dem dunklen Flecken ein detailreiches Bild. Das Licht war ausreichend, um das Kunstwerk aus dieser Entfernung begutachten zu können. Wie eine Dame aus dem Varieté schob er das Bein nach vorn, um in einer leichten Drehung jede Facette zu bestaunen. Er kam nicht umhin, die eigene Arbeit als faszinierend anzusehen. Die Linienführung war ausgezeichnet, das Spiel mit Form und Fläche gewagt, wenngleich kraftvoll elegant.
»Mr Bray, Ihr seid ein …«
Zittern erfasste seinen Oberschenkel. Hitze stieg von dem Bild auf. Eine allergische Reaktion? Will beugte sich nach vorn, um das Geschehen auf seiner Haut besser sehen zu können. Sollte es eine Reaktion sein, würde sich das schnell durch Pusteln oder Rötungen zeigen.
Dann bewegte der Löwe sachte den Kopf.
Wills Schrei gellte schrill durch das Studio. In einem fluchtartigen Ausfallschritt setzte er zurück, stieß gegen den Sessel und schlug seitlich auf die Dielen. Genau auf das frisch tätowierte Bein. Im letzten Moment hielt er sich davon ab, mit den Händen die strapazierte Hautpartie zu berühren.
Langsam richtete er den Oberkörper auf und wagte den Blick auf das Motiv. Die zuckenden Flammen im Ofen warfen trügerische Lichtfinger umher. Er vermochte nicht zu sagen, ob sich auf dem Bein etwas anderes bewegte als die Schatten. Ihm pochte das Herz bis in die Ohren. Ungläubig hielt er den Blick auf die dunkle Abbildung gerichtet. Sein hektischer Atem glitt über die nackte Hautpartie.
»Beruhig dich«, mahnte er sich selbst an. »Das …«
Wieder wandte der Löwe den Kopf, sah dieses Mal in seine Richtung.
Ein weiterer Schrei entrang sich seiner Kehle. Augenblicklich drückte Will sich von sich selbst fort, kroch über das kalte Holz, bis er gegen die Sitzecke prallte. Der Stoß drückte ihn nach vorn, sodass er dem Motiv noch näher war. Ausdruckslos taxierte der Löwe ihn, hob die Pfote, als wollte er grüßen.
»Verfluchte Scheiße, was geht hier vor sich?«
Der Anblick lähmte ihn. Sein Atem ging schnell, die Brust bäumte sich auf. Will drohte zu hyperventilieren. Er wollte dieses Ding wegschlagen wie eine Spinne. Doch die Erkenntnis, dass es mit ihm verbunden war, löste einen Fluchtinstinkt samt Panik aus. Eine Welle der Übelkeit überkam ihn. Hitze und Kälte kämpften um die Vorherrschaft. Der Raum verschwamm. Will glitt zur Seite. Das Blut sackte in die Beine, seine Gedanken lösten sich in neblige Wolken auf. Finsternis drohte, von ihm Besitz zu ergreifen.
Gerade als er sich ihr als einzigen Ausweg hingeben wollte, spürte er die Bewegung auf dem Bein. Ein kurzes elektrisierendes Kribbeln. Dann erfasste ihn eine Welle der Energie, schoss zuerst in die Zehen des rechten Beines, anschließend hinauf in die Schulter und schwappte gleich darauf hinüber in die andere Körperhälfte. Schlagartig verflog die Übelkeit. Leichtigkeit und Klarheit packten ihn. Scharf sog Will die Luft ein und besiegelte damit ein völlig anderes Körpergefühl. Letzte Ausläufer leuchtender Linien zogen sich in das Motiv zurück, bannten den Blick auf die Schöpfung, die nun an ihm haftete.
Ruhe.
Das war das Erste, das ihm durch den Kopf ging. Kein Gefühl, eher eine Feststellung. Mehr noch eine Aufforderung an sich selbst. Will legte die zitternden Hände ab, die noch immer einen unsichtbaren Feind bekämpften. Seine Lunge begnügte sich mit weniger Sauerstoff und die Schwaden in seinem Kopf zogen von dannen.
