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Beschreibung

Die Forderung nach einer "Schule für alle", zu der Kinder unabhängig von ihren Entwicklungshintergründen und Bildungsvoraussetzungen sowie ihren Behinderungen Zugang haben, wird inzwischen als Einlösung eines Menschenrechts mit Nachdruck erhoben. In den Schulen herrschen derzeit sowohl Aufbruchsstimmung als auch Verunsicherung und Überforderung. Das Buch beuchtet aus der Sicht der Psychoanalytischen Pädagogik und mit ihrem spezifischen Blick auf Subjekte, Gruppendynamiken und Organisationsstrukturen kritisch die Inklusions- und Exklusionsthematik. In den Mittelpunkt gerückt werden dabei die "wunden Punkte" der Inklusionsdebatte. Dabei finden die Idealisierungen, die Ängste und Ambivalenzen, die Widerstände und die Identifikationen der Beteiligten im Hinblick auf das inklusive Bildungssystem besondere Beachtung.

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Seitenzahl: 397

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Rolf Göppel & Bernhard Rauh (Hrsg.)

Inklusion

Idealistische ForderungIndividuelle FörderungInstitutionelle Herausforderung

Verlag W. Kohlhammer

 

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030284-6

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030285-3

epub:    ISBN 978-3-17-030286-0

mobi:    ISBN 978-3-17-030287-7

 

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

Psychoanalytisch-pädagogische Perspektiven auf Inklusion

Rolf Göppel und Bernhard Rauh

I Grundlegende Ansprüche und Spannungsfelder

Inklusion, psychoanalytische Pädagogik und der Differenzdiskurs

Dieter Katzenbach

Inklusive Pädagogik und ihre Bedeutung für relationale Prozesse

Annedore Prengel

Inklusion – Ein unerfüllbares Ideal?

Bernd Ahrbeck

Henri und das Menschenrecht auf Bildung – Inklusion im Spannungsfeld von Diversität und allgemeiner Bildung

Karl-Heinz Dammer

»Inklusion« und andere große Worte – oder: das stumpf gewordene Seziermesser der psychoanalytischen Kritik

Günther Bittner

II Schulische Chancen und Herausforderungen

Risiken, Nebenwirkungen und Chancen inklusiver Beschulung

Birgit Herz

Inklusiver Unterricht – eine institutionelle Herausforderung

Erich Otto Graf

Kinder mit ADHS – Paradefall oder Problemfall der Inklusion?

Rolf Göppel

III Pädagogische Strukturen und Prozesse

Professionalisierung als Voraussetzung für Inklusion – Vorschulförderung verhaltensauffälliger Kinder durch psychoanalytisch-pädagogisch ausgebildete Lehrkräfte

Regine Prinz unter Mitarbeit von Barbara Peyrl

Binnendifferenzierung und der Anspruch inklusiver Pädagogik. Zur »Optimalstrukturierung« des schulischen Feldes im Dienst der Förderung von Kindern mit erheblichen emotionalen und sozialen Problemen am Beispiel der Oskar Spiel Schule in Wien

Wilfried Datler und Anita Schedl

Inklusion erleben und verstehen. Work-Discussion als Praxisreflexions-Modell für inklusive Lehr-Lernprozesse

Agnes Turner

IV Haltungen und Forderungen der Professionellen

Wie soll das werden?!« Forderungen, Befürchtungen und Hoffnungen im Kontext von Inklusion

Stefanie Seifried, Frauke Janz und Vera Heyl

Lassen sich Widerstände gegenüber dem Gedanken der schulischen Inklusion bildungsbiografisch verstehen? Eine Problemskizze

Reimer Kornmann

V Entwicklungslinien und Eigentümlichkeiten des Diskurses

Von den integrativen Prozessen zur Inklusion – was bleibt auf der Strecke?

Manfred Gerspach

Melancholische Anmerkungen zu archaischen Zügen des sonderpädagogischen Inklusionsdiskurses

Bernhard Rauh

Zwischen Rechtsanspruch und pädagogischem Wagnis – Wem nützt, wem schadet die Inklusionsdebatte?