Er wollte es anfassen. Wollte durch die Berührung begreifen. Wollte die Lücken mit Erkenntnis füllen, den Augenblick der Klarheit länger auskosten. Sachte hob er die linke Hand. Sie kam nicht weit. Um den Oberschenkel lag eine Kraft, die ihm diesen Wunsch verwehrte. Der Löwe schüttelte gemächlich den Kopf und senkte ihn dann ehrfürchtig.
Will akzeptierte es. Hinterfragte nicht. Da war … Verständnis.
Langsam zog sich die Leichtigkeit zurück. In der aufsteigenden Kälte des Untergrundes wurde er sich der ausgeblendeten Realität bewusst. Vernahm das Knistern im Ofen, das Ticken der Wanduhr und die Müdigkeit. Irritiert sah er auf. Betrachtete die Dinge im Studio, als wären sie alle Teil einer verzerrten Erinnerung. Die Erkundung endete an seinem nackten Oberschenkel, auf dem das Abbild des Löwen prangte.
»Was zum Henker ist gerade passiert?«
Drei Tage war es her, dass Will seinen Oberschenkel um das Motiv des Löwen bereichert hatte. Drei Arbeitstage und drei Nächte, die alles auf den Kopf gestellt hatten. Die Erinnerung an jenen Abend glich einem entrückten Traum, dessen bildgewaltige Eindrücke lange nachhalten. Doch das lebendige Antlitz des Löwen, das ihn nun jeden Morgen begrüßte, ließ sich keiner Fantasterei zuschreiben. Es war da und Will kam nicht umhin, sich zu fragen, ob er womöglich den Verstand verlor. Gleichzeitig fühlte er sich besser denn je. Bereits am darauffolgenden Tag bemerkte er bei der nächsten Kundenarbeit, dass seine Hand beinahe den gesamten Tag ruhig blieb. Jetzt, zwei weitere Tage später, gab es kein Anzeichen des Tremors mehr.
Will lag es fern, diese neuen Umstände zu akzeptieren. Solange es die Konzentration erlaubt hatte, war er nach getaner Arbeit in das Ink Arcanum abgetaucht, um alles im Zusammenhang mit diesem Motiv besser zu verstehen. Und weiß Gott, das hätte er eher tun sollen.
Wie die Inhaltsangabe des Folianten offenbarte, besaß das Buch mehrere Abschnitte. Jeder einzelne befasste sich mit den Ausrichtungen der Tätowierungen. Dabei ging es gar nicht um die Motive selbst, sondern um deren Bedeutungen. Fünf Abschnitte waren es in Gänze: Lebenskraft, Wissen, Beeinflussung der Elemente, Beherrschung der Schatten sowie Seelenkraft. Für Will wollte sich kein Zusammenhang zwischen diesen Ausrichtungen ergeben. Sie schienen bedeutsam, keine Frage, aber wo lag ihre gemeinsame Basis? Weshalb genau diese fünf und keine anderen? Ihm kam sogar in den Sinn, dass es noch weitere Bücher geben mochte, die ganz andere Aspekte betrachteten. Allein dieser Gedanke hatte ihn die erste Nacht gekostet.
Wie Will erfuhr, war sein Löwe dem Abschnitt der Lebenskraft zugehörig, im Speziellen dem der Muskelkraft und Vitalität. Dies vermochte zwar das Warum, aber nicht das Wie zu erklären. Hierzu schwieg sich das Buch aus. Wie konnte aus Tinte und einem Motiv ein lebendiges Abbild werden? Diese Frage ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Die zahlreichen Illustrationen dieses Abschnittes zielten in ihrer Wirkung noch auf weitere Körperregionen ab. Als könnte man sie gezielt einsetzen wie Medizin. Ebenso wie der Löwe waren auch sie leicht verfremdet, besaßen schattierte, skizzierte und schraffierte Elemente. Jedes für sich ein Kunstwerk.
Im Abschnitt Wissen stand geschrieben, dass man es erhalten, wiederherstellen sowie die eigenen Fähigkeiten der Aufnahme und Verarbeitung optimieren konnte. Ganz gewiss mochte dies für die Akademiker von großem Reiz sein, würden die ihre Haut nicht unter Schichten dicken Stoffes eisern verbergen.
Beeinflussung der Elemente. Will hielt die Überschrift bereits für den Beginn einer fantastischen Erzählung. Etwas, das sich derzeit großer Beliebtheit erfreute. Die darauffolgenden Erläuterungen waren in der Tat nichts anderes. Beeinflussung von Wind, Wasser, Erde und Feuer. Bei den beschriebenen Möglichkeiten war er froh, dass nicht von Beherrschung die Rede war. Allein der Gedanke, etwas Derartiges zu können, sorgte für Gänsehaut und einen eiskalten Schauer auf dem Rücken.
Diese Motive wirkten auf zweierlei Weise, direkt und indirekt. Direkt hieß, dass man etwas tat und somit etwas auslöste. Indirekt bedeutete, dass die Wirkung ohne jedwedes Zutun konstant vorhanden war, so wie bei ihm. Wie sollten jedoch direkte Abbildungen funktionieren? Ihm kam das Bild eines Magiers in den Sinn, der statt eines Zauberstabs mit dem Arm fuchtelte. Ähnlich einem volltrunkenen Tänzer. So unterhaltsam die Vorstellung war, das Unwohlsein blieb. Der Foliant sparte hier mit weiteren Erläuterungen, sodass die Wirkung der jeweiligen Motive im Dunkeln blieb.
Wills Gänsehaut intensivierte sich beim dritten Abschnitt: Beherrschung der Schatten. Er wollte der eigenen Fantasie gar nicht erst die Möglichkeit einer Eskalation bieten und begann daher umgehend mit dem Lesen. Was er jedoch erfuhr, übertraf jedwede Vorstellung. Alles hier troff vor Manipulation und Hexerei. Träger der überaus finsteren und düsteren Motive vermochten es, buchstäblich im Schatten zu wandeln, die Dunkelheit zu manipulieren, ja, sogar eine gewisse Form von besonderen Kräften zu entwickeln. All dies war in Abbildungen wie Gestalten, Waffen, Zeichen und Kombinationen daraus manifestiert. Ein beängstigendes Sammelsurium an Negativität, die ganz gewiss nicht auf die Haut der falschen Personen gelangen sollte.
Nun brach der vierte Abend an und Will machte sich an den letzten Abschnitt des Ink Arcanum. Die Nacht lungerte bereits vor dem großen Fenster und die frische Luft des Herbstes trieb die Passanten wie scheue Rehe durch die Straßen. Er saß vornübergebeugt auf einem hohen Stuhl an seinem Tresen, den Folianten vor sich aufgeschlagen. Seelenkraft stand in geschwungenen Lettern über der einleitenden Seite. Von rechts zog er die Öllampe ein Stück näher heran, um den Schatten des wulstigen Falzes auszugleichen. Nun ließ sich der Text wunderbar lesen:
»In der Vielfalt eigener Fähigkeiten ist die der Seele ungebrochen. Ihre Kraft ist mannigfaltig. Bauchgefühl, drittes Auge, siebter Sinn, ihre Macht auszuformulieren, würde ihr dennoch nie gerecht werden. Doch diesem wichtigen Baustein menschlichen Seins wohnt eine Kraft inne, die der Mensch in seiner simplen Existenz kaum entfalten kann. Um das brachliegende Potenzial zu nutzen, gibt es bestimmte Bilder, die auf die folgenden Funktionen wirken …«
Will pfiff durch die Zähne, als er die ersten Worte sah.
»Emphatische Verbindungen, Gedankenaustausch, Visionen sowie die Kombination bestehender Fähigkeiten.«
Es klang nach Teufelszeug. Allerdings von der Couleur, die dafür sorgte, dass man in besondere Einrichtungen verfrachtet wurde. Er musste überlegen, ob er tatsächlich mehr darüber erfahren wollte. Kurzerhand erhob er sich, schüttelte die Glieder aus und stützte sich mit den Armen auf die Knie. Blieb ihm denn wirklich eine Wahl? Das Motiv auf seinem Oberschenkel gebot es, dass er mehr darüber erfuhr. Also schob er sich wieder auf den Stuhl, atmete durch und las weiter.
»Dank emphatischer Verbindungen lassen sich Emotionen und Empfindungen anderer Individuen spüren. Dies kann helfen, sich auf tiefgreifende Weise zu verstehen und effektiver zu kommunizieren.«
Will sank zurück auf die Lehne.
»Klingt besser als erwartet«, sprach er den Gedanken laut aus. Dennoch behagte ihm etwas daran nicht. Das Wort Manipulation kam ihm in den Sinn. Vielleicht lenkte der nächste Abschnitt davon ab.