Volker Fröhlich

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Psychoanalytisch-pädagogische Perspektiven auf Inklusion

Rolf Göppel und Bernhard Rauh

 

 

Inklusion! Dies ist ein Thema, das derzeit sowohl in der wissenschaftlichen Diskussion als auch in der öffentlichen Debatte mit leidenschaftlichem Engagement, mit hohem moralischem Anspruch und bisweilen auch mit massiven Klagen und Vorwürfen verhandelt wird. Diese besondere emotionale Einfärbung der Diskussion deutet schon darauf hin, dass hier jenseits der nüchtern-sachlich-gelassenen Auseinandersetzung mit Daten und Konzepten auch unterschwellige Motive, verborgene Wünsche und Ängste, Abwehr- und Sicherungstendenzen etc. mit im Spiel sein könnten. Und die Auseinandersetzung mit solchen unbewussten Anteilen ist ein zentrales Anliegen der Psychoanalytischen Pädagogik. Gleichzeitig handelt es sich um ein Thema, bei dem sich Mitglieder aus dem engeren Umfeld der Psychoanalytischen Pädagogik intensiv in die Debatte eingebracht und dabei recht unterschiedlich positioniert haben. Beides sprach dafür, ein Forum zu schaffen, auf dem diese Differenzen ausführlich diskutiert werden können, wie es im vorliegenden Band realisiert wurde.

Inklusion und die Tradition der Psychoanalytischen Pädagogik

Natürlich sind die zentralen Begriffe im Titels dieses Bandes: Inklusion, idealistische Forderung, individuelle Förderung und institutionelle Herausforderung nicht genuine und traditionsreiche psychoanalytische Begriffe wie etwa »das Unbewusste«, »der Ödipuskomplex« oder »die Übertragung«.

Aber mit dem Verhältnis von Inklusion und Exklusion, von Ausschlusstendenzen und Ressentiments der kompakten Mehrheit gegenüber Minderheiten – etwa im akademischen Feld, wenn anstößige Thesen vorgetragen und unkonventionelle Methoden verwendet werden, noch dazu von Forschern jüdischer Herkunft – hat sich natürlich auch schon Sigmund Freud befasst. Und die ganze Geschichte der Tiefenpsychologie ist ihrerseits in hohem Maße geprägt von Abspaltungs- und Ausstoßungstendenzen, von Auseinandersetzungen darüber, wer wirklich dazugehört zum eigenen Lager und wer nicht.

Auch mit der doppelbödigen Rolle von idealistischen Forderungen und hehren Leitbildern hat sich die Psychoanalyse immer wieder kritisch befasst. Es sei nur an Siegfried Bernfeld und seine bissigen Bemerkungen über die »Pädagogiker« erinnert, »die unentwegt den Felsblock der pädagogischen Mittel auf den Gipfel des Idealbergs wälzten« – in seinen Augen eine »sisyphische Überhebung, von boshaften Göttern mit Mühsal und Erfolglosigkeit bestraft« (Bernfeld 1967, S. 39). Janine Chasseguet-Smirgel hat einen »Psychoanalytischen Essay« über die »Krankheit der Idealität« verfasst (1987). Im engeren Umfeld der DGfE-Kommission »Psychoanalytische Pädagogik« wäre an Günther Bittners Habilitationsschrift »Für und wider die Leitbilder« (1964) zu erinnern oder an Burkhard Müllers Buch »Die Last der großen Hoffnungen« (1991).

Im Hinblick auf den Begriff individuelle Förderung kommt natürlich die ganze Tradition der psychoanalytischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in den Sinn, bei der es ja stets darum geht, ins Stocken oder in Sackgassen geratene individuelle Entwicklungsprozesse durch ein Verstehen der speziellen intrapsychischen und interpersonellen Konfliktlagen wieder in Gang zu bringen. Primäres Ziel der individuellen Förderung sind dabei in aller Regel die seelische Gesundheit bzw. das emotionale und psychosoziale Wohlbefinden. Wenn im Zusammenhang damit dann auch noch kognitive Lernblockaden aufgelöst werden und es mit dem schulischen Lernen wieder leichter vorangeht – umso besser. Die Psychoanalytische Pädagogik hat sich in vielfältiger Weise mit Kindern und Jugendlichen, die aufgrund ihrer Lebensgeschichte und ihrer Lebenslage besondere Probleme mit den üblichen schulischen Lernformen und Lernanforderungen haben, befasst. Von daher hat sie eine fachlich begründete Nähe zur Heil- und Sonderpädagogik. Viele Vertreter der Psychoanalytischen Pädagogik haben oder hatten ihre Anbindung im akademischen Feld an heil-, sonder- oder sozialpädagogischen Instituten. Manche haben schon vor Jahrzehnten integrationspädagogische Modellprojekte initiiert und wissenschaftlich begleitet oder grundsätzliche Theoriebeiträge zu einer »Pädagogik der Vielfalt« geleistet. Auch in der aktuellen Inklusionsdebatte haben sich Kolleginnen und Kollegen aus dem Umfeld der Psychoanalytischen Pädagogik mit wichtigen Diskussionsbeiträgen zu Wort gemeldet und dabei recht konträre Standpunkte vertreten.