»Individuen, die je ein Motiv tragen, ist es möglich, Gedanken miteinander zu teilen. Sie können Ideen, Pläne und Erkenntnisse direkt ohne Worte übertragen, was zu schnellerem und präziserem Handeln führt. Was zum Geier? Wer will das? Kann man das steuern oder weiß ich dann immer, wann der andere auf den Lokus muss?«
Will schüttelte sich. Natürlich besaßen diese Fähigkeiten außergewöhnliches Potenzial, aber was genau machte man damit?
»Geteilte Abbildungen erlauben es den Trägern, über eine Seelenverbindung gemeinsame Visionen oder Träume zu erleben. Diese besitzen in seltenen Fällen die Kraft, zukünftige Ereignisse vorherzusagen.«
Einmal mehr sprang Will vom Stuhl. Stöhnend fuhr er sich durchs Haar und drehte sich ziellos um die eigene Achse.
»Das wird ja immer besser.«
Mit gesenktem Blick linste er auf die vergilbten Seiten. Würde er das pulsierende Leben auf seinem Oberschenkel nicht spüren, dieses Buch wäre gewiss ein kreatives Sammelsurium skurriler Geschichten. Nur noch ein Abschnitt, dann konnte er all das in Ruhe verarbeiten. Die letzten Zeilen überflog er im Stehen.
»Sämtliche Fähigkeiten eines Trägers vermögen es, über die Zeit auf die Seele einzuwirken. Es liegt an der Veranlagung eines jeden selbst, ob dies in positiver oder negativer Weise geschieht. Die Kombination bestehender Fähigkeiten können es ermöglichen, die individuellen Fähigkeiten und Kräfte zu kombinieren. Dies kann zu einer Steigerung ihrer magischen Kraft führen.«
Das war’s.
Mit einem Schritt zurück brachte Will Abstand zwischen sich und das Ink Arcanum. So irritierend dieses Wissen auch sein mochte, es zog ihn auf gleiche Weise an. Das absurde Gefühl einer Hassliebe überkam ihn. Sein Kopf bemühte sich, diesen abstrusen Informationen einen wohlwollenden Kern abzugewinnen. Er war nur heilfroh, dass ihn dieser Löwe in den Bann gezogen hatte und nicht eines der anderen Motive. Sonst würde er vermutlich mit den finsteren Mächten in der Hölle den nächsten Aufguss vorbereiten.
Langsam trat Will vom Tresen weg und begab sich zur Sitzgruppe. Er fiel ins Polster und warf den Blick nach draußen in die Nacht. Sein erster Gedanke war, das Buch zu verbrennen. Mit dem bloßen Wissen konnte man allerdings keinen Unfug anstellen. Es bedurfte einer fähigen Hand an der Tätowiermaschine, um Fakten zu schaffen. Doch die Bürde, die mit dem Wissen über diese Motive einherging, wog schwer. Ungemein schwer. Wollte er sich als jemand aufspielen, der darüber entschied, das Leben ihm völlig Fremder dermaßen grundlegend zu verändern? Was wäre, wenn er damit etwas Verheerendes anrichtete und sie ins Verderben trieb? Oder jemand dies dank seiner Gabe mit anderen tat?
Auf der anderen Seite – und das konnte er wahrlich nicht abstreiten – wären seine Abbildungen einmalig, mit einer Wirkung, die deutlich über den rein künstlerischen Aspekt hinausging. Aber als Künstler würde ihn vor allem eines wurmen: Nicht eines der Motive wäre seine eigene Schöpfung.
Will war hin und her gerissen. Unzweifelhaft mochte in diesen Kreationen viel positives Potenzial stecken. Aber wie sah es mit der entgegengesetzten Wirkung aus? Lag ebenso Zerstörerisches darin? Die Ausführungen in einigen Abschnitten ließen darauf schließen.
Sein Blick lag auf den offenen Seiten, die unscheinbar auf den Leser warteten.
»Was genau bist du?«, fragte Will in den Raum, der seine Worte stumm zur Kenntnis nahm.
Was sollte er jetzt damit anstellen? Potenziellen Kunden konnte er es nicht anbieten, er verstand ja selbst nicht einmal, was hier geschah und was es damit auf sich hatte. Bei genauer Betrachtung erklärte das Ink Arcanum eigentlich überhaupt nichts. Konsequenzen und Auswirkungen blieben im Dunkeln, gleichwohl es positiv formuliert war, so als wollte es die Gedanken positiv beeinflussen. Bei ihm hatte es funktioniert. Will beschloss, erst einmal abzuwarten. Vielleicht fraß der Löwe ihn doch noch auf, dann hätten sich weitere Überlegungen ohnehin erledigt.
Das Klingeln der Glocke verabschiedete den letzten Kunden des Tages, gefolgt vom Klirren das Glases beim Zuschlagen im alten Holz der Türe. Die Ruhe umgarnte Will, der erschöpft in den Sessel der Sitzgruppe gesunken war. Sein kleines Geschäft brummte – und seine Gedanken seit drei Tagen ebenso. Sie sorgten für oberflächliche Nächte, die nun ihren Tribut einforderten. Das Ink Arcanum beherrschte seinen Kopf, selbst dann, wenn er seine Arbeit verrichtete. Ihm drängte sich die Furcht auf, jedes der neuen Kundenmotive vermöchte sich jeden Augenblick zu bewegen. Es raubte ihm den Verstand. Zu allem Überfluss hatte seine Hand vor zwei Tagen wieder zu zittern begonnen.
Will war sich ziemlich sicher, dass es nicht am Tattoo lag, denn dieses war nach wie vor da, ebenso die damit einhergehende Leichtigkeit. Vom Schlafmangel einmal abgesehen. Sein Blick ging zur Hand, die auf der Armlehne unentwegt zuckte. Die Anstrengung der letzten Stunden verstärkte die Wirkung noch, die Sorge um weitere Einschränkungen trieb das Gedankenkarussell immer weiter an. Am Vortag hatte er seinem Arzt, Dr. Laslow, einen Besuch abgestattet, um die Schwankung abzuklären. Seit geraumer Zeit schätzte er die Expertise dieses Mannes.
Bei Wills erstem Besuch vor knapp sechs Monaten hatte er zunächst einmal nur verstehen wollen, was mit ihm passierte. Zu seinem Leidwesen wusste die Medizin über dieses willkürliche Zittern nur sehr wenig. Konkrete Ursachen waren bislang unbekannt. Bei vielen Betroffenen gab es eine lange Familiengeschichte mit ähnlichen Fällen, sodass man überwiegend von einer Veranlagung ausging. Die gab es bei ihm jedoch nicht, zumindest nicht dass er davon wusste. Daher hatte es damals gegolten, die erforschten Therapien eine nach der anderen durchzuprobieren und zu schauen, ob eine Linderung einsetzte.
Gleich die erste Behandlungsmethode reaktivierte den Schwall Gänsehaut, der ihm dazu im Gedächtnis geblieben war: die Blutegeltherapie. Diese kleinen, schleimigen Biester sollten Lebenssaft entziehen und damit den negativen Einfluss, von dem man ausging, dass er darin nistete. Außer zahlreichen blauen Flecken und einer gestiegenen Abneigung gegenüber beißenden, glitschigen Kreaturen hatte sich nichts geändert.
Bei der zweiten hatte zunächst einmal nur die Geldbörse geschmerzt. Es hatte sich dabei um den Einsatz von Opium gehandelt. Zwar war dieses relativ weit verbreitet, doch die notwendige Reinheit, die Dr. Laslow als unerlässlich empfand, ging gehörig ins Geld. Will nahm es als Tinktur zu sich, war den Nebenwirkungen jedoch ganze zwei Tage ausgesetzt. Nach anfänglichem Juckreiz folgte Schwindel, der alsbald in Übelkeit überging. Was nicht über den Norden des Körpers seinen Weg hinaus fand, blieb in einer Verstopfung des Südens hängen. Als Dank für die kräftezehrenden Reaktionen fiel er in einen zwölfstündigen, pausenlosen Schlaf. Im Anschluss kamen Dr. Laslow und er zu dem Schluss, dass weitere Versuche damit unterbleiben sollten. Der Arzt war so nett, ihm die verbliebene Restmenge abzukaufen.
Ink Arcanum
Impressum
Werke
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Nachwort
1
2
3
5
7
8
9
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Cover