Und auch im Hinblick auf den Umgang von Institutionen mit neuen Herausforderungen und Veränderungszumutungen gibt es durchaus eine Tradition der psychoanalytischen Auseinandersetzung mit den Beharrungs-, Abwehr-, und Entwicklungsprozessen in Institutionen und Organisationen. Wiederum Bernfeld war es, der mit Blick auf die Schule eine »Instituetik« gefordert hat, eine Analyse der internen Funktionslogik und der subtilen Wirkmechanismen der Schule. Von Peter Fürstenau stammt ein vielzitierter Aufsatz mit dem Titel »Zur Psychoanalyse der Schule als Institution« (1979), in dem er die typischen rollenförmigen Verhaltensweisen von Lehrern und Schülern vor dem Hintergrund familiärer Übertragungsprozesse einerseits und dem Organisationszweck der Schule andererseits untersucht. Franz Wellendorfs Buch über die schulische Sozialisation, in dem er schulische Rituale und Zeremonien als typische Szenen analysiert und Probleme der biographischen Organisation von Identität im szenischen Rahmen der Schule beschreibt, trägt den Untertitel »Zur Sozialpsychologie der Schule als Institution« (1974). Weiterhin ist Stavros Mentzos »Interpersonale und institutionalisierte Abwehr« (1976) hier zu nennen.

Diesem Band liegt eine Tagung der DGfE-Kommission »Psychoanalytische Pädagogik« zugrunde, die unter dem gleichen Titel wie der vorliegende Band im Oktober 2014 an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg stattgefunden hat. Es ging dabei darum zu prüfen, was die die Psychoanalytische Pädagogik mit ihrem spezifischen Blick auf Subjekte, Gruppendynamiken und Organisationsstrukturen zur Erhellung von Inklusions- und Exklusionsproblematiken beitragen kann. Als Leitfragen hierzu waren im Call for Papers die folgenden vorgegeben:

•  Welches Maß von echter Gemeinschaft, von realer Partizipation kann auf welchen Wegen für welche Kinder ermöglicht werden? Welches Maß der Anerkennung von Verschiedenheit, von Fremdheit, von Grenzen ist im Sinne des »Realitätsprinzips« erforderlich?

•  Welche Settings sind geeignet, gemeinsames Lernen trotz sehr unterschiedlicher Lernvoraussetzungen zu ermöglichen, welches Maß von professioneller Spezialisierung, von diagnostischer Objektivierung und von organisatorischer Differenzierung erscheint im Sinne der Berücksichtigung der Entwicklungsbedürfnisse des einzelnen Kindes notwendig?

•  Welche offenen und unterschwelligen Gefühle, welche Idealisierungen und Problemverleugnungen, welche Ängste und Ambivalenzen, welche Widerstände und Abwehrprozesse, welche Projektionen und Identifikationen sind im Zusammenhang mit den geforderten Veränderungen hin zu einem »inklusiven Bildungssystem« zu beachten?

•  Welche Motive und Überzeugungen, welche Sorgen und Abwehrprozesse treiben die Akteure und Verfechter einer radikalen wie auch einer gemäßigten Inklusionsforderung an? Was sind die Gründe für die oftmals zu beobachtende Schärfe des Inklusionsdiskurses?

»Institutionelle Überforderung« oder »Institutionelle Herausforderung?«

Schon im Vorfeld der Tagung gab es Einwände gegen die Titelformulierung – ursprünglich war auch noch von »institutioneller Überforderung« die Rede – und gegen die in den Leitfragen skizzierte Problemwahrnehmung: Negative Assoziationen wie »Idealisierung« und »Überforderung« würde überwiegen. Kritik an Separation, Ausgrenzung und Normalitätskonstruktionen käme ebenso zu kurz wie die Verweise auf die Beispiele gelingender Praxis.

Der Band, so wie er jetzt vorliegt, hebt in der Tat mehr auf die Schwierigkeiten und Problemseiten im Zusammenhang mit der Inklusion ab als auf die Sammlung von »best-practice-Beispielen«. Aber das ist vielleicht der Psychoanalytischen Pädagogik insgesamt etwas »in die Wolle gefärbt«, dass sie eher »skeptisch-problemorientiert« als »optimistisch-lösungsorientiert« ist, sich mehr auf die Widersprüche, Spannungen, Ambivalenzen, Konflikte und Dunkelstellen der Kommunikation konzentriert als auf die Harmonie- und Gelingensaspekte.

Der Eindruck der Herausgeber – auch aus Gesprächen mit Lehrerinnen und Lehrern, die wir als sehr offen und engagiert einschätzen – ist tatsächlich der, dass es ein beträchtliches Spannungsverhältnis gibt zwischen den »idealistischen Forderungen« (wobei »idealistisch« hier überhaupt nicht negativ gemeint ist, sondern durchaus im ursprünglichen Sinne zu verstehen ist als »von Idealen, von hehren menschenfreundlichen Zielen getragen«) und den Verunsicherungen, Ängsten und Abwehrprozessen, die angesichts der häufig völlig unzureichenden Unterstützung bei vielen Lehrkräften anzutreffen sind. Also doch vielfach Überforderung?

Eine Umfrage, die der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) bei 1500 Lehrerinnen und Lehrern 2012 in Bayern durchgeführt hat, macht ein Stück nachdenklich, ob es vielleicht doch richtiger gewesen wäre, den anstößigen Begriff der Überforderung mit einem Fragezeichen versehen im Titel stehen zu lassen.

Bei dieser Befragung des BLLV hielten Dreiviertel der befragten Lehrerinnen und Lehrer die Aussage: »Inklusion ist ein sehr hohes, aber nicht realisierbares Ziel« für zutreffend bzw. eher zutreffend. Etwa die Hälfte der Befragten war der Meinung, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht oder eher nicht von inklusivem Unterricht profitierten. Eine große Mehrheit, nämlich 85% der Lehrkräfte, waren der Meinung, dass die Förderschule der optimale schulische Ort sei, um Kinder mit schulischem Förderbedarf angemessen zu fördern.

Nun könnte man vermuten, diese Antworttendenzen seien primär den Aussagen jener Lehrkräfte geschuldet, die bisher keine oder kaum persönliche Erfahrungen mit inklusivem Unterrichts hatten und die deshalb mit Unsicherheit und Ängstlichkeit auf die Unwägbarkeiten reagieren, die da auf sie zukommen könnten. Das Gegenteil war aber eher der Fall:

»Je mehr Praxiserfahrung, desto größer die Skepsis. Sonderpädagogen, Schulleitungen, aber auch Referendare und generell Lehrkräfte, die keine eigenen Erfahrungen mit dem Unterricht dieser Kindern haben, urteilen in der Tendenz günstiger für Inklusion als Lehrkräfte, die solche Kinder selbst an Grund- oder Mittelschulen unterrichten. Die konkrete Umsetzung von Inklusion führt bei diesen Lehrkräften häufig zu Ernüchterung« (BLLV 2012a).

Freilich hing diese Ernüchterung vor allem mit den massiven Klagen der Lehrkräfte zusammen, nicht genügend theoretisch-konzeptionelle und materielle Ressourcen für diese neuen, herausfordernden Aufgaben zur Verfügung gestellt zu bekommen, gewissermaßen alleine im Regen stehen gelassen worden zu sein. Der BLLV als Verband hat sich in seinem Positionspapier mit dem Titel »Es ist normal, verschieden zu sein« sehr klar zum Ziel der Inklusion bekannt. Er hält dies für »eine wichtige demokratische und gesellschaftliche Forderung« und stellt weiterhin klar, dass Inklusion »ein Weg ohne Alternative« sei. Dennoch warnt er davor, »Inklusion unbedacht und ohne entsprechende Ressourcen einem Schulsystem überzustülpen, das starke segregierende Strukturen aufweist. Inklusion verlangt eine grundlegende Veränderung der Schule. Dazu ist zweierlei nötig: Eine Bereitstellung von ausreichenden Ressourcen für eine erfolgreiche inklusive Schulkultur und die Bereitschaft, das Interesse und die Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, also der Pädagogen« (BLLV 2012b, S. 8).

Wenn die Lehrerinnen und Lehrer sich in dieser Befragung tendenziell so skeptisch äußern, so spricht dies natürlich nicht prinzipiell gegen die Richtigkeit der Inklusionsforderung, sondern dann könnte dies auch kritisch gegen die Lehrerschaft gewendet werden: Diese sei eben in traditionellem pädagogischen Denken verhaftet, habe die neue pädagogische Herausforderung noch nicht wirklich begriffen bzw. angenommen und es müsse nun dringend in der Lehrerbildung dafür gesorgt werden, dass die neuen Kolleginnen und Kollegen sowohl von den inneren Haltungen her als auch von den konkreten unterrichtspraktischen Fähigkeiten her besser gerüstet sind für die neue Aufgabe. Da ist zweifellos etwas dran. Dennoch sollte man die Erfahrungen und Einschätzungen der Lehrkräfte, die vor Ort mit der konkreten Umsetzung der neuen Herausforderungen konfrontiert sind, nicht einfach geringschätzig vom Tisch wischen, weil sie etwas quer stehen zum bisweilen verbreiteten Fortschritts-Pathos und zur Inklusions-Euphorie.

Die grundsätzlichen Ziele des Bandes und die Themen der einzelnen Beiträge

Es waren vor allem drei übergreifende Ziele, die der Konzeption des vorliegenden Bandes zugrunde liegen:

•  Eine wohlbegründete Darlegung, welche Veränderungsprozesse in unserem Schulsystem und in unserer Unterrichtskultur anzustreben sind, damit es den Bildungsansprüchen und Teilhabebedürfnissen möglichst aller Kinder auf möglichst hohem Niveau gerecht werden kann – was sicherlich auch idealistische Leitvorstellungen und Visionen mit einschließt.

•  Eine notwendig kritischen Auseinandersetzung mit einer wohlmeinenden, aber bisweilen etwas blauäugigen, sonntagsredenhaften Inklusionsrhetorik, welche hübsche bunte Mengenlehre-Pünktchenbilder projiziert, die realen Bedenken und Schwierigkeiten und Grenzerfahrungen aber nicht selten weitgehend ausblendet und meint, Lösungsperspektiven durch bloße Umdeutungsappelle befördern zu können (»Heterogenität als Chance«, »Celebrate Diversity«).

•  Und einer differenzierten, anschaulichen und mutmachenden Präsentation von konkreten Beispielen, von pädagogischen Situationen und Konzeptionen, in denen die angemessene individuelle Förderung von Kindern mit sehr unterschiedlichen Lernvoraussetzungen in optimierten inklusiven Institutionen tatsächlich auch schon heute gelingt.

Dabei lassen sich die einzelnen Beiträge zu fünf thematischen Schwerpunkten bündeln:

Im ersten Teil werden grundlegende Ansprüche und Spannungsfelder thematisiert. Dieter Katzenbach erörtert zweierlei: zum einen das unaufhebbare Spannungsfeld von egalitärer Differenz und meritokratischem Prinzip, in dem sich alle Inklusionsbestrebungen zwangsläufig bewegen, und zum anderen den aktuellen Umgang mit Differenzkategorien in der psychoanalytisch orientierten Forschung. Annedore Prengel hebt die Bedeutung von relationalen Prozessen, von Beziehungsprozessen für eine Inklusive Pädagogik hervor und diskutiert dies auf verschiedenen Ebenen. Bernd Ahrbeck verweist auf die grundlegende Logik der Inklusionsdebatte, die sich zwischen einer Idealisierung der eigenen Position und einer Entwertung anderer Positionen strukturiert. Karl-Heinz Dammer versucht am Beispiel von Henri, dem Schüler mit Down-Syndrom, der von der Mutter gegen den Widerstand der dortigen Lehrerschaft an ein Gymnasium in Walldorf eingeschult werden sollte, zu klären, inwieweit Inklusion mit der Idee allgemeiner Bildung vereinbar ist bzw. umgekehrt, welche Folgen eine konsequent gedachte und praktizierte Inklusion für die allgemeine Bildung hätte. Günther Bittner setzt sich kritisch mit dem aktuellen Inklusionsdiskurs und den darin enthaltenen »großen Worten« und »emotionalen Vereinnahmungen« wie auch mit der aus seiner Sicht kraftlos gewordenen psychoanalytischen Kultur- und Ideologiekritik auseinander.

In einem zweiten Teil werden in unterschiedlichen Hinsichten die spezifischen schulische Chancen und Herausforderungen im Zusammenhang mit der Inklusion in den Blick genommen. Birgit Herz analysiert Risiken, Nebenwirkungen und Chancen inklusiver Beschulung, insbesondere im Hinblick auf einen möglichen Trend zum Einsatz von fragwürdigen Disziplinierungsprogrammen. Das wird ergänzt durch Erich Grafs institutions- und kulturanalytisch fundierte Auseinandersetzung mit den Herausforderungen, die sich durch einen gemeinsamen Unterricht für schulische Organisationen ergeben. Rolf Göppel fokussiert Kinder mit ADHS, deren Beschulung sowohl als Paradebeispiel für eine gelingende Inklusion – da die allermeisten von ihnen die Regelschule besuchen – als auch als Problemfall der Inklusion betrachtet werden kann – da das Störpotential, das von ihnen ausgeht, beträchtlich und die entsprechenden Klagen von Lehrkräften, Eltern, Mitschülerinnen und Mitschülern entsprechend heftig sind.

Im dritten Teil rücken konkrete Strukturen und Prozesse der pädagogischen Praxis ins Zentrum der Überlegungen. Agnes Turner zeigt Möglichkeiten einer psychoanalytischen Praxisreflexion (work-discussion-group) auf, wie sie für die Kooperation zwischen Lehrkräften unterschiedlicher Lehrämter und zur Reflexion der Interaktionsdynamik sowie von Ängsten und Widerständen im Dienste einer Erweiterung der Containment-Kapazität in Österreich etabliert wurde. An dem von ihr geschilderten Beispiel wird auch deutlich, wie konfliktträchtig diese Kooperation bisweilen ist und wie groß damit auch die Distanz zwischen geforderter und gelebter Inklusion. Wilfried Datler und Anita Schedl untersuchen das Setting Kleinklasse in einer allgemeinen Schule und arbeiten die Notwendigkeit der »Optimalstrukturierung« im Dienste der inklusiven Beschulung von Kindern mit erheblichen emotionalen und sozialen Problemen heraus, wie sie sich insbesondere an verlässlich eingehaltenen Abläufen und Strukturierungen zeigt. Regine Prinz und Barbara Peyrl greifen die vorschulische Förderung von verhaltensauffälligen Kindern durch psychoanalytisch-pädagogisch gebildete Lehrkräfte als Beispiel einer einschlägigen Professionalisierung und damit als Voraussetzung für das Gelingen von inklusiven Settings auf.

Haltungen und Forderungen der Professionellen im Kontext der Inklusion werden im vierten Teil zum Thema gemacht. Stefanie Seifried, Frauke Janz und Vera Heyl stellen Ergebnisse ihrer Untersuchung zu Einstellungen, Forderungen, Befürchtungen und Hoffnungen von Lehrkräften im Zusammenhang mit der Herausforderung Inklusion vor. Reimer Kornmann wählt einen bildungsbiographischen Zugang zum Verständnis der Loyalität von Lehrkräften zu selektiven schulischen Strukturen und bringt damit ein interessantes Deutungsmuster für die verbreiteten Widerstände gegenüber dem Gedanken der schulischen Inklusion ins Spiel.

In einem fünften Teil werden Entwicklungen und Eigentümlichkeiten des Inklusionsdiskurses selbst zum Gegenstand der Analyse.

Manfred Gerspach fragt nach dem, was im Zusammenhang der Ablösung des Integrationsbegriffs durch den Inklusionsbegriff, also mit dem Wechsel der Bezeichnungen und den damit zusammenhängenden subtilen Verschiebungen des Gegenstandsbereichs und des Verständnishorizonts, verloren gegangen ist. Als »melancholische Anmerkungen« charakterisiert Bernhard Rauh seine Ausführungen zum sonderpädagogischen Inklusionsdiskurs, der in weiten Teilen von Spaltungen und starken Abgrenzungen bestimmt ist und damit fast archaisch anmutet. Volker Fröhlich begibt sich in die Perspektive eines irritierten externen Beobachters, der das unbekannte Terrain der Inklusionsdebatte erforscht und in seiner Annäherung eine grundlegende Strukturlogik von Rechtsanspruch vs. pädagogischem Wagnis herausarbeitet.

Literatur

Bernfeld, S. (1925): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. In: Bernfeld, S.: Werke Bd. V: Theorie und Praxis der Erziehung. Pädagogik und Psychoanalyse, hrsg. und mit einem Nachwort von U. Herrmann, W. Datler und R. Göppel, Gießen 2013, S. 11-130.

Bittner, G. (1964): Für und wider die Leitbilder. Heidelberg.

BLLV (2012a): Inklusion: Gut gemeint aber schlecht umgesetzt. BLLV-Befragung unter Lehrkräften offenbart gravierende Mängel. www.bllv.de/Befragung-Inklusion.8165.0.html (Abruf: 5.3.2015).

BLLV (2012b): Inklusion an Bayerns Schulen – Lehrerbefragung. www.bllv.de/fileadmin/Dateien/Land-PDF/Wissenschaft/Befrag_Inklusion_Bericht.pdf (Abruf 5.3.2015).

Chasseguet-Smirgel, J. (1987): Das Ichideal: Psychoanalytischer Essay über die »Krankheit der Idealität«. Frankfurt/M.

Fürstenau, P. (1979): Zur Psychoanalyse der Schule als Institution. In: Fürstenau, P.: Zur Theorie psychoanalytischer Praxis. Psychoanalytisch-sozialwissenschaftliche Studien. Stuttgart.

Mentzos, S. (1976): Interpersonale und institutionalisierte Abwehr. Frankfurt/M.

Müller, B. (1991): Die Last der großen Hoffnungen. Methodisches Handeln und Selbstkontrolle in sozialen Berufen. Weinheim.

Wellendorf, F. (1974): Schulische Sozialisation und Identität. Zur Sozialpsychologie der Schule als Institution. Weinheim.

 

 

 

 

 

I          Grundlegende Ansprüche und Spannungsfelder

Inklusion, psychoanalytische Pädagogik und der Differenzdiskurs

Dieter Katzenbach

1          Integration, Inklusion, Differenz

Je länger über Inklusion diskutiert wird, desto unklarer scheint zu werden, was mit Inklusion überhaupt gemeint ist. Häufig wird betont, dass Inklusion etwas anderes sei als Integration, aber worin dieses Andere nun genau besteht, bleibt dann häufig im Dunkeln. An einer Stelle scheint aber im Fachdiskurs hinsichtlich der theoretischen Differenzierung zwischen Integration und Inklusion ein Konsens zu bestehen. Integration nimmt ihren Ausgangspunkt an der Unterscheidung behindert/nicht-behindert. Ihre Programmatik trägt diese Unterscheidung ja explizit im Titel: Gemeinsamer Unterricht behinderter und nicht-behinderter Kinder, so heißt es bezogen auf Schule. Inklusion hingegen orientiert sich konzeptuell am Begriff der Vielfalt beziehungsweise der Diversität. Ausgangspunkt ist hier die Überlegung, dass sich Menschen hinsichtlich vieler Merkmale unterscheiden und eine inklusive Pädagogik mahnt einen gerechten Umgang mit dieser menschlichen Vielfalt an. Daher bezieht sie sich auch nicht nur auf die Kategorie Behinderung, eine Auffassung, die sich weltweit durchzusetzen scheint.

»In several countries, inclusion is still thought of simply as an approach to serving children with disabilities within general education settings. Internationally, however, it is increasingly seen more broadly as a reform that supports and welcomes diversity amongst all learners. It presumes that the aim of inclusive education is to eliminate social exclusion resulting from attitudes and responses to diversity in race, social class, ethnicity, religion, gender and ability« (UNESCO 2008, S. 5).

Der Inklusionsdiskurs ist mithin in einen größeren Kontext eingebettet, nämlich in die Frage nach dem Umgang mit Differenz. Und es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass der Umgang mit Differenz eines der zentralen Themen der Sozial- und Erziehungswissenschaften des angehenden 21. Jahrhunderts darstellt (Ricken/Reh 2014, Prengel 2015).

Die Psychoanalyse hat sich besonders in der als Ethnopsychoanalyse bezeichneten Forschungsrichtung mit der Frage des Umgangs mit Differenz befasst, hier vor allem unter dem Aspekt des Umgangs mit dem Fremden. Ein kürzlich erschienener Beitrag Haubls zu Behindertenfeindlichkeit lässt sich in die Theorietradition der psychoanalytischen Betrachtung des gesellschaftlichen Umgangs mit Differenz einordnen. Haubl argumentiert sinngemäß, dass die Konfrontation mit Behinderung für nichtbehinderter Menschen eine Bedrohung ihres narzisstischen Gleichgewichts darstelle. Denn, so Haubl:

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